Über das Buch:
Als ob ein Tagebuch ihren Scherbenhaufen von Leben besser machen könnte! Die 16-jährige Tally hat unerwartet ihren Vater verloren und das Letzte, was sie jetzt braucht, sind die Ratschläge ihrer selbst überforderten Mutter. Oder der merkwürdigen Therapeutin, die ihr empfiehlt, ihre Gefühle aufzuschreiben!
Erst als Tally zufällig Frau Möller kennenlernt, eine alte Dame mit einem Papagei sowie einer Vorliebe für Marzipan, und ihr das Foto von deren jung in den Krieg gezogenen Onkel in die Hände fällt, findet sie doch noch etwas, was sie zum Schreiben inspiriert. Außerdem sind da ja auch noch ihre beste Freundin Sanna und nicht zu vergessen Mr Wow, der eigentlich Timo heißt und Tally einfach nicht mehr aus dem Kopf geht. Dummerweise ist er Christ und mit diesem religiösen Quatsch kann sie so gar nichts anfangen …

Über die Autorin:
Anni E. Lindner ist Heilsarmeeoffizierin und lebt in dieser Funktion mit ihrem Mann und den sechs Kindern ein fröhliches Nomadenleben. Derzeit leitet das Ehepaar das Kinder- und Familienzentrum »Heilse« in Chemnitz.

Kapitel 6

Meine Mutter sitzt auf dem Sofa und blättert in einer Zeitschrift. Ich bin gerade von Sanna zurück und es ist an der Zeit, dass sie die Neuigkeit mit meinen Haaren erfährt.

»Hey, Mam«, sage ich und trete von hinten an sie heran.

Als sie aufschaut, sehe ich, wie müde ihr Gesicht aussieht und wie verweint ihre Augen. Sie tut mir leid. Ich glaube, sie kommt mit Papas Tod schwerer zurecht als ich. Aber das würde sie niemals zugeben.

Ich setze mich neben sie – etwas, das ich lange nicht gemacht habe. Sie saß aber auch lange nicht mehr einfach auf dem Sofa. Ich registriere das Wasserglas auf der Tischplatte und rieche an ihrem Atem, dass es wieder russisches Wasser ist. »Ich war bei Paps«, versuche ich leichthin zu sagen. Es klingt nicht ganz so locker, wie ich wollte.

Sie gibt ein leises Schnaufen von sich und schüttelt den Kopf. »Du meinst, du warst am Grab.«

»Ja.«

Wir schweigen ein bisschen, ein sanftes, verstehendes Schweigen. Die Zeitschrift liegt auf ihrem Schoß, ihr Blick auf der Tischplatte.

»Er fehlt mir so«, flüstert sie plötzlich und ihre Augen füllen sich mit Tränen.

Ich beiße mir auf die Lippe und nicke stumm. Mir fehlt er auch. So sehr. Aber weinen kann ich nicht. »Ich muss dir was zeigen«, platze ich nach einer Weile heraus.

Sie wischt sich über die Augen und schnäuzt sich. »Okay«, antwortet sie. Ihre Stimme bebt ein bisschen, aber sie hat sich unter Kontrolle.

Während ich noch überlege, wie ich es am besten sage, deutet sie mit der Hand auf meine Mütze. »Das mit deinen Haaren, meinst du.«

Mir fällt vor Schreck nichts ein, was ich sagen könnte.

Sie zieht die Brauen in die Höhe und sieht mich mit einem leicht vorwurfsvollen Blick an. »Ich bin deine Mutter, Tally. Ich kenne dich seit deiner Geburt. Außerdem bin ich Ärztin. Du glaubst doch nicht etwa, dass es mir entgeht, wenn du dir die Haare abschneidest? Mal abgesehen davon bist du nicht besonders geübt im Umgang mit Kehrblech und Besen. Ich habe es schon gestern Abend im Bad gesehen.«

Ich laufe rot an und kann meine eigene Blödheit nicht fassen. Natürlich ist es ihr aufgefallen. Aber aus irgendeinem Grund dachte ich, dass sie es nicht bemerken würde. Ich dachte, dass sie mich nicht wirklich bemerken würde.

Sie rückt noch ein Stück näher an mich heran und nimmt mir die Mütze ab. Ihre Hand streicht über meine Stoppeln. »Als du geboren wurdest, waren deine Haare pechschwarz«, sagt sie mit einem Lächeln in der Stimme. »Und so weich. Man kann das gar nicht beschreiben. Jetzt bist du eher ein Kaktus.« Sie drückt meinen Kopf sanft zu sich herab, sodass meine Stirn an ihrer Schläfe liegt. Es ist unbequem, aber sie braucht das. Ich glaube, sie braucht mich jetzt. Und, auch wenn es wehtut, ich denke, es kann nicht schaden, einen vertrauten Menschen mit an einem unbekannten Strand zu haben. Es wird sich nicht vermeiden lassen, dass wir beide zusammenarbeiten, wenn wir das neue Land urbar machen wollen, an das das Schicksal uns gespült hat.

Als ich einige Zeit später in mein Bett krieche und mir die Decke trotz der Wärme bis unters Kinn ziehe, stelle ich fest, dass es guttut, Freunde zu haben. Es wäre schrecklich, wenn ich jetzt ganz allein wäre. Sanna tut mir gut und meine Mutter auch, obwohl wir nicht den allerheißesten Draht zueinander haben. Im Hintergrund gibt es auch noch ein paar Leute: die Mädels aus der Ballettschule, meine Verwandten … Ich bin nicht ganz so allein, wie es sich anfühlt. Darüber bin ich froh. Und morgen werde ich Oma Ute anrufen. Ich habe nicht vergessen, wie sehr sie an Papas Grab weinen musste.

* * *

Nächste Tage haben so ihre Tücken. Zum einen weiß man nie, mit welcher Laune man aufwacht. Zum anderen ist es absolut nicht berechenbar, wie die Pläne, die man gemacht hat, zu dem passen, was einem an Ereignissen präsentiert wird.

Mein Tag beginnt mit Bauchschmerzen. Ich gehe ins Bad und stelle genervt fest, dass meine Periode eingesetzt hat. Ich hasse diese dämliche Routine des Körpers, einem jeden Monat mindestens zwei Tage zu versauen, indem er einen zwingt, sich mit Schmerztabletten am Leben zu halten. Ich schaue in den Medizinschrank im Bad, nur um festzustellen, dass die Tablettenschachtel leer ist.

»Mam, haben wir noch irgendwo Schmerztabletten?«, rufe ich in Richtung Küche. Das hätte ich mir allerdings sparen können, denn meine Mutter antwortet aus Prinzip nicht auf Schreie aus anderen Zimmern. Ich ziehe mich an und wanke in den Essbereich. »Mam, ich hab Schmerzen. Hast du bitte was für mich?«

Ihr Blick wird besorgt und ich vermute, dass sie mein Rufen vorhin nicht verstanden hat.

»Was ist los?«, fragt sie panisch.

Das verwirrt mich, denn normalerweise nimmt sie mich nicht besonders ernst, wenn ich über Schmerzen klage. Sie betrachtet mich dann fachmännisch, stellt kühl und überlegt ein paar Fragen und erstellt eine Diagnose. Heute reagiert sie über. Das ist schlecht. Sie hat Angst, dass mir jetzt auch was Schlimmes passiert und sie in den vergangenen Monaten etwas übersehen hat. Als ob sich Papas Geschichte wiederholen würde.

»Es sind doch nur Krämpfe«, beruhige ich sie, obwohl ich genervt von ihren vor Schreck geweiteten Augen bin. »Ich hab meine Tage.«

Ihre Pupillen werden wieder kleiner und sie setzt sich an den Tisch.

»Tut mir leid«, sagt sie und streicht sich mit einer fahrigen Bewegung das Haar aus ihrer Stirn. »Ich hab wohl noch nicht alle meine Sinne zusammen. In meiner Handtasche ist noch eine Packung Tabletten. Nimm dir was raus.«

Ich drehe mich erleichtert um und hole mir die rettende Pille. Jetzt etwas trinken und die nächsten zwanzig Minuten überstehen, dann wird der Tag schon werden.

Aber meine Mutter findet den Moment anscheinend passend, mir noch einen Brocken hinzuwerfen.

»Ich habe einen Termin mit Frau Reuter für dich vereinbart«, teilt sie mir mit und schiebt mir einen Zettel zu.

Dagmar Reuter, steht darauf. Psychotherapie und Trauerbegleitung. Der Termin ist heute Nachmittag um 16 Uhr. Mein Bauch krampft und ich drücke die Hand dagegen. Am liebsten würde ich wieder ins Bett kriechen. Warum denkt meine Mutter, dass ich eine Psychotante brauche?

»Ich komme klar, Mam«, sage ich ärgerlich und schiebe den Zettel wieder zu ihr zurück. »Ich will nicht zu dieser Dame gehen. Ich hab Freunde zum Reden.«

Mutter seufzt und sieht mir in die Augen. »Deine Freunde sind Teenager und haben keine Erfahrung mit dem Tod, Tally. Du denkst jetzt, dass du stark bist, aber irgendwann wirst du mir dankbar sein. Geh zu diesem Termin. Denn glaub mir, du kommst nicht wirklich klar.«

Die Wut in meinem Bauch ist so heiß, dass sie beinahe die Krämpfe zu lindern scheint.

»Ach so, ich komme also nicht klar. Aber du tust es, ja? Du kommst klar? Du kommst klar, indem du jeden Tag trinkst und deine Trauer im Alkohol ersäufst. Glaubst du, ich falle auf deine Wassergläser rein? Geh doch selber zu dieser Frau Reuter. Du hast es eindeutig nötiger als ich!«

Meine Mutter hält dem aufgebrachten Blick stand, den ich in ihre blauen Augen funkele. Sie schiebt den Zettel energisch in meine Richtung zurück. »Ich habe schon zwei Sitzungen bei ihr hinter mich gebracht. Und ja, mir ist schon klar, dass ich Hilfe brauche, um die Sache zu verarbeiten. Genauso wie du. Also, nimm den Zettel und geh hin. Es wird dich schon nicht umbringen.«

Ich fühle mich, als hätte sie mir ins Gesicht geschlagen, aber ihr Eingeständnis hat mir den Wind aus den Segeln genommen. Wortlos stecke ich den Zettel ein. Ich werde mir später überlegen, was ich damit mache.

* * *

Ich denke die ganze Zeit darüber nach, während ich im Unterricht sitze. Eigentlich will ich auf keinen Fall einer fremden Person von meinen Gefühlen erzählen. Ich weiß, dass ich nicht selbstmordgefährdet bin oder so was. Aber wenn ich bei dieser Psychotante sitze und mir etwas über die Sache mit dem Stranden herausrutscht, erklärt sie mich vielleicht für verrückt, weil sie es nicht versteht; aber für mich macht es Sinn und ich weiß, dass ich nicht durchgeknallt bin. Sanna meint, es kann nicht schaden, mit einer Therapeutin zu reden. Ich muss ihr ja nicht alles sagen, was mir durch den Kopf geht. Aber genau da liegt das Problem. Ich weiß, dass ich alles sagen werde. Diese Leute sind doch darauf geschult, einem die tiefsten Geheimnisse der Seele zu entlocken, und ich trage mein Herz sowieso auf der Zunge.

Am Nachmittag trödele ich extra lange auf dem Schulhof herum, um vielleicht »aus Versehen« den Termin zu verpassen. Sanna musste schnell nach Hause, weil sie ihre Schwester aus der Kita abholen muss, und die schließt freitags schon um viertel vor vier. Ich spiele auf meinem Smartphone und warte auf Jenny, die ein Stück des gleichen Heimweges hat wie ich. Normalerweise gehe ich nie mit ihr irgendwohin und sie weiß auch noch nichts von ihrem Glück. Aber sie ist nun einmal die, bei der das Umziehen nach dem Sport am längsten dauert, und das hilft mir heute weiter. Außer uns, die wir freitags bis fünfzehn Uhr Sportunterricht haben, ist kaum jemand mehr an der Schule. Das Wochenende ist schon beinahe eingeläutet.

Die Tür der Turnhalle öffnet sich und ich blicke Jenny entgegen, meinen Rucksack schon schulternd. Nur dass es gar nicht Jenny ist, die herauskommt. Es ist Mr Wow und das ist jetzt wirklich megapeinlich. Als hätte ich auf ihn gewartet, so muss das aussehen. Ich laufe schon wieder rot an. Er lächelt mich an (kann er eigentlich auch anders gucken?) und ich rette mich, indem ich ihn mit einem desinteressierten Gesichtsausdruck leichthin grüße, während ich in Richtung Turnhalle gehe. Dann muss ich Jenny eben eigenhändig aus der Umkleidekabine ziehen, nur um ein Alibi für meinen Aufbruch zu haben. Zum Glück geht Mr Wow weiter und verschwindet rechtzeitig aus dem Schultor, bevor Jenny doch endlich kommt und mich überrascht fragt, warum ich auf sie gewartet habe.

Leider ist es trotz der Warterei noch viel zu früh, um den Termin zu verpassen. Ich begleite Jenny bis zu ihrer Haustür. Wir haben uns noch nie so ausführlich über Ballett unterhalten wie heute, obwohl wir bis vor den Sommerferien gemeinsam in einem Tanzkurs waren.

Ich drehe seufzend noch eine Runde um den Block, die Sonne heiß auf meiner schwarzen Mütze. Es ist so schönes Wetter. Man sollte es nicht verschwenden, indem man auf einer Couch beim Therapeuten sitzt. Aber morgen soll es genauso schön sein, deshalb zählt auch das nicht als Ausrede. Als es endlich kurz vor vier ist, stehe ich vor der Tür einer kleinen Praxis. Mein Herz klopft und meine Finger zittern, als ich auf den Klingelknopf drücke. Es summt und ich trete ein.

Warum mache ich das bloß, frage ich mich zum tausendsten Mal.

Ein heller Vorraum begrüßt mich mit einem Panik steigernden Blumenarrangement und einer Glaskaraffe voller Wasser, auf deren Boden Heilsteine schimmern. Ich habe Durst, misstraue aber der Kieselgeschichte, weil meine Mutter ein Fan davon ist. Außerdem würde ich bei dem Versuch, mir Wasser einzuschenken, vermutlich sowieso aus lauter Nervosität die Karaffe fallen lassen.

Mit klammen Fingern und Puddingknien stehe ich mitten im Raum, als sich geräuschlos eine Tür öffnet. Heraus tritt eine ältere Dame in Jeansrock und Bluse, selbstverständlich mit einem locker um den Hals geknüpften Seidentuch. Ich wäre enttäuscht gewesen, hätte dieses Accessoire gefehlt. Ebenso die Lesebrille, die, an einer Kordel hängend, auf ihrer Brust liegt.

Mit einem künstlich strahlenden Lächeln kommt sie auf mich zu und streckt mir die Hand hin.

»Talitha, ich grüße dich. Deine Mutter hat mir von dir erzählt.«

Ich atme tief durch und erwidere lustlos ihren Händedruck. Warum bin ich nicht umgekehrt, als ich noch die Gelegenheit dazu hatte?

Frau Reuter bietet mir Heilsteinewasser an und ich nehme das Glas.

Dann lotst sie mich in das Therapiezimmer. Zu meiner Überraschung gibt es hier nur einen großen Schreibtisch, der quer im Raum steht – keine Couch. Dafür zwei bequem wirkende Stühle am Fenster. Frau Reuter lädt mich ein, Platz zu nehmen. Mein Blick fällt nach draußen in einen grünen Gartenbereich. Die Hinterhöfe in unserem Viertel sind oft überraschend groß und dieser hier wirkt wie der Outdoor-Meditationsbereich eines Wellnesscenters. Dunkle Holzbohlen bilden die Sitzfläche einer Veranda, an die sich akkurat gepflegter Rasen, ein Kiesweg und ein Gartenteich anschließen. Der kleine Baum ist bestimmt eine japanische Zierkirsche und auf einer niedrigen Mauer, deren Zweck sich mir nicht erschließt, finden sich tatsächlich einige Stapel dieser glatten schwarzen Steine, die immer in Wellnessprospekten abgebildet sind. Ich muss automatisch grinsen und natürlich fragt Frau Reuter just in diesem Moment: »Gefällt es dir?«

Ihre Stimme holt mich zurück in den Raum. Ich räuspere mich und richte den Blick auf die Dame, die mir gegenübersitzt. Ihr Blick ist übertrieben aufmerksam und mir fällt plötzlich der Pfarrer am Grab meines Vaters wieder ein.

»Sehr nett«, antworte ich unbeholfen. Ich will ihren Vorzeigegarten ja nicht gleich beim ersten Mal kritisieren. Obwohl ich es viel zu offensichtlich finde, dass diese übertrieben harmonische Pseudonatur wohl einen Gegenpart zu den zerwühlten Schlachtfeldern menschlicher Seelen darstellen soll, die sich in den Sesseln am Fenster wiederfinden.

Der Stift in ihrer Hand zuckt leicht, aber sie schreibt nichts auf. Ich frage mich sowieso, warum sie einen Notizblock in der Hand hält.

»Wollen Sie mitschreiben, was ich sage?«, rutscht es mir patzig heraus.

Frau Reuter bewegt Mundwinkel und Augenbrauen nach oben und sieht damit so aus, als würde sie auf ein besonders dummes Exemplar von Patient herabschauen. Betont langsam legt sie Stift und Block auf ihren Schoß, hält beides aber weiter griffbereit zwischen den Fingerspitzen. »Nicht, wenn es dich stört«, erwidert sie mit professioneller Stimme. »Aber es ist hilfreich für unsere nächsten Termine, wenn ich mir das eine oder andere Stichwort notiere.«

»Ich weiß noch nicht einmal, ob ich zu weiteren Terminen kommen will«, sage ich unfreundlich. Eigentlich hat sie mir ja nichts getan, aber ich mag die Frau nicht. Ich fühle mich schon jetzt so was von nicht ernst genommen. »Schreiben Sie das ruhig auf!«

Ich sehe demonstrativ wieder aus dem Fenster und schweige. Frau Reuter schreibt tatsächlich. Ich höre die Kulimine über das Papier flitzen. Dann ist es lange still. Es ist voll unangenehm. Mein Nacken fängt an wehzutun, weil ich den Kopf so krampfhaft in Richtung Fenster halte. Aber ich will mich nicht bewegen, weil Frau Reuter dann bestimmt mit Worten auf mich losspringt wie eine Spinne auf die Fliege in ihrem Netz.

Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Die Uhr tickt – leider kann ich sie nicht sehen, aber irgendwann fange ich an, das Ticken zu zählen. Ich bin gerade bei zweihundertvierundsiebzig, als Frau Reuter plötzlich fragt: »Schreibst du Tagebuch, Talitha?«

Ich zucke zusammen. Mein Kopf fährt herum und ich sehe der Dame direkt ins Gesicht. Dann senke ich schnell den Blick. »Warum?«, frage ich mit gerunzelter Stirn. Was für ein blödes Gespräch. Was soll mir das bringen?

»Oh.« Sie schüttelt fast unmerklich ihre rot gefärbten Löckchen und lächelt professionell. »Es könnte dir helfen, deine Gedanken zu sortieren.«

Woher um alles in der Welt nimmt sie die Vermutung, dass meine Gedanken geordnet werden müssten?
»Sie sind nicht durcheinander«, bringe ich wütend hervor. »Mit mir ist alles okay. Ich habe mich nicht für diese ›Therapie‹ angemeldet. Meine Mutter wollte das. Und ich bin nur hier, weil ich eine brave Tochter bin!«

»Hast du dich mit deiner Mutter unterhalten, bevor du dir den Schädel rasiert hast?«, bohrt Frau Kreuzspinne nach.

Ich fühle, wie die Wut in mir immer heißer brodelt. »Das geht Sie so was von gar nichts an!«, schleudere ich ihr entgegen und springe auf. »Ich habe mir immerhin nicht die Pulsadern aufgeschnitten. Braucht jeder eine Therapie, der zum Friseur geht, weil er eine Typveränderung möchte?«

Mein Blick könnte sie töten, aber sie bleibt seelenruhig sitzen und sieht mich gelassen an. »Talitha, ich bin nicht dein Feind. Ich bin hier, um dir zu helfen.«

In meinen Hosentaschen ballen sich die Hände zu Fäusten. »Ich bin hier, weil Sie mir helfen sollen, aber ich will Ihre Hilfe nicht. Ich habe Freunde zum Reden.«

»Und, redest du mit ihnen über deinen Vater?«

Jetzt platzt der Wutballon in mir. Sie hat ihn mit ihrem Pfeil ganz genau getroffen. Heiße Luft entweicht, aber ich explodiere nicht. Eher falle ich in mich zusammen. Bewegungslos stehe ich da und erwidere ihren Blick, der, ehrlich gesagt, beinahe milde und mitfühlend aussieht. Nicht so triumphierend, wie ich erwartet hätte.

»Nein«, gebe ich zu und setze mich wieder hin. »Aber ich werde es irgendwann tun. Jetzt … jetzt brauche ich erst mal Zeit, um die Sache mit mir selbst auszumachen. Ist das denn so schlimm?«

Die freundliche Spinne lächelt. »Nein«, gibt sie zu. »Aber wir wollen verhindern, dass du dich zu tief in ein Schneckenhaus verkriechst. Das ist der Grund, warum du hier bist.«

Ich fühle mich überrumpelt. Fies hintergangen.

Nur weil meine Mutter nicht in der Lage ist, mit mir zu reden, schiebt sie die Aufgabe der Therapeutin zu. Das ist nicht fair. Ich will keinen Rat von jemandem, der dafür bezahlt wird, meine angeknackste Seele wieder zu richten. Ich will jetzt kaputt sein dürfen. Meine Mutter soll sich um mich kümmern. Sie soll mir Kakao kochen und an meinem Bett sitzen, wenn es mir mies geht. Sie soll mich in den Arm nehmen und nicht nach Wodka riechen. Sie soll mit mir auf einer Wiese sitzen und in den Himmel starren, ganz einfach. Ich will keine Therapie.

Entschlossen stehe ich auf und gehe.

»Es tut mir leid, dass ich Ihre Zeit verschwendet habe«, sage ich über meine Schulter. Ich öffne die Tür und trete in den Flur.

»Nächste Woche zur selben Zeit bin ich wieder für dich da«, höre ich Frau Reuter von ihrem Sessel aus sagen. »Bis dann.«

Die Tür fällt ins Schloss und ich renne ins Freie.

Kapitel 7

Draußen merke ich, wie sehr ich zittere. Meine Knie schlottern und ich friere, obwohl es warm ist.

Mit schnellen Schritten gehe ich die Straße hinunter, um meine Beine wieder fest zu bekommen. Wohin ich gehe, ist mir ganz egal. In mir tobt ein Orkan mit extremer Windstärke. Das Meer bäumt sich auf, Sand weht in mein Gesicht, vermischt mit salzigem Wasser. Hinter mir biegen sich die Stämme der Palmen und ihre Wipfel werden vom Sturm zerfleddert. Ich laufe gedankenlos dahin. Sicherheit gibt es nirgends. Ich muss einfach versuchen, nicht wieder ins Meer gezogen zu werden.

Irgendwann reißt mich das Hupen eines Autos aus meiner Inselwelt. Erschrocken bleibe ich stehen – irgendwo an einer Kreuzung in Berlin, an einem warmen Spätsommertag. Der Autofahrer schreit mir durch das offene Seitenfenster zu: »Rot heißt warten!«, und ich beiße mir schuldbewusst auf die Lippe. Die Fußgängerampel steht wirklich auf Rot. Ich hatte wohl Glück, dass der Typ mit seinem Auto mich nicht erfasst hat, als ich – blind wie ich war – einfach auf die Straße getreten bin. Ich kann mich nicht erinnern, nach rechts oder links geschaut zu haben. Die Ampel springt auf Grün und ich überquere die Fahrbahn. Auf der anderen Seite beginnt ein kleiner Park. Eigentlich ist es eher ein Spielplatz. Ein winziger Spielplatz mit Sandkiste, Rutsche und einer Schaukel. Die Buddelkiste ist mit mindestens sieben Kleinkindern überbelegt. Auf den beiden Bänken sitzen Mütter, mit einer Hand den Kinderwagen mit dem jüngsten Sprössling schaukelnd, während die andere Hand souverän den Kaffeebecher hält. Ich atme tief ein und gehe an der heilen Welt vorbei. Am anderen Ende des Platzes sorgt ein Geländer für Sicherheit, damit die Steppkes nicht auf die Straße laufen. Ich hocke mich darauf und starre vor mich hin.

Muss das Leben so kompliziert werden, wenn jemand den Absprung macht? Ich weiß ja, dass ich auch vor Papas Tod nicht der ausgeglichenste Teenager der Welt war, aber im Moment habe ich meine Gefühle einfach überhaupt nicht mehr unter Kontrolle. Ich bin nicht sicher, ob Frau Reuter nett oder vollkommen unsympathisch ist. Ich weiß nicht, ob ich wirklich sauer auf meine Mutter bin. Ich fühle mich nur überrumpelt, ausgelaugt, kraftlos und traurig und ich will nicht selber daran schuld sein. Eine Weile sitze ich auf diesem Geländer und lasse meinen Blick die Straße entlangschweifen. Eigentlich bin ich gar nicht weit von zu Hause entfernt, stelle ich fest. Meine Füße haben mich automatisch in Richtung Heimat getragen.

Seufzend lasse ich mich von meinem Sitzplatz gleiten und gehe weiter.

Als ich nur noch eine Querstraße von meiner Wohnung entfernt bin, sehe ich eine kleine alte Frau vor mir. Sie quält sich, langsam hinkend, an einen Rollator geklammert, den holprigen Gehweg entlang. Am Griff ihrer Gehhilfe hängt eine Papiertüte, deren Boden gefährlich durchdrückt. Bei jeder Unebenheit im Boden, über die der Rollator holpert, knallt sie zusätzlich noch gegen das Gefährt. Ich laufe etwas schneller, weil ich das Gefühl habe, dass die Tüte gleich reißen wird. Und das tut sie auch, aber leider, bevor ich nah genug bin, um irgendetwas aufzufangen. Ein Gurkenglas zerschellt auf den Steinplatten, Tomaten und Zwiebeln purzeln in den Rinnstein. Rasch bücke ich mich und sammle das Gemüse ein.

»Ach, wie ungeschickt!«

Die kleine Dame sieht furchtbar unglücklich aus. Ihre weißen Haare sind in dünne Löckchen gelegt, die ein sanftes, knittriges Gesicht umrahmen. Die blauen Augen in diesem Gesicht wirken groß, ganz erschrocken aufgerissen. Hoffentlich fängt die alte Frau nicht gleich an zu weinen. Ich möchte sie am liebsten umarmen, um sie zu trösten. Stattdessen lege ich ein paar der Tomaten in den Korb an ihrem Rollator. Dieser ist auch recht voll: Ein Beutel Kartoffeln und eine Tüte mit Backwaren liegen darin.

»Das ist wirklich nett von Ihnen«, sagt die kleine Frau und schaut mich an.

»Kein Problem. Warten Sie, ich hole schnell noch die Zwiebel von da drüben. Die Gurken sind wohl nicht mehr zu retten.«

Sie setzt sich auf die Sitzfläche des Rollators und schaut mir zu, wie ich das zerbrochene Glas vorsichtig hochhebe und in einen Mülleimer werfe. Mit dem Fuß schiebe ich ein paar Scherben in Richtung Laternenpfahl, damit sie nicht so sehr im Weg liegen. Wie ein Häufchen Elend kauert die Dame da auf ihrem Stühlchen.

»Kann ich Sie vielleicht nach Hause begleiten?«, wage ich vorsichtig zu fragen. Ich will ihr nicht zu nahe treten, aber mir ist unklar, wie sie es mit all dem Kram auch nur ein paar Meter weit schaffen will. Ein paar Bananen und eine Packung Mehl haben den Absturz aus der Tüte ebenfalls heil überstanden, passen aber nicht mehr in den Korb. Ich halte sie in der Hand und warte auf die Antwort der Dame.

»Das wäre wirklich sehr nett«, erwidert sie und ein kleines Strahlen lässt ihre Augen leuchten. »Das wäre wirklich sehr lieb von Ihnen.« Mit neuem Mut greift sie die Handstücke ihrer Gehhilfe und setzt sich in Bewegung. »Ich wohne gleich hier vorn in diesem Haus«, erklärt sie mir.

Dieses Haus kenne ich natürlich. Es ist das verfallenste im ganzen Kiez und es passt außergewöhnlich gut zu der kleinen alten Dame.

Wir bewegen uns langsam auf den baufälligen Kasten zu. Während der Rollator neben mir Zentimeter für Zentimeter weitergeschoben wird, betrachte ich das Haus kritisch. Eigentlich habe ich mich schon oft, wenn ich daran vorbeigegangen bin, gefragt, wie es wohl von innen aussieht. Von außen jedenfalls macht es den Eindruck, als sei es vergessen worden. Es steht in einer Reihe von alten Gebäuden, die alle in den letzten dreißig Jahren schön restauriert wurden. Manche der Häuser sind alte Stadtvillen. Früher war unser Kiez ein Randbezirk, in dem sich die Reichen niederließen. Nach dem Krieg wurden die Häuser, die zerstört waren, zum Teil in modernerem Stil aufgestockt. Aber viele der großen Wohnhäuser haben immer noch diesen verschwenderischen Charme: hohe Räume, große Fenster mit Bögen und Flügeln, Engelköpfe über den Türen, schnörkelige Brüstungen, Erker, Türmchen und Verzierungen. Ich liebe diesen Alltagsprunk. Das ist so viel schöner als die schlichten, funktionalen Glasfronten oder der Sechzigerjahre-Betonchic.

Unsere Wohnung ist eine Kombi aus beidem. Der untere Teil des Hauses ist alt, aber wunderschön wiederhergerichtet. Die oberste Etage dagegen ist erst später hinzugefügt worden. Dort wohnen wir. Alles ist schnörkellos und geradlinig – nur der Grundriss entspricht dem des ursprünglichen Gebäudes. Das macht die Wohnung doch ein wenig verwinkelt und liebenswert. Trotzdem schaue ich lieber auf die verspielte Fassade des Hauses, das meinem Fenster gegenüberliegt.

Der Bau, auf den ich mich Seite an Seite mit der Dame zubewege, war früher sicher auch einmal schön. Er wirkt auf mich nicht so einladend wie die anderen, eher ernst und distanziert. Aber er muss einmal respektabel gewesen sein. Man hat den Eindruck, dass der Architekt ein Haus gestalten wollte, in dem sich Akademiker wohlfühlen. Menschen, die klug sind, die klare Ziele haben und hart dafür arbeiten. Menschen mit viel Verstand, vielleicht ein bisschen wenig Fantasie, aber dafür mit dem starken Willen, einen Beitrag zum Zeitgeschehen zu leisten. Menschen wie meine Mutter.

Jetzt bröckelt der Putz überall ab. Von oben bis unten ist das Haus gelblich grau und schäbig. Hinter dem wackeligen Gartenzaun wuchern Büsche, Gras und Blumen im Wildwuchs. Die Fensterläden haben ihren Anstrich längst dem Wetter überlassen und an manchen Stellen blitzen nackte Ziegel aus dem Mauerwerk. Durch die schlecht geputzten Fensterscheiben sehe ich vergilbte Gardinen. Und hinter einer dieser Gardinen, direkt vorn, im größten Fenster des Erdgeschosses, steht eine Voliere. Ein ausladender Vogelbauer, in dem ein mächtiger grauer Papagei sitzt. Ich sehe ihn seit Jahren beinahe täglich, weil mein Weg zur Schule mich an diesem Haus vorbeiführt. Einen Menschen habe ich noch nie hier herauskommen oder hineingehen sehen. Als wir endlich die paar Stufen erreicht haben, die zur Eingangstür führen, bin ich richtig aufgeregt …

Die Dame schiebt ihren Rollator an die Hauswand und erklimmt die Treppe.

»Ich hole einen Beutel für die Sachen«, sagt sie und fummelt einen Schlüsselbund aus ihrer Hosentasche.

Ich bin vor lauter Neugier ein wenig außer Atem. »Darf ich Ihnen schon etwas mit hineintragen?«, frage ich.

Sie hat das Schlüsselloch gefunden und die Tür öffnet sich mit einem leisen Knacken.

»Das wäre wirklich sehr nett«, lautet die Antwort wieder.

Neugierig folge ich der Dame in den Hausflur. Es riecht muffig, wie zu erwarten war. Alte Wände haben so einen speziellen Geruch, als hätten sie einfach schon viel zu viele Menschen kommen und gehen sehen. Die vergangenen Zeiten bleiben an ihnen kleben und verwittern. Mit den Bananen und der Tüte Mehl in der Hand trete ich in die Wohnung der Frau. Als Erstes sehe ich einen schmalen, hohen Flur, von dem mehrere Türen abgehen. Der Boden ist mit einem antiken Teppich ausgelegt und ich schlüpfe rasch aus meinen Turnschuhen.

Hinter der ersten Tür scheint sich das Badezimmer zu verbergen. Sie steht einen Spaltbreit offen und ich erkenne den Umriss einer Wanne. Die Tür gegenüber ist geschlossen. Wir gehen weiter und ich stehe in der Küche. Die Wände sind rauchblau gestrichen. Hinter der Arbeitsfläche blitzen weiße Fliesen – alt, aber blank gescheuert. Obwohl ich eher einen echten Kohleherd erwartet hätte, gibt es einen Gasherd mit Backofen. Immerhin, der Wasserkessel, der darauf steht, passt perfekt zu Haus und Frau. »Legen Sie die Sachen einfach auf den Tisch«, werde ich gebeten. Die Dame steuert schon wieder auf die Wohnungstür zu, aber ich halte sie auf.

»Bitte, ich kann alles nach oben holen«, sage ich schnell. »Soll der Rollator auch in die Wohnung?«

Sie stützt sich an der Wand ab. Das Atmen scheint ihr schwerzufallen. War das vorhin auch schon so? »Nein, der muss unter den Unterstand hinter dem Haus. Wenn Sie das erledigen könnten, das wäre wirklich sehr nett. Ich glaube, ich muss mich erst einmal hinsetzen.«

Ich überlege kurz, ob ich warten sollte, bis sie einen sicheren Sitzplatz eingenommen hat, entscheide mich aber dagegen. Am Ende läuft sie wirklich selbst noch einmal ins Treppenhaus, wenn ich zu lange zögere.

Ich ziehe meine Schuhe wieder an und gehe hinaus. Die Tür lasse ich angelehnt. Draußen empfangen mich Helligkeit und Wärme, die einen krassen Kontrast zu dem zwielichtigen Flur bilden. Es fühlt sich an, als wäre die Haustür ein Portal, durch das man in die Vergangenheit reist. Was für ein verlockender Gedanke!

Ich schiebe den Rollator um das Haus herum und parke ihn unter dem Unterstand, von dem die Dame gesprochen hat. Er besteht aus zwei Holzbalken an der Außenwand, die drei Spundwandplatten tragen. Aus dem aufgeplatzten Betonboden wächst Löwenzahn.

Mit den Armen voller Lebensmittel gehe ich zurück in die Wohnung. Es ist still, überall: im Haus, im Wohnungsflur, in der Küche. Mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Wo ist die Dame? Der Küchenstuhl ist leer. Immerhin liegt sie nicht im Flur – von Herzmassage habe ich nämlich keine Ahnung und ich weiß ja nicht, was einer alten Dame mit Atemnot alles zustoßen könnte, während ich um das Haus herumlaufe.

»Hallo?«, rufe ich vorsichtig, nachdem ich die Lebensmittel auf dem Tisch abgelegt habe. Keine Antwort. Mein Herz beginnt zu rasen. Hat es der Tod auf mich abgesehen, oder was? Ich werde auf keinen Fall eine tote Oma in einer fremden Wohnung finden, nur weil ich so dumm war, ihr die Bananen nachzutragen. Ich habe den starken Impuls, einfach aus dem Haus zu laufen und die ganze Sache zu vergessen. Aber das würde ich bereuen. Also hole ich tief Luft, bereite mich innerlich, so gut es geht, auf das Schlimmste vor und gehe, aus irgendeinem Grund auf Zehenspitzen, in Richtung Wohnzimmer.

Kapitel 8

Sie sitzt im Sessel, den Kopf zur Seite gedreht, die Augen geschlossen. Ihr Gesicht ist blass und eine Hand hängt schlaff über die Armlehne. Mir bricht der kalte Schweiß aus. Das darf nicht wahr sein! Mit noch einem toten Menschen in meinem Leben komme ich im Moment ganz sicher nicht klar. Außerdem, was wird die Polizei machen? Die denken vielleicht, ich hätte die alte Dame umgebracht! Verdammt. Was soll ich jetzt bloß machen?

Plötzlich zerreißt ein heiseres Krächzen die Stille und mir rutscht der Magen ins Hosenbein.

»Schon gut, Gregor.«

Ich fahre herum. Der graue Papagei wippt herausfordernd auf seiner Stange.

»Schon gut, Gregor.«

Ich starre das Vieh an. Mein Herz flattert. Ich schätze, dass ich jetzt auch einen Infarkt bekomme. Was für eine Schlagzeile: »Polizei findet Teenager und Rentnerin tot in Wohnung bei kreischendem Papagei«.

»Nicht doch, Gregor!« Diese Stimme klingt weicher und der Papagei hat den Schnabel nicht bewegt. »Hat er Sie erschreckt, junges Fräulein?«

Erleichtert atme ich auf und drehe mich zu dem Sessel um. Sie ist wieder lebendig. Okay, vermutlich war sie doch nicht tot. Was für ein Glück!

»Es tut mir leid, ich muss eingenickt sein. Das passiert mir häufiger. Normalerweise stört es niemanden. Verzeihen Sie bitte.«

»Nein, nein, kein Problem. Wirklich, kein Problem.« Mir werden die Knie weich und ich sehe mich Hilfe suchend um. »Darf ich … mich kurz setzen?«

Die Dame richtet sich in ihrem Sessel auf und deutet mit der Hand auf das Sofa. »Natürlich, bitte. Nehmen Sie doch Platz.«

Sie steht auf und tappt in die Küche, als wäre nichts gewesen. »Sie trinken doch eine Tasse Tee mit mir, ja?«

Ich bin wirklich unfähig zu protestieren. Gregor hockt auf seiner Stange, legt den Kopf schief und sieht mich misstrauisch an.

»Schon gut, Gregor«, sage ich sarkastisch.

Wenn das Vieh wüsste, wie es mich erschreckt hat. Eigentlich glaube ich sogar, dass es weiß, was es tut. Papageien sind mir irgendwie nicht geheuer.

Gregor hebt einen Fuß, fixiert mich mit den Augen, friert in seiner grotesken Stellung ein, blinzelt und stellt ihn dann wieder ab, als hätte er es sich anders überlegt.

Ich wende den Blick ab und versuche den komischen Vogel zu ignorieren.

Das Wohnzimmer der alten Dame ist herrlich altmodisch. Dunkelbraune Schränke, auf denen kein Körnchen Staub liegt, sind mit Büchern gut gefüllt. Auf einigen Buchrücken kann ich Titel erkennen, die wissenschaftlich klingen. Alles tendiert in Richtung Biologie. Ein Schrankfach besitzt Glastüren. Dahinter erkenne ich wertvoll aussehende Porzellanfiguren. Pferde und junge Frauen mit nacktem Oberkörper.

In der Küche höre ich Geschirr klappern.

»Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«, rufe ich, bevor mir einfällt, dass es unhöflich ist, durch Wohnungen zu rufen. Zumindest behauptet das meine Mutter. Unter Gregors kritischem Blick stehe ich auf und gehe in Richtung Küche. Dabei fällt mein Blick auf ein Schwarz-Weiß-Foto, das in einem üppigen Rahmen an der Wand hängt. Eine extrem hübsche, zierliche Braut steht neben ihrem Bräutigam, der in stolzer Haltung vor der Kamera posiert. Sie wirkt ein bisschen schüchtern, aber trotzdem selbstbewusst. Eben so, wie eine Frau, die ihren frisch Angetrauten noch nicht so richtig einschätzen kann und vielleicht ein bisschen Angst vor der Hochzeitsnacht hat. Ich habe gehört, dass das früher so war. Aber er sieht eigentlich so aus, als würde er sie lieben. Wirklich, er hat so einen Blick in den Augen, dem man vertrauen kann. Ich glaube, sie werden eine richtig gute Hochzeitsnacht haben. Gehabt haben.

»Da bin ich wieder.« Die alte Dame reißt mich aus meinen Betrachtungen, indem sie mit einem Tablett in den Händen auf mich zugesteuert kommt. »Der Tee ist fertig.« Sie lächelt und die Tassen auf dem Tablett klirren hell, weil sie ein wenig zittert.

»Bitte, lassen Sie mich das doch tragen.«

Sie geht mir voran zum Tisch. In den Tassen dampft heißer schwarzer Tee. Nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, so etwas an einem Sommertag zu trinken.

Aber als wir sitzen – sie auf dem samtgepolsterten Sessel, ich auf der Couch und Gregor auf seiner Stange –, fühlt es sich einfach richtig an. Ich bin auf einer Zeitreise. Frühes zwanzigstes Jahrhundert, würde ich sagen.

»Nehmen Sie Milch in Ihren Tee?«

Ich nicke und sie reicht mir ein Porzellankännchen. Mit einer kleinen Silberzange darf ich mir anschließend Kandisstückchen aus der Zuckerdose klauben. Eigentlich fehlt nur ein kleines Kammerorchester, das im Hintergrund für Hausmusik sorgt. Ich atme vorsichtig, als könnte ich die Atmosphäre zerstören, wenn ich mich zu normal verhalte. Aber die Dame hat da keine Bedenken. Obwohl sie so gebrechlich wirkt, springt sie schon wieder aus ihrem Sessel auf und tappt zur Schrankwand hinüber.

»Entschuldigen Sie bitte meine Unruhe«, sagt sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

»Zu einer Tasse Tee gehört einfach ein wenig Marzipan.«

Ich schlucke. Marzipan esse ich nicht. Das Zeug ist mir verhasst, seit ich fünf bin.

Die faltige Hand stellt eine Glasschale mit Marzipanpralinen in kleinen Papierförmchen auf den Tisch und schiebt sie mir zu. »Ich habe so selten Gesellschaft«, bemerkt die alte Frau seufzend. »Greifen Sie zu!«

Jetzt weiß ich nicht, wie ich reagieren soll. Es tut mir richtig leid, dieses liebe Angebot abzulehnen. Aber ich kann mich wirklich nicht überwinden, etwas davon zu essen.

»Vielen Dank«, wehre ich deshalb so höflich wie möglich ab. »Marzipan mag ich leider gar nicht. Als Kind ist mir einmal furchtbar übel davon geworden, deshalb esse ich das jetzt nicht mehr. Aber der Tee ist sehr gut!«

Sie schaut mich verwundert an, drängt mich aber nicht.

»Schon gut, Gregor!«, kreischt der Papagei. Mein Blick fällt auf die Uhr, die in der Schrankwand steht. Viertel vor sechs. Meine Mutter wird gleich aus der Praxis kommen und mich anrufen, wenn ich nicht zu Hause bin.

Ich versuche, den heißen Tee so rasch wie möglich zu schlürfen, ohne dass es zu sehr auffällt. »Ich muss leider gleich nach Hause«, sage ich entschuldigend.

Die Dame beobachtet mich einfach nur. Sie scheint keine Frau der großen Worte zu sein. Aber in ihren Augen steht deutlich ein waches Interesse. Ich würde es beinahe als Neugier bezeichnen. Sie betrachtet mich, als wäre ich die Mutation einer Tierart, die sie noch nicht erschöpfend erforscht hat. Oder vielleicht auch einfach die Urenkelin, von der sie bisher nichts wusste.

Obwohl die Tasse klein ist, ist der Tee doch recht heiß, und ich fühle mich irgendwie gedrängt, noch ein wenig Konversation zu betreiben. Weil die Dame von sich aus nichts sagt, probiere ich es mit etwas Small Talk. »Das ist ein schönes Bild da drüben«, beginne ich tastend.

Sie dreht den Kopf gar nicht, sondern schaut mir nur weiter ins Gesicht. »Sie meinen unser Hochzeitsbild.«

Ich nicke und überlege schnell, was ich als Nächstes sagen könnte.

»Ist … ist Ihr Mann schon lange tot?« Eine blödere Frage hätte mir wirklich nicht einfallen können, aber da ist sie mir auch schon herausgerutscht. Hoffentlich ist die Dame mir jetzt nicht böse. Aber nein, sie lächelt.

»Er starb vor sieben Jahren«, antwortet sie mit ruhiger Stimme. »Aber eigentlich habe ich das Gefühl, dass er für immer bei mir ist. Wir sind aneinander festgewachsen, wissen Sie. Das ist so, wenn man fast sechzig Jahre verheiratet war.«

Ich nippe nachdenklich an meiner Tasse. »Sechzig Jahre sind wirklich eine lange Zeit«, stimme ich ihr zu.

»Ich kannte meinen Vater leider nur sechzehn Jahre lang. Aber ich hoffe, dass er auch an mir festgewachsen ist.« Erst als ich es schon gesagt habe, fällt mir auf, dass ich über meinen Papa geredet habe. Frau Reuter wäre stolz auf mich. Aber ich werde ihr sicher nicht davon erzählen. Nein, was auf meiner Zeitreise geschieht, das wird die Welt nie erfahren.

Die alte Dame lächelt noch immer, tiefer jetzt. In ihren Augen sehe ich Verständnis. Und das, obwohl sie mich überhaupt nicht kennt.

»Gute Väter wachsen direkt bei der Geburt an ihren Töchtern fest«, behauptet sie nachdrücklich.

Meine Tasse ist leer und ich stelle sie auf den Tisch zurück. »Danke. Das ist wirklich ein schöner Gedanke«, sage ich und stehe auf. »Es tut mir leid, aber ich muss wirklich gehen.«

»Das ist sehr schade.«

Eigentlich würde ich mich am liebsten wieder hinsetzen und für immer in dieser veränderten Zeitzone bleiben, aber ich habe Angst, dass der Traum platzt, wenn ich zu lange verweile.

Ich reiche der alten Frau die Hand. Die ihre fühlt sich wie ein kleiner Vogel an. Ich drücke sie ganz vorsichtig, aber sie erwidert den Druck fest.

»Vielen Dank für den Tee«, murmele ich, um nicht einfach wortlos Abschied zu nehmen. »Ach ja, mein Name ist übrigens Talitha Kramer. Ich hatte mich gar nicht vorgestellt.“

»Sie sind jederzeit willkommen bei mir«, sagt sie freundlich und ihre Augen unterstreichen, wie ernst sie das meint. »Und nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Sie haben mir auch sehr geholfen«, gebe ich zurück und mein Herz ist für einen Augenblick ganz leicht.

Dann gehe ich durch die Diele zur Wohnungstür, schlüpfe in meine Schuhe und trete in den Hausflur.

Dr. R. Möller, steht auf dem Klingelschild. Ich schließe die Tür vorsichtig und lasse das zwanzigste Jahrhundert hinter mir.

* * *

Später, zu Hause, mache ich mein Vorhaben von gestern Abend wahr. Oma Ute freut sich, als ich sie anrufe.

Wir reden ziemlich lange darüber, wie die Schule so läuft, wie sich die Kinder ihrer Nachbarn entwickeln und wie uns das Wetter gefällt. Ich traue mich nicht, sie zu fragen, wie es ihr geht. Und sie fragt mich auch nicht danach. Am Ende lädt sie mich ein, morgen zu ihr und Opa in den Garten zu kommen. Die Äpfel sind reif und sie würde einen Kuchen für mich backen. Ich werde Sanna fragen, ob sie mitkommt. Früher, als wir noch keine schwer beschäftigten Gymnasiastinnen waren, sind wir oft am Wochenende mit der S-Bahn rausgefahren und haben die Sommertage in Omas Schrebergarten verbracht. Vielleicht hat Sanna Lust auf ein Revival unserer Kindheit.

Als ich auflege, breitet sich die Leere wieder in mir aus. Ich habe mit Oma über alles gesprochen, nur nicht über das, worüber ich so gern reden wollte: über Paps.

Aber vielleicht ist heute Abend einfach nicht die richtige Zeit gewesen.

Vielleicht wird die morgen sein.

Oder nächstes Jahr.

Oder nie.

Kapitel 9

Aus irgendeinem Grund wache ich am nächsten Morgen ziemlich früh auf. Es ist Samstag und ich könnte theoretisch ausschlafen, aber ich bin hellwach. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass es gerade einmal kurz vor acht ist. Mutter wird noch mindestens eine Stunde im Bett liegen, so wie ich sie kenne. Ich versuche noch einmal einzuschlafen. Erfolglos. Mein Hirn arbeitet bereits auf Hochtouren und die Sonne schreit geradezu durchs Fenster. Ich schüttle die Decke ab und stehe auf. War mein Zimmer gestern auch schon so ein chaotischer Haufen? Ich bin mir sicher, dass es schon seit Wochen so aussieht, doch heute stört es mich plötzlich. Ich glaube, das ist gut. Da ist eine Sehnsucht in mir nach einem Rückzugsort, an dem ich sicher bin. Die Insel, auf der ich gestrandet bin – sie muss jetzt langsam mal mit einer Hütte versehen werden, in der ich mich heimisch fühlen kann. Ja, das wird es sein.

Noch bevor ich ins Bad gehe, fange ich an, Klamotten aufzusammeln, meinen Schreibtisch zu sortieren und den Fußboden hindernisfrei begehbar zu machen. Es fühlt sich gut an.

Voller Tatendrang bringe ich die Wäsche ins Bad und mache mich selbst fertig. Die Haare sind schon ziemlich nachgewachsen: Natürlich sind es noch immer nur kurze Stoppeln, aber eindeutig keine Glatze mehr. Ich streiche mit der Hand darüber; vermutlich fühlt sich ein abgemähtes Feld ganz ähnlich an. Ich erinnere mich plötzlich an einen Ausflug, den ich mit Mutter und Paps gemacht habe. Wir sind aufs Land gefahren und eine weite Strecke gewandert. Keine Ahnung, was das eigentliche Ziel war. Der Anblick eines abgeernteten Getreidefeldes kommt mir wieder in den Sinn und der Duft von Kiefernnadeln. Mir fällt ein, wie fasziniert ich von der Weite des Himmels war.

»Los, wir laufen über das Stoppelfeld!«, höre ich Paps rufen und schon rennt er los.

Ich laufe hinter ihm her, mein Rock flattert zwischen meine Knie und der Zopf hüpft auf meinem Rücken hin und her. Meine Sandalen füllen sich mit trockener Erde und ich stolpere in den Kuhlen des Feldes.

»Ich krieg dich!«, schreie ich ausgelassen und versuche Papas T-Shirt zu fassen. Dann falle ich. Ich sehe die Stoppeln und die auf dem Acker liegenden Steine und habe Angst, dass es wehtun wird, aber im letzten Moment hält Paps mich fest und zieht mich in seine Arme. Ich schmiege mich, nach Luft japsend, an seinen Hals und weine ein bisschen vor Schreck und Erleichterung.

Paps drückt mir einen Kuss auf die Stirn und stellt mich zurück auf den Acker. »Komm, Füchslein«, sagt er lachend. »Lass uns wieder zu Mama gehen. Sie sieht schon ein bisschen gelangweilt aus da am Feldrand, findest du nicht?«

Die Erinnerung verfliegt wie die Staubwolke, die unsere Füße bei dem wilden Rennen aufgewirbelt hatten. Als Letztes sehe ich Mama am Feldrain sitzen, eine ernste junge Frau im hellen Kleid zwischen Gras und blauen Kornblumen.

Ich glaube, ich werde heute keine Mütze tragen. Es ist ja keine Schule, und was die Leute in der U-Bahn denken, ist mir egal. Oma Ute wird den Anblick schon verkraften. Außerdem, ich finde, die Frisur hat was. Meine Augen wirken größer, wenn der rote Schopf nicht von ihnen ablenkt, und meine Sommersprossen machen mein Gesicht frech. Ich helfe mit ein bisschen Make-up nach und suche mir Klamotten aus, die meine Sommererinnerung unterstreichen. Die kürzesten Jeansshorts und ein hellgelbes Shirt. An die Ohren kommen blaue Steine: Sie sehen aus wie die Kornblumen, neben denen Mama saß. Hab ich sie gerade Mama genannt? Ich glaube, heute wird ein guter Tag.

Als ich aus dem Bad komme, schläft Mama immer noch. Ich schaue mich in der Küche um: aufgeräumt und sauber wie immer. Rosi macht ihre Arbeit einfach gut. Auf dem Tisch steht ein Strauß Blumen, Sonnenstrahlen fangen sich in den roten Blütenblättern. Von wem Mama die Blumen wohl hat? Wurden sie auf ihre Order hin von der umsichtigen Rosi besorgt oder hat jemand gedacht, er könnte meine Mutter aufmuntern?

Ich beschließe, zum Bäcker zu laufen und frische Brötchen zu besorgen. Das habe ich auch schon lange nicht mehr gemacht. Normalerweise war Paps derjenige, der am Samstagmorgen als Erster wach war. Wenn ich aus meinem Bett gekrochen kam, saß er schon im Wohnzimmer auf der Couch, las ein Buch und begrüßte mich mit unerträglicher Munterkeit. Wenn er keinen Dienst hatte. Eigentlich hatte er wohl öfter Dienst, als er samstags zu Hause war, aber mein Gehirn schenkt mir heute nur positive Erinnerungen.

Ich trete aus der Haustür und fühle die Wärme auf meinem Gesicht. Vielleicht geht dieser Sommer nie zu Ende … das wäre schön. Denn vor dem Herbst habe ich Angst. Nicht vor den goldenen Tagen, sondern vor den grauen. Bestimmt beißt der Schmerz dann noch stärker zu, als ihm das bei diesem Sonnenschein gelingt.

Während ich zum Bäcker gehe, fallen mir tausend Dinge ein, die ich erlebt habe, wenn ich Paps auf Arbeit besuchte. Viele davon haben sich in der Cafeteria des Krankenhauses abgespielt. Hausaufgaben machen mit Johann, dem Medizinstudenten. Der konnte Mathe richtig gut erklären. Oder Pamela, die Dame vom Catering. Sie trug immer viel zu viel Schminke, aber sie hat mir Muffins und Kakao geschenkt, wenn ich mit meinem Buch hinten an dem Tisch am Fenster saß und darauf gewartet habe, dass Paps eine Pause machen konnte.

»Was darf es denn sein?« Die Stimme der Verkäuferin in der Bäckerei reißt mich aus meinen Gedanken. Wie kann es sein, dass ich automatisch in den Laden gelaufen bin, ohne es zu merken? Vielleicht habe ich Frau Reuter doch nötiger, als ich dachte.