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Sophie Schönberger

Was soll zurück?

Die Restitution von Kulturgütern
im Zeitalter der Nostalgie

C.H.Beck


Zum Buch

Die Restitution von Kulturgütern gehört zu den brisantesten und meistdiskutierten Themen der letzten Jahre. Lässt sich vergangenes Unrecht durch späte Rückgaben wiedergutmachen?

In unserem Umgang mit einer historisch belasteten Vergangenheit scheint nicht nur der Geschichte als solcher, sondern auch ganz konkreten Objekten Unrecht anzuhaften. Wurden sie geraubt, den Opfern abgepresst oder von ihnen auf andere Weise verloren, so geht man heute, auch viele Jahrzehnte nach ihrem Verlust, zumeist davon aus, dass sie an ihre ursprünglichen Besitzer herauszugeben sind. Welche Parameter, Schwierigkeiten, aber auch Chancen diesen Prozess kennzeichnen, erläutert die Autorin anhand von drei Beispielen, die in Deutschland die aktuellen Debatten in unterschiedlicher Weise prägen: die Restitution von NS-Raubgut, der Umgang mit kolonialen Objekten und schließlich die Entschädigungsforderungen der Familie Hohenzollern.

Über die Autorin

Sophie Schönberger ist Professorin für Öffentliches Recht, Kunst- und Kulturrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Co-Direktorin des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung.

Inhalt

I. Von Bildern, Bibeln, Burgen: Dinge, die zurücksollen

NS-Raubkunst und das Ende des Kalten Kriegs

Postcolonial turn: Kulturgüter aus kolonialem Kontext

Zwischen Monarchie und Republik: Die Kulturgüter der Hohenzollern

II. Von Vergangenheit und Gegenwart, oder: Drei Arten der Nostalgie

Individuelles Trauern: Die reflektive Nostalgie

Zurück in die Vergangenheit, die es nie gab: Die restaurative Nostalgie

Gegenwart gestalten, Vergangenheit heilen: Die reparative Nostalgie

Deutungsmuster der Vergangenheit

III. Unrecht

Zeit zurückdrehen: Die Idee der Naturalrestitution

Historisches Unrecht als staatliches Unrecht

Neue Unwerturteile – neues Recht?

Dekolonisierung und koloniales Unrecht

Aufarbeitung von außen: Die nationalsozialistische Vergangenheit nach dem Zweiten Weltkrieg

Politischer Umbruch mit unklarer Wertung: Das Erbe der Monarchie

Gesellschaftliche Dezision

IV. Vergangenheit

Erinnern und Vergessen

Identität

Imaginieren und Heilen

V. Objekte

Verkörperung und Repräsentation

Subjektivierung und Projektion

Besitzen und Loswerden

VI. Geschichtsfabriken

Das Museum als Nostalgie- und Geschichtsfabrik

Beglaubigung von Geschichte

Das Museum hinterfragt sich selbst

Jenseits des Museums – wer deutet die Vergangenheit?

VII. Gerechtigkeit?

Ressourcen

Dialog

Symbolik

Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit

VIII. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft

Anmerkungen

Von Bildern, Bibeln, Burgen: Dinge, die zurücksollen

Von Vergangenheit und Gegenwart, oder: Drei Arten der Nostalgie

Unrecht

Vergangenheit

Objekte

Geschichtsfabriken

Gerechtigkeit?

Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Personenregister

I.

Von Bildern, Bibeln, Burgen: Dinge, die zurücksollen

«Die Vergangenheit ist nicht tot», so hat es William Faulkner formuliert. «Sie ist nicht einmal vergangen.»[1] Diese untote Vergangenheit ist allgegenwärtig. Sie verfolgt uns.

Ganz selbstverständlich erscheint uns das in unseren eigenen Biographien, unserem eigenen individuellen Erleben der Welt, das sich nie ganz von unserer Vergangenheit befreien kann. Aber auch auf der kollektiven Ebene als Gemeinschaft sind wir in unsere Vergangenheit verstrickt – und zwar in zunehmendem Maße. Schon vor 15 Jahren konstatierte Hermann Lübbe, dass es noch niemals eine Zivilisationsepoche gegeben habe, die so sehr vergangenheitsbezogen gewesen wäre wie unsere eigene, oder anders ausgedrückt: Keine Zivilisationsepoche zuvor habe solche Anstrengungen intellektueller, auch materieller Art unternommen, um Vergangenes gegenwärtig zu halten.[2]

Aber was ist das für eine Vergangenheit, auf die wir in dieser Form individuell wie kollektiv so intensiv bezogen sind? Und was ist das für ein Versuch, die Vergangenheit, die nicht vergangen ist, in der Gegenwart festzuhalten? Klar ist zunächst, dass es sich bei dieser Art von Vergangenheitsbezug nicht einfach um eine besondere Form der Historizität oder eine Spielart der Geschichtswissenschaft handelt. Die Vergangenheit, um die es hier geht, ist keine wissenschaftlich erforschte Geschichte, um deren möglichst akkurate Darstellung heute gestritten wird.[3] Es handelt sich vielmehr um eine Vergangenheit, die aus der Gegenwart, aus dem Rückblick konstruiert wird. Sie soll das Gegenwärtige erklären und ihm in gewisser Weise Sinn verleihen. Dabei geht es daher nicht mehr nur im Faulkner’schen Sinne um eine Vergangenheit, die nicht vergangen ist, oder um eine Vergangenheit, die nicht vergeht. Ganz im Gegenteil: Das Festhalten an ihr, ihre überwältigende Präsenz in der Gegenwart, macht sie zu einer Vergangenheit, die nicht vergehen soll.

Seit einigen Jahren ist die Rückgabe von Kulturgütern zu einem zentralen Instrument geworden, um einen Umgang mit einer Vergangenheit zu finden, die voller Unrecht ist. Die damit verbundene Schuld scheint nicht nur der Geschichte als solcher oder den damaligen Tätern und ihren heutigen Nachfahren, sondern auch ganz konkreten Objekten anzuhaften. Wurden sie geraubt, den Opfern abgepresst oder von ihnen auf andere Weise verloren, so geht ein wachsender kultureller Konsens davon aus, dass sie heute, auch viele Jahrzehnte nach dem Verlust, an ihre ursprünglichen Besitzer herauszugeben sind – oder vielmehr an deren heute noch lebenden Nachkommen.

Welche Parameter, Schwierigkeiten, aber auch Chancen diesen Prozess kennzeichnen, soll in diesem Essay anhand von drei Beispielen erläutert werden, die in Deutschland die Diskussion in unterschiedlicher Form prägen. Die Erfahrungen mit der Restitution von NS-Raubkunst begleiten die aktuellen Debatten dabei mittlerweile schon seit über zwanzig Jahren. Vergleichsweise neu ist demgegenüber die verstärkte Diskussion über die Restitution von kolonialen Objekten, die in vielerlei Hinsicht auf diesen Erfahrungen aufbaut, sich gleichzeitig aber auch in wesentlichen Punkten von ihr unterscheidet. In gewisser Weise quer hierzu stehen die in jüngerer Zeit erhobenen Forderungen des ehemaligen preußischen Königs- und deutschen Kaiserhauses auf die Rückgabe verschiedenster Objekte aus dem ehemaligen monarchischen Besitz. Gerade deshalb legt ihre Analyse allerdings vieles frei, was den gesellschaftlichen Prozess des Zurückgebens im Moment insgesamt prägt.

NS-Raubkunst und das Ende des Kalten Kriegs

In gewisser Weise begann alles am 7. Januar 1998. An diesem Tag ließ der New Yorker Staatsanwalt Robert Morgenthau im Museum of Modern Art das «Bildnis Walburga Neuzil», kurz: Wally, von Egon Schiele als Diebesgut beschlagnahmen. Die ursprüngliche Eigentümerin des Werks, die in Wien ansässige Kunsthändlerin Lea Bondi-Jaray, hatte das Bild im Jahr 1938 aufgrund der rassischen Verfolgung, der sie als Jüdin ausgesetzt war, verloren.[4] Auf verschlungenen Wegen gelangte es Mitte der 1990er Jahre in die Privatstiftung des «Museum Leopold» in Wien, das es für eine große Egon-Schiele-Retrospektive nach New York verlieh. Nach Ende der Ausstellung setzten die Erben der einstigen Eigentümerin die Beschlagnahme durch. Es folgte ein jahrelanger Rechtsstreit in den USA, an dessen Ende ein Vergleich stand. Gegen Zahlung von 20 Millionen Dollar erhielt die Wiener Stiftung das Gemälde zurück.

Lea Bondi-Jaray (1880–1969), Datum der Aufnahme unbekannt

Dieser spektakuläre Fall bildete den Anfang einer noch andauernden Entwicklung, in der das Thema der sogenannten NS-Raubkunst in vielen Teilen der Welt Politiker, Museen, Auktionshäuser und Kunstdetektive in Atem hält. Seitdem sich Ende des Jahres 1998 Regierungsvertreter aus 44 Ländern, darunter auch Deutschland, im Rahmen der «Washington Conference on Holocaust-Era Assets» auf die sogenannten Washingtoner Prinzipien verständigten und damit übereinkamen, 50 Jahre nach Ende des Nationalsozialismus endgültig nach «fairen und gerechten Lösungen» für die Restitution der sogenannten NS-Raubkunst zu suchen, ist das Thema der Restitution aus dem öffentlichen Diskurs praktisch nicht mehr verschwunden.

Egon Schiele, Bildnis Walburga Neuzil (Wally), 1912

Dabei stand die Restitution von Kunst zunächst eigentlich eher am Ende einer Entwicklung, die in den 1990er Jahren begann. Angestoßen wurde sie durch den Fall des Eisernen Vorhangs und die damit verbundene Öffnung der Archive in Europa. Durch diesen neuen Zugang zu alten Informationen geriet zunehmend die Tatsache in den Blick, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Wiedergutmachungspolitik in Bezug auf die Länder des ehemaligen Ostblocks weitestgehend ausgeblieben war. Diese Erkenntnis führte dazu, dass der auf dem Unrecht des Nationalsozialismus beruhende Teil der internationalen Vermögensordnung noch einmal völlig neu hinterfragt wurde. Zunächst waren es dabei allerdings die sogenannten nachrichtenlosen Konten bei Schweizer Banken, die in den Fokus der Öffentlichkeit und der internationalen Verhandlungen rückten, gefolgt von Diskussionen um das sogenannte Raubgold, nachrichtenlose Versicherungspolicen sowie schließlich die Entschädigung von Zwangsarbeitern.[5] Die Kunstwerke, über deren Restitution auch zwanzig Jahre später noch intensiv gestritten wird und die die einzigen dinglichen Objekte in diesem Entschädigungsdiskurs darstellten, traten erst vergleichsweise spät zu diesem Verhandlungsraum hinzu. Maßgeblich beeinflusst wurde die Diskussion dabei durch zwei populärwissenschaftliche Bücher zum NS-Kunstraub, die Mitte der 1990er Jahre erschienen und das Thema einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machten.[6] Mit dem Hollywood-Spielfilm «Die Frau in Gold», der mit Helen Mirren in der Hauptrolle die Geschichte der Restitution des Klimt-Gemäldes «Bildnis Adele Bloch-Bauer I» frei nacherzählt, erreichte das Thema im Jahr 2015 seinen vorläufigen popkulturellen Aufmerksamkeitshöhepunkt.[7]

Gustav Klimt, Adele Bloch-Bauer I, 1907

Trotz dieser verzögerten Berücksichtigung im Wiedergutmachungsdiskurs der 1990er Jahre ist die Frage der Restitution von NS-Raubkunst diejenige, die die Diskussion der letzten 20 Jahre am nachhaltigsten geprägt hat. Gerade wenn man die Bearbeitung des Themas in Deutschland betrachtet, stellt man jedoch fest, dass die politische Umsetzung und die damit verbundene Diskussion alles andere als linear verliefen. Denn im Wesentlichen passierte hier in den ersten Jahren zunächst einmal: nichts. Insbesondere die Öffentlichkeit nahm von den Ergebnissen der Washingtoner Konferenz kaum Notiz. Auf politischer Ebene einigte man sich zwar schon im Jahr 1999 auf eine «Gemeinsame Erklärung», d.h. eine «Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz».[8] Diese Verlautbarung, die sich vor allen Dingen an staatlich unterhaltene Archive, Museen und Bibliotheken richtete und in der Sache eher Fragen der Provenienzforschung als solche der Rückgabe thematisierte, blieb allerdings im Wesentlichen ohne öffentliche Resonanz. Wie so oft im deutschen Kulturföderalismus verlor sich das Thema daher zunächst ein wenig in einem kompetenziellen Bermuda-Dreieck zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Vermutlich ist es auch so zu erklären, dass es annähernd fünf Jahre dauerte, bis die sogenannte Limbach-Kommission ins Leben gerufen wurde, die als Schiedseinrichtung speziell der Rückerstattung von NS-Raubkunst im Sinne der Washingtoner Prinzipien dient und so die in der Erklärung enthaltene Empfehlung zur Einrichtung alternativer Streitbeilegungsinstanzen umsetzt.[9]

Zu einer breiteren Debatte des Themas kam es erst ab dem Jahr 2006, als der damalige rot-rote Berliner Senat sich entschied, das Gemälde «Berliner Straßenszene» von Ernst Ludwig Kirchner aus dem Brücke-Museum an die Erbin der früheren Eigentümer zu restituieren. Diese Rückgabeentscheidung war in der Öffentlichkeit zum Teil äußerst scharfer Kritik ausgesetzt. Grund dafür waren die immer wieder geäußerten Zweifel, ob der Verkauf des Bildes im Jahr 1936 durch die jüdischen Eigentümer tatsächlich aufgrund des Drucks der rassischen Verfolgung durch die Nationalsozialisten erfolgt war. Das Berliner Abgeordnetenhaus setzte einen Untersuchungsausschuss zu dem Thema ein, der Brücke-Museum-Förderverein stellte gegen mehrere der verantwortlichen Politiker Strafanzeigen wegen Untreue und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bediente sich ein Gastbeitrag mit dem Titel «Sie sagen Holocaust und meinen Geld» offen antisemitischer Klischees, um die Rückgabe zu diskreditieren. Im Rahmen dieser Debatte erreichte das Thema auch erstmals den Deutschen Bundestag. Nachdem er die Problematik zunächst jahrelang allein dem Alltagsgeschäft der Regierung überlassen hatte, wurden nun aus seiner Mitte jedenfalls vereinzelte parlamentarische Anfragen zu diesem Thema gestellt. Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese Phase der Schweigsamkeit des Parlaments genau in die Jahre fällt, in denen die Restitutionspolitik in den Händen einer rot-grünen Bundesregierung lag. Denn die schwarz-gelbe Opposition, der die parlamentarische Kontrolle und auch die parlamentarische Sichtbarmachung des Regierungshandelns oblegen hätte, zeigte sich zu diesem Zeitpunkt dem Thema gegenüber noch relativ reserviert. Doch auch nach dem Regierungswechsel im Jahr 2005 blieb der Bundestag erstaunlich still – und ist es bis heute. Selbst nach dem sogenannten Schwabinger Kunstfund, der den Umgang der deutschen Behörden mit NS-Raubkunst noch einmal massiv in die Öffentlichkeit brachte und heftiger internationaler Kritik aussetzte, gingen vom Parlament letztlich keine wesentlichen Impulse aus.[10]

Ernst Ludwig Kirchner, Berliner Straßenszene, 1913

Die öffentliche Debatte hingegen hat sich mittlerweile im Vergleich zur Diskussion um das Kirchner-Gemälde deutlich gewandelt. Derart kritische Töne, wie sie im Jahr 2006 geäußert wurden, sind heute, 15 Jahre später, im gesellschaftlich akzeptierten Diskurs kaum mehr vorstellbar. Die Restitution von NS-Raubkunst ist vielmehr zu etwas Selbstverständlichem geworden, das in der Sache praktisch nicht mehr in Frage gestellt wird. Lediglich an den Modalitäten und den eingesetzten Ressourcen entfacht sich immer wieder einmal politischer Streit – allerdings ohne in substantielle gesellschaftliche Kontroversen umzuschlagen. In dieser nunmehr weitgehend konsentierten Form ist sie deshalb auch geradezu zur Schablone für alle weiteren Diskurse um die Rückgabe von Kulturgütern zur Wiedergutmachung vergangenen Unrechts geworden – allen voran für die Debatte um die Restitution von Kulturgütern aus kolonialem Kontext.

Postcolonial turn: Kulturgüter aus kolonialem Kontext

Zum ersten Mal wurde die Frage, inwiefern solche Kulturgüter aus kolonialem Unrechtskontext an ihre Herkunftsstaaten zurückgegeben werden sollen, in den 1960er und 1970er Jahren thematisiert, als der Prozess der Dekolonialisierung langsam global abgeschlossen war.[11] Vor allem die «newly independent states», die jungen, gerade aus der Kolonialherrschaft entlassenen Staaten, machten sich auf internationaler Ebene dafür stark, die aus ihrem Gebiet verbrachten kulturellen Objekte zurückzuerhalten, die sich häufig in den sogenannten Völkerkundemuseen Westeuropas befanden.[12] Intellektuell begleitet wurden diese Forderungen von der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufkommenden Debatte um den Postkolonialismus, die, ausgehend von den Literaturwissenschaften, zunehmend die Kulturwissenschaften zu beeinflussen begann. Auf politischer Ebene wurde der Prozess maßgeblich durch die UNESCO vorangetrieben. Sie stellte einen Resonanzraum dafür bereit, dass die von der Kolonialisierung befreiten Staaten ihre Rückgabeforderungen auch in völkerrechtliche Entwürfe fassen konnten. Letztendlich blieben diese Bestrebungen seinerzeit jedoch im Wesentlichen ergebnislos.

Erst Jahrzehnte später sollte sich diese Debatte wieder intensivieren. Aufbauend auf einer über die Zeit weiter gewachsenen wissenschaftlichen Beschäftigung der «postcolonial studies» mit dem kolonialistischen Erbe in den westlichen Gesellschaften wurde die Diskussion in Deutschland dabei insbesondere durch die Konzeption des neuen Humboldt Forums geprägt, das im wiederaufgebauten Stadtschloss der Hohenzollern in Berlins Mitte nun vor allen Dingen die Bestände der zuvor eher am Stadtrand gelegenen Ethnologischen Museen ausstellen will. Waren diese ethnologischen Sammlungen zuvor sowohl von Besuchern als auch von Aktivisten größtenteils unbeachtet geblieben, drängte die Frage nach der Herkunft ihrer Bestände und möglichen Rückgaben an die jeweiligen Ursprungsstaaten mit dem geplanten Umzug in das Stadtzentrum auch in das Zentrum des politischen Diskurses in Berlin und darüber hinaus.

Auf internationaler Ebene erhielt diese Diskussion einen politischen Schub durch eine Rede, die der französische Präsident Emmanuel Macron Ende des Jahres 2017 an der Universität von Ouagadougou in Burkina Faso hielt. Er könne nicht akzeptieren, so Macron, dass ein Großteil des kulturellen Erbes mehrerer afrikanischer Länder sich in Frankreich befinde. Es gebe zwar historische Erklärungen, aber keine vernünftigen Rechtfertigungen für diesen Zustand. Er wolle, dass in fünf Jahren die Bedingungen dafür geschaffen seien, das afrikanische Kulturerbe zeitweise oder endgültig an seine afrikanischen Ursprungsländer zu restituieren.[13] Zur Durchsetzung dieser Forderung setzte Macron ein Forscherduo als Expertengremium ein, das ihm im Jahr 2019 einen Bericht zur Frage der Restitution vorlegte.[14] Zwar sind dieser Ankündigung auch in Frankreich bisher kaum konkrete Schritte gefolgt. Die Signalwirkung, die von diesem französischen Appell ausging, war allerdings beträchtlich. Das liegt nicht nur an der Deutlichkeit, mit der sich der französische Präsident zum Gedanken der Restitution bekannte. Entscheidend ist vielmehr auch, dass – anders als für die Rückgabe von NS-Raubkunst – für die Restitution kolonialer Objekte bisher keinerlei internationale Standards existieren. Dass gerade Frankreich als ehemalige Kolonialmacht sich nun für eine Rückgabe von Kulturgütern nach Afrika aussprach und dieses Vorhaben mit der vollen institutionellen Autorität des Präsidenten versah, verlieh dem Ansinnen auch international besonderen Nachdruck.

In Deutschland fehlt es bisher hingegen an einem solchen starken politischen Signal – nicht zuletzt auch hier wiederum, weil das Thema in den institutionellen Wirrungen des deutschen Kulturföderalismus verloren zu gehen droht. Der gemeinsame Namensbeitrag von Kulturstaatsministerin Monika Grütters und der Staatsministerin im Auswärtigen Amt für Internationale Kulturpolitik, Michelle Müntefering, der zu diesem Thema Ende des Jahres 2018 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien und eher vage und sehr allgemein für einen reflektierten und transparenten Umgang mit dem kolonialen Erbe wirbt,[15] erscheint insofern eher als kleine Münze des großen politischen Wurfs. Nichts Anderes gilt für die «Ersten Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten», auf die sich die beiden Staatsministerinnen mit der Kulturministerkonferenz und den kommunalen Spitzenverbänden im Frühjahr 2019 einigten und in denen die «generelle Bereitschaft zur Rückführung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, insbesondere von menschlichen Überresten, in die Herkunftsstaaten und Herkunftsgesellschaften» zum Ausdruck gebracht wird.[16] Wie auch bei der Restitution von NS-Raubkunst wurde diese Diskussion bisher weitestgehend am Gesetzgeber vorbei geführt und wird, wenn überhaupt, dann im Wesentlichen auf administrativer Ebene bearbeitet.

Auch ohne klare Regelungen durch internationale Standards oder gesetzgeberische Entscheidungen ist es aber in den letzten Jahren vereinzelt immer wieder doch zu Restitutionen kolonialer Objekte gekommen.[17] Prominente Beispiele aus dem Jahr 2019 sind etwa die Restitution einer Peitsche und der Familienbibel aus dem Besitz des Nama-Anführers Hendrik Witbooi aus dem Stuttgarter Linden-Museum sowie der Entschluss des Deutschen Historischen Museums, die Wappensäule von Cape Cross[18] zurückzugeben. Alle drei Artefakte wurden an den namibischen Staat herausgegeben. In der öffentlichen Debatte sind solche Restitutionen – anders insofern als mittlerweile die Rückgabe von NS-Raubkunst – allerdings keineswegs unumstritten. Immer wieder wird das Argument angeführt, die Museen in den afrikanischen Herkunftsländern würden nicht über die technische Ausstattung verfügen, um die restituierten Kulturobjekte sachgerecht aufzubewahren – schon deshalb müsse im Interesse des Kulturerbes auf eine Rückgabe verzichtet werden.[19] Namentlich der Kunsthistoriker und Co-Gründungsintendant des Humboldt Forums Horst Bredekamp positionierte sich darüber hinaus in Reaktion auf den französischen Expertenbericht zur Restitution dahingehend, dass in Deutschland entsprechende Überlegungen schon deshalb differenzierter betrachtet werden müssten, weil viele der Sammlungen der großen deutschen ethnologischen Museen in einem aufklärerischen Geist entstanden seien, der koloniale Bestrebungen ablehnte.[20]

Wappensäule von Cape Cross

Hinzu tritt ein weiteres Problem: Anders als bei der NS-Raubkunst, bei der im Grundsatz völlig klar ist, dass richtiger Adressat der Rückgabe immer die individuellen Erben des vormaligen Eigentümers sind,[21] stellt sich die Lage in Bezug auf die Restitution kolonialer Objekte deutlich komplexer dar. Denn in den meisten Fällen geht es hier gerade nicht um die Rückgabe an konkrete einzelne Opfer bzw. ihre Nachkommen. Vielmehr stehen hier die Gemeinschaften, die der kolonialen Gewalt unterworfen waren, als mögliche Restitutionsempfänger im Vordergrund. Diese Gemeinschaften müssen allerdings nicht immer identisch sein mit den nach der Kolonisierung neu gegründeten Nationalstaaten, mit denen die Rückgabeverhandlungen heute geführt werden. Dieses Auseinanderfallen von betroffenen Gemeinschaften und Nationalstaaten kann insbesondere dann zu großen Konflikten führen, wenn sich einzelne Volksgruppen innerhalb eines Staates nicht von der Zentralregierung repräsentiert fühlen und so die Restitution kolonialer Objekte in die Kampflinien innerstaatlicher Auseinandersetzungen gerät.

Bibel und Peitsche von Henrik Witbooi im Stuttgarter Linden-Museum

Ein anschauliches Beispiel für diese Problematik bietet die Rückgabe der Witbooi-Objekte an die namibische Regierung. In ihr spiegelte sich exemplarisch der gesamte innerstaatliche Konflikt zwischen der Zentralregierung und der Volksgruppe der Nama in Namibia wider. Denn bei den Gegenständen aus dem persönlichen Besitz des Nationalhelden und Nama-Anführers Henrik Witbooi existierten im Grundsatz drei mögliche Anknüpfungspunkte, an wen die Objekte hätten herausgegeben werden können. Zum einen war eine zwischenstaatliche Lösung denkbar, bei der eine Rückgabe an den namibischen Staat erfolgte. Zum anderen hätte man die Restitution aber auch individueller denken und die direkten Nachfahren Witboois begünstigen können. Schließlich kam als dritte Möglichkeit eine Rückgabe an die Gemeinschaft der Nama in Betracht. Da im konkreten Fall die direkten Nachkommen von Hendrik Witbooi im Wesentlichen mit der namibischen Regierung kooperierten und eine Rückgabe an diese befürworteten, konnte der Gegensatz zwischen den ersten beiden Handlungsalternativen schnell ausgeräumt werden. Offen blieb jedoch der Konflikt mit der Volksgruppe der Nama und ihren organisierten Vertretern. Die Nama Traditional Leaders Association, ein von traditionellen Nama-Anführern gebildeter Verband, nahm für sich in Anspruch, der eigentliche Nachfolger Hendrik Witboois zu sein. Nur der Verband war daher seiner eigenen Ansicht nach auch berechtigt, die Objekte aus Deutschland entgegenzunehmen. Da jegliche rechtliche Regelung für die Rückgabe fehlte, musste das Land Baden-Württemberg nun politisch entscheiden, an wen es die Artefakte herausgeben wollte. Es beschloss im Ergebnis, klassischen völkerrechtlichen Gepflogenheiten zu folgen und nur die namibische Regierung als unmittelbaren Ansprech- und Rückgabepartner zu akzeptieren.[22] Der Nama-Verband versuchte daraufhin vor Gericht, die Herausgabe an die Republik Namibia zu verhindern, scheiterte aber nicht zuletzt an formalen Hürden.[23]

Hendrik Witbooi (1830–​1905), Aufnahme um 1892/94

Zwischen Monarchie und Republik: Die Kulturgüter der Hohenzollern

Dass es gerade das Humboldt Forum im wiederaufgebauten Berliner Hohenzollern-Schloss war, das die Debatte um die Rückgabe kolonialer Objekte in Deutschland wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt hat, stellt schließlich eine überraschende Verbindung her zum dritten Beispiel, bei dem aktuell über das Zurückgeben diskutiert wird – mit einer ähnlichen Fixierung auf die Vergangenheit und gleichzeitig doch unter sehr anderen Vorzeichen. Seit einigen Jahren führt Georg Friedrich Prinz von Preußen, Ururenkel des letzten deutschen Kaisers und selbsternanntes «Oberhaupt des Hauses Hohenzollern», Verhandlungen mit dem Bund und den Ländern Berlin und Brandenburg über den Verbleib verschiedener Kulturgüter. Den Hintergrund dieser Gespräche bildet u.a. ein Entschädigungsverfahren, das noch sein Großvater, Louis Ferdinand Prinz von Preußen, in den 1990er Jahren angestrengt hat. Der Sache nach geht es dabei um Grundbesitz sowie andere Gegenstände, die zwischen 1945 und 1949 in der sowjetisch besetzten Zone, der späteren DDR, im Rahmen der sogenannten Bodenreform enteignet worden waren.

Im Prozess der Wiedervereinigung, als die sogenannten «offenen Vermögensfragen» einer Lösung zugeführt werden sollten, entschied man sich, die Enteignungen und Sozialisierungen, die in der DDR24