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Eva Gesine Baur

Mozart

Genius und Eros

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 

 

 

Zum Buch

 

 

Eva Gesine Baur erzählt Mozarts dissonantes Leben, ohne zu beschönigen, dass der Schöpfer unfassbarer Musik auch eine schwarze Seite hatte: Sich seines göttlichen Talents bewusst, log, trickste und intrigierte er. Er verschenkte Glückseligkeiten und verteilte Bösartigkeiten. Die Biographie versucht, diesen Abgrund auszuloten. Mozart selbst hat das Problem in die Welt gesetzt, mit der sich seine Verehrer und seine Biographen herumschlagen: Er schrieb Briefe, die seine menschlichen Schwächen bloßlegen.

Auch andere Zeitzeugnisse zeigen einen Mozart, der alles andere als göttlich war. Seinen Vater, Salieri oder seine Frau Constanze zu Sündenböcken zu machen, verbieten die Fakten. Das Verständnis für das Werk und den Mann Mozart voneinander zu trennen erklärte bereits der Philosoph Norbert Elias als «künstlich, irreführend und unnötig». Wer weiß, wie rastlos und ruhelos seine Mitmenschen den Zappelphilipp Mozart erlebten, versteht die verblüffende Tatsache, dass er über 160 Fragmente hinterließ. Sein Leiden an seiner äußeren Hässlichkeit hilft, seine Begierde nach dem Schönen zu verstehen. Eine Bemerkung des großen Mozart-Dirigenten Richard Strauss brachte die Autorin auf den Vergleich Mozarts mit dem mythologischen Eros, wie er in Platons «Gastmahl» beschrieben wird. Eros ist nicht der von allen Geliebte, sondern der große Liebende. Selbst nicht schön, sehnt er sich nach Schönheit. Ein Zauberer, aber auch ein großer Intrigant. Ein Dämon, getrieben von einer unstillbaren Sehnsucht. Weder Gott noch Mensch. Vielmehr ein Bote zwischen dem Göttlichen und dem Allzumenschlichen. Mozart und Eros: der große Widerspruch. So irdisch wie überirdisch.

 

 

 

Über die Autorin

 

 

Eva Gesine Baur studierte Literaturwissenschaft, Psychologie, Kunstgeschichte und Musikwissenschaften und wurde mit einer Arbeit über das Kinderbild im 18. und 19. Jahrhundert promoviert. Sie hat zahlreiche Bücher über kulturgeschichtliche Themen und unter dem Namen Lea Singer mehrere Romane veröffentlicht. Bei C.H.Beck sind erschienen: Mozarts Salzburg (2005); Freuds Wien (2008); Amor in Venedig (2009); Chopin oder Die Sehnsucht (2010); Emanuel Schikaneder (2012). 2010 wurde ihr der «Hannelore-Greve-Literaturpreis» für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der deutschsprachigen Literatur verliehen.

 

 

 

 

Dem großen Mozart-Klarinettisten und Komponisten
Jörg Widmann zugeeignet, der sagt:
«Mozart bewundere ich auch als Meister
der falschen Fährten.»

 

 

 

Inhalt

 

 

Vorwort
Mozart, der große Widerspruch
Eine Gebrauchsanweisung für dieses Buch

I.
1756: Poros und Penia
Oder: Sohn eines Strategen und einer Bedürftigen

II.
1761–1763: Zwischen Unverstand und Weisheit
Oder: Ein Kleinkind tanzt, rebelliert und komponiert

III.
1763–1766: Blüht auf und gedeiht, ermüdet und stirbt dahin
Oder: Reisen zwischen Todesnähe und Triumphen

IV.
1767/1768: Nirgendwo zu Hause
Oder: Auf der Flucht vor Pocken, Intrigen und Unverständnis

V.
1769/1770: Kühn, stark, beharrlich
Oder: Eine Blamage in Bologna, ein Sieg in Mailand

VI.
1771: Strebt nach Höherem
Oder: Ein Teenager träumt von der Hofanstellung

VII.
1772/1773: Auswege finden und Fallen stellen
Oder: Strategien und Tricks von Vater und Sohn

VIII.
1774/1775: Auf der Schwelle
Oder: Die Entdeckung der Liebe

IX.
1776/1777: Nicht gut und schön
Oder: Ein Jungmann ohne Reize und Rücksichtnahme

X.
1778: Sohn der Penia, immer bedürftig
Oder: Reise nach Paris mit großen Verlusten

XI.
1779/1780: Bote zwischen Göttern und Menschen
Oder: Die Erfindung des Idomeneo

XII.
1781: Ein gewaltiger Jäger
Oder: Ein Künstler auf der Fährte des Menschlichen

XIII.
1782: Ein Ränkeschmied
Oder: Verleumdung und Lügen für Erfolg und Entführung

XIV.
1783: Was er heute gewinnt, zerrinnt ihm morgen
Oder: Eine Fahrt nach Salzburg bereichert und verarmt

XV.
1784: Schwebt wie Eros zwischen Himmel und Erde
Oder: Entrückung am Klavier, Vaterfreuden und Freimaurerleiden

XVI.
1785: Vom Dämon beseelt
Oder: Rastlos als Unternehmer und Erfinder

XVII.
1786: Ein Weisheitsliebender
Oder: Figaro und das Verbergen der Wahrheit

XVIII.
1787: Weder gut noch schlecht
Oder: Die Feier des Wüstlings und Helden Don Giovanni

XIX.
1788: Weder reich noch arm
Oder: Sinfonische Juwelen und Bettelbriefe

XX.
1789: Der Liebende aber ist anders beschaffen
Oder: Ein sehnsüchtiger Ehemann allein unterwegs

XXI.
1790: Trachtet nach Erkenntnis der Wahrheit
Oder: Così fan tutte und die Abgründe des Alltags

XXII.
1791: Bindet so das All zusammen
Oder: Zauberflöte, Requiem und das Ende

 

Anhang

 

Das Wesen des Eros
Der Dialog Diotimas mit Sokrates aus Platons Symposion

Mozarts Wohnungen in Wien

Anmerkungen

Literaturauswahl

Abbildungen

Namenregister

 

Herrn Prof. Dr. Laurenz Lütteken sei für das kundige und kritische Gegenlesen gedankt.

 

 

 

 

«Die Mozartsche Melodie ist – losgelöst von jeder irdischen Gestalt – das Ding an sich, schwebt gleich Platons Eros zwischen Himmel und Erde, zwischen sterblich und unsterblich – befreit vom ‹Willen› – tiefstes Eindringen der künstlerischen Phantasie, des Unbewussten, in letzte Geheimnisse, ins Reich der ‹Urbilder›.»

 

Richard Strauss[1]

 

 

 

Vorwort

Mozart, der große Widerspruch

Eine Gebrauchsanweisung für dieses Buch

Alles wäre so einfach, hätte Mozart keine Briefe geschrieben. Oder testamentarisch verfügt, sie verbrennen zu lassen. Obwohl nur ein Teil von ihnen erhalten ist, führte Mozart die Nachgeborenen damit selbst auf seine Fährte. Auf die Fährte eines Mannes, der seinen Vater belog und finanziell betrog. Der sich in Fäkalsprache und Obszönitäten erging. Der verdiente Künstler mit groben Worten herabsetzte. Der sich unflätig über Menschen äußerte, denen er viel verdankte. Der intrigierte und trickste. Der seine Gläubiger mit Ausreden hinhielt, seine Schwester im Unglück hängen ließ, über das Äußere von Frauen übel herzog und Unschuldige verleumdete.

Was Mozart in den Briefen von sich preisgab, zerrte ihn aus dem mythischen Dunkel, das Shakespeare bis heute vergönnt ist. Als Otto Jahn die bis heute umfangreichste Lebensbeschreibung zu Mozarts hundertstem Geburtstag veröffentlichte, konnte er noch so tun, als seien ihm viele Briefe unbekannt; sie lagen damals noch nicht vollständig in gedruckter Form vor. Das war noch immer so, als 1945 Alfred Einsteins Mozartbiographie erschien. Einstein vermutete, niemand wage sie zu drucken, weil sie Mozart so sehr als Menschen dieser Welt enthüllen. Der Kollege Jahn habe nämlich bereits den größten Teil der Briefe gekannt, aber alle tieferen Dissonanzen in Mozarts Leben und Werk halb unbewusst, halb geflissentlich übersehen. Einstein hatte hingesehen und erklärte im ersten Satz des ersten Kapitels: Ein großer Mensch wie Mozart ist, wie alle großen Menschen, ein erhöhtes Beispiel und Exemplar jener sonderbaren Gattung von Lebewesen, die man im allgemeinen als eine Mischung von Körper und Geist, von Tier und Gott bezeichnen kann.[1]

Zu Beginn der 1960er Jahre erschienen endlich alle damals erfassten Briefe. In der Folge widerlegten die Mozartforscher Stück für Stück die Geschichte von Mozart dem Opfer und förderten Fakten zu Tage, die eine Verklärung des Menschen Mozart unmöglich machten. Die war und ist auch nicht erforderlich.

Die Größe des Werks wird von menschlichen Schwächen nicht beeinträchtigt. Und dass Mozart ein Zotenreißer war, störte bereits in den 1970er Jahren kaum mehr jemanden. Trotzdem war das Bedürfnis, Mozart zu entlasten, damit nicht aus der Welt. Um es zu befriedigen, mussten seine Fehler wenigstens teilweise anderen angelastet werden. Die beiden Mozart am nächsten stehenden Menschen boten sich dafür an: sein Vater und seine Frau.[2] Doch wer die Rehabilitierung von Constanze und das zurechtgerückte Bild von Leopold Mozart nicht ignoriert, weiß: Sie taugen nicht als Sündenböcke, die an Stelle Mozarts in die Wüste gejagt werden könnten. Von Seiten der Medizingeschichte kam in den 1990er Jahren ein weiteres Hilfsangebot. Durch die psychiatrische Diagnose einer bipolaren Störung würden sich Mozarts Stimmungsschwankungen, durch die des Tourette-Syndroms zumindest manche verbalen Entgleisungen und Ticks Mozarts erklären lassen. Überzeugen konnten diese Bemühungen die meisten nicht.[3] Vielmehr neigt wohl jeder, der sich lange mit Mozart befasst, zu der Ansicht Hanns Eislers, der zugab, für ihn sei Mozart immer ein seltsamer, ein unheimlicher Mensch gewesen.[4]

Warum geben wir die Anstrengungen also nicht einfach auf? Warum zögern wir, das Verständnis für den Künstler Mozart und für seine Kunst von dem Verständnis für den Menschen Mozart zu trennen? Eine Antwort darauf gab 1991 ein Mozart-Buch des Soziologen Norbert Elias, das noch vor dem Tod des Dreiundneunzigjährigen aus Stücken eines unvollendeten Projektes zusammengestellt wurde. Diese Trennung, protestierte Elias, ist künstlich, irreführend und unnötig. Der heutige Stand unseres Wissens erlaubt uns zwar nicht, die Zusammenhänge zwischen der sozialen Existenz und den Werken eines Künstlers wie mit einem Seziermesser offenzulegen; aber man kann sie mit einer Sonde ausloten.[5]

Die Anatomie dieses Gewebes soll hier noch immer nicht riskiert werden. Aber der Versuch, beim Objekt Mozart mit einer neuen Sonde zu arbeiten. Wie kann diese Sonde aussehen? Wo genau kann sie zum Einsatz kommen? Und was soll sie ergründen?

Die Musik Mozarts und den Menschen Mozart verbindet etwas Wesentliches und Wesenhaftes: Sie sind im doppelten Sinn des Wortes unfassbar. So nah, so fern. So vertraut, so fremd. Werk wie Person entziehen sich dem Zugriff. Nichts ist linear, auf nichts ist Verlass. Sobald wir etwas wörtlich nehmen, scheitern wir. Zum Beispiel bei Mozarts Briefen. Kaum hat er sich in der verbalen Kloake gesuhlt, philosophiert er über den Tod, kaum hat er im Ton tiefster Demut um Geld gebettelt, funkelt er vor Übermut, kaum hat er einem das Herz aufgerissen mit den Schilderungen seines Missachtetwerdens, leuchtet er vor Zuversicht. Schon Carl Dahlhaus hat es aufgezeigt: Diese Briefe sind Meisterwerke der Eigenregie. Mozart setzte sich in Szene, wie es ihm gefiel und opportun schien. Er stellte seine Situation und seine Mitmenschen so dar, wie sie der Adressat wahrnehmen sollte. Mit jeder Rolle, die er in diesem Theater spiele, sei er authentisch, erkannte Dahlhaus. Aber wer jenseits des Rollenspiels Mozarts Kern erfassen wolle, der greife ins Leere. Wenn wir meinen, ihn zu fassen, ist er schon wieder ein anderer oder anderswo.[6]

Oft wurde wiederholt, Mozart sei als Komponist kein Neuerer. Er habe die Formen seiner Zeit einfach übernommen und vollendet. Die meisten Werke wirken beim ersten Hören schön und klassisch ebenmäßig. Aber Mozart bricht mit Konventionen und mit seinen eigenen Versprechungen. Oft mit solchen, die er gerade erst gegeben hat. Der Komponist Wolfgang Rihm gestand 1991 in einer Umfrage zum Mozart-Jahr, er verstehe es, dass man Mozart vorgeworfen habe, unrein zu komponieren. Nichts sei richtig, alles sei irgendwie schief. Haydn wurde schon zu Lebzeiten zum Klassiker gekürt. Bei Mozarts Musik vermissten nicht wenige Zeit genossen das, was für die klassischen Forderungen gilt: Ausgeglichenheit und Konsequenz. So erklärte der Schweizer Komponist, Musikalienhändler und Musiktheoretiker Hans Georg Nägeli, sechzehn Jahre nach Mozart geboren, in seinen Vorlesungen über die Musik, so wie Mozart dürfe man einfach nicht komponieren. Er kritisierte, dass Mozart in der Instrumentalmusik den Gesang nachahme. Er warf ihm vor, er entwickle nichts konsequent durch, er wolle vor allem Effekt machen durch das über triebene, ausschweifende Contrastieren. Mozart sei zugleich Schäfer und Krieger, Schmeichler und Stürmer; weiche Melodien wechseln häufig mit scharfem, schneidendem Tonspiel. Unter den wichtigen Komponisten sei er der allerstylloseste, schlimmer: oft von einer widerwärtigen Styllosigkeit.[7] Auch wer gegen Nägelis Vorwürfe protestiert, muss eingestehen: Es gibt bei Mozart in den meisten größeren Werken diese radikalen Umschwünge. Johann Friedrich Reichardt bemängelte schon 1782, die Instrumentalmusik Mozarts sei höchst unnatürlich, weil es in ihr erst lustig, dann mit einmahl traurig und straks wieder lustig hergeht. Ihm missfiel wie dem Schweizer Kollegen diese höchst unschickliche Mischung, wo Lachen und Weinen sich jagen.[8] Auch in den Vokalwerken lässt sich das beobachten. Gerade war die Stimmung noch erotisch schwebend, da stürzt sie ab ins Tragische. Gerade noch wähnten wir uns geborgen in sommerlicher Heiterkeit, da bricht die Eiseskälte des Todes ein. Gerade noch haben uns beruhigende Klänge umschmeichelt, da bedroht uns ein aufziehendes Weltengewitter. Kaum fühlen wir uns auf sicherem Terrain, tut sich ein Abgrund auf. Der Trugschluss ist charakteristisch für den Menschen Mozart und für seine Musik. In seinen allerersten Kompositionen, Menuetten, die der Vater notiert, finden sich bereits Trugschlüsse. Seine Opern enden mit einem Frieden, der trügerisch ist im psychologischen Sinn. Seine Instrumentalwerke lieben den Trugschluss im Sinn der Harmonielehre. Lassen zwingend die Tonika erwarten, lösen aber diese Erwartung nicht ein.[9]

Eine ungestillte Sehnsucht treibt die Musik voran. Bei einer Berliner Don Giovanni-Aufführung 1791 regte sich ein Kritiker darüber auf, unaufhörlich werde man ohne Ruhe und Rast von einem Gedanken zum andern gleichsam fortgerissen.[10] Diese ungestillte Sehnsucht trieb den Menschen Mozart an und um. Er sei immer rastlos in Bewegung gewesen, bezeugte seine jüngste Schwägerin Sophie Weber. Nie habe er länger ruhig stehen oder sitzen können. Dieses Ruhlose, sagt der Dirigent Daniel Harding, ist ein Aspekt seiner Persönlichkeit, der sich auch in seiner Musik wiederfindet.[11] Jede Aufführung Mozarts, die das Nervöse unter der Oberfläche des Schönen und Harmonischen nicht hörbar zu machen wagt, hält Harding für verfehlt und für Ulrich Konrad ist Mozart der Fragment-Komponist par excellence.

Unablässig war Mozart unterwegs, nirgendwo war er wirklich zu Hause, nie war er von dem Gefühl erfüllt, angekommen zu sein. Fünf Monate vor seinem Tod schrieb Mozart an seine Frau: – ich kann Dir meine Empfindung nicht erklären, es ist eine gewisse Leere – die mir halt wehe thut, – ein gewisses Sehnen, welches nie befriediget wird, folglich nie aufhört.[12]

Der Widerspruch zwischen Tröstlichem und Furchterregendem, zwischen Optimismus und Pessimismus, zwischen Lebensfreude und Verzweiflung ist weder in Mozarts Wesen noch in seinem Werk zu leugnen. Doch warum sollten wir diesen Widerspruch auflösen oder nur widerwillig hinnehmen? Warum nehmen wir ihn nicht an? Mozarts Einverständnis haben wir. Schließlich hat er weder seine Briefe vernichtet noch die Unebenheiten im Nachhinein geglättet oder radikale Wechsel entschärft. Doch wenn wir den Widerspruch annehmen, stellt sich die Frage: Was bringt das? Wohin führt das?

Richard Strauss lieferte einen Hinweis, wie die Sonde beschaffen sein könnte, mit der wir weiter vordringen ins Gewebe des Widerspruchs, als er Mozart und den Eros aus Platons Symposion in einem Atemzug nannte. Er bezog seinen Vergleich jedoch nur auf die Musik Mozarts, nicht auf sein Wesen, nicht einmal auf die Struktur seines Werkes. Strauss erkannte in den Melodien etwas, das einem Aspekt des Eros, wie ihn Diotima schildert, entspricht.[13]

Diotima ist die einzige Frau, die im Symposion von Platon zu Wort kommt; sie tritt jedoch nicht auf. Sokrates stellt sie vor als weise Frau aus Mantineia in Arkadien. Ihr verdanke er, sagt Sokrates, die Einsicht in das wahre Wesen des Eros. Der Text der Passage aus dem Symposion, dem auch die Kapitelüberschriften dieses Buches entstammen, ist im Anhang wiedergegeben. An dieser Stelle der Gebrauchsanweisung soll es genügen, die Charakteristika des Eros anzusprechen, die in diesem Buch als Sonde dienen, um Mozarts dissonante Persönlichkeit zu erkunden.

Eros ist weder gut noch schlecht, weder schön noch hässlich.

Eros befindet sich zwischen Weisheit und Unverstand.

Eros ist nicht schön, aber er begehrt das Schöne.

Er ist nicht gut, aber er begehrt das Gute.

Eros gehört weder nur den Menschen noch den Göttern zu. Er ist ein Dämon,[14] ein Bote, ein Mittler. Durch ihn spricht das Göttliche zu den Menschen. Eros überbrückt die Kluft zwischen dem Irdischen und Überirdischen.

Mythologische Konstellationen können gesellschaftliche und psychologische Sachverhalte erhellen. Die Eltern des Eros sind Diotima zufolge Poros und Penia. Poros ist listig, gescheit und gewitzt. Sein Name erinnert nicht zufällig an die Pore: Er findet die Öffnung, den Ausweg. Poros stellt das Gegenteil der Aporie, der Ausweglosigkeit, dar. Er hat Talent darin, an die richtigen Menschen heranzukommen, ans Geld zu gelangen. Penia ist die Verkörperung der Bedürftigkeit, und doch gebiert sie ein außergewöhnliches Kind.[15] Eros, Poros und Penia bilden eine Familienkonstellation, die für das Verständnis Mozarts hilfreich ist. Sie ermöglicht einen neuen Blick auf seine Entwicklung und seinen Charakter, sein Leben und sein Werk.

Eros ist ein Jäger und Fallensteller: stark und beharrlich wie sein Vater und wie seine Mutter zugleich immer bedürftig. Denn was er gewinnt, zerrinnt ihm zwischen den Fingern.

Eros wurde gezeugt am Geburtstag der Aphrodite. Er kennt also das göttlich Schöne, das andere kaum erahnen, und fühlt sich ihm verbunden.

Eros ist immer unterwegs. Er ist unstet, ruhelos und heimatlos. Er schläft auf den Türschwellen. Gehört keinem und gehört nirgendwohin.

Eros ist ein Zauberer, sogar ein Giftmischer und Ränkeschmied, also ein Intrigant.

Eros ist ein Weisheitsliebender, wörtlich übersetzt: ein Philosoph.

Eros ist sich seiner Mangelhaftigkeit bewusst.

Er ist nicht der von allen Geliebte, er ist der große Liebende.[16]

Eros will das Gute besitzen, weil er es liebt, und diese Liebe teilt er mit allen Menschen.

So nah, so fern. Einer von uns und doch für uns unerreichbar.

Wir fühlen uns zu ihm hingezogen, schrieb der New-York-Times-Kritiker Edward Rothstein über Mozart, aber er bleibt ein Fremder. Er ist in unserer Welt und doch nicht Teil von ihr.[17]

Doch bevor das Experiment beginnt, Mozart mit der Sonde Eros zu ergründen, noch ein Hinweis auf eine andere, ältere Deutung des Eros. Hesiod zählte Eros zu den Urkräften, die mit Gaia aus dem Chaos geboren wurden. Durch diesen Eros kam die Verbindung zwischen Urmutter Gaia und Urvater Uranos zustande. Eros als das Verlangen brachte die Verbindung zwischen Erde und Himmel zustande. Zwischen Irdischem und Überirdischem. Er war als Energie an der Entstehung einer Weltordnung beteiligt.[18] Aus dieser Vorstellung leitet sich unsere Verwendung des Begriffs Eros für Schaffenskraft ab. Für jenen Eros also, ohne den Mozarts Leistung in sämtlichen Gattungen der Musik nicht zu erklären ist. Weder in ihrer Breite noch in ihrer Tiefe. Der Aristoteles-Schüler Theophrast definiert in seinen Fragmenten Eros als ein Übermaß an nicht rationalem Verlangen, das hochschießt und sich nur langsam wieder legt. Es war der Sänger Michael Kelly, ein Freund Mozarts, der behauptete, das sei ein Mann auffahrend wie Schießpulver.[19] An anderer Stelle aber betont Theophrast, es gebe zwei Erscheinungsformen dieser Energie. Bleibe sie gemäßigt, wirke sie wohltuend und schöpferisch. Verliere sie das Maß, wirke sie verstörend, sogar zerstörend.[20] Für Theophrast ist Eros also eine Energie, die gefährlich und gefährdet ist. Jederzeit kann sie umschlagen von einer, die Ordnungen stiftet, in eine, die Ordnungen vernichtet. Besitzt auch das Gültigkeit für Mozart?

Gemeinsam ist den Deutungen des Eros, dass sie ihn als Extremisten sehen. Und als der gab sich Mozart in seinen Briefen zu erkennen, als den erkannten ihn Menschen, die ihn erlebten. Er konnte an ein und demselben Tag, in ein und derselben Stunde in sich versunken und vergnügungssüchtig sein, Verklärtes komponieren und Obszönes reden, sich zärtlich besorgt geben und eitel, niedergeschlagen und bis zur Überheblichkeit selbstbewusst. Früh schon schleuderte ihn das Leben aus einer Umgebung in eine extrem andere, aus einer warmen in eine kalte, aus einer glänzenden in eine schäbige Welt. Die Sonde Eros kann vielleicht helfen, abzutasten, wie sich das auf Mozart auswirkte. Und ob der Widerspruch sich als eine andere Form der Stimmigkeit erweist, als ein Soseinmüssen.

Beweisen wird sich durch ihren Einsatz nichts lassen. Eindeutigkeiten sind so wenig zu erwarten, wie sie sich bei Mozart finden. Stellen wir das Experiment daher unter Mozarts Devise: gemeint und geschissen ist zweyerley.[21]

Hermann Abert war überzeugt vom gänzlich unphilosophischen Mozart.[22] Hier soll es um den gänzlich philosophischen Mozart gehen.

I.

1756
Poros und Penia

Oder: Sohn eines Strategen und einer Bedürftigen

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Autodidakt (43), gezeichnet von einem Autodidakten (53): Franz Laktanz Graf Firmian (1709–1786), Neffe von Fürsterzbischof Leopold Anton Freiherr von Firmian, Oberhofmeister bei Colloredo und erster Hausherr von Schloss Leopoldskron, hatte sich seine künstlerischen Kenntnisse selbst angeeignet. Wie Leopold Mozart (1719–1787) als Komponist war er als Künstler begabter Laie und hoch produktiv. Von Mozarts Vater sind etwa 250 Werke überliefert. 1762, als dieses Porträt entstand, hatte er eine eigene Komponistenkarriere bereits weitgehend aufgegeben.

Am 26. Januar 1756 setzt sich in Salzburg ein Mann von sechsunddreißig Jahren an seinen Schreibtisch, um einen Geschäftsbrief zu schreiben. Ein kleiner, schlanker Mann mit skeptischem Blick. Der Schreibtisch steht in seinem Arbeitszimmer. Richtig hell ist es in diesem Zimmer nie. Es hat nur ein einziges Fenster zum Innenhof des Nachbarhauses hinaus. Das Zimmer daneben, in dem er mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter schläft, ist noch dunkler. 182 Quadratmeter groß ist die Dreizimmerwohnung mit dem Kabinett und der Küche, die eine halbe Treppe tiefer liegt.[1] Repräsentativ ist sie nicht. Sie liegt im dritten Stock des Hagenauerhauses in der Getreidegasse 9, einer der längsten und lautesten Gassen der Altstadt.[2] Schon bevor der Tag anbricht, entladen und beladen hier die Lieferanten. Von morgens bis abends werden Lasten durchgekarrt. Für einen Umzug in eine bessere Lage und lichtere Räume verdient der Mann am Schreibtisch, auf dem sich die Bücher stapeln, zu wenig. Die Bücher gehen ins Geld. Aber er ist sicher, dass er mit ihrer Hilfe aus dieser Wohnung und aus seiner Situation herausfinden wird. Leopold Mozart ist gebildet und gewitzt. Bisher hat er immer einen Ausweg entdeckt.

Es hatte nicht nach einer außergewöhnlichen Laufbahn ausgesehen für ihn als ältestes von neun Kindern eines Buchbinders in Augsburg. Eher danach, dass er den Betrieb des Vaters übernehmen und kaum aus der Heimatstadt hinauskommen werde. Doch Leopold Mozart stand bereits mit nicht einmal fünf Jahren zum ersten Mal auf der Schulbühne des Jesuitenkollegs Sankt Salvator: als Tänzer, der trainierte, die Schwere zu überwinden. Er schaffte es, auch ins Gymnasium der Jesuiten aufgenommen, ein guter Geiger, Organist und Sänger zu werden und nebenbei noch Tonsatz zu lernen. Als er sechzehn war und gerade die Schule mit der Bewertung ‹gut› verlassen hatte, starb sein Vater. Leopold musste sich um die jüngeren Geschwister kümmern. Aus Sicht der Mutter hätte er nun wohl einsteigen sollen ins väterliche Gewerbe. Er aber begann nach dem Schulabschluss ein zweijähriges Studium der Dialektik und Logik auf dem Lyzeum der Jesuiten und eignete sich nebenbei die Technik des Notenstechens an. Warum er das Studium abbrach, verriet er niemandem. Er weiß: Schweigen kann der beste Ausweg sein, wenn das Ziel noch nicht feststeht. Vermutlich wollte er dem Bannkreis des Augsburger Patriziertums und dem geistlichen Beruf entkommen, über den er ungeniert lästerte.[3] Nach einer Auszeit tauchte er in Salzburg auf. Obwohl es viel über die Machtverhältnisse dort sagt, dass hier im Unterschied zu Augsburg der Dom deutlich höher ist als das Rathaus. Am 26. November 1737, zwölf Tage nach seinem achtzehnten Geburtstag, schrieb sich Leopold Mozart an der Benediktiner-Universität ein. Dieses Mal für Philosophie. Nach einem Jahr, in dem er auch Logik, Ethik, Mathematik und Geschichte gehört hatte, erreichte er ordnungsgemäß den Grad des Baccalaureus. Doch ein Jahr später kam es zum Skandal. Nachdem Leopold Mozart auf eine Verwarnung hin zwar Abbitte geleistet, aber weiterhin Vorlesungen geschwänzt hatte, wurde er im September 1739 wegen Faulheit ausgesperrt. Wer Leopold Mozart als ehrgeizigen Menschen kannte, wunderte sich darüber und vermutete einen passiven Widerstand gegen die Engstirnigkeit der reformbedürftigen Universität. Im Innersten mochte er selbst seinen Hinauswurf gewollt haben.[4] Nach außen hin aber war er mit zwanzig Jahren ein gescheiterter junger Mann, der froh sein musste, als Kammerdiener beim Domherrn Johann Baptist Graf von Thurn-Valsassina und Taxis unterzukommen. Sonst hätte er laut Gesetz als Studienabbrecher innerhalb von drei Tagen Salzburg verlassen müssen. Der Graf war den Künsten, den Armen und dem Wein zugetan und offenbar auch dem dreizehn Jahre jüngeren Augsburger. Er ließ seinem Kammerdiener genügend freie Zeit, um zu komponieren, sechs Sonaten für zwei Violinen und Bass.[5] Allerdings fehlte dem Kammerdiener Geld, sie zu drucken. Auch aus dieser Notlage konnte sich Leopold herausmanövrieren: Er hat seine Werke selbst in Kupferplatten gestochen und gedruckt. Der Arbeitgeber stellte Material und Werkzeug. Ihm widmete der Komponist sein Opus 1: der väterlichen Sonne, wie er es auf Italienisch formulierte, die ihn aus der harten Finsternis der Not auf den Weg zum Horizont seines Glücks gebracht habe.

Diesen Weg ging Leopold Mozart weiter, obwohl er steinig war. Chancen nutzte er ohne größere Skrupel. Seiner jesuitischen Ausbildung auf dem Kolleg Sankt Salvator verdankte er nicht nur seine Kenntnisse in Latein und Altgriechisch, in Geschichte und Grammatik, sondern auch in Dialektik und Rhetorik. Poros, der Listenreiche, war darin geübt, mit den richtigen Argumenten der vermeintlichen Ausweglosigkeit zu entkommen, Menschen und Situationen für sich zu nutzen.[6] Schon 1743 bemühte er sich, als Geiger für Hofmusikdienste übernommen zu werden. Wie üblich bei einem Erstbewerber, durfte er sich nur in die Warteschlange auf eine besoldete Stelle einreihen und musste bis dahin ohne jede Bezahlung als vierter Violinist spielen. Doch anders als viele seiner Musikerkollegen dort war der junge Leopold Mozart ein Mann mit Methode. Zur Methode gehörte bei Leopold die Findigkeit. Da sein Arbeitgeber als amtierendes Mitglied der Regierung Einblick in die Besoldungslisten hatte, kam auch sein Kammerdiener an diese geheimen Informationen heran. So erfuhr er, dass im Etat der Hofkapelle durch die Beförderung eines Hofgeigers und den Tod eines Hofflötisten zwei Besoldungen neu zu vergeben waren. Korrekt war das nicht, aber schlau. Umgehend bewarb sich der Vierundzwanzigjährige um eine der Stellen. Taktisch zum richtigen Zeitpunkt, geschickt formuliert und richtig kalkuliert, was die Höhe des geforderten Gehalts anging. Ende November 1743 wurde er als Hofmusiker des Fürsterzbischofs Leopold Anton Reichsfreiherr von Firmian für 20 Gulden im Monat eingestellt. Außerdem billigte man ihm die übliche Ration Wein und zwei Paar Semmeln pro Tag zu. Er schien erreicht zu haben, was er wollte. Doch bereits im Januar 1745 hob der zum Nachfolger des verstorbenen Firmian gewählte Jakob Ernst Graf von Liechtenstein die Besoldungen der jüngst eingestellten Musiker wieder auf. Erst im Mai 1746 wurden Leopold Mozart monatlich fünf Gulden Honorar zugebilligt, so viel wie eine Dienstmagd oder eine Küchenangestellte verdiente. Im Oktober wurde sein Sold dann auf elf Gulden erhöht, was ungefähr dem Lohn eines Lakaien entsprach. Hinzu kam das, was der Graf ihm weiterhin als Kammerdiener zahlte. Dass er schon seit 1745 nebenher höhere Geldbeträge für seine Oratorien kassieren konnte, brauchte außer der Bruderschaft Corpus Christi, die ihn beauftragte und bezahlte, keiner zu wissen.[7] Obwohl ihm bewusst war, dass er keinerlei Anspruch besaß und nur auf Gnade hoffen durfte, machte Leopold im Juni 1747 nach dem Tod Liechtensteins sofort sein Recht auf höhere Besoldung geltend und drängte auf Schadensausgleich. Mit Erfolg: Im September befand sich Leopold Mozart bereits wieder im Status eines festangestellten Musikers mit 26 Gulden Monatssold. Die erste Etappe war bewältigt. Zeit für einen Neubeginn: Am 19. Oktober 1747 versprach er in der kleinen Kirche von Aigen, einer Idylle vor der Stadt, Anna Maria Pertl die Ehe. Einen Monat später, am 21. November 1747, heiratete er sie im Salzburger Dom.

Die beiden galten als das schönste Paar in Salzburg.[8] Gutes Aussehen, gute Laune und Freude an Musik war alles, was Penia, nur ein Jahr jünger als ihr Poros, in die Ehe eingebracht hatte. Sonst besaß Anna Maria nichts. Nicht einmal eine Ausbildung oder solide Bildung. Ihr Vater war Jurist gewesen und im Amt eines Pflegers in St. Gilgen am Abersee, das zum Fürsterzbistum Salzburg gehörte, ein angesehener Mann.[9] Aber ein mittelloser, weil die notwendigen Ausgaben das magere Gehalt immer überstiegen hatten. Als er starb und seine Frau mit zwei Töchtern von vier und drei Jahren zurückließ, erbte sie nichts als Schulden. Ihre Mitgift war längst aufgezehrt. Sie musste Haushaltsgegenstände versilbern, in eine kleine Wohnung nach Salzburg ziehen und beim Landesherrn immer wieder aufs Neue um ein Gnadengeld bitten, mit dem Eva Rosina Pertl sich selbst und die Kinder durchbrachte. Acht Gulden pro Monat wurden ihr anfangs bewilligt, schließlich neun. Obwohl die ältere Tochter bereits mit neun Jahren starb, reichte das Geld kaum aus. Sowohl die Mutter als auch ihre Jüngere, Anna Maria, waren ständig krank. Das wurde aktenkundig. Weil sich zudem die Sehkraft der Mutter rasch verschlechterte, mussten sie sich eine Hausangestellte leisten und konnten sich mit Handarbeit nur wenig dazuverdienen. Für die Tochter gab es nur eine Möglichkeit, der Armut zu entkommen: eine Heirat.

Geld besaß ihr Mann nicht, nicht einmal Aussichten, in absehbarer Zeit genug zu verdienen, um guten Gewissens eine Familie zu gründen. Er sei, spottete er, mit seiner Heirat dem «Orden der geflickten Hosen» beigetreten.[10] Beide hatten keine betuchte Verwandtschaft, die ihnen im Notfall unter die Arme greifen konnte, und Leopold verdiente zu wenig, um etwas anzusparen. Damit waren sie genauso dran wie der Großteil von Salzburgs 16.000 Einwohnern, deren Lage ausweglos wurde, wenn durch Krankheit oder Tod der Ernährer ausfiel. Eine Pensionsberechtigung gab es nicht einmal für landesherrliche Bedienstete, was schon Anna Marias Mutter zur Almosenempfängerin gemacht hatte.[11]

Penia, die Bedürftige, lernte ihren Poros kennen, als er noch um sein Gehalt kämpfte. Im Ton unterwürfig, in der Sache aber derart selbstbewusst auf sein Recht pochend, wie es wenige hier gewagt hätten. So einer war imstande, jedem Engpass zu entkommen. Schon in der Auswahl seiner beiden Trauzeugen hatte sich der ehemalige Jesuitenzögling aus Augsburg als strategisch klug erwiesen. Der eine, Sebastian Seyser, war im Vorjahr Chorvikar am Salzburger Dom geworden. Der andere, Franz Karl Gottlieb Spöckner, war Tanzmeister im Dienst des Erzbischofs und veranstaltete Bälle, für die Musiker gebraucht wurden. Außerdem war er Antecameradiener. Ein Experte fürs Antechambrieren, ohne das auch hier keiner ins Zentrum der Macht vordrang.

Noch im Jahr der Hochzeit beschloss Leopold Mozart, Unternehmer zu werden. Er fing an, privaten Musikunterricht zu geben. Und er wandte sich an den Augsburger Musikverleger Johann Jakob Lotter, der kurz darauf Leopold Mozarts erstes, selbstgedrucktes Werk, die sechs Triosonaten, vertrieb. Während Anna Maria Mozart jedes Jahr erneut schwanger wurde, erlebte sie mit, wie ihr Leopold unermüdlich weitere Türen öffnete. Er hatte sich zuerst das Kloster Lambach, dann den Hof Oettingen-Wallerstein als Abnehmer für seine Werke erschlossen, neue Vertriebswege für seine Stücke erkundet und durch Inserate oder Programmzettel auf sich aufmerksam gemacht. Den jesuitischen Pragmatismus, der nie davor zurückschreckte, mit ungewöhnlichen Mitteln für seinen Orden zu werben und dessen Pläne durchzusetzen, hatte er mitgenommen, als er sich von dem Gedanken, jesuitischer Geistlicher zu werden, verabschiedete. Werbung und Planung des Leopold Mozart galten jedoch der eigenen Sache und Person. Zwei Jahre nach der Hochzeit gab er ein Drittel seines Monatseinkommens aus, um ein viersprachiges Wörterbuch zu erwerben. Er war entschlossen, sich außerhalb Salzburgs, wo er einen schweren Stand hatte, einen Namen zu machen, auch im Ausland. Für Reisen fehlten ihm die Mittel. Also musste er etwas veröffentlichen, was seine Fähigkeiten einem größeren Publikum bekannt werden ließ.

Mit seinen Kompositionen ist ihm das noch immer nicht gelungen, als er sich am 26. Januar 1756 hinsetzt, um an den Musikverleger Johann Jakob Lotter zu schreiben.

Kein Verlag hat sich bisher bereit erklärt, Leopold Mozarts Werke auf eigene Verantwortung herauszubringen. Auch der junge Lotter hat es bisher abgelehnt. Er ist ein vorsichtiger Rechner, und der Erfolg gibt ihm Recht. Seit er 1747 mit einundzwanzig Jahren das Unternehmen seines Vaters übernommen hat, ist es zum führenden Musikverlag Süddeutschlands gewachsen. Außerdem verlegt Lotter Bücher zu Theologie, Geschichte, Medizin, Mathematik und Rechtswissenschaften und verfügt über eine Monopolstellung. Leopold Mozart bewundert den Geschäftsmann auch als Strategen, denn obwohl Lotter Protestant ist, verdient er vor allem mit der Edition katholischer Kirchenmusik sein Geld. Und er hat den Absatzmarkt ländlicher Gemeinden für leicht zu spielende Kirchenmusik entdeckt.

Das ist der richtige Mann. Ihn hat Leopold Mozart 1755 beauftragt, das Werk zu drucken und zu vertreiben, mit dem er 1756 den Durchbruch schaffen wollte: seine Violinschule. Allerdings musste der Verfasser die Druckkosten selbst bezahlen.

Lotter gegenüber bezeichnete Leopold Mozart sein Manuskript abfällig als Schmiererei, die er nur Versuch einer gründlichen Violinschule nennen will. Doch diese Bescheidenheit täuschte Leopold lediglich aus taktischen Gründen vor. Er setzte hohe Erwartungen in diese Arbeit. Mit ihr wollte er nicht nur als Pädagoge in Österreich, Deutschland, möglichst auch in Frankreich, Italien und England zu einem Begriff werden. Obwohl junge Geigenschüler das kaum erwarten und interessant finden, ist seine Anweisung gespickt mit Verweisen auf die Gelehrsamkeit ihres Verfassers. Lateinische und griechische Zitate, medizinische und historische Erläuterungen, etymologische und mythologische Erklärungen, astronomische und philosophische Exkurse führen vor, was dieser Leopold Mozart alles gelernt hat. Damit auch jeder seine Leistung erkennt, behauptet er in seinem Vorwort, die vorliegende Anweisung zum Violinspiel sei erstaunlicherweise die erste, die es gebe. Mozart weiß, dass das gelogen ist, und Lotter weiß es ebenfalls; er selbst hat im letzten Jahr erst die Rudimenta Panduristae oder Geig-Fundamenta verlegt und kennt als Augsburger wie Leopold Mozart die schon sechzig Jahre zuvor erschienenen Geigenlektionen im Compendium des Augsburger Stadtmusikers Daniel Merck. Außerdem hat Leopold Mozart in Briefen an den Geschäftspartner schon zwei Mal die Werke der Konkurrenten erwähnt, ihm sogar listig geraten, noch vorhandene Exemplare der Rudimenta loszuwerden, bevor sein Werk erscheint.[12]

Leopold Mozarts Eigenwerbung war nicht vergebens. Früh zeichnete sich bereits Interesse für sein Werk ab. Schon Ende November 1755 konnte er Lotter berichten, seine Violinschule werde in Leipzig sehnsüchtig erwartet. Außerdem habe er erfahren, dass man ihn dort zum Mitglied der Korrespondierenden Sozietät der musikalischen Wissenschaften ernennen wolle. Zwar bat er Lotter, die Nachricht von seiner Ernennung für sich zu behalten, weil es peinlich wäre, falls es sich nur um ein Gerücht handeln sollte, doch man spürt seinen Stolz. Ihm ist es wichtig, bei Lotter etwas zu gelten, und zwar für das, was er gelten will. Gewiss hat er erklärt, Lotters Frau überschätze ihn, aber mehrfach betont, was für ein ehrlicher Kerl er sei. Aus gutem Grund. Lotter war in ein Vorhaben seines Salzburger Kunden eingeweiht, das Leopold selbst als Kriegsstrategie bezeichnete. Leopold Mozart wollte seine Mutter in Augsburg dazu bringen, ihm 300 Gulden seines Erbteils vorzuschießen, um so die Drucklegung der Violinschule vorzufinanzieren. Und Lotter als Augsburger Respektsperson sollte ihm dabei helfen, so viel wie möglich herauszuholen. Damit Lotter nichts durch Ehrlichkeit verdarb, erteilte ihm Leopold Mozart genaue Anweisungen, was er zu sagen habe, falls ihn der Nachlassverwalter seines Vaters und Vormund der Geschwister, Herr von Rehlingen, frage, wie hoch die Druckkosten voraussichtlich sein würden: Lotter solle behaupten, das sei noch nicht abzusehen. Es sei möglich, dass sich die Kosten auf 300 Gulden belaufen würden. Das war wohl die größtmögliche Summe, die Leopold Mozart glaubte herausholen zu können.[13] Und er hatte Erfolg.

Als er an diesem Januartag an seinem Schreibtisch sitzt, ist seine Hochstimmung längst verflogen. Das Jahr 1756, in das er so große Erwartungen setzte, hat schlecht begonnen. Eine Ischiasentzündung macht ihm zu schaffen. Aus der Berufung in die Leipziger Sozietät ist nichts geworden. Auch die Hoffnung, dass eine gelungene Aufführung seiner Werke Verleger doch überzeugen könnte, ihn unter Vertrag zu nehmen, hat sich zerschlagen. Mitte Januar waren zwei seiner Programmstücke im Augsburger Gasthaus Zu den drei Königen vom Collegium Musicum aufgeführt worden: die Musikalische Schlittenfahrt und die Bauernhochzeit. Rehlingen hatte Leopold Mozart schon im Vorfeld des Konzerts hinterbracht, wie abfällig in den Musikerkreisen seiner Heimatstadt darüber geredet wurde. Der Misserfolg war abzusehen gewesen. Für Leopold Mozart eine Blamage vor den Augsburger Bekannten und Verwandten. Und eine Blamage vor Lotter.

Der einzige Ausweg ist nun ein Erfolg seiner Violinschule. Dieses Kind soll ihn rehabilitieren bei allen, die ihn geringgeschätzt, herabgewürdigt oder schlecht behandelt haben. Für dieses Kind tut er alles. Und über diesem Kind vergisst er alles andere. Seine Schwiegermutter lag im Sterben, als Leopold Mozart einen seitenlangen Brief an den Geschäftspartner Lotter verfasste und Details verhandelte, bis hin zu dem Porträt, das mit den Unterrichtsmethoden des Leopold Mozart auch sein Gesicht in der musikalischen Welt berühmt machen soll.

Am 26. Januar 1756 ist er wieder dabei, die Geburt dieses Kindes so umsichtig und detailversessen vorzubereiten, dass nichts schiefgehen kann. Doch seine Zeit ist knapp bemessen. Er sei in Eile, beginnt er den Brief an Lotter. Wegen seiner Geigenschüler und wegen der italienischen Operntruppe aus Augsburg, die seit Anfang Januar in Salzburg gastiert. Leopold Mozart hat den Vertrieb der Textbücher zu den aufgeführten Werken übernommen, denn er arbeitet für Lotter als Kommissionsbuchhändler. Das bringt einen Nebenverdienst und Punkte beim Verleger. Dass seine Frau bald niederkommen wird, ist Leopold Mozart nur einen Halbsatz wert. Dann aber füllt er Seite um Seite mit Anweisungen, die seine Violinschule betreffen, mit Beschwerden über Intrigen in Augsburg gegen ihn und Mutmaßungen über deren vermeintliche Drahtzieher. Leopold Mozarts Verbitterung darüber dringt aus jeder Zeile. Seinem Brief an Lotter legt er den eines anonymen Absenders bei, der ihn warnt, weiterhin alberne Stücke wie die Schlittenfahrt oder die Bauernhochzeit zu komponieren; das trage ihm mehr Schande und Verachtung als Ehre ein. Obwohl er sich in der Musikstadt Salzburg mittlerweile als Geiger wie als Komponist einen Platz erkämpft hat, ist es ein enttäuschter und gedemütigter Mann, der sich an jenem Montag im Januar in sein Arbeitszimmer an den Schreibtisch zurückzieht, während seine Frau die ersten Wehen erwartet.

Anna Maria Mozart ist nun schon fünfunddreißig Jahre alt. In den letzten Jahren war es ihr gesundheitlich schlecht gegangen; nach der Geburt des dritten Kindes hatte ihr Mann mehr als die Hälfte seines Monatsgehaltes für ihre Kur in Wildbad Gastein opfern müssen, damit sie wieder auf die Beine kam. Aber sie ist auch seelisch erschöpft nach sechs Entbindungen innerhalb von sechs Jahren. Nur das vierte Kind ist noch am Leben. Kindstode sind üblich. Weniger als ein Drittel der geborenen Kinder überstehen das Säuglingsalter. Trotzdem hat es Anna Maria Mozart angegriffen, fünf ihrer Söhne und Töchter begraben zu müssen, bevor sie sechs Monate alt geworden sind. Im letzten Winter ist auch noch ihre Mutter gestorben, die nach der Hochzeit in die Wohnung der Mozarts eingezogen war und schwach, krank und halbblind mehr Last als Stütze war. Aber doch ein Mensch, mit dem Anna Maria eng zusammengewachsen war in den Jahrzehnten, die sie zu zweit in ihrer Behausung in der Getreidegasse 48 verbracht hatten, oft beide im selben Zimmer im selben Bett liegend. Dass seine Frau kurz vor der Niederkunft steht, erwähnt Leopold Mozart nur kurz zu Beginn seines Schreibens. Die meinige wird bald ihre Reise antreten. Er weiß, dass es bei einer Frau in diesem Alter eine Reise in den Tod werden kann. Sie liegt im dämmrigen Zimmer nebenan.

Einen Tag später, am Dienstag, dem 27. Januar, um acht Uhr abends, wird sie von ihrem siebten Kind, dem dritten Sohn entbunden. Am Mittwoch, dem 28., tauft ihn morgens um halb elf im Dom der Stadtkaplan Leopold Lamprecht nach dem Kirchenvater Johannes Chrysostomus, der an dem Geburtstag des Täuflings Namenstag hat, nach dem mütterlichen Großvater Wolfgang Pertl und dem Taufpaten Johann Gottlieb Pergmayr. Joannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus filius legitimus lautet der lateinische Eintrag im Taufregister. Zwei Wochen später, am 9. Februar, berichtet Leopold Mozart dem Geschäftsfreund Lotter, dass seine Frau entbunden worden sei. Glücklich entbunden, schreibt er. Schließlich haben das Kind und die Mutter die ersten Tage überlebt. Die Nachgeburt hat man ihr wegnehmen müssen, vermeldet er. Sie war folglich erstaunlich schwach.[14] Dass die manuelle Entfernung der Plazenta, wenn sie nicht von selbst abgestoßen wird, notwendig, aber heikel ist, verraten schon die Gebühren, die Geburtshelfer für diesen Eingriff fordern; meist genauso viel wie für die Extraktion eines toten Kindes aus der Gebärmutter. Die Prozedur, die Anna Maria ohne Betäubung hinter sich gebracht hat, ist höllisch schmerzhaft gewesen, der Blutverlust erheblich. Ihrem Mann ist bewusst, dass sie in Lebensgefahr schwebte.[15] Doch als er drei Tage später erneut an Lotter schreibt, ist nichts von Sorge zu spüren, nur von Verdruss, weil ihm die Geburt seines siebten Kindes Geld und Zeit stiehlt. Die vielen Besuche halten ihn vom Arbeiten ab. Mit einer Wöchnerin im Haus sei ein ständiges Kommen und Gehen unvermeidbar, seufzt der Vater. Doch nach wie vor vertraut er darauf, dass ihm seine Violinschule, die im Juli 1756 das Licht der Welt erblicken soll, den Weg zu neuen Ufern bahnen wird. Dieses Kind soll makellos sein, die Öffentlichkeit beeindrucken und seinen geistigen Vater berühmt machen. Während seine Frau sich allmählich erholt, ist Leopold Mozart damit beschäftigt, herumzufragen, wie die Salzburger Bekannten sein Porträt für die Violinschule finden, und Lotter wissen zu lassen, wie schlecht es gelungen sei. Der Kopf sei zu groß geraten, der Hals zu dick, und das Gesicht wirke geschwollen. Er sehe viel zu fett und zu alt aus. Der Vater jenes Kindes, das er wider besseres Wissen als einzigartig ankündigt, darf so nicht aussehen.[16] Leopold Mozart ist verärgert, dass sämtliche Vorsichtsmaßnahmen solche Mängel nicht verhindern konnten. Die Geburt der Violinschule im Juli soll doch der Befreiungsschlag für ihn sein.

Noch ahnt er nicht, dass es sein anderes Kind sein wird, das ihm den Weg ins Freie und den Zugang zur Elite Europas ermöglicht. Und dass dieses Kind, nicht die Violinschule, seinen Namen unvergesslich machen wird.

II.

1761–1763
Zwischen Unverstand und Weisheit

Oder: Ein Kleinkind tanzt, rebelliert und komponiert

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Erste Begabung in second hand: Das Galakleid, in dem Wolfgang Mozart Anfang des Jahres 1763 porträtiert wurde, hatte der jüngste Kaisersohn Erzherzog Maximilian Franz von Österreich (1756–1801) abgelegt. Vater Mozart war dankbar für die Garderobe: «Es ist solches von feinstem Tuch liloa=Farb, Die Veste von Moar [Moiré] nämlicher Farbe». Das Bildnis wird meistens Pietro Antonio Lorenzoni (1721–1782) zugeschrieben. Auch der vierzehnjährige Goethe 1763 sah am 18. August 1763 in Frankfurt Mozart wohl in dieser Aufmachung mit Perücke und der zur Gala gehörenden Waffe: «Ich erinnere mich des kleinen Mannes in seiner Frisur und Degen noch ganz deutlich.»

Keiner konnte damit rechnen, auch Leopold Mozart nicht. Was sich vor zwei Jahren abzuzeichnen begann und nun unbestreitbar ist, raubt ihm die Fassung. Ebenso geht es den Freunden und Bekannten, die in seinem Haushalt verkehren. Es wirft die Pläne Leopold Mozarts für seine weitere Karriere über den Haufen. Dabei ist seine Strategie aufgegangen. Wo er hineinwollte, ist er hineingekommen. Was er sich verschaffen kann, hat er sich, vor allem durch seine Violinschule, verschafft: Anerkennung, Beförderung und Zusatzverdienste. Bereits im Jahr ihres Erscheinens 1756 bekam er eine offizielle Stelle als Geigenlehrer am Kapellhaus, wo die Sängerknaben des Doms unterrichtet werden, und das begehrte Weihnachtssalz; da Salz teuer war, eine beliebte Form des Weihnachtsgeldes. Im Jahr danach erhielt er die Position eines zweiten Geigers und den Titel eines Hof- und Kammerkomponisten. Hinzu kamen vielversprechende Kontakte zu Musiktheoretikern, Komponisten und wichtigen Geistlichen auswärts, eine Steuerermäßigung und eine offizielle Würdigung durch Friedrich Wilhelm Marpurg, einen der prominenten Vertreter der musikalischen Aufklärung in Berlin.[1] Was Marpurg 1757 in seinem Essay über die Salzburger Musikszene veröffentlicht hat, stellt Leopold Mozart genau so dar, wie er sich selbst sieht. Kein Zufall, heißt es in Kreisen von Eingeweihten, der Gerühmte habe den Text selbst verfasst. Der Zweck heiligt die Mittel, der Erfolg die Methode, scheint über Leopold Mozarts Aktionen zu stehen. Das gilt auch für das Schreiben an den Erzbischof, in dem er um Steuererleichterung nachsuchte. Leopolds Argument: Wegen seines Ischias vertrage er kein Bier, müsse also Wein trinken. Nachdem sich aber seine Lebenshaltungskosten bei gleichbleibender Besoldung um die Hälfte verteuert hätten, könne er sich nicht mehr das täglich nötige Quantum Wein leisten. Selbst sein preiswerter Hauswein aus Lambach sei nur bei einer persönlichen Steuerentlastung zu finanzieren.[2]

Die medizinische Begründung war nicht ehrlich, aber so erfolgreich wie die vermessene Behauptung, seine Violinschule sei die erste ihrer Art. Schon ein Jahr nach Erscheinen war ihr Erfolg gesichert. Im Juni 1759 erreichte Leopold Mozart ein Brief aus Berlin, adressiert an ihn als Hochfürstlich Salzburgischen Hofkomponisten. Absender war wieder Marpurg. Er wollte Mozart als Mitarbeiter für seine musikwissenschaftlichen Beiträge gewinnen. Marpurg musste einem lesenden Menschen wie Leopold Mozart ein Begriff sein. Nicht nur durch sein Fugentraktat und seine strafaktenkundige Streitlust. Marpurg, der einst in Paris mit Aufklärern und Enzyklopädisten zusammentraf, ist immer von denen umgeben, die in die Zukunft leuchten. Sein Freund Joachim Winckelmann gehört dazu. Aufgegangen ist dessen Stern in dem Jahr, als Leopold Mozart sein jüngstes Kind, als Poros Eros zeugte. Winckelmanns erste Veröffentlichung, die Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Kunst in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, war ein Sensationserfolg geworden und hatte zwischen Rocaillen, Schnörkeln und Schleifen eine neue Diskussion über das einfach Schöne angefacht. Eine Schönheit ohne alles Zuviel. Eine Kunst ohne Übertreibung. Werke, die Gefühle zum Ausdruck brachten, aber gebändigt. In denen der Schmerz nicht schrie und das Grauen nie zum Ekel ausartete. Sollte das die Ästhetik der Zukunft sein?[3]

Leopold Mozart weiß, dass er Marpurgs Wertschätzung seiner Violinschule verdankt. Er hat Grund, von seinen Fähigkeiten als Pädagoge überzeugt zu sein. Auch privat nutzt er sie. Seine Tochter Maria Anna zeigt sich hochbegabt, und es reizt den Vater, sie als Beweis dafür vorzuführen, dass seine Unterrichtsmethoden auch am Klavier funktionieren. Zu ihrem Namenstag am 26. Juli 1759 hat er der Achtjährigen ein Notenbuch mit einfachen und schwierigeren Übungsstücken geschenkt, das viel benutzt werden soll. Der Halblederband hat lederne Stoßecken, der Einband ist mit Glanzpapier beklebt. Auf dem weißen Etikett steht die Widmung an Mademoiselle Marie Anne MozartinOragna figata fa marina gamina fa4Ave MariaSancta Maria Mater Dei, ora pro nobis peccatoribusDo re mi fa so la si do