Cover

Martin Aust

DIE SCHATTEN
DES IMPERIUMS

Russland seit 1991

C.H.BECK


Zum Buch

Der Untergang der Sowjetunion verlief im welthistorischen Vergleich relativ unblutig. Doch er hinterließ ein Erbe, das bis heute fortwirkt. Die wirtschaftliche Arbeitsteilung verschwand ebensowenig wie die starke ethnische Vermischung innerhalb des Reichsverbands. Und die neu entstehenden Nationalstaaten ließen Minderheitenkonflikte eskalieren, die im imperialen Zusammenhang ruhiggestellt gewesen waren. Doch auch in der Zentrale selbst wirkten imperi-ale Denkweisen und Institutionen fort. Inzwischen ist Russland weder ein neoimperialistischer Staat, der seine Nachbarn drangsaliert, noch bloß das unschuldige Opfer westlichen Expansi-onsdranges. Seit 1991 agiert es in einem postimperialen Raum und ringt intensiv um Antwor-ten auf die Fragen, wie mit dem imperialen Erbe umzugehen ist und was es für die Gegenwart bedeutet. Martin Aust geht in seinem Buch den Folgen eines tiefsitzenden historischen Bruchs nach – und wirft damit Licht auf die Blackbox Kreml.

Über den Autor

Martin Aust ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: «Die Russische Revolution» (2017).

Inhaltsverzeichnis

I.  Ungebrochene Kontinuität: Deutschlands gespaltenes Russlandbild

II.  Dämon und Konzept: Was ist ein Imperium?

III.  Postimperium: Russland, Deutschland, Frankreich und Großbritannien

IV.  Erblasser wider Willen: Gorbatschow, das Ende der Sowjetunion und das Erbe des Imperiums

V.  Die Erben: Russlands Umgang mit dem imperialen Erbe

Russländische Föderation

Internationale Ordnung und Weltpolitik

Großregionale Politik

Eingefrorene Konflikte

Moldawien/Transnistrien

Georgien, Abchasien, Südossetien

Ukraine, Krim, Donbas

VI. Russlands Zukunft

Dank

Anmerkungen

I.  Ungebrochene Kontinuität: Deutschlands gespaltenes Russlandbild

II. Dämon und Konzept: Was ist ein Imperium?

III.  Postimperium: Russland, Deutschland, Frankreich und Großbritannien

IV.  Erblasser wider Willen: Gorbatschow, das Ende der Sowjetunion und das Erbe des Imperiums

V.  Die Erben: Russlands Umgang mit dem imperialen Erbe

VI. Russlands Zukunft

Literaturverzeichnis

Internetressourcen

Register

Karten

Meinen Eltern

I. Ungebrochene Kontinuität: Deutschlands gespaltenes Russlandbild

München, 10. Februar 2007

Im Bayerischen Hof fand wie jedes Jahr zu diesem Zeitpunkt die Münchner Sicherheitskonferenz statt. Staats- und Regierungschefs, Außen- und Verteidigungsminister, Militär- und Sicherheitsexperten und Journalisten sind auf Einladung von Horst Teltschik zusammengekommen, um sich in Vorträgen und Diskussionen über Welt- und Sicherheitspolitik auszutauschen. Am 10. Februar 2007 durchbrach der Präsident Russlands Wladimir Putin die Routine dieser Veranstaltung mit einer seitdem vielzitierten Rede. Putin warnte vor einer unipolaren Weltordnung und beklagte einen globalen Anstieg ziviler Opfer von Gewalt und Krieg. Der NATO warf er vor, entgegen den Zusagen ihres Generalsekretärs Manfred Wörner von 1990 ihre Osterweiterung betrieben zu haben. Die OSZE habe sich zu einem Instrument der Einmischung Europas in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten entwickelt. Putin appellierte an sein Publikum, Gewalt in den internationalen Beziehungen nur auf der Grundlage der UN-Charta zuzulassen, und rief dazu auf, eine multipolare Weltordnung zu schaffen. Zur Unterfütterung dieser Perspektive führte Putin aus, dass die addierten Wirtschaftskräfte Chinas und Indiens zu Kaufkraftparitäten die der USA überträfen und diejenigen der BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) wiederum über dem Bruttoinlandsprodukt Europas lägen. Den Schlusston seiner Rede setzte Putin, indem er aus der tausendjährigen Geschichte Russlands die Zuversicht ableitete, dass Russland auch in der Zukunft eine eigenständige Außenpolitik verfolgen werde.[1]

Moskau, Kreml, 18. März 2014

Im Großen Kremlpalast hat sich die Föderale Versammlung Russlands in Erwartung einer Rede Präsident Putins eingefunden. Das russische Staatsfernsehen, der Erste Kanal, überträgt live. Putin nimmt den Faden rhetorisch dort auf, wo er ihn 2007 in München liegen ließ. Er spannt einen weiten Bogen der Geschichte Russlands vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Drei Themen sind in der Rede zentral: Religion, die russische Nation und das Verhältnis Russlands zu Europa und dem Westen. Putin beschwört die sakrale Bedeutung der Krim für Russland, erinnert an die dort angeblich 988 erfolgte Taufe des Kiewer Fürsten Wladimir (ukr. Wolodymyr). Und Putin beschreibt immer wieder Jahrhunderte russisch-europäischer Geschichte als ein Schüler-Lehrer-Verhältnis. Der europäische Lehrer habe Russland stets nur maßregeln wollen, Fortschritte, gar den Eintritt in eine Partnerschaft habe der Lehrer dem Schüler verweigert. Putin knüpft an eine Ausführung in seiner Ansprache an die Föderale Versammlung von 2005 an. Damals hatte er das Ende der Sowjetunion als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet, da es Millionen Russen in nichtrussischen Sowjetrepubliken von einem Tag auf den anderen zu Menschen in der Diaspora gemacht habe. Darauf kommt Putin nun zurück und bezeichnet die Russen als das größte geteilte Volk auf der Erde. Zum Schluss seiner Rede blickt er anders als auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 nicht in die Geschichte zurück, er schreibt Geschichte: Im Anschluss an die Rede werden die Dokumente zum Beitritt der Krim zur Russländischen Föderation unterschrieben. Es wird die Nationalhymne gespielt, das Publikum, das die Rede mehrmals mit frenetischem Applaus unterbrochen hatte, erhebt sich, «Russland, Russland»-Rufe erschallen.[2]

Die Rede Putins von 2007 und der georgisch-russische Krieg im August 2008 hatten in den USA und Europa für Aufsehen gesorgt. Tiefere Besorgnis stellte sich im Westen jedoch nicht ein. Ganz anders fielen die politischen Reaktionen in den USA, Europa und Deutschland nach dem 18. März 2014 aus, an dem im offiziellen russischen Sprachgebrauch die Wiedereingliederung der Krim in die Russländische Föderation stattfand, aus Sicht des Westens jedoch Russland die Krim annektierte.[3] Eine seitdem häufig eher rhetorisch gestellte Frage in den USA, Europa und Deutschland lautet, ob Russlands und Putins Politik seit der Annexion der Krim und dem Beginn des verdeckten Kriegs Russlands im Donbas (ukrainisch Donbas, russisch Donbass) 2014 imperial oder neoimperial seien. In den Äußerungen von Politikern, Publizisten, Intellektuellen und Journalisten aus der Ukraine, Deutschland, Europa und den USA sind entsprechende Einschätzungen allgegenwärtig. Dies gilt auch bereits für die Zeit vor der Russland-Ukraine-Krise von 2013/14. In den letzten Jahren der Sowjetunion 1990/91 war in den Sowjetrepubliken Estland, Lettland, Litauen, Ukraine und Georgien die Bezeichnung der von Moskau geführten Union als Imperium gängige Münze geworden.[4] Wer so sprach, griff in den inneren Auseinandersetzungen der Sowjetunion die eingängige Fremdbezeichnung des ersten kommunistischen Staates der Welt als «the evil empire» auf, die der amerikanische Präsident Ronald Reagan 1983 verwandt hatte.[5]

Aus der Sicht von Politikern wie dem ersten Präsidenten der souveränen Ukraine Leonid Krawtschuk oder Julia Timoschenko resultierte die Selbständigkeit der Ukraine 1991 aus dem Ende des imperialen Kontinuums von Zarenreich und Sowjetunion, dem die Ukraine seit 1654 angehört hatte.[6] Die Zuspitzung des russisch-ukrainischen Verhältnisses im Winter 2013/14, Russlands Annexion der Krim und der unerklärte Krieg im Donbas seit 2014 wie auch die Intervention in Syrien 2015 haben die ukrainische Einschätzung Russlands als imperialer oder neoimperialer Macht zu einem gängigen Topos gemacht: Die Fremdbezeichnung Russlands als imperial oder neoimperial findet sich in Texten von Politikern, Journalisten und Wissenschaftlern. Der Historiker Timothy Snyder fügt dieser Etikettierung eine historische Dimension hinzu, indem er der Integrationsgeschichte Europas eine destruktive Eroberungsgeschichte Russlands gegenüberstellt. So reduziert sich eine lange und facettenreiche Vergangenheit zu einer geschichtsphilosophischen Schablone.[7]

Doch welche Erklärungskraft besitzt die Bezeichnung des gegenwärtigen Russland als Imperium oder seiner Politik als neoimperial? Politik, Publizistik und Geschichtswissenschaft sprechen hier unterschiedliche Sprachen. Medien und Politik verwenden den Begriff Imperium in einem politischen, klassifikatorischen und metaphorischen Sinn. Für die Geschichtswissenschaft handelt es sich beim Imperium jedoch um ein strukturiertes Themenfeld und einen analytischen Begriff.[8] In den USA und Europa erscheint Imperium im politisch-medialen Sprachgebrauch als eine negative Fremdzuschreibung. Sie wird genutzt, um Staaten zu kennzeichnen, denen eine aggressive und expansive Außenpolitik oder gar die politische Verkörperung des Bösen zugeschrieben werden soll. Wer einen anderen Staat als Imperium bezeichnet, nimmt in Politik und Öffentlichkeit eine klare Unterscheidung vor zwischen der eigenen Rolle des aufgeklärten Demokraten und der Rolle des anderen als militaristischem und expansivem Akteur. In der Historiographie gilt das Militär in der Tat als eine wichtige Stütze imperialer Herrschaft. Auch werden Historikerinnen und Historiker nicht auf die Idee kommen, die Geschichte von Imperien ohne Ausführungen über ihre Expansionsprozesse zu schreiben. Für Historikerinnen und Historiker ist das Thema Imperium jedoch mit Militär und Expansion nicht erschöpft. Andere Aspekte wie vor allem die innere Struktur von Imperien, die Administration von weiten, disparaten Räumen und der Umgang mit kultureller Vielfalt treten als wichtige Themen der Imperiengeschichte hinzu. Die Stabilität imperialer Herrschaft erscheint in solchen Geschichten als ein steter Wechsel von Eroberung und Unterwerfung, aber auch Integration und der Herstellung von Sicherheit und ungleich verteiltem Wohlstand. Auch der Übergang von imperialen zu postimperialen Ordnungen ist ein ausgeprägtes Themenfeld der Imperiengeschichte. Dieses Buch hat das Ziel, die Erkenntnisse der jüngsten Imperiengeschichtsschreibung für die Analyse Russlands seit 1991 fruchtbar zu machen. Dabei vertrete ich die These, dass Russland sich seit 1991 in einer postimperialen Konstellation befindet und die Frage nach dem politischen und gesellschaftlichen Umgang mit dem doppelten imperialen Erbe von Zarenreich und Sowjetunion in Russland noch nicht geklärt ist. Wer die vorläufigen Antworten Russlands auf die Frage nach seinem imperialen Erbe verstehen möchte, kann seinen Blick nicht auf die Person des Präsidenten und dessen Politik beschränken. Historische und strukturelle Zusammenhänge, die politische Elite, die Gebildeten und Publizisten sowie die Gesellschaft Russlands müssen in die Überlegungen einbezogen werden.

Das Buch zielt auf einen wissenschaftlich informierten Beitrag zum öffentlichen Gespräch über Russland und Imperien in Deutschland. Das medial-politische Russlandbild weist in den letzten Jahren in Deutschland eine enorme Spaltung und eine emotionale Aufladung auf und ist sehr konfliktbehaftet.[9] Der Begriff Imperium ist dabei lediglich ein Etikett, mit dem Russland in Zeitungskommentaren versehen wird. Die Russlandbilder in Politik und Medien Deutschlands spiegeln das Aufeinandertreffen zutiefst gegensätzlicher Vorstellungen. Dabei liegt eine weit zurückreichende Kontinuität deutscher Russlandbilder vor. Für die gegensätzlichen Pole deutscher Russlandvorstellungen stehen beispielhaft zwei Reiseberichte. Im 16. Jahrhundert hat der habsburgische Diplomat Siegmund Freiherr von Herberstein in seiner Beschreibung Moskaus sich die Frage gestellt, ob die harte Herrschaft in Russland das Volk so barbarisch gemacht habe oder umgekehrt ein solch wildes Volk eine strenge Herrschaft erfordere. Im einen wie im anderen Fall galt das Moskauer Reich der politischen Öffentlichkeit im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation als ein despotisch regiertes Land.[10] Einen anderen Ton setzte im frühen 18. Jahrhundert der hannöversche Gesandte Friedrich Christian Weber, der in seinem Bericht aus dem jungen St. Petersburg Peter den Großen als energischen und erfolgreichen Reformer Russlands zeichnete.[11] Die aktuellen gegensätzlichen Russlandbilder in Deutschland stehen in einer ungebrochenen Kontinuität der Wahrnehmungsgeschichte Russlands und der Sowjetunion. Russland erscheint als eine Projektionsfläche deutscher Vorstellungen, die gegensätzlicher nicht sein könnten: Der Warnung vor despotischer Herrschaft, Furcht vor russischer Eroberung und herablassender Kritik vermeintlicher russischer Rückständigkeit auf der einen Seite standen stets die Faszination russischer und sowjetischer Kultur und die Projektion gesellschaftlicher Utopien auf Russland gegenüber. Gerd Koenen hat dieses eigentümliche Neben- und Gegeneinander von Bildern den deutschen Russland-Komplex genannt.[12]

Die deutsche Diskussion über Russland steht seit 2014 erneut im Schatten dieses Russland-Komplexes. Zwei Lager haben sich herausgebildet, die quer zu verschiedenen Berufsfeldern und politisch-ideologischen Orientierungen stehen. Ein Austausch von Argumenten findet zwischen ihnen kaum statt. Das eine Lager fordert eine konsequente Neuausrichtung deutscher Politik in Osteuropa und gegenüber Russland. Russland müsse eindeutig als Opponent, ja Gegner identifiziert werden. Im Verbund mit der NATO und mit den baltischen und ostmitteleuropäischen EU-Mitgliedsländern sowie der Ukraine gelte es, eine Politik der Eindämmung Russlands zu entwickeln.[13] Das andere Lager fordert explizit im Zeichen des Friedens sowie ökonomischer Interessen und implizit in einer Logik der Geopolitik großer Mächte Verständnis für Russland und die Aufrechterhaltung eines Dialoges mit Moskau, der darauf zielt, rasch zu einem kooperativen und engen Verhältnis mit Russland zurückzufinden.[14]

In einer aufgeheizten Atmosphäre, die von populistischer Medienschelte, gefühlter Wahrheit, Wut und Hetze gekennzeichnet ist, führen zwei Faktoren dazu, dass in Deutschland zwei Lager getrennt voneinander über Russland sprechen: erstens die Personalisierung der Russlanddebatte, in der das Land durch das Prisma der Figur Putin betrachtet wird, und zweitens einige Beiträge journalistischer und wissenschaftlicher Provenienz über Russland, die in starken Thesenbildungen Zerrbilder von Russland schaffen.

Wesentliche publizistische Energie absorbiert auch in Deutschland die Figur des Präsidenten Russlands, Wladimir Putin. Vielen gilt er als personifizierter Schlüssel zum Verständnis Russlands: Wer Putin versteht, verstehe auch Russland. Zahlreiche Biographien Putins belegen diese Erwartungshaltung.[15] Nur wenigen von ihnen gelingt ein systematischer Einblick in die Politik Russlands. Darüber hinaus gilt Putin als wichtigster Protagonist einer Reihe von Trends, die in Russland und auch global zu beobachten sind. So wird Putin assoziiert mit dem Wiederaufbau eines eurasischen Imperiums, der Rückkehr der Geopolitik, der Etablierung einer neuen, multipolaren Weltordnung, in der außer der Größe der Mächte alles Übrige unsicher ist, dem Aufkeimen des Populismus, der Destabilisierung Europas, der Beeinflussung der Präsidentenwahl in den USA 2016 und dem Eintritt in eine postfaktische Welt von Cyberkrieg und Desinformation. Das Bild Putins auch in der deutschen Öffentlichkeit ist so schillernd, dass er den einen als Anführer einer Rückkehr in die sattsam bekannte Geschichte von Großmachtkonkurrenz und Nationalismus erscheint, wohingegen andere ihn als Boten einer vollkommen neuen Welt allumfassender Unsicherheit – digital, medial, infrastrukturell, politisch und militärisch – sehen. Den einen gilt er als Gefahr, andere projizieren Hoffnungen auf ihn. Auf Demonstrationen in Deutschland sind Schilder mit der Aufschrift «Putin, hilf uns» zu sehen.[16]

Zur Verhärtung der Positionen tragen eine Reihe von Publikationen bei, die ihre Thesen so stark überzeichnen, dass sie zu keiner vertieften Auseinandersetzung mit Russland einladen. Gabriele Krone-Schmalz hat zu Zeiten der Perestrojka als Russland-Korrespondentin einer ganzen Generation junger Osteuropa-Interessierter in der Bundesrepublik mit ihren Berichten die Sowjetunion und den gesellschaftlichen Wandel dort nähergebracht, so etwa in ihrem Buch über Frauen in der Sowjetunion.[17] In ihren Berichten verarbeitete sie die Ergebnisse von Recherchen und die Eindrücke von Reisen und Gesprächen – ganz anders sind demgegenüber ihre seit 2015 erschienenen Titel Russland verstehen und Eiszeit geschrieben.[18] Gabriele Krone-Schmalz möchte das politische Handeln Putins allein als Reaktion auf Aktionen des Westens und Europas verstanden wissen. Russische Politik wird so allein als Funktion europäischer und westlicher Fehler und Versäumnisse verstehbar. Widerstreitende Positionen in Russland bleiben ausgeblendet.

Der prominente amerikanische Historiker und public intellectual Timothy Snyder, dessen Bücher regelmäßig in deutscher Übersetzung erscheinen und Debatten in deutschen Feuilletons prägen, wirft wiederum sein wissenschaftliches Kapital für den Euromajdan und die Revolution in der Ukraine in die Waagschale. Das ist nicht weiter verwerflich. Wissenschaftlichkeit und politische Positionierung schließen sich auch für professionelle Historiker nicht aus – zumindest so lange Ersteres nicht der Preis ist, mit dem Letzteres bezahlt wird. So kenntnisreich Snyders Ausführungen über die Ukraine und ihre Geschichte sein können, das Bild der Geschichte Russlands als Antipoden der Ukraine ist bei Snyder mittlerweile sehr verzerrt. Eine lange Geschichte, in der sich europäische Integration und russische Destruktion und Okkupation gegenüberstehen,[19] lässt Snyder nun in einem russischen Faschismus putinscher Prägung als Ausgangspunkt des drohenden Endes der Demokratie in Europa und den USA gipfeln.[20] Snyder und Krone-Schmalz bieten geschlossene Russlandbilder, die gegensätzlicher nicht sein könnten: hier das immer missverstandene und ausgestoßene Opfer, dort der altbekannte Überzeugungstäter, dem partout nicht über den Weg zu trauen ist. Beiden gemeinsam ist, dass sie ein eindimensionales Russland präsentieren. Putins Herausforderung, die Macht unter einzelnen Figuren und Gruppen um sich herum auszubalancieren, und kontroverse Positionen zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft Russlands in Medien und Wissenschaft des Landes kommen weder bei Snyder noch bei Krone-Schmalz vor.[21] Es ist jedoch wichtig, die Analyse vor das Urteil zu setzen und die Frage zu stellen, wie sich ein Dialog zwischen Deutschland, seinen östlichen Nachbarn und Russland neu ansetzen ließe. Was das deutsch-russische Verhältnis anbelangt, haben die Historiker Irina Scherbakowa und Karl Schlögel diese Aufgabe einer neuen Generation von Akteuren in den deutsch-russischen Beziehungen zugewiesen.[22]

Bei aller Gegensätzlichkeit ist den verschiedenen Putinbildern in Deutschland gemeinsam, dass sie Putins Möglichkeiten überschätzen. Putin operiert in Strukturen, die er vorgefunden hat. Er moderiert die Interessen einer neuen Elite, die mit ihm gemeinsam an die Macht gelangt ist. In der Innenpolitik wie in der Außenpolitik erscheint Putin als versierter Taktiker. Die große strategische Vision ist nicht seine Stärke. Politikkonzeptionen wie die Modernisierungspartnerschaft Russlands mit der EU zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ein Neustart der Beziehungen mit den USA unter der Präsidentschaft von Dmitrij Medwedjew 2008–​2012 oder die jüngst ausgerufene Wendung nach Asien sind entweder bereits zu den Akten gelegt oder müssen im Fall der Wendung nach Asien ihre Tragfähigkeit erst noch erweisen. Wer Russland verstehen und einen neuen Dialog mit der Politik des Landes entwickeln möchte, muss sich zwei Dinge klarmachen: Momentan führt an Putin als Ansprechpartner kein Weg vorbei. Doch auch wenn eines Tages jemand anderes auf Putin im Präsidentenamt folgt, wird Russland sich nicht schlagartig von einem auf den anderen Tag völlig wandeln. Die Strukturen, die Putin vorfand und in denen er operiert, werden nach seinem Abgang als Präsident noch da sein. Zu diesen Strukturen gehört Russlands imperiales Erbe – das Erbe des Zarenreiches und der Sowjetunion. Es ist höchste Zeit, sich mit diesem Erbe zu befassen.

II. Dämon und Konzept: Was ist ein Imperium?

Wer Russland verstehen möchte, muss sich von den dämonischen Vorstellungen des bösen Imperiums befreien und einen analytischen Blick auf Russland entwickeln. Dabei hilft die Geschichtsschreibung über Imperien und ihr Verständnis von Imperien als politischem System. Die Beschäftigung mit der Geschichte von Imperien liegt umso näher, als in jüngster Zeit eine Reihe von Stimmen die Ansicht vertreten, dass diese Geschichte noch nicht abgeschlossen sei. Nicht nur prägt sich eine Sensibilisierung für das Erbe von Imperien aus, es wird sogar darüber nachgedacht, inwieweit die Zukunft der Welt neuerdings von imperialen Elementen gekennzeichnet sein könnte.[1] Zu den Hinterlassenschaften vergangener Imperien gehören politische Konflikte um neue politische Ordnungen ebenso wie schwere ökologische Folgeschäden beispielsweise in den Regionen atomarer Testgelände, sei es der Sowjetunion im östlichen Kasachstan oder Frankreichs im Pazifik.[2] Zukunftspotentiale imperialer Ordnungen verorten einige Autoren in den internationalen Beziehungen, in der Integration Europas und im Umgang mit Migrationen und der mit ihr verbundenen Vielzahl von Religionen und Kulturen.[3] Imperien können eine großregionale stabilisierte Ordnung hervorbringen. Der Preis dafür ist jedoch ein Souveränitätsverlust kleinerer Staaten, die sich in der imperial dominierten Großregion der Außenpolitik eines Imperiums beugen müssen. Imperien tun sich leichter als Nationalstaaten im Umgang mit religiöser und kultureller Vielfalt. Imperien können hier große Toleranz entwickeln. Sie haben jedoch massive Schwierigkeiten, diese Toleranz gegenüber Vielfalt in eine politische, demokratische Teilhabe aller umzusetzen.

Verschiedene Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen haben im zurückliegenden Vierteljahrhundert dazu beigetragen, dass Imperien neuerlich in den Blickpunkt geraten sind und die Beschäftigung mit ihnen an wissenschaftlichem Profil gewonnen hat. Das lässt sich auch für ein vertieftes Verständnis von Russland und seinem Umgang mit imperialen Erbschaften nutzen. Die Geschichtsschreibung hat das Thema Imperium in den 1990er und 2000er Jahren wieder neu für sich entdeckt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten historiographische Trendwenden wie die französische Schule der Annales mit ihrem Fokus auf Geographie und Mentalitäten sowie schließlich die Sozialgeschichte die Imperien auf die hinteren Plätze der Forschungsgegenstände verwiesen. In den 1980er Jahren stellte die Untersuchung der Geschichte von Nationsbildungen einen neuen Trend in der Geschichtswissenschaft dar. Einigkeit herrschte darüber, dass moderne Nationen ein Phänomen der jüngeren Geschichte darstellen und in ihrer Entstehung ab ca. 1750 nachverfolgt werden können. Viel diskutiert wurde über Kultur und Ökonomie als Faktoren, die die moderne Nationsbildung antrieben. Nationen waren zunächst Vorstellungen in den Köpfen von Deutungseliten und Produkte erfundener Tradition, ehe sie der breiten Masse der Bevölkerung etwa im Schulunterricht vermittelt wurden. Gleichzeitig lassen sich Nationen als soziokulturelle Anpassungen an die Herausbildung nationaler Volkswirtschaften beschreiben. Drei klassische Bücher von Benedict Anderson, Eric Hobsbawm und Terence Ranger sowie Ernest Gellner aus dem Jahr 1983 fassen diesen Kenntnisstand zusammen.[4] Erst als aus dem Untergang der Sowjetunion 1991 15 neue Staaten hervorgingen, rückten Imperien als supranationale Herrschaftsgebilde wieder in den Fokus der Geschichtsschreibung. Weitere Gegenwartserfahrungen haben seitdem das Thema Imperium als relevant erscheinen lassen. Die politikwissenschaftlichen Debatten um die Verfasstheit und eine eventuelle Verfassung der EU und auch die politische Frage nach einer Finalität des europäischen Integrationsprozesses luden das Thema Imperium mit Bedeutung auf. Lassen sich die Begriffe Staatenbund oder Bundesstaat auf die EU und ihre Zukunft anwenden? Die EU ist stärker integriert als ein loser Staatenbund und gleichzeitig doch kein Bundesstaat. Analogien zu Imperien schienen hier eine neue Beschreibungsmöglichkeit des politischen Mehrebenen-Systems der EU zu bieten.

Schließlich ist das Thema Imperium auch in die Diskussion der internationalen Beziehungen zurückgekehrt. Die unüberlegt forsche Außenpolitik des amerikanischen Präsidenten George W. Bush ließ die USA in den Nullerjahren wie einen imperialen Ordnungsakteur im Weltmaßstab erscheinen.[5] Bürgerkriege und Kriege, die im Nahen Osten seit 2011 auf den Arabischen Frühling folgten, wie auch Russlands Annexion der Krim 2014 und verdeckter Krieg im Donbas machten offenkundig, dass die Ordnungen, die im Nahen Osten auf das Ende des Osmanischen Reiches 1918–​1923 und im östlichen Europa auf den Untergang der Sowjetunion 1991 gefolgt waren, von postimperialer Instabilität gekennzeichnet sind.[6]

Die neue Konjunktur des Themas Imperium hat die Frage nach der Definition des Phänomens Imperium aufgeworfen. Für den anfänglichen historiographischen Hausgebrauch ließ sich davon sprechen, dass Imperien großräumige Herrschaftsgebilde darstellen, die in sich kulturell und sprachlich sehr unterschiedliche Regionen vereinen. Gewöhnlich werden Imperien von einer Dynastie beherrscht, und vielfach prägen sie eine universalistische Herrschaftsideologie aus. Imperien erscheinen ferner als große Mächte in den internationalen Beziehungen. Ihre Ökonomie lässt sich allein im Maßstab supraregionaler, wenn nicht gar globaler Wirtschaftssysteme erfassen.[7]

In der geschichtswissenschaftlichen Praxis erwies sich diese Definition jedoch rasch als unscharf. Vor allem der Blick auf großräumige Nationalstaaten mit starker innerer regionaler Varianz, die als Großmacht gelten dürfen und weltwirtschaftlich sehr bedeutungsvoll sind – wie beispielsweise die USA seit dem späten 19. Jahrhundert –, warf die Frage nach trennschärferen Kennzeichnungen eines Imperiums auf. Die Politik- und Sozialwissenschaften haben der Historiographie griffigere Idealtypen des Imperiums zur Verfügung gestellt. Alexander Motyl sieht die politischen und ökonomischen Ströme eines Imperiums idealtypisch in der Metapher der Nabe mit Speichen ohne Rad auf den Punkt gebracht. Die Nabe stellt das imperiale Zentrum dar. Die Speichen verkörpern die Verbindungen zu einzelnen Regionen des Imperiums. Die Regionen wie auch die Verbindungen zu ihnen vom Zentrum aus können in Größe und Stärke variieren. Das fehlende Rad bringt zum Ausdruck, dass die Regionen im Imperium nicht untereinander kommunizieren, sondern das imperiale Zentrum alle Kommunikation, politischen Entscheidungsabläufe und ökonomischen Ressourcenextraktionen monopolisiert.[8] Mit dieser bildlich griffigen Definition fallen die EU und Staaten aus dem Feld der Imperien heraus, die ihren Mitgliedsländern bzw. Regionen eine politische Repräsentanz und Kommunikation untereinander erlauben – wie die USA den Senatoren als Repräsentanten der Bundesstaaten im Senat oder die Bundesrepublik Deutschland den Ländern im Bundesrat.

Ulrich Beck und Edgar Grande operieren mit einer idealtypischen Gegenüberstellung von Imperium und Nationalstaat.[9] Beide Herrschaftstypen zielen auf die Herstellung von Sicherheit, Ordnung und Wohlstand. Sie wenden dabei jedoch ganz unterschiedliche Formen der Integration und Abgrenzung an und verteilen Wohlstand in verschiedenem Maß. Nationalstaaten bilden einen von einer klaren Grenze markierten Herrschaftsraum, in dem alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger die gleichen Rechte genießen und den gleichen Pflichten unterliegen. Die Gesellschaft eines Nationalstaats ist vertikal integriert. Imperien bilden asymmetrische Integrationsformen aus. Der starken Privilegierung und Teilhabe an der Macht von Eliten kann eine enorme Rechtlosigkeit breiter Bevölkerungskreise gegenüberstehen. Die Form dieser Asymmetrie zeigt in Imperien zudem regional unterschiedliche Ausprägungen. Imperien sind lediglich horizontal integriert. Die Macht im Zentrum beschränkt sich darauf, lokale und regionale Eliten in die imperiale Herrschaftselite einzubinden. Im Übrigen kann die imperiale Zentrale die Region der Verwaltung einer regionalen Elite überlassen. Im Gegensatz zum Nationalstaat ist das Imperium politisch von seiner Außenwelt nicht durch eine linear klar markierte Grenzlinie unterschieden. Imperien bilden um sich herum verschiedene Grenzsäume aus, die in ihrer räumlichen Reichweite variieren: politisch, militärisch, ökonomisch und kulturell. In der Unschärfe des Grenzsaums liegt die Möglichkeit der Expansion wie auch zugleich des Rückzugs. Für Letzteres ist Russlands Verkauf von Alaska an die USA 1867 ein einschlägiges Beispiel.[10] Ein Nationalstaat würde nicht einen Teil seines Staatsgebietes an einen anderen Staat verkaufen. Dass etwa die Bundesrepublik Deutschland Schleswig-Holstein an Dänemark, Mecklenburg-Vorpommern an Polen und das Saarland an Frankreich verkauft, ist ausgeschlossen. Die Definitionen, die Motyl, Beck und Grande vorgelegt haben, prägen sehr stark die aktuelle historiographische Darstellung des Phänomens Imperium.[11] Jüngere Synthesen zur Geschichte von Imperien im Weltmaßstab heben zudem sehr stark auf das Streben der Imperien nach globaler Dominanz und das Management von Vielfalt in ihrem Inneren ab.[12]

Schwieriger als die idealtypische Unterscheidung von Imperium und Nationalstaat ist die Positionierung des Konzepts Imperium zu den Begriffen Imperialismus, Kolonialismus, Rassismus und Zivilisation. In der älteren Historiographie galt Imperialismus als ein Epochenbegriff, der das Ausgreifen europäischer Staaten in alle Winkel der Welt von 1880 bis 1914 kennzeichnen sollte. Die jüngere Imperienforschung begreift Imperialismus als einen Prozessbegriff, der epochenübergreifend alle Handlungen erfasst, die zum Erhalt eines Imperiums nötig sind.[13]

Kolonialismus verbindet einige definitorische Gemeinsamkeiten mit Imperium. Imperium und Kolonialismus bezeichnen asymmetrische Beziehungen. Kolonialismus stellt die ökonomische Ausbeutung einer Kolonie durch ein machtvolles Zentrum dar. Dabei lassen sich Stützpunkt-, Herrschafts- und Siedlungskolonien unterscheiden.[14] Häufig wird die Herrschaft des Zentrums über die Kolonie mit rassistischer oder zivilisatorischer Ideologie gerechtfertigt. Der Unterschied liegt dabei darin, dass rassistische Unterscheidung eine dauerhafte Differenz behauptet. Zivilisatorische Differenz ist kulturell und kann somit in einem Prozess der Zivilisierung aufgehoben werden.[15] Koloniale Herrschaft wird in vielen Fällen von einem Imperium ausgeübt. Jedoch gilt nicht der Umkehrschluss. Imperien lassen sich nicht auf Kolonialherrschaft reduzieren. Landimperien wie das russländische Zarenreich beruhten auf der Inklusion regionaler Herrschaftseliten in die Reichselite und einer lange Zeit, bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, gewährten Autonomie von manchen Regionen des Reiches, die keiner kolonialen Ausbeutung unterworfen waren.

Eine aktuelle Gegenwartsfrage lautet, ob das Thema Imperium in der Vergangenheit liegt und allein hilft, eine historisch gewachsene Gegenwart zu erklären, oder ob die sich abzeichnende Welt des 21. Jahrhunderts auch von Imperialität gekennzeichnet sein wird – und inwieweit sich diese Imperialität wiederum von historischen Erscheinungsformen des Imperiums vom 16. bis zum 20. Jahrhundert unterscheiden könnte. Erste Antworten liefert der Blick in die Politikwissenschaft. Sozialwissenschaftler verwenden nach wie vor das Imperium als Begriff und analytisches Konzept. In den internationalen Beziehungen gelten Imperien als Akteure, die regionale Ordnungen oder gar eine globale Ordnung schaffen und stützen können.[161718