CARL SAFINA
DIE
INTELLIGENZ
DER TIERE
Wie Tiere fühlen und denken
Aus dem Englischen von Sigrid Schmid
und Gabriele Würdinger
C.H.BECK
Jenseits von Wörtern
«Wir müssen unsere Vorstellungen darüber, wie Tiere mit uns Menschen kommunizieren, grundsätzlich revidieren. Ein absolut faszinierendes Buch.»
Josef H. Reichholf
«Safinas Buch hat das Potenzial, unser Verhältnis zur natürlichen Welt zu verändern.»
Tim Flannery, The New York Review of Books
Was geht im Inneren von Tieren vor? Können wir wissen, wie und was sie denken und fühlen? Carl Safina nimmt seine Leser auf abenteuerliche Entdeckungsreisen in die unbekannte Welt der Elefanten, Wölfe und Orcas mit und erzählt außergewöhnliche Geschichten von tierischer Freude, Trauer, Eifersucht, Angst und Liebe. Safina begegnet den von ihm beobachteten wilden Tieren mit Liebe, Respekt und umfassenden Kenntnissen. Sein Wissen ist genauso groß wie sein Einfühlungsvermögen; er versteht es meisterhaft, neueste wissenschaftliche Erkenntnisse mit wundervollen Erzählungen zu verweben. Die verblüffende Ähnlichkeit von menschlichem und nichtmenschlichem Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Mitgefühl fordert uns dazu auf, unser Verhältnis zu anderen Arten zu überdenken – und nicht zuletzt zu uns selbst als Menschen.
Carl Safina ist Meeresbiologe und einer der bekanntesten Naturschriftsteller weltweit. Sein Werk umfasst bislang sieben Bücher, darunter den internationalen Bestseller Song for the Blue Ocean, und ist vielfach ausgezeichnet worden. Safina ist Gründungsdirektor des Blue Ocean Institute und hat die Stiftungsprofessur für Natur und Humanität der Stony Brook University im US-Bundesstaat New York inne. Er ist Autor von Fernsehdokumentationen und schreibt regelmäßig für die New York Times und National Geographic.
VORWORT
Auf dünnem Eis
I.: Das Trompeten der Elefanten
Die große Frage
Das gleiche Gehirn
Ist der Mensch wirklich einzigartig?
Erbe aus der Urzeit
Familienbande
Mutterfreuden
Lieben Elefanten ihre Babys?
Elefantenempathie
Tiefe Trauer
Ich weiß nicht, wie ich Wiedersehen sagen soll
Ich sage Hallo!
Festhalten und Gehenlassen
Seelen in Not
Ebony and Ivory
Wo die Elefantenbabys herkommen
II.: Das Heulen der Wölfe
Eiszeit
Ein perfekter Wolf
Rudelbildung und -auflösung
Die Wölfin namens Sechs
Gebrochene Versprechen
Waffenstillstand
Herrliche Ausgestoßene
Auf der Spur der Wolfsvögel
Wolfsmusik
Der Jäger ist ein einsames Herz
Überlebenswille
Dienstboten
Zwei Enden derselben Leine
III.: Jaulen und Ärgernisse
Von wegen Theory of Mind
Sex, Lügen und gedemütigte Seevögel
Arroganz und Täuschung
Was zum Lachen und schrullige Ideen
Spieglein, Spieglein
Apropos Neuronen
Ein uraltes Volk
IV.: Der Gesang der Wale
See-Rex
Ein komplexer Killer
Einfach sehr sexuell
Innenansichten
Ungleiche Denker
Was heißt hier intelligent?
Das soziale Gehirn
Wunschdenken
Helfen und sich helfen lassen
Bitte nicht stören
Besitzen und bewahren
Mit Persönlichkeit ist zu rechnen
Eine mächtige und wahre Vision
NACHWORT
Ein letzter Gedanke
Danksagung
ANHANG
Auswahlbibliographie
Anmerkungen
Das Trompeten der Elefanten
Das Heulen der Wölfe
Jaulen und Ärgernisse
Der Gesang der Wale
Nachweis der Abbildungen und Karten
Dieses Buch ist all jenen Menschen auf den folgenden Seiten
gewidmet, die genau hinsehen und hinhören.
Die uns erzählen, was sie aus den Stimmen und dem Schweigen
derer heraushören, die mit uns auf dieser Erde leben.
Ich dachte an die lange vergangenen Zeiten, während welcher die aufeinander folgenden Generationen dieses kleinen Geschöpfes ihre Entwicklung durchliefen … ohne dass ein intelligentes Auge ihre Lieblichkeit erspähte – eine üppige Verschwendung von Schönheit … Diese Betrachtung muss uns doch lehren, dass alle lebenden Wesen nicht für den Menschen geschaffen wurden … Ihr Glück und ihre Freude, ihr Lieben und ihr Hassen, ihre Kämpfe ums Dasein, ihre von Leben geschwellte Existenz und ihr früher Tod erscheinen unmittelbar als auf ihr eigenes Wohlsein und ihre eigene Erhaltung allein sich beziehend …
Alfred Russel Wallace, Der Malayische Archipel, 1869
Wir beschützen sie wegen ihrer Unvollkommenheit, wegen ihres tragischen Schicksals, eine Gestalt angenommen zu haben, die weit weniger entwickelt ist, als unsere. Und darin irren wir uns, wir irren uns sogar gewaltig. Für die Tiere gelten nicht die Maßstäbe des Menschen. In einer Welt, die älter und vollständiger als unsere ist, sind sie vollkommene Wesen, deren scharfe Sinne wir Menschen verloren haben oder vielleicht auch niemals hatten, Wesen, deren Stimmen wir niemals hören werden. Sie sind nicht unsere Brüder und auch nicht unsere Untergebenen. Sie gehören fremden Nationen an, die, wie wir, im Netz des Lebens und der Zeit gefangen sind, Gefängnisgenossen, die mit uns die Herrlichkeit und die Mühen auf Erden teilen.
Henry Beston, The Outermost House, 1928
Frage doch das Vieh, das wird dich’s lehren, und die Vögel unter dem Himmel, die werden dir’s sagen, oder die Sträucher der Erde, die werden dich’s lehren, und die Fische im Meer werden dir’s erzählen.
Hiob, 12,7–8
Eine große Delfingruppe war neben unserem Boot aufgetaucht. Während sie neben uns hersprangen, tauschten sie sich über geheimnisvolle Zurufe aus, quiekend und pfeifend, wie es ihre Art ist. Auch einige Jungtiere flitzten Seite an Seite mit ihren Müttern durch das Wasser. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich mich nicht länger damit zufriedengeben wollte, diese tiefgründigen und wunderschönen Wesen nur oberflächlich zu begreifen. Ich wollte wissen, wie sie die Welt erlebten, warum sie für uns Menschen so faszinierend sind und wir uns ihnen so nahe fühlen. Zum ersten Mal erlaubte ich mir, ihnen die streng verbotene Frage zu stellen: Wer seid ihr? Üblicherweise vermeidet die Wissenschaft konsequent die Frage nach dem Seelenleben von Tieren. Zwar gesteht man auch ihnen irgendeine Art von Gefühlswelt zu. Doch ähnlich wie Kinder als unhöflich getadelt werden, wenn sie unverblümte Fragen stellen, wird jungen Wissenschaftlern von Anfang an eingetrichtert, dass die Psyche eines Tieres – sollte es sie überhaupt geben – jenseits der menschlichen Erkenntnis liegt. Erlaubt sind nur «Es-Fragen»: Wo lebt es, was frisst es, wie reagiert es bei drohender Gefahr, wie pflanzt es sich fort? Doch die eine Frage, die niemals gestellt werden darf, obwohl sie uns vielleicht ganz neue Erkenntnisse bringen könnte, ist: Wer?
Es gibt Gründe, warum man sich an dieses Forschungsgebiet nicht herangewagt hat. Doch was wir dabei übersehen, ist, dass die Trennlinie zwischen Mensch und Tier eine künstliche ist, da der Mensch ein Tier ist. Und als ich die Delfine beobachtete, hatte ich keine Lust mehr, mich an diesen starren Kodex zu halten. Ich wollte den Dingen auf den Grund gehen, eine neue Nähe schaffen. Ich hatte das Gefühl, dass die Zeit für beide, Mensch und Tier, bald ablaufen würde und ich wollte nicht riskieren, «Wiedersehen» sagen zu müssen, wo ich doch noch nicht einmal wirklich «Hallo» gesagt habe. Während des Segeltörns las ich viel über Elefanten. Ihre Gedankenwelt beherrschte die meine, als ich über die Delfine nachdachte und beobachtete, wie sie sich ungezwungen und frei in ihrem Lebensraum bewegten. Wenn ein Wilderer einen Elefanten tötet, löscht er nicht nur das Leben dieses einen Elefanten aus. Die Herde verliert damit womöglich auch den unverzichtbaren, überlebenswichtigen Erfahrungsschatz ihrer Matriarchin, die weiß, wo es auch in harten Dürreperioden genügend Nahrung und Wasser gibt. So kann eine einzige Patronenkugel noch Jahre später weitere Leben kosten. Als ich die Delfine beobachtete und dabei gleichzeitig über die Elefanten nachdachte, wurde mir klar: Wenn Individuen ihresgleichen wiedererkennen und von ihnen abhängig sind, wenn der Tod eines Einzelnen für das Überleben der anderen entscheidend ist, wenn es unsere Beziehungen sind, die uns ausmachen, dann haben wir in der stammesgeschichtlichen Entwicklung eine fließende Grenze überschritten – «es» ist zu «jemand» geworden.
«Jemand»-Tiere wissen, wer sie sind. Sie wissen wer zu ihrer Familie und zu ihren Freunden gehört. Sie wissen, wer ihr Feind ist. Sie gehen strategische Verbindungen ein und arrangieren sich mit den ständigen Konkurrenzkämpfen. Ihr Ziel ist es, in der Rangordnung aufzusteigen, und sie warten nur darauf, die bestehende Ordnung zu hinterfragen. Ihre Stellung wirkt sich auf die Zukunftsaussichten ihrer Nachkommen aus. Zeitlebens durchlaufen sie die verschiedenen Etappen einer Karriereleiter. Persönliche Beziehungen machen sie aus. Das kommt Ihnen bekannt vor? Sicherlich. «Sie» schließt uns mit ein. Nicht nur wir Menschen führen ein vielschichtiges Leben.
Naturgemäß haben wir eine exklusiv menschliche Sicht auf die Welt. Doch da wir diese nur durch unsere Brille betrachten, ist unser Blick eingeschränkt. Dieses Buch nimmt die Außenperspektive ein, also die der Welt, die uns umgibt. Eine Welt, in welcher der Mensch nicht das Maß aller Dinge und nur eine Spezies unter vielen ist. Da wir uns immer weiter von der Natur entfremden, haben wir vergessen, dass wir Teil einer großen Lebensgemeinschaft sind und können uns in die Erfahrungswelt anderer Tiere nicht mehr einfühlen. Weil aber alle Belange des Lebens auf einer breit gefächerten Skala erscheinen, fällt es leichter, uns menschliche Tiere zu verstehen, wenn wir uns im Kontext mit den anderen sehen und erkennen, dass unsere Lebensfäden Teil eines eng gewobenen Netzes sind, das aus einer Vielzahl weiterer Fäden besteht.
Ich wollte dieses Buch zum Anlass nehmen, mein langjähriges Hauptanliegen, den Naturschutz, zugunsten meines Lieblingsthemas in den Hintergrund treten zu lassen: Ich wollte beobachten, was Tiere machen, und nach dem Grund ihres Handelns fragen. Ich unternahm Reisen, um mich mit einigen der meist geschützten Tierarten zu beschäftigen – den Elefanten im Amboseli-Nationalpark in Kenia, den Wölfen im Yellowstone-Nationalpark in den Vereinigten Staaten und den Killerwalen im nordwestlichen Pazifik. Doch wurden alle drei Arten durch den Menschen in einer Art und Weise behelligt, die sich direkt auf ihr Handeln, ihren Lebensraum, ihre Wanderrouten und ihre Lebensdauer auswirkten. Daher gewährt uns dieses Buch nicht nur einen Blick in das Seelenleben der Tiere, sondern schärft darüber hinaus unser Bewusstsein für ihre Bedürfnisse. In dieser Geschichte, die sich selbst erzählt, geht es nicht nur darum, was auf dem Spiel steht, sondern wer.
Meine tiefste Einsicht ist, dass das Leben ein großes Ganzes ist. Ich war sieben Jahre alt, als mein Vater und ich in unserem Garten in Brooklyn einen kleinen Schuppen bauten, in dem wir ein paar Brieftauben hielten. Als ich sah, wie sie in den kleinen Kämmerchen nisteten, sich umwarben und um ihren Nachwuchs kümmerten, wegflogen und voller Zuversicht wieder zurückkamen, als ich sah, dass sie Futter, Wasser, ein Zuhause und einander brauchten, wurde mir klar, dass sie in ihren Wohnungen ein Leben wie wir führten. Wie wir, nur auf andere Weise. Mein ganzes Leben lang habe ich mit vielen verschiedenen Tieren zusammengelebt und sie in meiner und deren Welt studiert. Dies hat meinen Eindruck, dass unsere Leben miteinander verwoben sind, verstärkt und immer wieder bestätigt. Und diese Erfahrung ist es, die ich auf den kommenden Seiten gerne mit Ihnen teilen möchte.
I.
Zart und mächtig, ehrfurchtgebietend und
verzaubert, die Stille verkörpernd,
die gewöhnlich den Berggipfeln, großen Bränden
und dem Meer vorbehalten ist.Peter Matthiessen, Der Baum der Schöpfung