C.H.Beck
Albert Schweitzer war nicht nur ein tatkräftiger Arzt im westafrikanischen Lambarene und ein virtuoser Orgelspieler, sondern zugleich auch ein wortmächtiger Schriftsteller und Prediger, der zu grundlegenden Fragen des Lebens, der Ethik, der Religion und der Kultur treffende, zugespitzte und teils überraschende Formulierungen gefunden hat. Dieses Buch versammelt in 50 thematischen Kapiteln seine schönsten Zitate, darunter die klassischen Formulierungen wie «Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will», aber auch Sätze aus den nachgelassenen Werken, die neu zu entdecken sind. Insgesamt bietet das Buch, das auch fortlaufend gelesen werden kann, einen eindrucksvollen Einblick in Albert Schweitzers bis heute aktuelle Gedankenwelt.
Albert Schweitzer, 1875–1965, ist als Theologe, Philosoph, Tropenarzt und Organist weltweit bekannt. Vor allem seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben gilt bis heute als Maßstab. Viele seiner bei C.H.Beck erschienenen autobiographischen und ethischen Schriften sind zu Bestsellern geworden, etwa «Aus meiner Kindheit und Jugendzeit» (165. Tsd.), «Kultur und Ethik» (85. Tsd.) und «Zwischen Wasser und Urwald» (230. Tsd.).
Einhard Weber ist Arzt und seit 2007 Vorsitzender des Deutschen Hilfsvereins für das Albert-Schweitzer-Spital in Lambarene.
Vorwort: Albert Schweitzers Gedankenwelt in Zitaten
Erster Teil:
Philosophie und Leben
1. Leben
2. Tod
3. Ehrfurcht vor dem Leben
4. Lebens- und Weltbejahung
5. Lebens- und Weltverneinung
6. Resignation
7. Lebensanschauung
8. Weltanschauung
9. Optimismus und Pessimismus
10. Glück
11. Recht und Rechttun
12. Vernunft und Glaube
13. Philosophie
14. Naturphilosophie
15. Rationalismus
Zweiter Teil:
Kultur und Kulturkritik
16. Kultur
17. Kulturkritik
18. Afrika und die Afrikaner
19. Staat und Gesellschaft
20. Kampf gegen die Atomwaffen
Dritter Teil:
Ethik
21. Grundlegendes zur Ethik
22. Denken und Ethik
23. Wahrheit und Wahrhaftigkeit
24. Ideen und Ideale
25. Tätigkeit und Handeln
26. Liebe und Menschlichkeit
27. Freiheit, Verantwortung, Toleranz
28. Besitz und Besitzlosigkeit
29. Dienen und Helfen
30. Vertrauen und Mitleid
31. Pflicht
32. Dankbarkeit
33. Verhältnis zu den Tieren
Vierter Teil:
Religion und Theologie
34. Jesus, der Mensch und Lehrer
35. Jesu Taufe
36. Jesu Leiden, Tod und Auferstehung
37. Der historische Jesus heute
38. Christentum
39. Kirche
40. Das Reich Gottes
41. Das Christentum und die Weltreligionen
42. Sammlung und Gebet
43. Mystik
44. Theologie und religiöses Leben
45. Unterweisung und Predigt
Fünfter Teil:
Musik
46. Orgelmusik und Orgelbau
47. Johann Sebastian Bach
Sechster Teil:
Autobiographisches
48. Jugend und Alter
49. Der eigene Weg
50. Lambarene
Dank
Zeittafel zum Leben Albert Schweitzers
Zitierte Werke von Albert Schweitzer
Textnachweis
Weiterführende Literatur
Register
«Was man auch gegen solche Sammlungen sagen kann, welche die Autoren zerstückelt mitteilen, sie bringen doch manche gute Wirkung hervor. Sind wir doch nicht immer so gefaßt und so geistreich, dass wir ein ganzes Werk nach seinem Wert in uns aufzunehmen vermöchten. Streichen wir nicht in einem Buche Stellen an, die sich unmittelbar auf uns beziehen?» Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit
«In dieses Buch aber lege ich auch meine Überzeugung hinein, dass die Menschheit sich in einer neuen Gesinnung erneuern muss, wenn sie nicht zugrunde gehen will. Ich vertraue ihm auch meinen Glauben an, dass diese Umwälzung sich ereignen wird, wenn wir uns entschließen, denkende Menschen zu werden. Eine neue Renaissance muss kommen, viel größer als die Renaissance, in der wir aus dem Mittelalter herausschritten: die große Renaissance, in der die Menschheit entdeckt, dass das Ethische die höchste Wahrheit und die höchste Zweckmäßigkeit ist, und damit die Befreiung aus dem armseligen Wirklichkeitssinn erlebt, in dem sie sich dahinschleppte. Ein schlichter Wegbereiter dieser Renaissance möchte ich sein und den Glauben an eine Menschheit als einen Feuerbrand in unsere dunkle Zeit hineinschleudern. Ich habe den Mut dazu, weil ich glaube, die Gesinnung der Humanität, die bisher nur als ein edles Gefühl galt, in einer aus elementarem Denken kommenden, allgemein mitteilbaren Weltanschauung begründet zu haben. Damit besitzt sie eine Überzeugungskraft, über die sie bisher nicht verfügte, und ist fähig, sich in energischer und konsequenter Weise mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen und in ihr zur Geltung zu kommen.» (Kulturphilosophie I und II, S. 87f.)
So formulierte Albert Schweitzer 1923 sein hoffnungsfrohes Glaubensbekenntnis. Die weltweiten Herausforderungen haben sich seitdem vervielfacht, man denke nur an die ökologischen Probleme, die zu Albert Schweitzers Zeiten noch gar nicht im allgemeinen Bewusstsein waren. Der von ihm geforderte Schritt zu einer Gesinnung der Humanität ist daher dringlicher denn je zuvor. In diesem Bewusstsein wurden die Zitate von Albert Schweitzer zusammengestellt, auf dass dieser Wegbereiter einer neuen Renaissance auch heute Gehör finde.
Die letzte umfassende Zusammenstellung von Zitaten Albert Schweitzers stammt aus der Feder von Richard Brüllmann. Sein Lexikon «Treffende Albert-Schweitzer-Zitate» erschien 1986 und ist seit längerer Zeit vergriffen.
Inzwischen sind eine Reihe weiterer Bücher mit Zitaten Schweitzers erschienen, die sich auf bestimmte Themen seines Denkens konzentrieren und die vor allem nicht sehr zuverlässig sind: Kaum einem anderen Denker werden so viele Zitate zugeschrieben, die gar nicht von ihm stammen. Hinzu kommt, dass inzwischen Albert Schweitzers «Werke aus dem Nachlaß» in zehn umfangreichen Bänden erschienen sind, die Richard Brüllmann noch nicht auswerten konnte. Es war also an der Zeit, noch einmal ganz neu Zitate von Albert Schweitzer zusammenzustellen. Das einhundertste Jubiläum des Albert-Schweitzer-Hospitals in Lambarene (Gabun) Anfang 2013 und der fünfzigste Jahrestag der Gründung des Deutschen Hilfsvereins für das Albert-Schweitzer-Spital in Lambarene e.V. und des Albert-Schweitzer-Komitees in Weimar sind willkommene Anlässe für die Publikation dieses Buches.
Ziel dieser Zusammenstellung ist es einerseits, den Leser durch eine systematische Gliederung möglichst schnell zu den einschlägigen Zitaten zu bestimmten Fragen und Themen zu führen. Ein Stichwortregister am Ende des Buches erschließt die Zitate zusätzlich, denn oft war die Entscheidung für eine bestimmte thematische Zuordnung nicht einfach, und kein Zitat sollte doppelt genannt werden. Das Buch ist aber nicht nur ein Nachschlagewerk, sondern soll auch fortlaufend lesbar sein; wer will, kann sich hier durch die Lektüre der Kernsätze über die zentralen Themen Albert Schweitzers und über seine Gedankenwelt informieren.
Es versteht sich von selbst, dass eine Zusammenstellung von Zitaten nicht die Lektüre der Werke ersetzen kann. Auch der Entwicklung von Schweitzers Denken vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zu seinem Tod im Jahr 1965 kann ein solches Buch allenfalls ansatzweise gerecht werden. Aber wenn es möglichst viele Leser zu den Werken selbst hinführt und den Kennern von Schweitzers Werken als willkommene Erinnerungsstütze dient, ist ein wichtiges Ziel erreicht.
Die Auswahl der Zitate kann letztlich nur subjektiv sein. Oft ist es nicht leicht zu entscheiden, welcher Satz aufgenommen werden soll und welcher nicht. Um mich dabei nicht nur auf mein eigenes Urteil zu verlassen, hat mehr als ein Dutzend Helfer mit mir zusammen die Werke Schweitzers erneut gelesen und treffende Zitate vorgeschlagen. Die endgültige Auswahl wurde dann von mir getroffen, und so habe ich auch alle Lücken alleine zu verantworten. Dass gerade die Kenner von Schweitzers Werken das eine oder andere Zitat vermissen werden, ist in einer relativ knappen Auswahl nicht zu vermeiden. Für Hinweise auf Sätze Albert Schweitzers (mit genauer Quellenangabe), die in einer Neuauflage berücksichtigt werden sollten, sind der Verlag und ich jederzeit dankbar.
Albert Schweitzers Rechtschreibung ist relativ uneinheitlich. In vielen Ausgaben wurde sie der «alten» Rechtschreibung angepasst. Offensichtliche Versehen wurden auch in den «Werken aus dem Nachlaß» stillschweigend korrigiert. Um angesichts der ganz unterschiedlichen Ausgaben seiner Werke Einheitlichkeit zu schaffen, wurden in diesem Buch alle Zitate so behutsam wie möglich auf die neue Rechtschreibung umgestellt.
Auslassungen in den Zitaten sind mit drei Punkten gekennzeichnet. In eckigen Klammern stehen Ergänzungen einzelner Wörter oder Buchstaben, die Schweitzer offensichtlich versehentlich ausgelassen hat, oder in Ausnahmefällen ganz kurze Erläuterungen. Solche Ergänzungen stammen in den meisten Fällen von den Herausgebern der zitierten Werke, teilweise auch von mir.
Der Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer war weder ein Heiliger noch unfehlbar, aber er hat die Köpfe und die Herzen der Menschen bewegt und bei vielen den Drang zu mitmenschlicher Hilfe gefördert. Mögen die in diesem Buch ausgewählten Zitate die wegweisenden Gedanken Albert Schweitzers für unsere Zeit neu zur Geltung kommen lassen.
Creußen, im Oktober 2012 |
Einhard Weber |
1 |
Alles Leben ist Geheimnis; alles Leben ist Wert. Kultur und Ethik in den Weltreligionen, S. 180 |
2 |
Auch das, was wir als Materie bezeichnen, bleibt uns etwas Rätselhaftes. Wir wissen nur, dass es etwas in Raum und Zeit Gegebenes und eine Äußerung von Kräften ist. Aber das Wesen der Kräfte zu ergründen und zu entwirren, inwieweit Raum und Zeit reale Gegebenheiten und inwieweit sie in unserem Erkenntnisvermögen gegebene Formen der Anschauung sind, mit denen wir aus unseren sinnlichen Wahrnehmungen Vorstellungen schaffen, will uns nicht gelingen. Je weiter wir in dem Erforschen des Seins gelangen, desto geheimnisvoller wird es für uns. Kulturphilosophie III, 3. und 4. Teil, S. 38 |
3 |
Das Sein ist. Es ist nicht auf etwas hin. Es verfolgt kein Ziel, sondern lebt sich aus nach Zielen und Gesetzen und Gestaltungskräften, die rätselhaft bleiben. Jeder Fortschritt der Naturerkenntnis führt nur tiefer in das Rätselhafte hinein. Unser Wissen ist noch ganz oberflächliches Wissen. Kulturphilosophie III, 1. und 2. Teil, S. 210 |
4 |
Jedenfalls darf unser Denken nicht so naiv sein, mit dem stetigen Fortbestehen der Erde in der Welt und der Menschen auf der Erde als mit etwas Selbstverständlichem zu rechnen. Eine ethische Weltanschauung, die den Gedanken erträgt, dass der Mensch in der Welt etwas Vorübergehendes sein könne: Nur dies ist wahrhaft fest. Kulturphilosophie III, 1. und 2. Teil, S. 312 |
5 |
Nicht einmal das Leben auf Erden ist auf die Menschheit hin. Diese ist möglicherweise nur eine vorübergehende Erscheinung desselben. Wie durch die Veränderungen der auf der Erdoberfläche bestehenden Daseinsbedingungen wird das Bestehen der Menschheit durch in dem Leben selbst sich vollziehende Entwicklungen gefährdet. Ständig haben wir uns eines Heeres kleinster Lebewesen, die zerstörend auf unser Dasein einwirken, zu erwehren. Der Ausgang dieses hin- und herwogenden Kampfes ist nicht zu übersehen. Einige Schlachten gegen sie haben wir durch erlangtes Wissen über ihre Lebensbedingungen und die sie schädigenden Stoffe, andere durch Abwehrstoffe, die sich im Laufe der Zeit gegen sie bildeten, mehr oder weniger zu gewinnen vermocht. Kulturphilosophie III, 1. und 2. Teil, S. 236 |
6 |
Unsere Erde ist ein unendlich Kleines in dem unendlich Großen der Welt. Sie ist ein vorübergehend im All umhergewirbeltes Stäubchen. In einer kosmischen Katastrophe entstanden, wird sie einmal in einer solchen ihr Ende finden. Wie soll da vorstellbar und begründbar sein, dass das auf ihr vorhandene Leben eine Bedeutung für die Endvollendung des gesamten Seins haben soll. Kulturphilosophie III, 1. und 2. Teil, S. 311 |
7 |
Schon allein also dadurch, dass uns das Geschehen etwas Unvorstellbares [ist], ist uns die Welt etwas Rätselhaftes. Völlig unbegreiflich wird sie uns durch das, was in dem Geschehen vor sich geht. Sinnvolles in Sinnlosem, Herrlichstes in Grausigstem, Schöpferisches, das sich zerstörend, und Zerstörerisches, das sich schöpferisch auswirkt: Also stellt sich uns die Welt dar. Das Sein, soweit wir es in unserem Erschauen von außen festzustellen vermögen, ist nicht auf etwas hin und verfolgt kein Ziel, sondern lebt sich aus. Kulturphilosophie III, 3. und 4. Teil, S. 42 |
8 |
Auch ich bin der Selbstentzweiung des Willens zum Leben unterworfen. Auf tausend Arten steht meine Existenz mit anderen in Konflikt. Die Notwendigkeit, Leben zu vernichten und Leben zu schädigen, ist mir auferlegt. Kulturphilosophie I und II, S. 315 |
9 |
Das Leben und alles was damit zusammenhängt, ist unergründlich. Was in das Gebiet des Alltäglichen zu gehören scheint, nimmt seinen ungeahnt tiefen und folgenreichen Charakter an, sobald wir es zu Ende überdenken. Das Wissen vom Leben ist das Erkennen des Geheimnisvollen. Straßburger Predigten, S. 161 |
10 |
Alles Leben bedeutet einen Wert. Von dem Geheimnis des Lebens erfüllt sein und es in allen Wesen zu erschauen und zu verehren, ist das höchste Wissen. Nur durch grenzenloses Heraustreten aus seinem Für-Sich-Sein kommt der Mensch mit seinem Denken ins Reine. Kulturphilosophie III, 1. und 2. Teil, S. 219 |
11 |
Was aber Leben ist, vermag keine Wissenschaft zu sagen. Kulturphilosophie I und II, S. 307 |
12 |
Leben ist ein Geheimnis, das nur erlebt werden kann. Alle unsere Gefühle gehen auf ein primäres gefühlsmäßiges Innewerden der Wahrheit, dass ich Wille zum Leben bin, zurück. Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze, S. 148 |
13 |
Durch das sich erweiternde Wissen werden wir zu immer größerem Staunen über das uns allenthalben umgebende Geheimnis des Lebens angeregt. Kulturphilosophie I und II, S. 331 |
14 |
Erst bei Goethe hat das Leben an sich einen Wert. «Sich ins Einfache retten.» Kulturphilosophie III, 3. und 4. Teil, S. 372 |
15 |
Alles Tiefe ist zugleich ein Einfaches und lässt sich als solches wiedergeben, wenn nur die Beziehung auf die ganze Wirklichkeit gewahrt ist. Kulturphilosophie I und II, S. 20 |
16 |
Zweimal beginnt der Mensch sein Leben: wenn er den ersten Schritt tut und wenn ihm sein Dasein zu einem Geheimnis wird, das er lösen muss. Kulturphilosophie III, 1. und 2. Teil, S. 39 |
17 |
Mancher erwacht zum neuen Leben wie aus dem physischen Schlaf, ohne zu wissen, wie es zuging. Fragen über ihn selbst, die ihn nie beschäftigten, stehen plötzlich vor ihm. Gedanken über das Leben, die er gelesen oder gehört hatte, die aber an ihm vorbeigeklungen waren, werden auf einmal in ihm laut. Ein unscheinbares, von ihm kaum beachtetes Erlebnis gibt den Anstoß. Vielleicht weiß er zunächst nicht einmal, was es für ihn bedeutet. Kulturphilosophie III, 1. und 2. Teil, S. 41f. |
18 |
Beim Heranwachsen widerfuhr uns allen, dass wir aus dem kindlichen Dahinleben erwachten und die Welt und unser Dasein in ihr mit anderen Augen und mit anderen Sinnen zu betrachten anfingen als vordem. Kulturphilosophie III, 1. und 2. Teil, S. 39 |
19 |
Aber der Wille zum Leben entwickelt sich nicht nur in Selbsterweiterung, sondern auch in Selbstvervollkommnung. Auch in Bezug auf das Verhältnis zu sich selber erwacht der Mensch aus dem einfachen Dahinleben. In fortschreitender Selbstbesinnung gelangt er dazu, sich den Geschehnissen, die sein Dasein betreffen, nicht mehr durchaus unterworfen zu fühlen. Er begegnet ihnen nicht mehr nur in der Weise, dass er sich ihnen in der für die materielle Selbsterhaltung vorteilhaftesten Weise anpasst oder sie abwehrt, sondern ist auch auf die geistige Selbsterhaltung bedacht. Durch ein sich verfeinerndes Empfinden geleitet, erkennt er, dass alles in Verstellung, Lüge, Trug und Unlauterkeit geschehende Verhalten zu den Geschehnissen eine Entstellung und innerliche Schädigung seines Willens zum Leben ist. In derselben Weise beurteilt er die in ihm aufsteigenden Regungen des Hasses, der Rache und des Neides. Kulturphilosophie III, 1. und 2. Teil, S. 233f. |
20 |
Die Fundamentalerkenntnis, die jedem in der Betrachtung der Natur aufgeht, ist, dass in ihr Naturhaftes und Geistiges, beides miteinander gegeben, vorhanden sind. Das Geistige wirkt auf das Naturhafte als eine gestaltende, ordnende und vollendende Kraft ein. Es führt aus dem Chaos und dem Primitiven heraus. Es tut sich kund in der Höherentwicklung der Naturgebilde, die wir erschauen. Goethe. Vier Reden, S. 82 |
21 |
Der Wille zum Leben gibt mir Trieb zum Wirken ein. Kulturphilosophie I und II, S. 278 |
22 |
Das Klare und Wahre ist, die Ideen, die in dem Willen zum Leben gegeben sind, als die höhere und ausschlaggebende Erkenntnis gelten zu lassen. Kulturphilosophie I und II, S. 280 |
23 |
Das höchste Wissen ist also, zu wissen, dass ich dem Willen zum Leben treu sein muss. Dieses reicht mir den Kompass für die Fahrt dar, die ich in der Nacht ohne Karte unternehmen muss. Das Leben in der Richtung seines Laufes auszuleben, zu steigern, zu veredeln, ist natürlich. Jede Herabminderung des Willens zum Leben ist eine Tat der Unwahrhaftigkeit mit sich selbst oder eine Erscheinung von Krankhaftigkeit. Kulturphilosophie I und II, S. 280f. |
24 |
Das Wesen des Willens zum Leben ist, dass er sich ausleben will. Er trägt den Drang in sich, sich in höchstmöglicher Vollkommenheit zu verwirklichen. Kulturphilosophie I und II, S. 281 |
25 |
Manche Kämpfe, wie der gegen den Erreger der afrikanischen Schlafkrankheit, die des gelben Fiebers und andere, bleiben bis auf Weiteres auf bestimmte Gebiete der Erde beschränkt. Aber die mehr oder weniger gelungene Abwehr der bisherigen Feinde besagt noch nichts über den Endausgang. Die bisherigen [Feinde] können uns, wie wir es in der Aufeinanderfolge von Grippeepidemien zu erfahren bekamen, gefährlicher werden, als sie vordem waren. Oder es ereignet sich, wie wir dies auch schon festzustellen hatten, dass neue auftreten. Und ob es dann gelingen wird, uns aller der noch kommenden zu erwehren, bleibt im Dunkel. Das Aussterben der ganzen Menschheit liegt kaum minder im Bereich des Möglichen als das von Tier- und Menschenrassen, das bereits Tatsache geworden oder im Gange ist. Kulturphilosophie III, 1. und 2. Teil, S. 236 |
26 |
Im Naturgeschehen bezieht sich das auf Erhaltung und Förderung von Leben gehende Bestreben, soweit es sich bemerkbar macht, stets auf eine Gesamtheit von Existenzen. Es ist generell, nicht individuell. Die Natur will den Triumph des Lebens allgemein. Das Individuum als solches gilt ihr nichts. Sein Schicksal liegt ihr nicht an. Sie kennt kein Mitgefühl mit ihm. «Nicht Liebe nach Menschenart hat die Natur» heißt es bei Lao-Tse und «Unfühlend ist die Natur» bei Goethe. Der Mensch aber hat ein Verhältnis zum anderen Wesen als solchem. Erhaltung und Förderung von Leben kann er sich nur in der Art vornehmen, dass er aus Mitempfinden mit jedem Individuum, das sich im Bereich seines Handelns befindet, ihm beisteht, soweit es seines Helfens bedarf, und es nach Möglichkeit vermeidet, seine Existenz zu schädigen. Kulturphilosophie III, 1. und 2. Teil, S. 314 |
27 |
Die Welt ist das grausige Schauspiel der Selbstentzweiung des Willens zum Leben. Ein Dasein setzt sich auf Kosten des anderen durch, eines zerstört das andere. Ein Wille zum Leben ist nur wollend gegen den anderen, nicht wissend von ihm. In mir aber ist der Wille zum Leben wissend von anderm Willen zum Leben geworden. Sehnen, zur Einheit mit sich selbst einzugehen, universal zu werden, ist in ihm. Kulturphilosophie I und II, S. 311 |
28 |
Und das Unfasslichste: Nach den in dem Geschehen waltenden Gesetzen ist alles Leben bestimmt, dass es sich auf Kosten von anderen Leben erhalte. Bei jedem Blick, den wir in die Natur tun, bietet sich uns das traurige Schauspiel des mit sich selbst entzweiten Willens zum Leben. Das Huhn, das in der Furche des Ackers geht, die Schwalbe, die in der Luft hin- und hersegelt, die Ameise, die in dem Grase ihren Weg sucht, die Spinne, die ihr kunstvolles Netz erschafft: Alle betreiben sie das Werk der Erhaltung des eigenen Lebens durch Vernichtung von anderem. Mit raffinierter Grausamkeit, die sie als Erbgut in ihrem Instinkt vorfinden, legen Insekten Eier in bestimmte Lebewesen ab, dass diese nachher ihrer Brut als Nahrung dienen. Ein Gräuel unter unzähligen anderen. In dem Weltgeschehen ist also nichts zu entdecken, das unserem Willen des Wirkens zur Erhaltung anderen Lebens entspricht. Es spielt sich in der Nacht des Nicht-Ethischen ab. Nur in den uns nahestehenden Wesen beginnt etwas von der Helligkeit des Besorgtseins um anderes Leben aufzuleuchten. Kulturphilosophie III, 1. und 2. Teil, S. 238 |
29 |
Die Natur ist schön und großartig, von außen betrachtet, aber in ihrem Buche zu lesen, ist schaurig. Straßburger Predigten, S. 136 |
30 |
Sie [die Natur] ist wunderbar schöpferische und zugleich sinnlos zerstörende Kraft. Ratlos stehen wir ihr gegenüber. Sinnvolles im Sinnlosen, Sinnvolles in Sinnvollem: dies ist das Wesen des Universums. Kulturphilosophie I und II, S. 273 |
31 |
Die Aussichtslosigkeit des Unternehmens, den Sinn des Lebens in dem Sinn der Welt zu begreifen, ist zunächst damit gegeben, dass in dem Weltgeschehen keine Zweckmäßigkeit offenbar wird, in die das Wirken der Menschen und der Menschheit irgendwie eingreifen könnte. Kulturphilosophie I und II, S. 272 |
32 |
Die einzige Möglichkeit [des Menschen], seinem Dasein einen Sinn zu geben, besteht darin, dass er sein natürliches Verhältnis zur Welt zu einem geistigen erhebt. Ehrfurcht vor den Tieren, S. 24 |
33 |
Im Anschauen der sinnlosen und grausamen Zerstörung von Leben, wie sie im Weltgeschehen stattfindet, werden wir manchmal an uns selber irre. Wir kommen dazu, uns zu fragen, ob wir berechtigt sind, das Weltgeschehen mit menschlichem Maßstab zu messen. Machen wir es uns nicht selber zu dem Unbegreiflichen, an dem wir Anstoß nehmen, indem wir ihm einen Verlauf zumuten, als wäre es nach menschlichem Vorstellen und Empfinden gewirkt? Kulturphilosophie III, 1. und 2. Teil, S. 212 |
34 |
Ich kann nicht anders, als mich an die Tatsache halten, dass der Wille zum Leben in mir als Wille zum Leben auftritt, der mit anderm Willen zum Leben eins werden will. Sie ist mir das Licht, das in der Finsternis scheint. Die Unwissenheit, unter die die Welt getan ist, ist von mir genommen. Ich bin aus der Welt erlöst. In Unruhe, wie sie die Welt nicht kennt, bin ich durch die Ehrfurcht vor dem Leben geworfen. Seligkeit, die die Welt nicht geben kann, empfange ich aus ihr. Wenn in der Sanftmut des Anderssein als die Welt ein anderer und ich uns in Verstehen und Verzeihen helfen, wo sonst Wille andern Willen quälen würde, ist die Selbstentzweiung des Willens zum Leben aufgehoben. Kulturphilosophie I und II, S. 311 |
35 |
Dem wahrhaft ethischen Menschen ist alles Leben heilig, auch das, das uns vom Menschenstandpunkt aus als tiefer stehend vorkommt. Ehrfurcht vor den Tieren, S. 25 |
36 |
Nicht die Ereignisse, sondern wir bestimmen unser Dasein, je nachdem, wie wir den Weg durch sie hindurch finden. Predigten, S. 893 |
37 |
Nicht was sich an uns und für uns ereignet, sondern was sich zugleich in uns ereignet, bestimmt über unser Dasein. Predigten, S. 892 |
38 |
Wissen Sie, dass wir beide reich sind und dass wir wissen, was «leben» ist!! Ist das nicht das Größte, was man vom Leben verlangen kann, zu wissen, was das ist: leben. Die Jahre vor Lambarene, Brief an Helene Bresslau, S. 7 |
1 |
Der Tod ist das größte Rätsel. Straßburger Vorlesungen, S. 698 |
2 |
Das ist das Urgeheimnis alles Daseins, dass aus dem Tod wieder Leben kommt und jedes Leben, um zu dauern, sich immer wieder im Tod erneuern muss. Predigten, S. 821 |
3 |
Für die historischen Religionen ist der Tod ein Problem des Glaubens. Sie erklären ihn aus dem Sündenfall, sie suchen ihn zu überwinden durch die Annahme einer Auferstehung unseres Wesens, einer Verklärung, durch die Annahme eines rein geistigen Wesens, das den Anstoß des Todes überwindet, während in den Naturreligionen der Anstoß des Todes tödlich wird; in den indischen Religionen ist das ganze Sehnen jedes Wesens nur die Erlangung des wirklichen endlichen Todes. Straßburger Vorlesungen, S. 699 |
4 |
Mit dem Aufhören des Lebens nach seinem Erfülltsein würden wir uns für uns und die Kreatur als mit einem uns bestimmten Schicksal abfinden. Aber dass tausendfach Leben entsteht, um tausendfach irgendeinem blinden Geschehen zum Opfer zu fallen, damit werden wir nicht fertig, wie wir auch nie das unergründliche Rätsel des über alles Leben verhängten Leidens hinnehmen können. Kulturphilosophie III, 3. und 4. Teil, S. 43 |
5 |
Habt ihr schon einmal bedacht, wie schrecklich es wäre, wenn unserm Leben kein Ziel gesetzt wäre, und es immer fortdauerte? Es braucht ein Mensch im Leben nicht besonders vom Unglück betroffen worden zu sein, um bei dem Gedanken, dass es niemals endigen könnte, zu erbeben. Straßburger Predigten, S. 79 |
6 |
Wenn ihr es schon einmal bedacht habt, wie schwer wir am Leben tragen würden ohne die Gewissheit, dass ihm ein Ziel gesetzt ist, so wisst ihr, dass der Tod für alle, auch die Glücklichsten, nicht ein Feind, sondern eine Erlösung ist. Straßburger Predigten, S. 79 |
7 |
Wo Furcht und Schrecken vor dem Tode ist, da herrscht er. Straßburger Predigten, S. 75 |
8 |
Wenn wir in Gedanken mit dem Tode vertraut sind, nehmen wir jede Woche, jeden Tag als ein Geschenk an, und erst wenn man sich das Leben so stückweise schenken lässt, wird es kostbar. Straßburger Predigten, S. 80 |
9 |
Es liegt etwas Tiefes und Heiligendes darin, wenn Menschen, die zusammengehören, es miteinander bedenken, dass jeder Tag, jede kommende Stunde sie auseinanderreißen kann. Straßburger Predigten, S. 80 |