Benedikt Stuchtey
GESCHICHTE DES
BRITISCHEN EMPIRE
C.H.Beck
Nach dem Ersten Weltkrieg erreichte das Britische Empire seine größte Ausdehnung und umfasste fast ein Viertel der Landfläche der Erde. Aber dieses Imperium war nicht homogen, sondern ein ständig umkämpftes Projekt. Es wurde vorangetrieben vom Finanzkapitalismus der Londoner City wie vom Pioniergeist Einzelner, von Siedlern, Missionaren und Händlern. Während im Commonwealth heute eine Gemeinschaft von Staaten fortbesteht, leben auch die Schattenseiten des Empire weiter: von der Vertreibung und Vernichtung der indigenen Bevölkerung über Sklaverei, Ausbeutung und Hungerkrisen bis hin zu den Kolonialkriegen. Benedikt Stuchtey stellt die 500-jährige Geschichte des Britischen Empire in konzentrierter Form und im Vergleich mit anderen Imperien der neueren Geschichte dar.
Benedikt Stuchtey war von 2004 bis 2013 stellvertretender Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London und hat seit 2013 den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Philipps-Universität Marburg inne. Er hat Gastprofessuren und Visiting Fellowships u.a. an den Universitäten Basel, Cambridge, München und New Delhi wahrgenommen. In C.H.Beck Wissen ist von ihm außerdem erschienen: Geschichte Irlands (2012).
1. Einleitung
2. Die Anfänge bis zur Eroberung Jamaikas 1655
Voraussetzungen der Kolonisierung
Christentum und Handel
Seefahrt und Siedlung
Englische Kolonisierung
Der atlantische Raum
Folgen
Neuengland 1656
3. Restauration in England und Revolution in Amerika, 1660–1776
Etappen der Ausdehnung
Institutionen und Faktoren
Handelsstaat England
Sklaverei
Europa und das Empire
Politische Theorien von Locke bis Smith
Belle Estate, Barbados 1710
4. Zwischen Plassey und Trafalgar, 1757–1805
Indien
Kanada und Irland
Politisches Denken
Cook-Inseln 1773
5. Von der Abschaffung des Sklavenhandels zur Großen Weltausstellung in London, 1807–1851
Humanität als Argument
Wirtschaftspolitik
Finanz und Mission
Siedlungskolonialismus
Stabilitätssuche, Reform und Verwaltung
Unsicherheiten
Kultur und Empire
Hongkong 1842
6. Gold in Australien und Massaker in Amritsar, 1851–1919
Land
Indien
Wahrnehmung der kolonialen Welt
Kräftefelder der Expansion
Krisen
Afrika und die Dominions
Von Afrika nach Indien
Koloniale Gewalt
Erster Weltkrieg
Vancouver 1865
7. Von Versailles bis zur Teilung Indiens, 1919–1947
Das Mandatssystem
Auflösungserscheinungen
Quit India
Zweiter Weltkrieg
Irak 1923
8. Dekolonisation: Palästina, Kenia, Hongkong und andere, 1948–1997
Faktoren
Anfänge
Umbrüche
Wind of Change bis 1997
Empire Windrush 1948
9. Bilanz
Verzeichnis der Kolonien, Dominions, Protektorate und Mandatsgebiete
Weiterführende Literatur
Personenregister
Für Florian und Felicitas
Zahlreiche Miniaturen des Britischen Empire befinden sich im Zentrum Londons, seiner first city. In den 500 Jahren zwischen dem ersten Kontakt mit dem amerikanischen Kontinent auf Neufundland 1497 und der Übergabe Hongkongs an China 1997 haben sich in Reaktion auf die globale Präsenz des Empire viele Denkmäler und Monumente, Plätze und Straßen, auch ganze Stadtteile wie das East End als sozialer Spiegel der Immigration, in die Architektur Londons eingeschrieben. Das 1875 im neogotischen Stil fertiggestellte Albert Memorial im Hyde Park, das die vier Kontinente Europa, Afrika, Asien und Amerika versinnbildlicht, und das Poster von Ernest Dinkel, Visit the Empire by London’s Underground (1933), das zu einer imaginären Reise nach Indien oder Südafrika, Nigeria oder Burma einlud, gehören ebenso dazu wie die mit Flaggen geschmückte Westminster Abbey. Gandhis Statue auf dem Parliament Square (2015) steht unweit derjenigen Churchills, als bekundete das moderne Großbritannien demonstrativ seine Abkehr von alten Traditionen. Nach eigener Aussage hatte Churchill das Empire noch wegen des «Prunks, des Pomps und des stets gekühlten Champagners» geliebt.
Nach dem Ersten Weltkrieg erfuhr es seine größte Ausdehnung und umfasste nahezu ein Viertel der Landfläche der Erde. Schon viktorianische Karten dokumentierten die Dominanz, so die Imperial Federation Map (1886) von Walter Crane. Um die Meere zu regieren, ruht Britannia auf der Weltkugel und nimmt die Huldigungen der Repräsentanten aller von ihr beherrschten Weltregionen entgegen. Freiheit, Brüderlichkeit und Föderation sind Leitbegriffe seit den Anfängen der Tudorkönigin Elisabeth I. bis zur Spätphase der Regierungszeit Königin Elisabeths II.
Jedem der sieben chronologisch geordneten Hauptkapitel wird in diesem Buch ein für die jeweils behandelte Zeitspanne repräsentativer Erinnerungsort beigefügt, eine Region (2), eine Sklavenplantage (3), eine Inselgruppe (4), eine Kolonial- und eine Hafenstadt (5+6), ein Mandatsgebiet (7) und ein Schiff (8). Auch andere Orte und Räume wären denkbar: das Londoner Wembley-Stadion als Austragungsort der Empire Exhibition von 1923; Greenwich als ehemaliges Zentrum der Marine und Standort der Sternwarte zur Markierung des Nullmeridians (seit 1884), mithin zur globalen Kontrolle und Vereinheitlichung der Zeitzonen, in deren Folge der urbane Raum Großbritanniens und des Empire mit Turmuhren dicht bestückt wurde; das 1888 fertiggestellte Bahnhofsgebäude des Chhatrapati Shivaji Maharaj Terminus in Bombay (Mumbai), seinerzeit die repräsentativste Herrschaftsarchitektur Britisch-Indiens; ein Netzwerk von über 40 vegetarischen Restaurants, die es in London um 1900 gab, stellvertretend für die Vegetarian Society, deren Mitglied auch Gandhi war; das British Empire and Commonwealth Museum (2002–2013) in Bristol; die südafrikanische Stadt Ladysmith nahe der Grenze zu Natal, wo während des Burenkriegs britische Truppen fast 120 Tage eingeschlossen waren. Die hier ausgewählten Erinnerungsorte sind zum einen Schlaglichter besonderer Momente der Empiregeschichte, zum anderen können sie auch symbolisch übergeordnet verstanden werden. Sie lassen kleinere Räume denken als die von der Forschung revidierten älteren Konzepte eines «atlantischen ersten Empire» bis 1800, eines «asiatischen zweiten Empire» bis 1920 oder der «Aufteilung Afrikas». Daraus schlussfolgernd ist es wichtig, ein Kolonialreich stets in seiner Reziprozität zu betrachten: «Metropole» und Kolonien sowie die Kolonien untereinander waren wechselseitig aufeinander bezogen.
Folgende Gedanken liegen dem zugrunde: Erstens gab es nicht ein Britisches Empire, sondern eine Vielzahl fragmentierter Formen von Kolonialismen und Imperialismen. Die beeindruckende Rotfärbung der «maps of empire» suggerierte eine räumliche Expansion in einer ununterbrochenen Zeitspanne und den Eindruck von beständiger Macht. Das britische Rot auf den Weltkarten prägte sich wie das Blau für das französische Kolonialreich und das Gelb des deutschen Kaiserreichs in das kollektive Bewusstsein ein. Die imperiale Farbenlehre vermittelte den Eindruck, Imperien wären uniform und homogen wie das Modell des Nationalstaats. Aber schon Adam Smith zufolge war das Empire ein «Projekt», angewiesen auf offene Verbindungen, fortwährend umkämpft und umstritten, an seinen durchlässigen Grenzen und im Inneren in dauernder Selbstverteidigung begriffen, die wiederum einerseits koloniale Gewalt, andererseits mangelhafte Durchdringung der Kolonien bedeutete. Wie jedem anderen Imperialstaat fehlten auch dem britischen zur Durchsetzung der lokalen Kontrolle die Mittel, was Kooperation vor Ort notwendig machte. Handelskompanien der Vormoderne und Mandatsgebiete nach 1919 machten die gleiche Erfahrung.
Zweitens war das lange 19. Jahrhundert zwischen Amerikanischer Revolution (1776) und Statut von Westminster (1931) die wichtigste Epoche des Empire. Betrug im Jahr des ersten Zensus (1801) die Bevölkerungszahl Englands neun Millionen, so waren es 40 Millionen im Jahr 1900. Auch die Zahl der Einwohner Londons wuchs kontinuierlich: Um 1800 waren es knapp unter einer Million, um 1900 bereits über sieben Millionen.
Ein Bundesstaat im Südosten Australiens, die Hauptstadt der Provinz British Columbia in Kanada, der größte Binnensee Afrikas: Sie alle sind nach Königin Viktoria, seit 1876 auch Kaiserin Indiens, benannt. In den 64 Jahren ihrer Regierung (1837–1901) führte das Empire 72 Kriege, ein Zeitalter der Pax Britannica. Viermal besuchte die Queen Irland (1849, 1851, 1861, 1900), kein einziges Mal den Rest des Empire. Ihr Enkel, der spätere König Georg V., glich dies mit seiner pompösen Royal Tour 1901 aus, die ihn um die ganze Welt führte. Viktorias Söhne Albert Edward und Alfred hatten schon 1860 durch ihre Reisen nach Kanada und Südafrika die royale Sichtbarkeit gesteigert und die imaginäre Gemeinschaft über die weite Distanz gestärkt. Im Alltag war Viktoria durch Münzen, Briefmarken und Denkmäler allgegenwärtig. Das Empire sollte als eine große Familie verstanden werden, mit einem «Mutterland» England und den Kolonien als Kindern, die eines Tages in die Unabhängigkeit entlassen werden würden. Die königliche Familie stiftete Gemeinschaft und Identität, aber sie musste sich ständig neu inszenieren.
Eindrucksvoll gelang die Symbiose bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, dann rief Gandhi seine Anhänger dazu auf, alle Orden und Ehrenzeichen (Star of India) zurückzugeben, die das Empire verliehen hatte, um die kolonialen Herrschaftssymbole für nichtig zu erklären. Auch Ausnahmen wie die Frankokanadier, die sich mit diesen Formen der Vergemeinschaftung nicht identifizierten, bestätigten die Regel. Andererseits konnte Elisabeth II. anlässlich ihrer Krönung 1953 Königin Salote Tupou III. begrüßen, seit 1918 und bis zu ihrem Tod 1965 Herrscherin über Tonga im südlichen Pazifik. Freiwillig hatte sich das Archipel im Jahr 1900 unter britisches Protektorat gestellt.
Drittens entfaltete Großbritannien im Zeichen der globalen Matrix seines Empire das breite Panorama aller Formen von Kolonisation inklusive der frühen Erfahrung der Dekolonisation in Amerika: die Gründung von Kronkolonien, Siedlungskolonien, Dominions, Protektoraten, Mandatsgebieten, Kondominien, Stützpunktkolonien sowie der Ausbau eines dichten Netzes von Kolonialstädten zwischen Boston und Bridgetown, Dublin und Delhi, Kingston und Kapstadt. Kronkolonien unterstanden der direkten Verwaltung und Rechtsprechung der Monarchie. Demgegenüber hatten Dominions als ehemalige Kolonien allmählich politische Autonomie gewonnen. Protektorate sollten den Verzicht auf umfassende Kontrolle durch London zum Ausdruck bringen und vorhandene regionale Herrschaftsstrukturen respektieren. Zwischen 1898 und 1956 bildete der Sudan ein von Kairo mitregiertes Kondominium. Mandatsgebiete wie der Irak wurden unter den Siegermächten des Ersten Weltkrieges verteilt; unter der Aufsicht des Völkerbunds wurden u.a. auch Südafrika und Australien (für Südwestafrika bzw. Neuguinea) beteiligt.
Einzigartig war schließlich die Gründung des Commonwealth, verfassungsrechtlich im Westminster-Statut anerkannt, die auf Arthur Balfours Definition der Dominions und auf Lionel Curtis’ Initiative zurückging. Sie verpflichtet zur Gleichberechtigung der Mitglieder sowie zur Treue zur Krone. Trotz der Entkolonialisierung blieb damit eine Staatengemeinschaft bestehen. 1949 fiel das Präfix «British» fort, unwiederbringlich war der Empiregedanke nun vom Commonwealth absorbiert. Dabei bestand kein «Sonderweg», der den Mythos einer angeblichen nationalen Ausnahme und imperiale Nostalgie wie jüngst im Kontext des «Brexit» hervorrufen kann. Der Dekolonisationsprozess muss stattdessen als ein globaler verstanden werden, der nach wie vor nicht abgeschlossen ist, weil Vorstellungswelten des Empire in Denkmälern, Straßennamen und vielem mehr fortbestehen.
Viertens, je früher Kolonien gegründet wurden, umso wahrscheinlicher bestehen sie noch heute als abhängige Gebiete fort. Das betrifft eine verschwindende Minderheit kleiner Inseln, politisch und wirtschaftlich unbedeutend, doch strategisch oft entscheidend, wie das atlantische St. Helena während des Falkland-Krieges. Die Kronkolonie der Pitcairn-Inseln im südöstlichen Pazifik bewohnen keine 40 Menschen, die meisten von ihnen sind Nachfahren der Meuterer von der «Bounty» (1789). Die Inseln verkörpern die enge Verflechtung von ehemaliger Seemacht und Weltmacht und damit den globalen Anspruch, der sich in Begriffen wie «Global Britain», «Anglobalisierung», «Anglo-World», «Greater Britain», «Anglosphere», «Anglo-Saxonism» und «Atlanticism» spiegelt. Ob Imperien im Sinne einer translatio imperii vererbt werden, ist eine schon im Hochviktorianismus beliebte und unter dem Begriff der «special relationship» von vielen britischen Premierministern bis in die Gegenwart gern bemühte Vorstellung. Das Konzept, John Bull müsse sein Amt mit Uncle Sam erst teilen und es ihm dann übergeben, dient der Traditionsstiftung und entstammt der Wahrnehmung, Imperien seien überzeitlich, irreversibel und universell.
Fünftens hat kein anderes Kolonialreich der Weltgeschichte ein so breites Angebot an miteinander konkurrierenden Imperialismustheorien hervorgebracht wie das britische. Wie kam es zur kolonialen Expansion und wer und was waren die treibenden Kräfte? Mit den ersten Reiseberichten aus dem 16. Jahrhundert entstanden Rechtfertigungen für den Kolonialismus, im Zuge der Sklaverei und des Sklavenhandels wurden überdies Kritik und Ablehnung geäußert. John Robert Seeley führte mit seinem Buch The Expansion of England (1883) das Leitmotiv der britischen Geschichte auf das Empire zu, und er begriff es nicht jenseits der bis dahin dominanten Freiheitsdiskurse, sondern im Versuch der Engführung des Gegensatzpaares imperium et libertas. Unter seinen Zeitgenossen hingegen meinte er eine «geistige Abwesenheit» beobachten zu können, als wäre das Empire ohne ihre Beteiligung und die ihrer Vorfahren entstanden.
Dabei spielten sowohl im «Zentrum» wie in den Kolonien bei den für die Expansion Verantwortlichen und den von ihr Profitierenden rassistische Überzeugungen, die unter dem Eindruck von Darwinismus und Evolutionismus zu einem biologistischen Rassismus mutierten, eine große Rolle, außerdem Zivilisierungsmission, erzieherisches Sendungsbewusstsein, Exotismus, Orientalismus, die angebliche kulturelle, moralische und technische Überlegenheit des «Westens», Herrschaftswissen und Freihandelsimperialismus. Es war sein Ordnungsanspruch, der den hegemonialen Zugriff des britischen Weltprimats erzeugte. Das «Andere» wurde als defizitäres Zerrbild entworfen, das Gegensatzpaar «Orient» und «Okzident» war ein Konstrukt der Herrschaftsrhetorik. Indem das Empire über Zwang und Konsens nach innen integrierte und Identifikationen für alle gesellschaftlichen Schichten anbot, erklärte es sich in seiner kulturellen Autorität für allgemeingültig.
Das Fremde zu domestizieren, steht für eine sich als überlegen begreifende Herrschaft. Es zudem nutzbar und aus unfruchtbarem Boden einen Garten Eden zu machen, gleicht einer religiös überhöhten Handlung. Das gilt auch für Tiere als Agenten des Empire. Im königlichen Wappen halten Löwe und Einhorn den Schild, das Pferd diente den Kolonialbeamten weit mehr als nur zur Fortbewegung, und Tierschauen – neben den «Völkerschauen» – und der 1828 eröffnete Londoner Zoologische Garten genossen große Popularität. Die Bevölkerung der first city holte sich das Exotische gewissermaßen nach Hause. Wer nicht auf die Jagd ging und Distanz zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten hielt, der zähmte. George Stubbs hielt dies in seinem Gemälde A Cheetah and Stag with Two Indian Attendants (1765) fest.
Der Finanzkapitalismus der Londoner City, der in Großbritannien traditionell gepflegte Pioniergeist Einzelner, die treibenden Kräfte von Banken und Börse ebenso wie der Siedler und Missionare, Händler und Kolonialbeamten «vor Ort» fügten sich ineinander. Für die einen besaß das administrativ und militärisch gestraffte römische Weltreich, für die anderen das antike griechische Föderationsmodell Vorbildfunktion. So sollten im kanadischen Nova Scotia nach seinem Zusammenschluss mit Prince Edward Island (1763) britische Kriegsveteranen mit Parzellen zur landwirtschaftlichen Nutzung angesiedelt werden, vergleichbar der Veteranenversorgung in der römischen Antike. Das Experiment schlug aber fehl und man hatte wie in Irland mit dem Problem abwesender Großgrundbesitzer zu kämpfen.
Sechstens verfügte die Londoner Kolonialbürokratie (Colonial Office) über Experten mit exakten Detailkenntnissen der einzelnen Regionen des Empire. In der Regel zogen sie von Station zu Station und formten ein dichtes Gewebe aus Herrschaftswissen diesseits und jenseits der Metropole. Viele der Gouverneure entstammten dem niederen Adel aus dem anglikanisch geprägten East Anglia mit starkem Drang zu sozialem Aufstieg, ausgestattet mit einem bizarren Snobismus, traditionellem Konservativismus und der Auffassung der kolonialen Welt als einer Legitimationsressource und Kompensation für gesellschaftlichen Einflussverlust in Großbritannien.
Darunter waren Arthur Hamilton Gordon, Gouverneur der Fidschi-Inseln und jüngster Sohn des vierten Earl of Aberdeen, der später noch Neuseeland und Ceylon verwaltete, Lord Dufferin und der Duke of Argyll in Kanada, Lord Lugard in Nigeria, Lord Delamere in Kenia, Hugh Clifford in Malaya, Lord Milner in Südafrika, Earl Roberts in Afghanistan, Earl Kitchener zwischen Südafrika und Sudan, Lord Cromer in Ägypten. Zeitgenossen beschrieben sie wie wandelnde Weihnachtsbäume, behängt mit Sternen, Medaillen und Schärpen, Hermelinroben und Kronen. Dabei hatte der Alltag manche Depressionen, Nervenzusammenbrüche, Alkoholprobleme und ständigen Ärger mit der Dienerschaft zu bieten, und nicht zuletzt ständige Aushandlungsprozesse mit den indigenen aristokratischen Eliten, die auf Malta seit dem 11. Jahrhundert die Macht über die Insel beanspruchten und in Indien seit 1857 eine wichtige Rolle im Herrschaftszeremoniell des Raj (britische Herrschaft) übernahmen. Lukrativ waren die Posten der Kolonialbürokratie nicht, zuständig in Indien war der Indian Civil Service (1861–1947). Die vielen Empfänge verlangten private Mittel, denn der britische Staat hielt sich finanziell stets zurück gemäß der Grundregel eines möglichst kostengünstigen Kolonialismus. Aber man konnte auf einen Sitz im House of Lords hoffen. Der Kolonialadel war ein Relikt älterer Sozialstrukturen, ohne Wechselbeziehung mit den nationalistischen Leidenschaften der modernen Industriestaaten, eine Übergangserscheinung vor dem Horizont radikaler politischer Veränderungen, aber mit dem Habitus der Individualität. Sein soziales Kapital war mit dem Bild der entbehrungsreichen kolonialen Bewährung gut vereinbar.
Die Bank of England, das Finanzkapital der Versicherungen und der Schiffsindustrie, der internationale Gold- und Silbermarkt: Sie alle und viele mehr als individuelle Akteure und Institutionen predigten die Freiheit des Handels und profitierten von der Unfreiheit derjenigen, mit denen sie handelten. Den imperialen Staat machten überdies Anglikanische Kirche, Regierung und Parlament, Industrie und Landwirtschaft, wissenschaftliche Einrichtungen und Akademien, Arbeiterschaft, Bürgertum, Adel und Monarchie mit ihren jeweils eigenen Interessenlagen aus, ferner Medien wie die mächtige Boulevardpresse, die maßgeblich zur imperialen Propaganda beitrug. Überall im Land schossen Music Halls wie Pilze aus dem Boden, die den populären Jingoismus befeuerten, Ausdruck des übersteigerten und vom aggressiven Imperialismus begeisterten Nationalismus. Museen stellten Kunstwerke aus den Kolonien zur Schau. Militärparaden, Rundfunk und Film inszenierten die Popularität des Empire vor allem in den 1920er Jahren.
Edward Elgars Hymne Land of Hope and Glory (1902), Rudyard Kiplings Roman Kim (1901) und Joseph Conrads Heart of Darkness (1902), das Gemälde The Secret of England’s Greatness (1862/63) von Thomas Jones Barker: Beispielhaft trugen Musik, Literatur und Künste zu einem emotionalisierten Bild des Empire bei. Alltägliche Objekte wie Fotografien und Postkarten, Münzen und Briefmarken, Kolonialwaren und Klaviertasten aus Elfenbein prägten sich ins Gedächtnis der Nation ein, die eine imperiale geworden war. In den Kolonien konnten Uniformen oder dem englischen Zivilgericht nachgeahmte Perücken für Richter diese Symbolik haben. Bedeutsam wurde der Empire-Tourismus, mit dem Thomas Cook entstand. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde Ägypten zum Ziel von Massentouristen. 1837 ist das Geburtsjahr der Peninsular & Oriental Steam Navigation Company (P&O), der damals größten Reederei der Welt mit Sitz in London. Wissenschaften wie Botanik, Geographie, Kulturanthropologie, Ethnologie und Tropenmedizin begriffen sich als Motoren der Transformation.
Siebtens repräsentierten in den Kolonien u.a. Militär und Polizei, Verwaltung und Handel, international agierende Unternehmen, Gerichte und Schulen die Herrschaft. Auch Ingenieure, die Staudämme oder Bahnhöfe bauten, Stadtplaner und Architekten, die Kolonialstädte anlegten, Magnaten von Gold- und Edelsteinminen sowie Plantagenbesitzer, die Baumwolle produzierten und sie wie Jute zu einem globalen Konsumgut machten, waren Agenten des Kolonialismus, der Mentalitäten und Identitäten schuf. Dem Staats-Körper vergleichbar bildeten technische Artefakte (weltweites Telegrafensystem, Eisenbahnnetze) menschliche Organe wie das Nervensystem oder den Blutkreislauf ab. Das Empire trat als der vergrößerte Körper des Staates auf, die Technisierung seiner Lebenswelt verursachte die Verdichtung seiner Dingwelt.
Folgen der kolonialen Expansion waren achtens Vertreibung, Zwangsumsiedlung, Massenfluchten, Migration, Ausrottung, Armut und Hungersnöte der indigenen Bevölkerungen; auf die Bedürfnisse des Empire zugeschnittene agrarische Monokulturen und Entwaldungen mit massiven ökologischen Schäden; die staatlichen Teilungen von Indien, Irland, Zypern u.a. Aber die kolonisierten Bevölkerungen waren nicht lediglich Unterdrückte und Beherrschte, binäre Narrative hegemonialen Handelns auf der einen und subalterner Passivität auf der anderen Seite vereinfachen zu sehr. Die Geschichte des Empire ist eine geteilte Geschichte und ohne die Aufarbeitung durch die Historiographie der ehemals Kolonisierten höchstens eine halbe.
Ohne ihre ortskundigen Dolmetscher, Informanten und Spione; ohne indigene Schmuggler in den Grenzräumen und Entscheidungsträger, die zur Kooperation mit den britischen Machthabern bereit gewesen wären; ohne die zahllosen Hilfsarbeiter und Tagelöhner, die an Ort und Stelle für die großen Bauprojekte wie den Hafen- oder den Eisenbahnbau angeworben wurden; ohne die Aufseher, Kommandanten und Amtsträger in den Straflagern: Ohne sie wären die Industrialisierung und die Urbanisierung der kolonialen Einflussbereiche und ihre Herrschaftssicherung durch Infrastruktur und Alphabetisierung gar nicht möglich gewesen. Disziplinierung und menschenverachtende Gleichgültigkeit ergänzten sich. Reporter wie William Howard Russell bauten in ihre Berichterstattung die moralische Verurteilung des Beobachteten ein.
Sie lassen – neben zahllosen Epidemien und Seuchen, Fluchtbewegungen, Naturkatastrophen wie Zyklonen in Indien und Hurrikanen in der Karibik, zeitweise heftiger Kolonialkritik in der Metropole und Widerstandsbewegungen in den Kolonien sowie kolonialen Aufständen und Kriegen – das Britische Empire im Licht der Unsicherheit erscheinen und damit weniger gefestigt, als manche noch heute gebräuchlichen Orden und Auszeichnungen wie der «Order of the British Empire» (OBE) es suggerieren. Das Empire war zwar nicht dauerhaft im Krisenmodus. Das Gemälde The Remnants of an Army (1879) von Elisabeth Butler (Thompson) zeigt aber eindringlich die Verletzlichkeit des Militärs, in diesem Fall angesichts des extrem verlustreichen ersten anglo-afghanischen Kriegs (1839–1842) vor dem Hintergrund des Konflikts in Zentralasien («Great Game»). Auch Fontanes Ballade Das Trauerspiel aus Afghanistan (1857) erzählt davon und hinterfragt nachdrücklich das vom Kolonialismus gepflegte Männlichkeitsbild.
Neuntens bestimmten nicht selten Langeweile, Gleichförmigkeit und Routine das Leben der Gouverneure und Soldaten. Nicht die Dramatik von anti-kolonialen Revolten, von Tigerjagd und Safari, von unterhaltsam-elitärem Sport (Cricket, Tennis, Pferderennen, Rugby, Polo) oder von aufwendigen Feierlichkeiten wie dem Delhi Durbar, der Wiederholung der englischen Krönungszeremonie in Indien, sondern Monotonie, Aktenstudium und Zeittotschlagen dominierten den kolonialen Alltag. Das lag an der zunehmenden Isolierung und Verunsicherung der britischen Kolonialgesellschaften und ihrer Tendenz, das soziale und kulturelle Leben Englands in Übersee zu reproduzieren. Gesellschaften waren ähnlich hierarchisch organisiert wie die «memsahibs», die weibliche englische Oberschicht in Indien. Speisegewohnheiten blieben englisch und der Tropenhelm wurde zum Kennzeichen globaler Uniformität.
Einsamkeit und Entfremdung, wie sie George Orwell in Burmese Days