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Michael Höveler-Müller

HIEROGLYPHEN
LESEN UND SCHREIBEN

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In 24 einfachen Schritten

C.H.Beck


 

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Zum Buch

Der Ägyptologe Michael Höveler-Müller, der seit Jahren erfolgreich Hieroglyphen-Kurse leitet, erklärt anschaulich und für jedermann verständlich, wie die ägyptische Schrift funktioniert und wie man selbst Inschriften entziffern kann. Zugleich macht er – anders als andere Kurzeinführungen – deutlich, warum die Hieroglyphen ein zentraler Schlüssel zum Verständnis der ägyptischen Kultur sind. Sein kurzweiliges Buch macht mit den wichtigsten «Lebensräumen» der Ägypter – Haus, Palast, Tempel und Grab – bekannt und ist so zugleich eine einzigartige Einführung in Alltag, Hofleben, Religion und Totenkult am Nil.

«Eine Kultur- und Religionsgeschichte, die durch ihre fachliche Aktualität und viele ungewöhnliche, erhellende Beobachtungen neue Sichtweisen eröffnet.»

Dietrich Wildung, Direktor i. R. des Ägyptischen Museums Berlin

Über den Autor

Michael Höveler-Müller, geb. 1974, ist Ägyptologe, Kulturmanager und Buchautor. Von 2009 bis 2011 leitete er das Ägyptische Museum in Bonn.

www.faszination-hieroglyphen.de

INHALT

VORWORT

KURZE GESCHICHTE DER ÄGYPTISCHEN HIEROGLYPHEN

Ursprünge

Die «Gottesworte»

Schreibvarianten und Sprachstufen

Das lange Schweigen der «Heiligen Zeichen»

GRUNDLAGEN DER ÄGYPTISCHEN SCHRIFT

«Der höchste aller Berufe …»

Die Abbildung ist das Dargestellte

Die Verewigung des Individuellen

Kommunikation mit der Zukunft – mit uns

Was ist geblieben?

Hieroglyphen sind keine Bilderschrift

Was wissen wir über die Aussprache?

Der Aufbau eines Wortes

Das ägyptische Layout

Umschrift und Lautwert

Das Ein-Konsonanten-System

Mehrkonsonantenzeichen, lautliche Ergänzungen und S-, M- und L-Schreibungen

Die «Sinnfrage»

Übungen 1–4

DAS HAUS – STÄTTE DER LEBENDEN

ERSTE LEKTION. FAMILIE UND ALLTAG

SCHRITT 1: Der kleine Unterschied: das Geschlecht

SCHRITT 2: Wem gehört was? Der einfache Ausdruck von Besitz (direkter Genitiv)

SCHRITT 3: Bitte etwas genauer: die Näherbestimmung eines Hauptwortes

SCHRITT 4: Suffixe, die hilfreichen Anhänger

Wortschatz

Übungen 5–8

ZWEITE LEKTION. DER LEBENSRAUM DER ALTEN ÄGYPTER

Gaue

Jahresrispen

Der Nil und die Wüste

Das Himmelsgewölbe

SCHRITT 5: Zählen wie ein Ägypter

SCHRITT 6: Mehr als einer: Plural und Dual

SCHRITT 7: Drunter und drüber: die Präpositionen

Wortschatz

Übungen 9–10

DER PALAST – STÄTTE DER PHARAONEN

DRITTE LEKTION. «SOHN DER SONNE» – TITULATUR UND MACHTSYMBOLE

Die fünf Titel des Pharao

Wie man einen Königsnamen liest

Beinamen und Insignien des Königs

SCHRITT 8: Aus alt mach neu: Ableitungen von Hauptwörtern und Präpositionen (Nisbe-Bildung)

SCHRITT 9: Der etwas kompliziertere Ausdruck von Besitz (indirekter Genitiv)

SCHRITT 10: Und … Action! Die Verbalklassen

Wortschatz

Übungen 11–13

VIERTE LEKTION. WÜNSCHE FÜR DIE EWIGKEIT

SCHRITT 11: Es sein lassen – Kausativbildungen

SCHRITT 12: Sagen, was Sache ist: der Infinitiv

SCHRITT 13: Kurz und bündig: abhängige Personalpronomen

Wortschatz

Übungen 14–17

DER TEMPEL – STÄTTE DER GÖTTER

FÜNFTE LEKTION. WO DIE GÖTTER WOHNEN

SCHRITT 14: Die Schwachen sind die Verräter I: Partizipien der Gegenwart (aktiv und passiv)

SCHRITT 15: Die Schwachen sind die Verräter II: Partizipien der Vergangenheit (aktiv und passiv)

SCHRITT 16: Handlungen in der Zukunft

SCHRITT 17: Ein Relikt aus alter Zeit: der Stativ

Wortschatz

Übungen 18–21

SECHSTE LEKTION. WENN DIE GÖTTER SPRECHEN

SCHRITT 18: Was war, ist und sein wird – Zeitstufen

SCHRITT 19: «Hiermit gebe ich dir …»: Eine Besonderheit in der Götterrede

SCHRITT 20: Der Relativsatz, «von dem gilt …»

Wortschatz

Übungen 22–27

DAS GRAB – STÄTTE DER TOTEN

Das Haus der Ewigkeit

Totenpriester, Umlaufopfer und Darstellungen in der Kultkammer

Der Anruf an die Lebenden und das Totengebet

Jenseitige Titel

SIEBTE LEKTION. «ICH WAR EINER, DER DAS GUTE SPRACH …»

SCHRITT 21: Gelungene Selbstdarstellung durch unabhängige Personalpronomen

SCHRITT 22: Alles relativ: die Relativformen

Wortschatz

Übungen 28–32

ACHTE LEKTION. «ICH LEGE MEINE ARME AUF DEN, DER IN MIR IST …»

Die Mumie und ihr magisches Sicherheitsnetz

SCHRITT 23: Partikel und Konjunktionen

SCHRITT 24: Befehlen auf Ägyptisch: der Imperativ

Wortschatz

Übungen 33–36

ANHANG

Liste der verwendeten Mehrkonsonantenzeichen

Gesamtwortschatz

Verbalklassen

Auflösungen

Hinweise zum Weiterarbeiten

Literaturhinweise

Anmerkungen

Bildnachweis

VORWORT

Als ich in den 1990er Jahren mit dem Studium der Ägyptologie begann, wurde ich gleich im ersten Semester mit Lehrbüchern geradezu erschlagen. «Einführung in die ägyptische Schrift» oder «für Anfänger» stand auf einigen von ihnen, aber eigentlich warfen sie mehr Fragen auf, als dass sie Antworten gaben, und um die Grammatikbücher in deutscher Sprache zu verstehen, hätte man, so schien es mir, bereits im Vorfeld ein sprachwissenschaftliches Studium abschließen müssen. Meine Rettung fand ich in einem englischen Wälzer von Alan H. Gardiner – in die Jahre gekommen und nicht in meiner Muttersprache geschrieben –, lieferte er mir doch mehr als die damals aktuellen deutschen Bücher. Aber auch Gardiners Werk ist natürlich eine Grammatik, die harte und trockene Fakten vermittelt. Was ich mir gewünscht hatte, war eine tatsächliche Einführung, die die Sprache als den Schlüssel zum Verständnis der pharaonischen Kultur versteht und das auch vermittelt. Nun, ich brachte mein Studium ohne eine solche Einführung hinter mich; fast zwanzig Jahre später habe ich mich darangemacht, diese Lücke zu schließen.

Die Idee dahinter

Die meisten Einsteiger-Grammatiken beginnen mit der Sprachstufe Mittelägyptisch, die sich um 2000 v. Chr. herausgebildet hat. Doch wer durch Ägypten reist oder Museen und Ausstellungen besucht, bekommt wenige Kunstwerke zu sehen, die aus dem Mittleren Reich stammen. Daher möchte ich hier in die ägyptische Schrift generell einführen. Dieses Buch legt sich also nicht auf eine spezielle Sprachstufe fest; in der Mehrzahl sind die Texte zwar mittelägyptisch, aber es finden sich ebenso Inschriften aus dem Alten (ca. 2707–2202 v. Chr.) und dem Neuen Reich (ca. 1550–1093 v. Chr.) in den Übungen. Dabei werden keine Literaturwerke behandelt, sondern In- und Aufschriften; ich möchte vermitteln, wie man sich bei der Betrachtung von Objekten in Museen oder vor Ort in Ägypten sehr schnell selbst orientieren kann.

Dieses Buch geht einen etwas ungewohnten didaktischen Weg, auf dem ich von Anfang an klarmachen möchte, dass man in der ägyptischen Schrift mit allem rechnen muss, sie funktioniert nicht immer streng logisch. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich, dafür jedoch ein starkes Interesse an der pharaonischen Kultur und viel Verständnis dafür, dass es hier um eine ausgestorbene, erschlossene Sprache und ihre Schrift geht. Beide waren einmal sehr lebendig – weshalb sollten sie heute trocken, leb- und freudlos vermittelt werden? Um das Lesen und Lernen so angenehm wie möglich zu gestalten, habe ich den Lernstoff weitestgehend grammatikalisch «entschlackt», d.h. die Grammatik auf ein operatives Minimum heruntergefahren. Es geht mir darum, nicht nur die grammatikalischen Regeln, sondern vor allem die Denkstrukturen dahinter zu transportieren und den Leser für den Geist und die Vorstellungen der alten Ägypter zu sensibilisieren.

Dieses Buch möchte also auf die «richtigen» Grammatikbücher, die mir zu Beginn meines Studiums das Leben schwer gemacht haben, vorbereiten, es kann gewissermaßen als ein «verbraucherfreundlicher Transfer» hin zu diesen Werken verstanden werden.

«.Niemand ist ein Heiliger. Wir sind alle nur Pfadfinder», sagt Leonard Cohen und in diesem Sinne möchte ich Sie dazu einladen, mir in diesem Buch auf dem Pfad zu folgen, den ich nach Ägypten gefunden habe.

Flaschenpost aus der Vergangenheit

Was brachte die Ägypter dazu, erheblichen Aufwand an Zeit, Material, Arbeitskräften und deren Bezahlung zu betreiben, um die Tempel- und Grabwände mit Zeichen zu beschriften? Es sind Botschaften, die ihnen wichtig und wertvoll waren. Die kleinste, unscheinbarste Stele, an der man im Museum achtlos vorbeigehen würde, beginnt eine faszinierende Geschichte zu erzählen, wenn man die Schriftzeichen enträtseln kann und dadurch die richtigen Fragen stellt.

Die Ägypter haben ihre Werke in gewisser Weise für die Zukunft (in ihrer Vorstellung die Ewigkeit) geschaffen. Wir sind ein Teil in dieser altägyptischen Zukunft, und die Inschriften aus dem pharaonischen Ägypten sind sozusagen Flaschenpost-Sendungen, die sehr lange unterwegs waren, Grüße aus der Vergangenheit, mit der Bitte, sich an die Absender zu erinnern. Jeder noch so kleine Text legt Zeugnis von der Existenz eines dieser Menschen ab, die vor kaum vorstellbarer Zeit das Land, das wir heute besuchen können, bewohnt und wieder verlassen haben.

Mein Ziel ist es, einen neuen Zugang und ein neues Verständnis für die pharaonische Kultur zu schaffen. Die Menschen dieser Kultur haben sich viel Zeit genommen, ihre Werke entstehen zu lassen. Und es braucht Zeit und Muße, sie heute zu betrachten, damit sich schließlich der Schleier des Rätselhaften von Statuen, Tempelreliefs und Grabmalereien hebt und die Hinterlassenschaften aus der Zeit der Pharaonen anfangen, zu sprechen und ihre Geheimnisse preiszugeben. Keine noch so gute Übersetzung kann das liefern, was das Original für uns bereithält.

Zum Aufbau dieses Buches

Zunächst werde ich kurz mit der Geschichte der Hieroglyphen und ihrer Entzifferung vertraut machen, dann folgt ein Abschnitt zu den Grundlagen des Verständnisses der ägyptischen Schrift. Danach beginnen die Lektionen. Als Rahmen dienen die vier Lebensräume der alten Ägypter (Haus, Palast, Tempel und Grab), die thematisch die Bereiche Alltag, Königtum, Religion und Totenkult anreißen. Jeder dieser Teile besteht aus zwei Lektionen von jeweils zwei bis vier Schritten. Zu Beginn jeder Lektion werden neue Mehrkonsonantenzeichen mit Umschrift, Lautwert und Bildinhalt vorgestellt, die auf den nächsten Seiten auftauchen werden. Sich diese Symbole und Laute einzuprägen ist unerlässlich, bevor man mit der Lektion beginnt. Und auch wenn die Umschrift entbehrlich erscheinen mag – sie ist es nicht, sondern sie ist im Gegenteil äußerst hilfreich, damit sich Wort- und Lautstrukturen erschließen.

Am Ende jeder Lektion finden sich die neuen, thematisch geordneten Vokabeln und ein Übungsteil, der zu Anfang noch aus konstruierten Ausdrücken besteht und recht bald durch originale Texte aus dem alten Ägypten bestückt wird – in der Regel an Hand einer Abbildung, also mit einem anschaulichen praktischen Bezug. Je weiter wir inhaltlich voranschreiten, umso größeren Raum werden die Praxisübungen einnehmen. Am Ende des Buches sind alle hier behandelten Mehrkonsonantenzeichen und Vokabeln noch einmal zusammengestellt.

Worte des Danks

Dieses Buch ist das Ergebnis der Arbeit von vielen Menschen, von denen ich einigen gerne danken möchte: Ulrich Nolte vom C.H. Beck Verlag ließ sich auf das Wagnis ein, ein etwas anderes Hieroglyphenbuch herauszubringen. Petra Rehder war gewissermaßen die Geburtshelferin, und Prof. Dr. Dietrich Wildung hat sich die Zeit genommen, das Manuskript durchzusehen. Die Mitarbeiter vom C.H.Beck Verlag haben ihr ganzes Können bewiesen, indem sie dieses in der Herstellung anspruchsvolle Buch mit so vielen Hieroglyphen und Sonderzeichen realisierten. Zahlreiche Crashtest-Dummies testeten einzelne Teile auf ihre Anwendbarkeit und «Alltagstauglichkeit». Einige Anregungen, Wünsche und Anmerkungen der inzwischen insgesamt weit über tausend Teilnehmer meines seit fast 15 Jahren bestehenden Hieroglyphen-Workshops Faszination Hieroglyphen sind ebenfalls in das Endprodukt eingeflossen. Ihnen allen danke ich von ganzem Herzen.

Ganz besonders aber danke ich meiner Frau Nadine, die sich als Erste komplett und tapfer durch das gesamte Manuskript gekämpft hat. Ihre wohlwollende Kritik war mir stets besonders wichtig. Und obwohl sie eigentlich mit ganz anderen Dingen beschäftigt war (Image), schaffte sie es außerdem, mir beim Schreiben den Rücken weitestgehend freizuhalten – besonders von Image und Image. Ihr möchte ich die folgenden Seiten zu unserem 10. Hochzeitstag widmen:

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Michael Höveler-Müller
im März 2014

KURZE GESCHICHTE DER
ÄGYPTISCHEN HIEROGLYPHEN

Die ägyptischen Hieroglyphen gehören zu den ältesten Schriften der Menschheit. An dieser Stelle soll nicht der Versuch unternommen werden, die strittige Frage zu beantworten, welches Volk im Nahen Osten als Erstes Sprache zu konservieren verstand – Sumerer oder Ägypter – und wer wen beeinflusst hat. Es ist m. E. durchaus wahrscheinlich, dass die ägyptische Schrift völlig unabhängig von der Kultur der Sumerer entstand.

Ägyptisch gehört zur afro-asiatischen Sprachfamilie und bildet in ihr eine Besonderheit, da sie als einzige dieser Gruppe lückenlos über nahezu 5000 Jahre hinweg lebendig blieb und selbst heute noch vereinzelt in koptischen Liturgien zu hören ist.

Ursprünge

Noch vor dem Jahr 3000 v. Chr. vollzog der Herrscher der oberägyptischen Naqada-Kultur, König Narmer, die erste Reichseinigung Ägyptens, die die Nachwelt allerdings seinem Sohn und Nachfolger Aha (ca. 3032–3000 v. Chr.) zuschreibt, mit dem traditionell die 1. Dynastie beginnt. Dabei wurden die beiden Landesteile Ober- und Unterägypten erstmals unter einer einheitlichen Führung zusammengeschlossen. Dieses Image smImage-tImage.wj (lies: sema-taui), die «Vereinigung der Beiden Länder», wie die Ägypter es nannten, war das Ergebnis eines Prozesses, der rund 1000 Jahre zuvor im Gebiet der großen Nilschleife nördlich der heutigen Stadt Luxor, im Großraum des Dorfes Naqada, begonnen hatte. Von hier aus zog ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung, Angehörige der sog. Naqada-Kultur, die mit ihren reichen innovativen Ideen, Techniken und gesellschaftlichen Strukturen den anderen zeitgleichen Kulturen des Niltales deutlich überlegen war, etwa um 4000 v. Chr. in Richtung Norden. Allmählich überlagerte diese dynamische Kultur Süd- und Mittelägypten und bildete somit ein weitgehend einheitliches, sozusagen «naqadisiertes» Oberägypten. Das Nildelta wurde allerdings von einer nahezu ebenbürtigen Kultur, der sog. Buto-Maadi-Kultur, beherrscht, die über wichtige Handelsbeziehungen in den Mittelmeerraum und besonders in das Gebiet der Levante verfügte. Mit der Reichseinigung schuf König Narmer die Voraussetzung für eine erfolgreiche Zukunft Ägyptens unter Naqada-Führung, die sein Sohn Aha gestalten sollte, der traditionell als der erste König der 1. Dynastie angesehen wird. Bereits in dieser frühen Phase der ägyptischen Geschichte war die Schrift schon mehr als 300 Jahre ein wichtiger Bestandteil der Verwaltung.

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ABB. 1. Anhängetäfelchen aus dem Grab U-j, um 3300 v. Chr., sog. Naqada-III-Zeit. Die Lesung ist «ba» (bImage) für den Storch und «set» (s.t) für den Stuhl – zusammen Ba-set (BImage-s.t) – und bildet die altägyptische Bezeichnung für den Ort Tell Basta oder Bubastis, in dessen arabischem Namen das alte Original noch deutlich herausklingt.

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ABB. 2. Anhängetäfelchen aus der Regierungszeit des Semerchet (1. Dynastie, ca. 2886–2878 v. Chr.)

Dass zu den zahlreichen Neuerungen, die die Träger der Naqada-Kultur mit sich brachten, auch die Schrift gehörte, zeigen sehr eindrucksvoll die Beigaben, die für einen Vorgänger von Narmer und Aha, einen offenbar besonders bedeutenden Führer der Naqada-Kultur, etwa 3300 v. Chr. in einem aufwändigen Mehrkammergrab unter dem Wüstenboden bei Abydos niedergelegt worden sind. Die Anlage trägt heute die moderne Bezeichnung U-j, der Name ihres Besitzers ist nicht zweifelsfrei identifiziert worden. In den zwölf aus luftgetrockneten Lehmziegeln konstruierten, unterirdischen Räumen fanden sich u.a. beschriftete Objekte. Die Zeichen gehören zu den ältesten bislang in Ägypten entdeckten und befinden sich entweder als Inschriften auf sog. Anhängetäfelchen (Abb. 1) eingeritzt oder als Aufschriften in Tinte auf Gefäßen aufgetragen. Die Täfelchen bestehen meist aus Knochen oder Elfenbein und wurden mithilfe einer Schnur, die durch die Öse in einer der oberen Ecken gezogen wurde, zum Beispiel an Kisten befestigt und nennen entweder die Herkunft, den Inhalt oder die Menge der in den jeweiligen Behältnissen untergebrachten Gegenstände. Eine ähnliche Funktion erfüllen die Gefäßaufschriften.

Die Anhängetäfelchen aus dem Grab U-j sind die Vorläufer für ähnliche, allerdings deutlich eloquentere Etiketten, die seit König Narmer auftreten (Abb. 2). Diese können neben der Herkunft zusätzlich Informationen zu Inhalt, Menge, Qualität, den Namen des zuständigen Beamten bzw. der verantwortlichen Institution sowie einen Königs- und einen Jahresnamen nennen. Die Tradition der Anhängetäfelchen endet ungefähr mit der 1. Dynastie.

Der ursprüngliche Sinn und Zweck der Entwicklung der ägyptischen Schrift war also, Angaben im Bereich der Verwaltung, die zuvor mündlich gemacht worden waren, in irgendeiner Form über eine längere Zeit hinweg festzuhalten – damit die vormals flüchtigen Informationen nicht weiter vergessen oder falsch verstanden wurden und damit man letztendlich eine Quittung oder einen Beleg – im wahrsten Sinne des Wortes – in der Hand hatte. Der Ursprung der ägyptischen «Heiligen Zeichen» lag also in einer profanen verwaltungs- und handelstechnischen Notwendigkeit und stellte die Lösung der Frage dar, auf welche Weise man nachhalten und belegen konnte, dass Waren aus bestimmten Regionen an ihre Bestimmungsorte geliefert worden waren. Die Hieroglyphen aus dem Grab U-j weisen bereits alle Standards der späteren Schrift auf und sind deshalb lesbar. Es liegt auf der Hand, dass es noch ältere Texte gibt, die frühere Entwicklungsphasen darstellen. Der Wüstensand wird sie früher oder später preisgeben.

Die «Gottesworte»

Die Ägypter nannten ihre Schrift Image mdw-nṯr (lies: «medu-netscher»), «Gottesworte», was die Bedeutung der Schrift für das pharaonenzeitliche Ägypten zum Ausdruck bringt. Den sakralen Charakter hatten auch die Griechen im Blick, wenn sie die Schrift am Nil als «Hieroglyphen» bezeichneten, was so viel bedeutet wie «heilige (eingeritzte/eingemeißelte) Zeichen».

Alan H. Gardiner präsentierte 1927 eine grundlegende Grammatik der mittelägyptischen Sprache, die bis heute unerreicht, doch glücklicherweise noch immer käuflich zu erwerben ist – allerdings nur in englischer Sprache. Darin lieferte er im Anhang eine systematische Kategorisierung der Hieroglyphen in insgesamt 26 thematische Gruppen, die er von A bis Z durchzählte, zudem richtete er noch eine Gruppe Aa «Unklassifiziertes» ein.[1] Alle Gruppen zusammen umfassen rund 750 Zeichen, wobei die Kategorien «menschliche Körperteile» (D), «der Mann und seine Beschäftigungen» (A), «Vögel» (G) und «Teile von Säugetieren» (F) die meisten Einträge vorweisen können und zusammen etwa ein Drittel aller Hieroglyphen bilden. Am wenigsten Zeichen weisen die sieben Gruppen «die Frau und ihre Beschäftigungen» (B), «Teile von Vögeln» (H), «Fische und Teile von Fischen» (K), «Wirbellose etc.» (L), «Möbel» (Q), «Brot, Kuchen» (X) und erstaunlicherweise auch «Schreiben, Spiele, Musik» (Y) mit insgesamt nur rund 50 Zeichen und damit etwa 7 Prozent des Gesamtvolumens auf.

Aus dieser quantitativen Verteilung dürfen allerdings keinesfalls Rückschlüsse auf die ägyptische Kultur gezogen werden, denn dies hieße, dass «menschliche Körperteile» besonders bevorzugt worden seien und «Frauen und ihre Beschäftigungen» in ihrer Beliebtheit noch hinter «Reptilien» und ähnlichem Getier rangieren würden. Dem war keinesfalls so, aber es zeigt, wie Hieroglyphen zu verstehen sind – als wertungsfreie Laute nämlich und durchaus nicht als Bilder. Schon in den frühen Textfunden aus dem Grab U-j in Abydos sind 17 dieser 26 Zeichengruppen mit insgesamt über 50 Zeichen vertreten.[2]

Schreibvarianten und Sprachstufen

Man unterscheidet zwei Schreibweisen des Ägyptischen: Hieroglyphisch und Hieratisch. Hieroglyphen wurden für formelle, zeremoniale, literarische und sakrale Texte verwendet und sind im Prinzip mit unserer Druckschrift vergleichbar (Abb. 3). Hieratisch (von griech. hieratike, «Priesterzeichen») hingegen ist die Schreibschrift der Hieroglyphen und mehr dem privaten Bereich und der Verwaltung zuzuordnen – Briefe, Testamente, Anwesenheitslisten, Gerichtsprotokolle und dergleichen wurden in der schnelleren hieratischen Schreibweise verfasst (Abb. 4). Hieratisch existierte zu allen Zeiten neben dem Hieroglyphischen. Beim Hieratischen ist vielfach das Individuelle in der Handschrift des Schreibers zu erkennen, was es dem Übersetzer gelegentlich sehr schwer machen kann. Analog zu den drei großen Epochen in der ägyptischen Geschichte entstanden drei prinzipielle Sprachstufen (siehe Tabelle am Ende des Kapitels).

Zwischen dem ersten Auftreten der Hieroglyphen um 3300 v. Chr. und dem Ende der 3. Dynastie (etwa 2600 v. Chr.) spricht man von Frühägyptisch. Mit Beginn der 4. Dynastie (ca. 2633–2509 v. Chr.) treten größere Mengen an Inschriften auf, wodurch man heute eine breitere textliche Basis besitzt. Das ist gleichzeitig die Anfangsphase der Sprachstufe Altägyptisch. Die Grammatik ist noch nicht so sehr strukturiert, die Schreibungen nicht immer einheitlich und vielfach umständlich. In der 9./10. Dynastie (ca. 2202–2014 v. Chr.) wird die Sprachstufe des Mittelägyptischen in der Schrift sichtbar, die man unter den Königen des Mittleren Reiches (ca. 2014–1795 v. Chr.) noch weiter strukturierte. Die Unterschiede zum Altägyptischen bestehen im Wesentlichen aus allgemeinen Vereinfachungen, einer stärkeren Reglementierung und konsequenterer Einheitlichkeit. Diese Sprachstufe wurde nach dem Mittleren Reich als klassisches Ägyptisch verstanden und weiterhin für religiöse Texte und Königsinschriften bis zum Ende der altägyptischen Kultur verwendet. Mittelägyptisch dient heute wegen seiner klareren Strukturierung als Einstieg für das Erlernen des Ägyptischen bei Studierenden der Ägyptologie.

Im Neuen Reich (ca. 1550–1093 v. Chr.) erließ Pharao Echnaton (ca. 1361–1344 v. Chr.) nicht nur weitreichende Reformen auf dem Gebiet der Religion, sondern ebenso im Bereich der Schrift: Das sog. Neuägyptisch erhob die Umgangssprache zur Literatursprache und hatte bis ins 3. nachchristliche Jahrhundert Bestand.

Seit der 26. Dynastie (um 650 v. Chr.) wurde es allerdings in demotischen Zeichen geschrieben, einer Schreibvariante, die sich während der Spätzeit (664–332 v. Chr.) aus dem Hieratischen entwickelte. Die religiösen Texte des Neuen Reiches wurden aus Gründen der Tradition und Altehrwürdigkeit weiterhin in Mittelägyptisch verfasst – nicht zuletzt auch, um den Zeitgenossen ein höheres und noch würdevolleres Alter zu suggerieren. Herodot von Halikarnass (um 485–425 v. Chr.), der griechische «Vater der Geschichtsschreibung», bereiste Ägypten im 5. Jahrhundert v. Chr. und notierte: «Sie (die Ägypter) haben übrigens zwei Arten von Buchstaben, die einen heißen die heiligen, die anderen die gewöhnlichen.»[3] Dieses «Gewöhnliche» oder «zum Volk Gehörige» heißt auf Griechisch «demotikos», und so prägte Herodot mit dieser Beschreibung den Begriff «demotisch».

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ABB. 3. Thotgalt den alten Ägyptern als Gott der Schriftkunst. Hier ist er soeben dabei, die Namen von Ramses II. (ca. 1302–1236 V. Chr.) auf die Jahresrispen zu schreiben (Luxor, Theben-West, Ramesseum).

Das Ptolemäische repräsentiert keine eigenständige Sprachstufe und ist auch nicht mit dem Demotischen zu vergleichen. Es entstand in der Ptolemäischen Zeit (332–31 v. Chr.), orientierte sich am Mittelägyptischen und wurde einzig zur Niederschrift religiöser Texte verwendet. Ptolemäisch brachte allerdings einige Neuerungen und Besonderheiten hervor, und die Zahl der verwendeten Hieroglyphen stieg von rund 750 auf bis zu 7000 an.

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ABB. 4. Ein Beispiel für hieratische Schrift. Es handelt sich um einen Vermerk, der eine Inspektion und Instandsetzung des Grabes von Thutmosis IV. (ca. 1407–1398 v. Chr; Grab KV 43 im Tal der Könige) unter Pharao Haremhab (ca. 1329–1315 v. Chr.) dokumentiert.

Als Sprache der Diplomatie in der antiken orientalischen Welt diente Ägyptisch hingegen zu keiner Zeit. Diese Rolle übernahm während der Epoche des Neuen Reiches (ca. 1550–1093 v. Chr.) das in Keilschrift geschriebene Akkadisch.

Im 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. hielt das Christentum Einzug in Ägypten. Die neue Religion betrachtete die alte in vielen fundamentalen Fragen und besonders wegen ihres kaum vorstellbaren Alters als existenzbedrohend. Und auch die Schrift mit ihren merkwürdigen Symbolen, die zum Teil Bilder von gefährlichen Tieren nutzte, um sich Ausdruck zu verschaffen, wirkte bedrohlich. Noch heute erkennt man in Gräbern und Tempeln, die in christlicher Zeit als Wohnstätten oder Kirchen dienten, dass solche oder andere beängstigende Zeichen – etwa den Betrachter direkt anblickende Gesichter oder Schlangen und Löwen – zerkratzt und koptische Kreuze in die Wände getrieben wurden. An dieser Praxis ist deutlich ein urägyptisches Verständnis in Bezug auf Darstellungen jeglicher Art zu erkennen, das auch bestehen blieb, als sich eine neue Religion durchsetzte, die das Abbilden ihres Gottes strikt verbot. So wurden die alten Kulte aufgegeben, Kultbilder zerschlagen, ehemals Heiliges zu Bösem erklärt, und Angst ließ das Vertraute zum Unverständlichen werden.

Das lange Schweigen der «Heiligen Zeichen»

Am 24. August des Jahres 394 n. Chr. wurde im Tempel der Göttin Isis auf der Nilinsel Philae südlich von Assuan zum letzten Mal eine Inschrift in Hieroglyphen verfasst. Demotisch schrieb man knapp 60 Jahre später zum letzten Mal. Danach begann das lange Schweigen der ägyptischen Hieroglyphen, und das Koptische wurde die offizielle Schrift des Ägyptischen, in der die Sprache weiterlebte, aber die alte Schrift vergessen wurde. Das Koptische wird – je nach Dialekt – mit bis zu 30 griechischen Minuskeln (Kleinbuchstaben) geschrieben und durch sieben zusätzliche Zeichen aus dem Demotischen ergänzt, das als Schrift nun vollständig verdrängt wurde.

Die koptische Sprache ist in ihrem Ursprung die Alltagssprache der Spätzeit und nutzte nach über 3000 Jahren zum ersten Mal eine andere Schrift als die bildhaften Zeichen der heiligen «Gottesworte». Es besitzt zwar zahlreiche griechische Lehnwörter, hält aber in dieser neuen Verpackung die ägyptische Sprache bis ins 18. Jahrhundert hinein lebendig. Die koptische Grammatik ist im Wesentlichen eine Fortführung der älteren Vorgaben und Entwicklungstendenzen und beeindruckt vor allem durch die Differenzierung von 22 Zeitstufen.

Das Wissen um die Hieroglyphen ging verloren, und aus der Unkenntnis wurde die Ehrfurcht vor dem Unbekannten und Rätselhaften. Laute wurden zu einzelnen bedeutungslosen Bildern, die zwar jedes für sich erkennbar waren, aber in ihrem Zusammenspiel keinen Sinn ergaben. Daraus erwuchs in der Folgezeit eine Faszination, die in den Hieroglyphen einen Zugang zu einem esoterischen Geheimwissen der Menschheit sah.

Der Stein von Rosette

Doch allen Spekulationen wurde im Juli 1799 der Boden entzogen. Französische Soldaten machten während Napoleons Ägyptenfeldzug (1798–1801) in dem kleinen Dorf Raschid, in Europa besser unter dem Namen «Rosette» bekannt, im westlichen Nildelta, etwa 65 km östlich von Alexandria, eine Entdeckung, die die Wissenschaft der Ägyptologie begründen sollte, denn sie lieferte den Schlüssel zur Entzifferung der Hieroglyphen: der Stein von Rosette, eine 114 cm hohe, 72 cm breite und 28 cm tiefe Basaltplatte, offenbar in einer Mauer verbaut,[4] die eingerissen werden sollte, um die Erweiterung eines französischen Forts, des späteren Fort Julien, zu ermöglichen. Ihr späterer Entzifferer Jean-François Champollion (1790–1832) war zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt und lebte rund 3000 km vom Fundort entfernt, im südfranzösischen Figeac.

Der Stein von Rosette weist eine erhebliche Beschädigung im linken oberen Bereich auf. Ursprünglich dürfte er zwischen 152,5 und 183 cm hoch gewesen sein, ein optisch sehr imposantes Monument. Die Bedeutung des Steins soll den für den Abriss verantwortlichen Offizieren sofort offensichtlich gewesen sein. Das Stück zeigt Texte in drei verschiedenen Schriften – die oberen 14 Zeilen sind in Hieroglyphen verfasst, darauf folgen 32 Zeilen Demotisch und 54 Zeilen Griechisch. Damit sind also drei Schriften, aber nur zwei Sprachen vorhanden. Wie sich später herausstellte, entsprechen die erhaltenen 14 Zeilen des Hieroglyphen-Textes den letzten 28 Zeilen der griechischen Inschrift, von der allerdings – einer Beschädigung des Steins im unteren Bereich geschuldet – das Ende von 26 Zeilen fehlt.