Stefan Matuschek
DER
GEDICHTETE
HIMMEL
EINE
GESCHICHTE
DER
ROMANTIK
C.H.Beck
Mit der Aufklärung, mit der intellektuellen Mündigkeit gegenüber traditionellen Glaubenslehren kam zugleich die Nostalgie: die Trauer über den Verlust an Ganzheitlichkeit im Denken und Leben. Die Romantik schaffte hier Abhilfe, ohne rückwärts zu gehen: Sie erschuf einen neuen Himmel, der keiner metaphysischen Absicherung bedarf. Der Literaturwissenschaftler Stefan Matuschek blickt in seinem beeindruckenden Epochenporträt weit über Deutschland hinaus, nach England und Schottland, nach Italien und Frankreich, und schildert die Romantik als großen Impuls der Moderne, der bis in die Gegenwart hineinwirkt.
Romantik ist die Kunst, metaphysische Luftschlösser zu bauen. Sie weiß, dass ihr Himmel, wo immer sie ihn errichtet, nur ein erdichteter ist, und findet in ihm dennoch Zuflucht vor der metaphysischen Obdachlosigkeit des modernen Menschen. Aus dieser Perspektive erschließt Stefan Matuschek in seiner brillanten Darstellung der Epoche die Neuerungen, die mit der Romantik in die Welt kamen: von der blauen Blume bis zur Kunstreligion, von der romantischen Ironie bis zur Schauerromantik, von der Renaissance des Mittelalters bis zur Utopie der Volkstümlichkeit. Dabei war die Romantik keineswegs nur eine deutsche Angelegenheit. Stefan Matuschek stellt uns ihre europäische Vielfalt vor Augen. In seinem weit gespannten Panorama begegnen wir Literaten wie den Schlegel-Brüdern, Goethe und Eichendorff, Keats und Shelley, Victor Hugo und Alessandro Manzoni, außerdem Philosophen, Malern und Komponisten der Zeit. Überall reagierten die Romantiker auf drei Großereignisse der Epoche: die Französische Revolution, die Revolution der Lesekultur und die Nationalisierung in der Folge von Napoleons Imperialismus. In diesem Kontext legt Stefan Matuschek eine neue Gesamtschau der Romantik vor, die deren Träume als hellsichtiger erweist, als sie oft erscheinen.
Stefan Matuschek ist Professor für Neuere deutsche Literatur, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Jena und ein ausgewiesener Experte für die europäische Romantik.
1: Nicht nur die Aufklärung:
Der zweite Impuls der europäischen
Moderne
a) Romantik als Fortschritt
Eichendorffs Mondnacht
Schleiermachers Reden Über die Religion
Unruhige Zeiten
b) Beginn der europäischen Moderne
um 1800
Friedrich Schlegels «Unverständlichkeit»
Gegen den ‹common sense›
Europäischer Kontext
2: Romantik
als europäisches Phänomen
a) Die Vielfalt der Romantik
in Europa
Schlüsselfiguren:
Madame de Staël und August Wilhelm Schlegel
Schlegels Romantikbegriff
Urtypen des Romantikers:
Hamlet und Don Quijote
Nationale Unterschiede
b) Das Phänomen Romantik
Die blaue Blume
Leopardis L’infinito
Verschiedene Romantikbegriffe
Klassizistische Romantik
Coleridge
c) Literarischer Stil und existenzieller Ernst: Weltschmerz
‹Le mal du siècle›:
Chateaubriand und Lord Byron
Vorläufer:
Rousseaus Spaziergänger
und Goethes Werther
Senancour, Obermann
Nachtwachen
d) Deutsche Klassik
als Teil der europäischen Romantik
Schillers romantische Tragödie
Goethe und die Romantiker
Faust
3: Revolutionen:
Die Französische und die romantischen
a) Romantik als Revolutionsreaktion
Die ‹Neue Welt› und die ‹Neue Mythologie›
Politische und philosophische Revolution
Politische Neuigkeiten und Enttäuschungen
in Deutschland
Hölderlins Hyperion
b) Subjektivierung und Ästhetisierung
der Religion
Ästhetischer Katholizismus:
Novalis und Chateaubriand
Kunstbetrachtung als Andacht
Kunstreligion
c) Mythos als Zukunftsprojekt
Der aufgeklärte Mythosbegriff
Neue Mythenbildner:
Blake, Shelley, Hölderlin
Shelleys Entfesselter Prometheus
Hölderlins Brot und Wein
d) Strategien der Offenheit
«Progressive Universalpoesie»
Ästhetik des Hässlichen und Grotesken
Die modernen Begriffe
von Literatur und Kunst
Romantische Ironie
4: Lesewelten:
Die Modernisierung
der Literatur
a) Die moderne Situation der Literatur
Aufstieg des Romans
Literaturkritik
b) Das Fantastische
E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann
Nachtstücke, Gespenster-Hoffmann
Goethes und Keats’ Vampire
c) Märchen für Erwachsene und Kinder
Von der Erwachsenen- zur Kinderliteratur:
Grimms Märchen
Gegenwartsorientiert:
Aufgeklärte und romantische Märchen
Tiecks Blonder Eckbert
Hoffmanns Goldener Topf
Fouqués Undine
d) Schauerromantik
Matthew Lewis, The Monk
‹Gothic›
Hoffmanns Elixiere des Teufels
Frankenstein
5: Nationalisierung:
Politik, Wissenschaft
und Populärkultur
a) Napoleons Ende
und der Anfang der Nationalliteratur
Nationalliteratur als Irrtum
und Gewohnheit
Ein Brennpunkt
romantischer Tendenzen
Fichtes Reden und Foscolos Roman
b) ‹Rückwärts gekehrte Propheten›:
Der Idealismus der Historiker
Renaissance des Mittelalters
Neue Gotik
Kathedralen als Nationaldenkmäler:
Der Kölner Dom und Notre-Dame de Paris
Rekonstruktion und Idealisierung
Germanistik
Dante als literarische Größenordnung
c) Volk und Volkstümlichkeit
Volkstümlichkeit als Utopie
Nationale Unterschiede:
Wordsworth, Berchet, Hugo, Arnim
Volkstum: ‹Turnvater› Jahn
Nationalgeschichtlich-patriotisches Theater:
Kleist und Manzoni
Goethes Manzoni
d) Die Erfindung
der germanischen Mythologie
Jacob Grimms Deutsche Mythologie
Propaganda, Selbstkritik
und nationale Verengung
Ossian als nordischer Homer
Germanen auf der Bühne:
Fouqués Dramen
Kippfiguren und versteinerte Mythen
6: Romantik als Epoche, Romantik als Modell
Transzendenz in der modernen Lyrik:
Baudelaire und Rilke
Extreme und beiläufige Romantik:
Surrealismus und Der Fänger im Roggen
Doppelte Romantik:
Ideologie und literarische Technik
bei Wolfgang Hilbig
7: Das selbstgemachte Jenseits
Anhang
Anmerkungen
1. Nicht nur die Aufklärung:
Der zweite Impuls der europäischen Moderne
2. Romantik als europäisches Phänomen
3. Revolutionen: Die Französische und die romantischen
4. Lesewelten: Die Modernisierung der Literatur
5. Nationalisierung: Politik, Wissenschaft und Populärkultur
6. Romantik als Epoche, Romantik als Modell
7. Das selbstgemachte Jenseits
Bildnachweis
Personenregister
1
Romantik ist kinderleicht, wenn man darunter alltagssprachlich die Stimmung versteht, in der uns die Fantasie angenehm verzaubert und über die Wirklichkeit erhebt. Romantik ist überkomplex, umstritten und voller Widersprüche, wenn man sie kulturgeschichtlich als das Großphänomen erfassen will, das Literatur und Künste, Wissenschaft, Philosophie und Politik in Europa seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hervorbringen. Es hat bis weit ins 19. Jahrhundert Konjunktur und dauert in vielem bis heute an. Dieses Großphänomen erklärt sich auch als atemberaubende Karriere eines Wortes. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts versteht man unter dem Adjektiv ‹romantisch› die Stimmung und Wirkung der Unterhaltungsliteratur. Es leitet sich von dem Gattungsbegriff ‹Roman› ab (‹romantisch› = ‹wie im Roman, romanhaft›), wobei man für die Zeit vor 1800 vor allem an Ritter-, Abenteuer-, Wunder- und Liebesgeschichten denken muss. Ein Wort, das dieser Bedeutung und Konnotation heute am ehesten entspricht, wäre ‹fantasyhaft›: als Adjektiv für die aktuelle Unterhaltungsliteratur, das Fantasy-Genre, und die Stimmung, die sie vermittelt. Um 1800 und in den Jahrzehnten danach erlebt der Ausdruck ‹romantisch› jedoch einen einzigartigen Aufschwung. Er erobert den Lebensalltag, die Universitäten und Theater, Literatur und Philosophie, Malerei und Musik, die Wissenschaften und die Politik. ‹Romantisch› wird zu einem Zauberwort. Ganz verschiedene Milieus und Gruppen formulieren mit ihm ihre Anliegen und Ziele. Ein ‹Zauberwort› ist es deshalb, weil es dabei nicht um klare Begriffsbildung und Definition geht, sondern um Mobilmachung in eigener Sache.
Die dafür nötige rhetorische Energie bringt das Wort reichlich mit. Sie speist sich aus der paradoxen Zumutung, die Stimmung, die man mit der Leselust verbindet, auf die eigene Lebenswirklichkeit und auf die unterschiedlichsten kulturellen Bereiche zu übertragen und als zentralen, zukunftsweisenden Wert zu behaupten. Das ist so, als wollte man heute mit dem Wort ‹fantasyhaft› ein gesellschaftlich-kulturelles Erneuerungsprogramm durchsetzen. Die produktive Stimmung der Fantasie soll nicht aus der Realität hinaus-, sondern in deren aktuelle Herausforderungen hineinführen und sie zu bewältigen helfen. Am witzigsten hat Friedrich Schlegel das Anregungspotenzial formuliert, das er und viele seiner Zeitgenossen von dem Wort erwarteten: «Meine Erklärung des Wortes Romantisch», schreibt er seinem Bruder August Wilhelm im Dezember 1797, «kann ich Dir nicht gut schicken, weil sie – 125 Bogen lang ist.»[1] Gemeint sind Druckbogen à 16, also insgesamt 2000 Seiten. Das ist freilich nur eine rhetorische Übertreibung: Von einem solchen Text gibt es keine weitere Spur. Angesichts dessen, was die Forschung bis heute zur Erklärung der Romantik geschrieben hat, sind 2000 Seiten allerdings ein lächerlich geringer Umfang.
Das Bild, das die akademische Spezialliteratur von der Romantik zeichnet, ist entsprechend vielfältig. Es ergibt kein Gesamtbild im Singular, sondern viele verschiedene Perspektiven. Je mehr man von der Epoche weiß, desto weniger kann man sie als Einheit beschreiben. ‹Romantik› ist deshalb kein Begriff, den man nach bestimmten Eigenschaften widerspruchsfrei definieren könnte. Es handelt sich vielmehr um einen Sammelnamen, der ganz Unterschiedliches benennt. Wollte man das alles angemessen zusammenfassen, würde es überkomplex. Man muss also auswählen und Akzente setzen.
Der Akzent in diesem Buch ist ungewohnt: Es soll darum gehen, Romantik als Fortschritt zu begreifen. Der Akzent liegt auf der Innovation, die mit der Romantik in die Welt kommt. Sie besteht weniger in neuen Überzeugungen, Meinungen oder Thesen als vielmehr in einer neuen Darstellungsweise. Sie ist ein Stilphänomen, das aber weit mehr als nur Stilistisches betrifft und unmittelbar auf die Weltanschauung und Lebenseinstellung durchschlägt. Damit gewinnt es philosophische und lebenspraktische Relevanz. Denn die Romantik entwickelt eine neue Umgangsform für das, was im Horizont menschlicher Verstehensbemühungen und Sinnsuche aufscheint, sich aber begrifflicher Erklärung entzieht. Es geht dabei um diejenigen Fragen, die als zu ungenau und spekulativ aus der Rationalität der arbeitsteiligen Wissenschaften herausfallen: Fragen nach einem möglichen umfassenden Sinn des Ganzen, nach dem Zusammenhang des Einzelnen mit diesem Ganzen, insgesamt nach Perspektiven jenseits von klaren und deutlichen Begriffen. Konzept und Erfolg der modernen Wissenschaften liegen darin, diese Fragen nicht zu stellen. Beantwortbar sind sie nur im Glauben, nicht mit überprüfbarem Wissen. Von jeher und bis heute sind es die Religionen, die diese Antworten geben und durch Glaubenslehren und Bekenntnisse stabilisieren.
Romantik aber ist ein eigener Modus, solche ungenauen, spekulativen Perspektiven jenseits klarer Begriffe zu eröffnen. Er entwickelt sich im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, in dem Milieu, das – am Ende des Aufklärungsjahrhunderts – die traditionellen Glaubenslehren und Bekenntnisse hinter sich gelassen hat und dies mit dem Gewinn an intellektueller Mündigkeit zugleich nostalgisch als Verlust empfindet: als Verlust an Ganzheitlichkeit. Romantik entsteht aus dem Bewusstsein, dass Menschen Fragen und Perspektiven entwickeln, die über ihre Begriffe hinausgehen, und dass es genau diese Begriffe und das begriffliche Denken überhaupt sind, die jede Beantwortung solcher Fragen in Zweifel ziehen müssen. Man bezeichnet diese Situation bildhaft als ‹metaphysische Obdachlosigkeit›: als Not der modernen Individuen, die von Glaubensfragen umgetrieben werden, ohne dass sie irgendwo Antworten fänden oder akzeptieren könnten. Romantik ist eine Methode, mit dieser Situation zurechtzukommen. Um das Bild aufzugreifen: Sie ist das Verfahren, die metaphysische Obdachlosigkeit durch imaginäre Bautätigkeit zu beheben. Das ist effizienter, als es zunächst klingt. Denn da die metaphysische ja keine reale, sondern nur eine metaphorische Obdachlosigkeit ist, die einen Bewusstseinszustand meint, kann sie, ja muss sie auf dieser Ebene auch beseitigt werden: Eine nur vorgestellte Heimat reicht hin. Romantik ist die Kunst, metaphysische Luftschlösser zu bauen. Sie wirkt, auch wenn man weiß, dass es Luftschlösser, also Einbildungen sind. In diesem Sinne ist Romantik das ‹selbstgemachte› und als Selbstgemachtes bewusste Jenseits oder, um es etwas poetischer auszudrücken, der gedichtete Himmel.
Ein Beispiel: Eichendorffs Gedicht Mondnacht, das viele noch auswendig kennen dürften. Es stellt sich durch sein Titelmotiv – den Mondschein bei Nacht –, durch seine einfache Volksliedform und dann auch durch die kunstvolle Vertonung durch Robert Schumann als Inbegriff von Romantik dar und geht so:
Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blüten-Schimmer
Von ihm nun träumen müßt’.Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.[2]
Man erschließt sich dieses Gedicht am einfachsten von der mittleren Strophe aus. Sie beschreibt eine Situation in der Natur, die zum Gedichttitel passt und ihn anschaulich macht. Das kurze «so» im vierten Vers zeigt an, dass dies aus der Perspektive eines empfindenden Subjekts geschieht. Denn das Wort verweist hier nicht auf ein überprüfbares Maß oder einen Vergleich, sondern drückt die Erlebnisintensität des Ichs aus, das sich im Possessivpronomen zu Beginn der nächsten Strophe nennt. Die erste Strophe leitet diese Naturwahrnehmung mit einem mythischen Vergleich ein: Die liebende Vereinigung von Uranos und Gaia – das sind die Götternamen für Himmel und Erde – steht am Anfang von Hesiods Theogonie (etwa 700 v. Chr.), dem ältesten Zeugnis der griechischen Mythologie. Sie bildet den Ursprung der Welt; ganz konkret als Zeugung und Geburt gedacht, geht alles aus dieser Verbindung hervor. Eichendorffs Kuss spielt auf diesen mythischen Ursprung an. Wenn man das Motiv ohne diesen Hintergrund sieht, kann man es als eine gefühlvolle Vermenschlichung der Horizontlinie verstehen. Im Anblick der vielen Blüten verschwimmt die Trennlinie zwischen Himmel und Erde, und der Kuss liefert eine sentimentale Metapher dafür.
Die dritte Strophe bietet abermals einen Vergleich («Als flöge sie nach Haus»). Er eröffnet eine transzendente Perspektive, die man christlich auslegen kann – aber nicht muss. Die individuelle Seele als geflügeltes Wesen vorzustellen, das nach dem Tod des Körpers zu seinem überirdischen Ursprung zurückkehrt: Das ist keine biblische und damit auch keine ursprünglich christliche Vorstellung. Sie stammt vielmehr aus der griechischen Philosophie und begegnet im Platonischen Seelenmythos, wie er etwa im Dialog Phaidros dargestellt wird. Die Propheten im Alten Testament und die Evangelien im Neuen sprechen dagegen von der Auferweckung und Auferstehung der Toten mit Leib und Seele am Jüngsten Tag. Doch hat sich der griechische Seelenmythos in den christlichen Glauben eingewoben und auch dort zu einer populären Anschauung von der Unsterblichkeit der Seele geführt. Viele mittelalterliche Gemälde stellen diese dar, indem sie kleine geflügelte Wesen aus den Mündern der Sterbenden entweichen lassen. Ohnehin dienen Vögel in der christlichen Ikonographie als Allegorien der Seele.
Eichendorffs Strophe ist deutlich genug, um Transzendenz und die Aussicht auf Unsterblichkeit zu markieren. Zugleich ist sie knapp und allgemein genug, um es offen zu lassen, ob damit ein religiöses Bekenntnis verbunden ist. Der Autor selbst war katholisch. Er entstammte einer oberschlesischen Adelsfamilie, die traditionell österreichisch geprägt war. Eichendorff blieb seiner Konfession treu, selbst als er aus finanzieller Not (der Familiensitz war hoch verschuldet) in den preußischen Staatsdienst trat. Der protestantischen Obrigkeit empfahl er sich damit nicht, so dass er über bescheidene Verwaltungsposten in Breslau, Danzig und Königsberg und schließlich im Berliner Kultusministerium nicht hinauskam. Ein aufrechter Katholik, könnte man sagen, der seine Konfession über seine Karriere gestellt hat. Man kann spekulieren, dass seine Seelenflug-Strophe für ihn genau die alte Frömmigkeit und Unsterblichkeitshoffnung ausdrückte, die in den Flügelwesen der christlichen Malerei des Mittelalters zur Anschauung kommen. Für das Verständnis des Gedichts aber spielt das keine Rolle. Denn dessen Eigenheit liegt gerade darin, dass es offen lässt, wie man die Transzendenz hier versteht und welchen Status man ihr zuspricht: Ist es eine mythische Vorstellung oder nur eine sentimentale Metapher wie der Vergleich in der ersten Strophe? Ist es der christliche Jenseitsglaube? Eichendorff formuliert so, dass er diese Möglichkeiten subtil in der Schwebe hält. Und genau darin liegt die Innovation der Romantik. Diese Schwebe ist das Stilphänomen, das auf Weltanschauung und Lebenseinstellung durchschlägt. Sie verwandelt den traditionellen Glauben in ein subjektives Erleben.
Man kann es noch genauer sagen: Eichendorffs Mondnacht schafft eine Stimmung, in der die Wahrnehmung der Natur, deren Vermenschlichung, subjektive Selbsterfahrung und Transzendenz ein harmonisches Ganzes bilden. Die Naturerfahrung wird zum Gesamtsinn, in dem sich der Einzelne eingebunden und ewig geborgen fühlen kann. Dass dies gelingt, verdankt sich den poetischen Mitteln: der Kohärenz der beschriebenen Situation und Stimmung sowie den konjunktivischen Vergleichen («als hätt’», «als flöge»), die das natürlich Wahrnehmbare zum mythisch und religiös Vorstellbaren erweitern. So erschafft das Gedicht ein metphysisches Obdach. Doch es hat keine andere Haltbarkeitsgarantie als seine künstlerische Überzeugungskraft. Man muss es als Gedicht, also in seiner sprachlich-ästhetischen Darstellungsweise, ansprechend und überzeugend finden, um den darin formulierten Sinn anzunehmen. Schumanns Vertonung kann für manche Menschen diese ästhetische Überzeugungskraft weiter steigern.
Ein Vergleich macht die Sache noch deutlicher. Ein anderes der bekanntesten Eichendorff-Lieder ist einem Gedicht aus Grimmelshausens Simplizissimus, dem barocken Schelmenroman über den Dreißigjährigen Krieg, nachgebildet. Es heißt Der Einsiedler, wobei der Titel die Sprecherrolle nennt: Ein Eremit begrüßt und empfängt die Abendruhe als Trost. Das Lied, das so entsteht, spiegelt sich bei Grimmelshausen motivisch im Nachtigallengesang. Eichendorff verwandelt ihn zum Gotteslob eines singenden Fischers, den der Eremit hört.
Grimmelshausen:
Komm, Trost der Nacht, o Nachtigall,
Lass deine Stimm mit Freudenschall
Aufs lieblichste erklingen;
Komm, komm, und lob den Schöpfer dein,
Weil andre Vögel schlafen sein
Und nicht mehr mögen singen![3]
Eichendorff:
Komm, Trost der Welt, du stille Nacht!
Wie steigst du von den Bergen sacht,
Die Lüfte alle schlafen,
Ein Schiffer nur noch, wandermüd,
Singt übers Meer sein Abendlied
Zu Gottes Lob im Hafen.[4]
Dass Eichendorff der barocken Vorlage folgt, ist überdeutlich. Die Veränderungen aber zeigen den historischen Abstand von fast zwei Jahrhunderten (Grimmelshausens Roman erschien 1668, Eichendorffs Gedicht 1837). Statt des Vogels wird die personifizierte Nacht angesprochen und deren Anbruch feinsinnig stimmungsvoll ausgemalt. So entsteht die subjektive Naturwahrnehmung, in der sich die Stimmung und die Gedanken des Sprechers spiegeln. ‹Seelenlandschaft› nennt man dieses Darstellungsverfahren. Es ist eine der Erfindungen und, wie auch das Gedicht Mondnacht zeigt, eines der Kennzeichen der romantischen Literatur. In Grimmelshausens Ansprache der Nachtigall kommt dagegen der allgemeine Schöpfungsglaube zum Ausdruck. In ihm verweist die Natur nicht auf das subjektive Empfinden, sondern auf Gott. Die Schönheit der Schöpfung, der Nachtigallengesang, preist den Schöpfer. Das Gotteslob ist hier das Programm, zu dem das Gedicht auffordert und das es selbst erfüllt. Bei Eichendorff ist es dagegen nur eine Wahrnehmung unter anderen. Es wird von einem Schiffer gesungen, und ob der, der es hört, sich ihm anschließt, bleibt offen. So zitiert Eichendorff das barocke Gotteslob und rückt es zugleich auf Distanz. Das hält sich bis zur letzten Strophe durch, in der die Morgenröte motivisch über die Nacht hinaus führt.
Grimmelshausen:
Nur her, mein liebstes Vögelein,
Wir wollen nicht die Fäulste sein
Und schlafend liegen bleiben,
Sondern bis dass die Morgenröt
Erfreuet diese Wälder öd,
Im Lob Gottes vertreiben.
Eichendorff:
O Trost der Welt, du stille Nacht!
Der Tag hat mich so müd gemacht,
Das weite Meer schon dunkelt,
Laß’ ausruhn mich von Lust und Not,
Bis daß das ew’ge Morgenrot
Den stillen Wald durchfunkelt.
In beiden Fällen hat das Morgenrot neben seiner wörtlichen die symbolische Bedeutung des jenseitigen Heils. Bei Grimmelshausen liegt dies an der expliziten Religiosität des Liedes. In diesem Rahmen entsprechen die Mahnung gegen Trägheit und die Aufforderung zum Glaubenseifer genau der christlichen Moral. Der öde, dunkle Wald und das Morgenrot funktionieren vor diesem Hintergrund als Metaphern der irdischen Mühsal und des himmlischen Heils. Eichendorffs «ew’ges Morgenrot» steht in dieser Tradition. Da bei ihm aber das Gotteslob nicht das Programm des Gedichtes ist, sondern nur ein beiläufiges, distanziertes Motiv, bleibt die symbolische Bedeutung genauso unentschieden wie die Jenseitshoffnung in der Mondnacht. Wer will, kann das Morgenrot religiös verstehen. Das Adjektiv ‹ewig› eröffnet eine Transzendenz, ohne sie auf eine bestimmte Weise zu füllen.
Anders als bei Grimmelshausen gibt es auch keinen Kontext, der Orientierung böte. Denn Eichendorffs Einsiedler erschien als eigenständiges, autonomes Gedicht. Der Erstdruck findet sich in einer literarischen Publikation, die den damals sehr beliebten, vielfach verwendeten Titel «Musenalmanach» trägt. Unter dieser Bezeichnung kamen seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zahlreiche Jahrbücher heraus, die zumeist poetische Kleinformen versammelten. Die antiken Göttinnen, die Musen, stehen dabei für die Literatur als ‹Schöne Kunst› – mit dem Göttlichen als Glaube und Bekenntnis haben sie gerade nichts zu tun. In Grimmelshausens Roman hingegen ist der Einsiedler, der das Lied singt, eindeutig ein frommer Christ. Sein eigenes Schicksal sowie die im Roman geschilderte Kriegswelt bilden die konkreten Bezugspunkte, durch die wir die letzte Strophe als christliche Bewältigung des irdischen Leids lesen. Bei Eichendorff ist Der Einsiedler nur ein Gedichttitel, der eine lyrische Sprecherrolle markiert. Dass er ursprünglich für religiöse Weltflucht und asketische Gottesandacht stand, bleibt als Traditionswissen präsent, doch wird dieses im neuen Kontext des Musenalmanachs neutralisiert. In ihm geht es allein um die Verse und die Vorstellungen, die sie erwecken. Die Grimmelshausen-Leser sind, wenn sie zu dem Liedtext kommen, klar darüber orientiert, dass hier eine bestimmte Glaubenspraxis zum Ausdruck kommt. Die Eichendorff-Leser haben – mit dem Musenalmanach genauso wie mit einer heutigen Anthologie oder Werkausgabe – nichts als die Verse selbst. Es liegt damit an ihnen, ob und wie sie deren religiöses Potenzial aufnehmen.
Das Spezifische des romantischen Gedichts liegt also nicht nur in ihm selbst, sondern auch in der Bereitschaft des Lesers, einen literarischen Text als eigene weltanschauliche Position ernst zu nehmen – auch dann, wenn diese Position keine andere Beglaubigung hat als die Kunst, mit der sie dargestellt und formuliert ist. Literatur dient damit nicht mehr nur der Vermittlung und Verbreitung bestehender Glaubenslehren. Sie tritt mit ihren sprachästhetischen Sinnangeboten vielmehr an die Stelle des traditionellen Glaubens.
Wie anhaltend erfolgreich die romantische Dichtung damit ist, zeigt die Tatsache, dass die letzte Strophe von Eichendorffs Mondnacht heute sehr oft in Trauer- und Todesanzeigen Verwendung findet. Das Motiv des Heimflugs der Seele kann wie gesagt populär christlich gelesen werden, ist aber in diesen Versen eine autonome poetische Imagination ohne bestimmten Glaubensbezug. Sie ist eine schöne Vorstellung, von der man weiß, dass sie eine schöne Vorstellung und keine überprüfbare Tatsache ist. Sie eröffnet eine transzendente Perspektive, ohne dass man übernatürliche Vorgänge für buchstäblich wahr halten oder sich zu bestimmten Glaubensinhalten bekennen müsste. Wie anders dagegen ist es, wenn statt der Eichendorff-Verse Bibelzitate auf der Todesanzeige stehen, etwa aus dem Johannes-Evangelium (6,47): «Wer glaubt, hat ewiges Leben.» Dann ist die Unsterblichkeitshoffnung eine Frage der Konfession. Das romantische Gedicht passt mit seiner Zwanglosigkeit in die moderne, säkulare Gesellschaft. Diese Zwanglosigkeit ermöglicht einen metaphysischen Trost ohne Metaphysik. Mit ihm kann man den Verlust eines nahestehenden Menschen emotional leichter bewältigen, denn das menschliche Fühlen und Befinden folgt ja nicht nur dem Wissen, das man hat, sondern auch den Vorstellungen, denen man sich hingibt. Eichendorffs Strophe baut das Luftschloss, in dem man der Endgültigkeit des individuellen Todes entgehen kann.
«Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte.»[5] Das schreibt nicht Friedrich Nietzsche oder ein anderer erklärter Religionsgegner, sondern der evangelische Theologe Friedrich Schleiermacher. Der Satz pointiert, was in Eichendorffs Gedichten zu beobachten ist: Die Leistung des individuellen, aktuellen Schriftstellers tritt an die Stelle der kanonischen Religionstexte. Eichendorffs Gedichte sind freilich keine neuen Heiligen Schriften. Doch belegen sie die subjektive, schriftstellerisch-kreative Transzendenz, die für Schleiermacher die Religion ausmacht.
Als er diesen Satz im Jahr 1799 veröffentlichte, arbeitete Schleiermacher als Prediger an der Berliner Charité. Zwei Jahre zuvor hatte er in einem Berliner Salon Friedrich Schlegel kennengelernt. Die Gastgeberin war Henriette Herz, die erste Repräsentantin der großbürgerlichen Salonkultur in Berlin um 1800, die vor allem von intellektuellen jüdischen Frauen angeführt wurde. In diesem Salon begegnete Friedrich Schlegel auch seiner späteren Ehefrau Dorothea Veit; der Schriftsteller Ludwig Tieck, der Philosoph Johann Gottlieb Fichte und auch die Brüder von Humboldt gehörten zu den Gästen. Die Freundschaft zwischen Schleiermacher und Schlegel war so intensiv, dass beide eine Wohngemeinschaft in Berlin eingingen. Auch steuerte der junge Berliner Theologe (er war keine 30, als er Schlegel kennenlernte) eigene Beiträge zu der Zeitschrift Athenaeum bei, mit der der Jenaer Romantikerkreis um die Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel zwischen 1798 und 1800 die Leserschaft provozierte. Sein eigenes frühes Hauptwerk aber sind seine Reden Über die Religion von 1799, aus denen der zitierte Satz stammt. Der vollständige Titel lautet: Über die Religion. Reden an die gebildeten unter ihren Verächtern.
Der Untertitel ist raffiniert. Er greift die am Ende des Aufklärungsjahrhunderts etablierte religionskritische Stimmung auf, spitzt sie zu (nicht jeder Kritiker ist gleich ein Verächter) und schafft sich auf geradezu schmeichlerische Art eine eigene Adressatengruppe. Das aufklärerisch religionskritische Publikum wird zugleich provoziert (‹ihr Religionsverächter!›) und in seiner Eitelkeit zu packen versucht: Wer zuhört oder liest, darf sich zu den Gebildeten zählen.
Wenn man nur den Titel liest, kann man in ihm das Klischee bestätigt finden, die Romantik sei als Gegenwendung zur Aufklärung zu verstehen: Nach der Epoche der Religionskritik nun die Rückbesinnung. Das aber ist falsch. Denn Schleiermachers Reden sind keine Rück-, sondern eine Neubesinnung auf die Religion, und zwar eine solche, die mit der Kritik der Aufklärer groß geworden ist und nicht hinter sie zurückfällt. Es geht Schleiermacher nicht darum, alte kirchliche Autoritäten oder volkstümliche Frömmigkeit zu verteidigen oder gar wiederzubeleben. In deren Ablehnung solidarisiert er sich vielmehr mit den angesprochenen ‹Religionsverächtern›. Genauso lehnt er allerdings den Versuch der Aufklärungstheologie ab, den christlichen Glauben zu rationalisieren.
Im 18. Jahrhundert gab es viele Versuche, das Christentum dem Zeitgeist anzupassen, indem man es im Wesentlichen als eine moralische Praxis interpretierte. Damit sollten sich zugleich aller Dogmatismus und jeder Wunderglaube erledigen, insofern man sich auf diejenigen Glaubensinhalte konzentrierte, die aus vernünftigen Gründen als das moralisch Richtige erschienen. Religionswahrheiten in Vernunftwahrheiten überführen, hieß die Devise. Schleiermacher hielt nichts davon. Abfällig spricht er von den «übel zusammengenähten Bruchstücken von Metaphysik und Moral, die man vernünftiges Christentum nennt».[6] Sein Religionsverständnis setzt dagegen auf das Nicht-Rationale, auf das sinnliche Empfinden des Menschen. Seine Definition lautet knapp: «Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche» oder auch: «Anschauen des Universums».[7] Das sind zunächst einmal paradoxe Formulierungen. Denn wie soll man sinnlich erfassen, was die sinnliche Fassungskraft übersteigt? Das Unendliche entzieht sich dem menschlichen Sinn, das Universum seiner Anschauung. Genau in diesen Paradoxien kann man Schleiermachers Versuch erkennen, Religion als das zu bestimmen, was der Mensch zwar fühlen, aber nicht rational erfassen, also auch nicht begrifflich definieren kann. Seine Definitionen sind strategische Verweigerungen. Sie definieren, d.h. umgrenzen nicht durch klare Begriffe, sondern weisen auf etwas hin, was sich begrifflicher Klarheit entzieht. Schleiermacher formuliert damit auf seine Weise, was ich hier anfangs als Ausgangssituation der Romantik skizziert habe. Es geht um Vorstellungen vom großen Ganzen, von einem umfassenden Sinn, die jenseits aller klaren Begriffe liegen.
Schleiermacher ist ein Gegner der Aufklärungstheologie, doch kein Gegner der Aufklärung. Wenn er sich gegen die Versuche wendet, das Christentum als vernunftgemäße Ethik zu rationalisieren, so teilt er doch die Absicht, Dogmatismus, Wunder- und Offenbarungsglauben sowie autoritätshörige Frömmigkeit hinter sich zu lassen. Es geht ihm nicht um ein altes, verlorenes Religionsverständnis, sondern um ein neues. Schleiermacher zieht aus der aufklärerischen Religionskritik die Konsequenz, die Religion als ein im menschlichen Gefühl angelegtes, sinnlich-emotionales Weltverhältnis zu verstehen. Doch es wäre abermals ein falsches Klischee, die Romantik damit als Gefühlskult gegen die Aufklärung als Vernunftkult zu stellen. Denn zur Aufklärung gehört gleichermaßen das Interesse am Menschen als fühlendem, empfindendem Wesen. Wenn man sich das in der Aufklärung entstandene Menschenbild aufs Knappste vergegenwärtigen will, kann man sich an den Titel einer Abhandlung von Johann Gottfried Herder halten: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Herder antwortete damit auf eine Preisfrage der Berliner Akademie im Jahr 1774, die auf diese beiden «Grundkräfte der Seele» und auf deren Verhältnis zueinander zielte. Er argumentierte gegen den Körper-Geist-Dualismus für die Einheit des Menschen als eines sinnlich-intellektuellen Wesens. Es ist daher zu einseitig, die Aufklärung mit Rationalismus gleichzusetzen. Was die Aufklärungsschriftsteller bewegt, ist, um es mit einem Wort zu sagen, nicht das Interesse nur am ‹vernünftigen› Menschen, sondern das am ‹ganzen› Menschen. Oder anders gewendet: an der menschlichen Natur. Die Aufklärung ist auch die Gründungszeit der Anthropologie. Darin steckt ein kritischer Impuls gegen die Tradition, insbesondere die traditionelle Metaphysik. Denn deren Lehren sollten nun anhand der beobachtbaren menschlichen Bedingungen, Eigenschaften und Verhaltensweisen überprüft werden. Gegenüber der christlichen Theologie und dem frühneuzeitlichen Rationalismus (Descartes, Leibniz) führte dies zu einer «Rehabilitation der Sinnlichkeit», wie man mit einer gern zitierten Formel sagen kann.[8]
Schleiermacher setzt diesen Prozess fort, indem er die Sinnlichkeit zum Organ der Transzendenz erklärt. Das ist paradox, wenn man unter Transzendenz das ‹Überschreiten› der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit hin zum ‹Übersinnlichen› versteht. Es ist jedoch ganz und gar nicht paradox, wenn man unter der Sinnlichkeit nicht nur rezeptiv die Wahrnehmung, sondern auch produktiv die Einbildungs- und Vorstellungskraft versteht. Denn es ist ein alltägliches Phänomen, dass Menschen mit diesen Vermögen über Wahrnehmung und Erfahrung hinausgehen. Daraus hat man seit der Antike ein religionskritisches Argument gemacht: Die Menschen bilden sich ihre Götter nur ein, sie sind nichts als Produkte ihrer Fantasie. Das epochal Neue, das mit der Romantik einsetzt, besteht darin, in dieser Aussage das ‹nur› wegzulassen und sie nicht als Religionskritik, sondern als eine Neuinterpretation religiöser Transzendenz zu verstehen. Die Menschen bilden sich ihre Götter ein, sie sind Produkte ihrer Fantasie. So ist es. Doch muss man mit dieser Erkenntnis die Götter nicht abschaffen, Transzendenz nicht verneinen. Man kann sie vielmehr als unverzichtbare menschliche Dimension ernst nehmen, als eine Dimension, die man braucht, um mit den Fragen umzugehen, die über unsere klaren Begriffe und empirischen Überprüfungsmöglichkeiten hinausgehen. Diese keineswegs gegenaufklärerisch reaktionäre, sondern progressive Neubesinnung auf Religion bringt Friedrich Schlegel auf den Aphorismus: «Laßt die Religion frei, und es wird eine neue Menschheit beginnen.»[9] ‹Freilassen› heißt, sie von den kirchlichen Institutionen, Dogmen und Konfessionen zu lösen und der kreativen Vorstellungskraft jedes und jeder Einzelnen anheimzustellen. Es geht, wie Schleiermacher sagt, um selbstgemachte, nicht offenbarte heilige Schriften. Wie sie aussehen können, zeigen Eichendorffs Gedichte.
Dieser fortschrittliche Anschluss an die Aufklärung ist ein Aspekt der Romantik, der im allgemeinen Bild von ihr verblasst ist. Es ist ungewohnt, sich bewusst zu machen, dass Eichendorffs Lieder zu diesem Fortschritt gehören. Sie bezeugen genau das ‹Freilassen der Religion›, von dem Schlegel spricht. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Autor selbst sie so erklärt hätte, wie man es mit Schleiermachers Reden rückblickend tun kann. Entscheidend ist, dass seine Texte die freie religiöse Einbildungskraft anregen, die Schleiermacher und Schlegel meinen. Man kann die Mondnacht kitschig finden, doch repräsentiert das Lied als heute wohl bekanntestes Beispiel den Schritt zur Subjektivierung und ästhetischen Liberalisierung des Religiösen, die wir der Romantik verdanken.
Im Kreis der Jenaer Frühromantik, zu dem Schlegel und Schleiermacher gehörten (der also auch eine Berliner Dependance hatte – Friedrich Schlegel war abwechselnd in beiden Städten ansässig), wurde dieser fortschrittliche Impuls am deutlichsten reflektiert und mit dem Programmwort ‹Romantik› verbunden. Als literarisches Phänomen aber ist diese freigelassene religiöse Einbildungskraft keine Jenaer oder Jenaer-Berliner und auch keine allein deutsche Erfindung. Sie ereignete sich vielmehr etwa gleichzeitig in mehreren europäischen Literaturen. Wir werden das an englischen, französischen und italienischen Beispielen sehen, die mitunter nichts voneinander wussten. Wie die Aufklärung ist auch die an sie anschließende Romantik ein europäisches Phänomen. Was an neuen Impulsen in der Literatur begann und dann die weiteren Künste und nicht nur die Künste erfasste, wurde in Berlin und der kleinen Universitätsstadt Jena um 1800 nur am engagiertesten als Programm der Romantik formuliert und damit bewusst gemacht. Das Phänomen aber ist internationaler und breiter, als es den deutschen frühromantischen Programmatikern bekannt war.
Um das zu sehen, muss man zwischen Romantik als Diskurs (also bestimmten Verwendungen der Ausdrücke ‹romantisch› und ‹Romantik›) und Romantik als Phänomen (also bestimmten Qualitäten literarischer Texte oder anderer Kunstwerke) unterscheiden. Das ist nichts Ungewöhnliches: Englische Lyriker wie William Wordsworth, Samuel Taylor Coleridge oder Lord Byron bezeichnet man etwa als Romantiker, auch wenn sie sich selbst gar nicht so nannten, und sogar die Gedichte des Italieners Giacomo Leopardi werden der Romantik zugezählt, obwohl sich ihr Verfasser programmatisch als Klassizist gegen die italienischen Romantiker gestellt hat. Texte kann man aufgrund bestimmter Eigenschaften romantisch nennen, unabhängig davon, ob und wie die Autoren am Romantikdiskurs teilnahmen.
Der Diskurs ist zudem in den verschiedenen Ländern ein anderer, je nach den spezifischen Bedingungen und Situationen. ‹Romantisch› und ‹Romantik› sind um 1800 Parolen zur literarischen und kulturpolitischen Mobilmachung. Sie passen sich in die jeweiligen Herausforderungen und Streitstellungen ein und verändern dabei ihre Bedeutung. Der Romantikdiskurs ist entsprechend vielstimmig und so bewegt wie die politisch-kulturellen Veränderungen zwischen dem Ende des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts. Wenn man dagegen Phänomene als ‹romantisch› bezeichnet, tut man das aus heutiger Distanz und in der Absicht, epochale Neuerungen und Ähnlichkeiten kenntlich zu machen. So verwendet, verliert das Wort die vielen Schwankungen, die es in den mit ihm geführten Debatten hat. Wenn man sich nicht auf den Standpunkt stellen will, dass Romantik alles ist, was jemals jemand so genannt hat, dann ist dieses auf die Phänomene bezogene Verständnis eine brauchbare Alternative. Sie beruht auf einer Auswahl dessen, was man an dem komplexen Großphänomen, das mit dem Wort ‹Romantik› verbunden ist, für entscheidend hält und für die heutige Erinnerung hervorheben will.
In diesem Sinne setzt die Romantikdarstellung in diesem Buch bei dem Phänomen an, das mit Eichendorffs Liedern präsentiert und mit Schleiermacher und Schlegel erklärt wurde. Was den historischen Romantikdiskurs betrifft, bekommen die deutschen Frühromantiker damit den Vorzug. Das lässt sich damit rechtfertigen, dass von ihnen die stärksten Impulse für die Karriere des Begriffs in Europa ausgingen. Die Phänomene, die sich mit der frühromantischen Theoriebildung erklären lassen, sind aber internationaler, als es die Berliner und Jenaer im Blick hatten, und sie entstanden auch ganz unabhängig von ihnen an anderen Orten. Wenn in den folgenden Kapiteln immer wieder die Konzepte der deutschen Frühromantiker herangezogen werden, dann heißt das also nicht, dass von hier aus alles seinen Anfang nahm. Es ist nur so, dass diese Konzepte passen und helfen, die zeitgenössischen phänomenalen Neuerungen zu erklären. Die jungen Jenaer und Berliner Köpfe sind zu ihrer Zeit die hellsten, die die aktuelle Dynamik in der Literatur erfassen. Und diese von ihnen auf den Begriff ‹Romantik› gebrachte Dynamik ist alles andere als eine Gegenaufklärung – sie ist nach der Aufklärung der zweite entscheidende Schritt zur europäischen Moderne.