Versuch über das Göttliche
C.H.Beck
Vor mehr als 100 Jahren hat Friedrich Nietzsche den Tod Gottes verkündet. Doch offenbar lässt dessen Ableben auf sich warten. Auf dem Markt der Deutungsangebote haben die Religionen sogar wieder Hochkonjunktur. Volker Gerhardt, einer der renommiertesten deutschen Philosophen, bietet dafür eine auf den ersten Blick paradoxe philosophische Erklärung an: Es ist gerade das sich ständig vermehrende Wissen, das der Ergänzung durch den Glauben bedarf.
Wissen benötigt Vertrauen, wenn es uns leiten soll. Da es stets begrenzt und in existenziellen Fragen unzureichend ist, verlangt es überdies nach einem Sinn, der nur angenommen oder unterstellt, erhofft oder geglaubt werden kann. Beides, Sinn und Vertrauen, hat der Mensch aus einer Einheit von Selbst und Welt zu schöpfen, die in ihrer übermächtigen Wirkung wie auch in ihrer umfassenden Gegenwart nur als „göttlich“ bezeichnet werden kann.
Diese Einsicht begründet eine „rationale Theologie“, die auch unter den Lebensbedingungen der Moderne Bestand haben kann. Ihre philosophischen Wurzeln hat sie in der Behandlung des Gottesproblems bei Platon und Kant. Volker Gerhardt nimmt deren Überlegungen auf und zeigt, dass die christliche Botschaft in der Form, die ihr der Apostel Paulus und der Evangelist Johannes gegeben haben, in diese Tradition hineinpasst, auch wenn die Kirchen davon nur wenig aufgenommen haben. Sein Buch weist das Göttliche als rationale Grundbedingung jeder Sinngebung menschlichen Daseins aus und eröffnet jedem Menschen die personale Freiheit, im Göttlichen seinen persönlichen Gott zu suchen und zu finden.
Volker Gerhardt ist Seniorprofessor an der Humboldt-Universität Berlin und einer der angesehensten deutschen Philosophen der Gegenwart. Bei C.H.Beck sind von ihm zuletzt erschienen: „Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins“ (2012) und „Partizipation. Das Prinzip der Politik“ (2007).
Dem Andenken meiner Mutter Elsbeth Gerhardt (28.11.1909–30.8.1995) gewidmet
Vorwort
Einleitung mit Fragen an das eigene Fach
Kapitel 1 Das Ganze lässt sich nicht vergessen Systematischer Impuls vor aktuellem Hintergrund
Kapitel 2 Das Ganze zeigt sich nur in seinen Teilen Die Moderne kann nicht alles sein
Kapitel 3 Der leibhaftige Zugang zum Ganzen Vom sinnlichen Reiz zur Bedeutung der Welt
Kapitel 4 Glauben als Einstellung zum Wissen Die tragende Rolle des Gefühls
Kapitel 5 Der Sinn des Sinns Das Göttliche als Bedeutung der Welt
Kapitel 6 Das Göttliche, Gott und das Menschliche der christlichen Botschaft
Beschluss mit Hinweisen auf die eigene Zeit
Anhang Anmerkungen
Literatur
Glauben ist ein existenzieller Akt. Er umfasst das Ganze eines Individuums und bezieht es auf das Ganze einer Handlungs- oder Lebenslage. Den Glauben in dieser Leistung so zu beschreiben, dass seine Bedeutung für den Menschen kenntlich wird, ist die leitende Absicht des Buches. Es soll zeigen, dass wir vom Glauben nicht loskommen, solange wir noch etwas zu wissen glauben; es führt die Verschränkung von Wissen und Glauben vor und macht deutlich, mit welchen Erwartungen dies geschieht. Dabei vermag es aufzuweisen, dass sowohl mit der ansteigenden Reichweite des Wissens wie auch mit der anwachsenden Macht des technischen Könnens die Defizite größer werden, die dem Menschen scheinbar nur noch die Alternative zwischen Achselzucken und Glauben offenlassen. Ein verantwortlicher, ein dem Selbstverständnis des Menschen einzig angemessener Umgang mit der sich an den Grenzen von Wissenschaft und Technik zunehmend auftuenden Ratlosigkeit ist nur im Glauben möglich.
Damit soll nicht behauptet werden, dass jeder an Gott glauben muss. Zunächst ist nur gesagt, dass jede und jeder irgendetwas immer glaubt, sobald er ernsthaft etwas tut oder lässt. Das gilt selbst für den Schauspieler, der zwar nicht das glauben muss, was er auf der Bühne zu sagen hat, wohl aber, dass es für ihn gute Gründe gibt, Schauspieler zu sein und an Aufführungen mitzuwirken. Bei diesem alltäglichen Glauben setzt die Analyse an. Sie fragt, unter welchen Bedingungen sie steht und was ihr letztlich Sinn verleiht. Angenommen, der Künstler beruft sich nicht allein auf die Sorge um seinen Lebensunterhalt, sondern auch auf die Notwendigkeit der Kunst, ist er augenblicklich bei einem Sinn, der jede ernste Absicht eines Menschen auch dort zu begründen vermag, wo sein Wissen definitiv an eine Grenze stößt.
In diesem die Grenze des Wissens überschreitenden Sinn aber wird das Wissen nicht bedeutungslos. Vielmehr wird es im Ganzen des menschlichen Lebens überhaupt erst gewahrt und gesichert. Folglich ist der Glauben nicht das, was sich vom Wissen löst; schon gar nicht das, was ihm widerspricht, sondern das, was (in seinem stets gegebenen Ausgangspunkt im Wissen) den Zusammenhang zwischen Wissen und bewusster Lebensführung sichert. Glauben ist das Bewusstsein der Überschreitung des Wissens im Vertrauen auf ein Ganzes, zu dem (unter Einschluss des Wissens) nicht nur einfach «alles», sondern insbesondere das Individuum gehört, das den Glauben benötigt.
Früher hätte man eine Untersuchung der vorliegenden Art wohl eine «natürliche» oder «rationale Theologie» genannt. Dagegen hätte ich auch heute nichts einzuwenden, solange klar bliebe, dass diese Art der Theologie seit ältesten Zeiten zur Philosophie gehört. Angesichts der Tatsache, dass eine solche Einbindung gegenwärtig eher Befremden auslösen dürfte, werden Anlage und Vorgehen der Untersuchung mehrfach erläutert, um die systematisch zwingenden Übergänge zwischen der Analyse empirischer, epistemischer und theologischer Begriffe deutlich zu machen. Nach der ausdrücklich so benannten Einleitung bieten auch die ersten beiden Kapitel Hinführungen begrifflicher und historischer Art, die alle das Ziel verfolgen, die dreifache Ganzheit aus Selbst, Welt und Gott zu erläutern, um die es im religiösen Glauben geht.
Das Pathos der nachfolgenden Untersuchung ist darauf gerichtet, die Rationalität des Glaubens auszuweisen. Glauben ist nicht nur auf Wissen gegründet, sondern auch auf die Sicherung des Wissens bezogen. Was ihm in religiöser Erwartung vorschwebt, kann nur durch die Vernunft ermittelt und angemessen nur durch Vernunft verteidigt werden. Weil das so ist, treten Religionen seit Jahrtausenden mit Lehren auf, die, seit es sie gibt, umstritten sind. Auch wenn die Machthaber des Glaubens – und gewiss auch mancher Gläubige – es gern anders hätten: Ihr Glauben schützt sie nicht vor Kritik. Das ist ein Indiz für die innere Rationalität des Glaubens. Sie schließt aber das Gefühl nicht aus. Solange die Vernunft auf das Interesse an ihr und solange das Wissen auf Neugier angewiesen sind, wird auch der Glauben mit Hoffnung, Vertrauen und Liebe einhergehen. Deshalb verteidige ich den Glauben als amor Dei, scheue den Zusatz intellectualis nicht und stelle mich ausdrücklich in die Tradition der rationalen Theologie.
Das geschieht auch deshalb mit besonderem Nachdruck, weil es wesentlich philosophische Gründe sind, die mir die vorliegende Arbeit zu einem Anliegen gemacht haben. Ich stamme nicht aus einem Pfarrhaus, habe zu keiner Zeit mit dem Gedanken gespielt, Theologie zu studieren, und habe es tatsächlich auch nie getan. Stattdessen bin ich gleich zu Beginn meiner wissenschaftlichen Laufbahn gänzlich unspektakulär, ohne das Bewusstsein eines Bruchs und ohne die Absicht, jemanden zu empören oder zu beschämen, aus der Kirche ausgetreten. Fünfundzwanzig Jahre später habe ich diese Entscheidung revidiert – ohne Not und ohne äußeren Anlass, mit dem Glück eines Menschen, der etwas Verlorenes wiedergefunden hat.
Die bis dahin gewachsene Einsicht, dass eine systematisch verfahrende Philosophie das Problem des Göttlichen nicht umgehen kann, war daran nicht unbeteiligt. Mir war deutlich geworden, dass eine Erörterung von Zweifeln und Einwänden nicht genügt. Denn das Göttliche ist eine Macht im menschlichen Leben. Man muss fragen, was sie bedeutet, auch wenn man beste Gründe dafür hat, Gott nicht für einen wie auch immer beschaffenen Gegenstand zu halten. Wäre Gott ein Ding unter Dingen, ein «Etwas» (nur größer, mächtiger und klüger als alles, was uns sonst auf der Erde begegnet), wäre wohl kein Philosoph jemals auf die Idee verfallen, dieses Etwas als «Gott» anzusehen. Umso mehr ist die Philosophie seit mehr als zweieinhalbtausend Jahren darum bemüht, die Wirklichkeit und Wirksamkeit des Göttlichen angemessen zu erfassen. Dabei hat sie beachtliche Einsichten gewonnen. Doch die leuchten vielen heute offenbar nicht mehr ein. Deshalb kommt es darauf an, sie auf neue Weise verständlich zu machen.
Mit dieser gleichermaßen historischen wie systematischen Absicht unterbreite ich einen Vorschlag, der jüngste Einsichten aufnimmt, ohne damit ältesten Erkenntnissen zu widersprechen. Der historische Aspekt wird dabei nur beiläufig illustriert. Alle Anstrengung ist auf die sachliche Erörterung konzentriert, die zeigen soll, wie sehr das Göttliche zu der Welt gehört, in der wir uns als Menschen zu begreifen suchen. Der Schwierigkeit, das Neue verständlich zu machen, suche ich durch Anschaulichkeit und exemplarische Erläuterungen sowie durch eine einführende Einleitung Rechnung zu tragen.
Erneut schulde ich Vielen Dank. Aus dem großen Kreis derer, die mir Anregungen gegeben und mich oft schon durch ihr Interesse an meinen Überlegungen gefördert haben, möchte ich namentlich meine theologischen Kolleginnen und Kollegen erwähnen. Es sind Christine Axt-Piscalar, Helge Adolphsen, Jörg Dierken, Christof Gestrich, Wilhelm Gräb, Dietrich Korsch, Rudolf Langthaler, Eckart Reinmuth, Johannes Röser, Richard Schröder und Martina Trauschke. Mit ihrem Interesse haben sie keineswegs schon ihre Zustimmung zum Ausdruck gebracht; aber sie haben mir Zuversicht gegeben.
Aus der Philosophie hat mich vor allem der Gegenwind der Argumente von Birgit Recki, Marcus Willaschek und Héctor Wittwer gestärkt. Ähnlichen Gewinn habe ich aus dem «frommen» Atheismus Herbert Schnädelbachs gezogen. Martin Rosie hat durch aufmerksame Lektüre wesentlich zur Verbesserung des Textes beigetragen. Besonders geholfen haben mir die kritischen Nachfragen aus platonischer Sicht, denen mich Bettina Fröhlich ausgesetzt hat. Jonathan Beere danke ich für seine minutiöse Rekonstruktion des Gottesbegriffs bei Aristoteles.
Christian Polke, dem ich eine hilfreiche Aufklärung über Jacobi und gelehrte Urteile über Theologien und Religionsphilosophien der Gegenwart verdanke, war so freundlich, eine ältere Fassung des Manuskripts zu lesen. Die Menge der von ihm gestellten Nachfragen hätte mich zur Aufgabe meines Vorhabens genötigt, wenn nicht am Ende sein freundlicher Zuspruch überwogen hätte. Ich bin ihm für beides, Kritik und Ermunterung, verpflichtet und gestehe ihm zu, dass ich im Interesse der Schule die Parallelen zum amerikanischen Pragmatismus, zu den modernen Klassikern der Soziologie und zu manchem Theologen des 20. Jahrhunderts hätte ausziehen müssen. Aber wem schmerzlich bewusst ist, dass er Aristoteles und Cicero, Plotin, Augustinus und Nikolaus von Kues, Erasmus, Montaigne und Pascal, Spinoza, Leibniz und Rousseau, Spalding, Schleiermacher und Hegel einfach überspringt, auch Karl Jaspers und Dieter Henrich, denen er viel verdankt, kaum Erwähnung tat, der muss auf Verständnis rechnen können, wenn er einige ihm und seinen Lesern zeitlich näher stehende Autoren als weitgehend bekannt voraussetzt. Wenn von den Neueren etwas direkt aufgenommen wird, ist ein Nachweis hinzugefügt.
Schließlich habe ich den Zuhörern meiner beiden Berliner Vorlesungen zum Gottesproblem zu danken. Ihr Interesse, das sie trotz größter Skepsis nicht verloren haben, hat mir nicht nur manche ergänzende Erläuterung abgenötigt, sondern auch die Hoffnung gegeben, nicht unverständlich zu sein. Ich hätte nie gedacht, dass man auf dem Boden der ehemaligen «Hauptstadt der DDR» zwei Semester lang mit einer philosophischen Erörterung des Glaubens an Gott den Weierstraß-Hörsaal der Humboldt-Universität füllen kann.
Vorauszuschicken ist noch ein Wort zum Sprachgebrauch: Man kann «Glaube» und auch «Glauben» sagen. Theologisch dominiert der «Glaube» an Gott, und der Duden lässt beides zu. Lange Zeit habe ich über die Verwendung intuitiv nach dem Klang, gleichsam musikalisch, entschieden. Mit dem Nachdenken gewann ein rationaler Grund für nur eine Redewendung die Oberhand: Ich spreche nunmehr durchweg von «Glauben» statt von «Glaube», weil «Glauben» dem Verb nähersteht und damit Haltung und Tätigkeit, die der Glauben ist und die er von uns fordert, exponiert. Der Glauben ist kein fester Besitz, keine unter allen Bedingungen gleiche Fähigkeit, und er ist in allem ein uns stützendes, ein erhebendes Gefühl. Auch wenn wir ihn als ein Glück zu begreifen haben, das uns Kraft gibt, Schweres und Schwerstes zu bestehen, bleibt er dennoch eine Leistung, die uns das Leben nicht erst am Ende abverlangt, sondern tagtäglich von uns fordern kann, sobald es uns um etwas geht.
Berlin/Hamburg, den 25. Februar 2014
Volker Gerhardt
«Gott ist das aller Mitteilsamste.»
(Meister Eckhart, Dt. Pred. 10)
1. Die Ausgangslage. Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde das für alle Studierende obligatorische Eingangstutorium eines Philosophischen Instituts an einer großen deutschen Universität alljährlich mit der autoritativen Feststellung des tonangebenden Hochschullehrers eingeleitet, dass Gott tot sei. Gott, so sollten die Studienanfänger von vornherein wissen, sei in der Philosophie kein Thema mehr. Und das sei gut so, weil es Gott ja nicht mehr gebe.
Zum Glück ist es in diesem Institut nie so weit gekommen, dass man über niemanden gesprochen hat, der schon gestorben war. Die Texte toter Philosophen wurden durchaus noch behandelt, und wenn in ihnen das «Nichts» zur Sprache kam, konnte es auch erörtert werden. Aber der für tot gehaltene Gott war aus der Themenliste gestrichen. Den Verlust, den das für ein Fach bedeutet, das aus der Beschäftigung mit Gott erwachsen ist und das sich, wie kein anderes, mehr als zweitausendfünfhundert Jahre mit Gott befasst, konnten die Studienanfänger nicht ermessen. Doch das Armutszeugnis, das der renommierte Philosophielehrer sich selbst immer wieder von neuem ausstellte, hätte kaum größer ausfallen können. Zum Glück hält er sich inzwischen selbst nicht mehr an seine alte Maxime: Er ist zu einem der prononciertesten Kritiker des Glaubens geworden. Das nötigt ihn, viel von Gott zu sprechen, und für seine scharfsinnigen Einwände verdient er den größten Respekt.
Man bedenke aber, dass der in vielen philosophischen Zusammenhängen über Jahre hinweg geforderte Verzicht auf die philosophische Beschäftigung mit dem Gottesproblem nach wie vor mit dem Zitat eines Philosophen begründet wird, der mit seinem Wort zunächst nur kenntlich machen wollte, wie schwer es dem Menschen fällt, von Gott loszukommen. Und selbst wenn es leicht fiele: Wie will man die Behauptung vom «Tod Gottes» erörtern, wenn über Gott nicht gesprochen werden soll? Wie will man sie verstehen, wenn man nicht zu ermitteln sucht, was die Vorstellung von Gott dem Menschen bedeutet – oder zumindest einmal bedeutet hat? Wie kann man als Philosoph an der Einsicht vorbei, dass die Großen des Fachs von Anfang an davon ausgegangen sind, dass die Gegenwart Gottes nirgendwo anders als im Selbstverständnis des Menschen liegt? Und sollte man als Philosoph tatsächlich vergessen haben, dass die Widerlegung der Beweise für die Existenz Gottes überhaupt erst die Voraussetzung für einen – auch wissenschaftlich angemessenen – Zugang zum Göttlichen geschaffen hat?
Friedrich Nietzsche hat sein Wort vom «Tod Gottes» zunächst einem «tollen Menschen» (FW 125) und wenig später auch der von ihm selbst erfundenen altpersischen Kunstfigur seines Zarathustra in den Mund gelegt (Z, Vorr. 2). Das hat ihn selbst nie daran gehindert, über Gott zu sprechen. Damit soll nicht behauptet werden, dass er nicht auch selbst an seine literarisch stilisierte Todeserklärung glaubte. Seine späten Schriften lassen tatsächlich den Eindruck entstehen, die Zukunft des sich selbst überwindenden Menschen hänge daran, dass er auch Gott überwinde. Nietzsches Antichrist ist die aus tiefer Verletzung stammende Abrechnung mit jenen, die sich unter Berufung auf Gott zu entlasten suchen. Und er verachtet alle, die daraus einen Beruf oder ein Geschäft zu machen verstehen; erst recht jene, die damit Belastungen für andere erfinden, um sich selbst Vorteile zu verschaffen. Deshalb ist es nur konsequent, dass Nietzsche den die Liebe vorlebenden «Sohn Gottes», den «Hebräer Jesus», von seinem vernichtenden Urteil ausnimmt.
Je entschiedener seine Kritik sich Bahn bricht, umso mehr spricht Nietzsche von Gott. Und um sich durch ihn nicht länger dem Leben entfremden zu lassen, sucht er mit größter Intensität nach dem Sinn des Glaubens an ihn. Niemals zuvor hat ein Denker seinen Lesern so anschaulich vor Augen geführt, was der Verlust des Glaubens für die Lebensführung des Menschen bedeutet. Bei Platon ist es der zeitweilige Rückzug der Götter, der die Menschen nötigt, die alleinige Zuständigkeit für die polis zu übernehmen – bis die Götter sich eines Tages wieder ihrer angestammten Aufgabe annehmen (Politikos 272d–274e). Ganz ähnlich betont Nietzsche die «Verantwortung», die der Mensch nach dem Tod Gottes zu tragen habe; nunmehr sei der Mensch als einziges Lebewesen mit dem «grossen Privilegium der Verantwortlichkeit» ausgezeichnet. Während der Tod Gottes am Kreuz noch ganz in die Verantwortung des göttlichen Vaters falle, vergieße der Mensch mit dem modernen Gottesmord sein eigenes Blut (GM 2, 2; FW 125).
Gesetzt, die mörderische Diagnose trifft zu: Wie kann der Mensch die von Nietzsche ins Ungeheuerliche gesteigerte Tat überhaupt verkraften? Hat er damit nicht die Erde von der Sonne «losgekettet»? Hat er nicht, wie mit einem «Schwamm», den «ganzen Horizont» weggewischt und das Meer «ausgetrunken»? Die Unterschiede zwischen oben und unten, rechts und links sowie zwischen Land und Meer sind aufgehoben, und alles, was dem Sinn des Menschen bislang einen Halt geben konnte, ist vernichtet. Damit ist der Sinn des menschlichen Handelns selbst verloren, und alles Dasein wird zu einem unausgesetzten Sturz: «Stürzen wir nicht fortwährend?» (FW 125).
Es ist klar, dass es unter diesen Bedingungen nicht nur nicht mehr möglich wäre, aufrecht zu stehen und geradeaus zu gehen: Auch das Wissen verlöre jeden Sinn, und mit ihm würden Wissenschaft und Wahrheit zu einem absurden Theater. Scheint es damit nicht konsequent, auch auf Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst zu verzichten (FW 344)? Damit aber wäre nicht nur jede Erkenntnis, sondern auch jede Selbsterkenntnis des Menschen obsolet.
Mit dieser Konsequenz – sofern unter diesen Bedingungen überhaupt noch von Konsequenz die Rede sein kann – reiht Nietzsche sich via negationis in die Ahnengalerie der von ihm geschmähten Philosophen ein: Denn von Sokrates und Platon bis hin zu Rousseau, Kant, Fichte, Schelling und Hegel ist die Selbsterkenntnis der Königsweg zur Einsicht in das Göttliche. Wenn der Gottesmord am Ende nun aber die Selbsterkenntnis des Menschen nicht nur unmöglich, sondern auch sinnlos macht, ist das gewiss das stärkste Argument, das je für die Unverzichtbarkeit Gottes vorgetragen worden ist.
Dabei ist Nietzsches Motiv höchst ehrenwert. Er glaubt, dass sich der Mensch durch die objektivistischen Suggestionen des Wissens und der Wahrheit von sich selbst ablenken lässt. Da er, noch ganz im Bann seiner religiösen Erziehung, annimmt, dass der Glauben an die Existenz Gottes Wissen und Wahrheit verbürgt, lastet er Gott die Schuld an der bis in die Seele des Einzelnen hineinreichenden Selbstentfremdung an. Dieser Einflussnahme von allerhöchster Stelle möchte er, erst recht im Bann seines pietistischen Erbes, ein Ende machen, damit der Mensch sich endlich «selbst überwinden» kann (J, Nachgesang). Nietzsche, hierin nunmehr ganz Romantiker, möchte auch noch das Innere des Menschen vor der Entfremdung bewahren. Während sich der politisch-ökonomisch orientierte Karl Marx damit begnügt, nur das Kapital unter Anklage zu stellen, und seine Epigonen auch die Technik und ein ganzes Sammelsurium von instrumentellen Leistungen für die Selbstgefährdung der Menschheit verantwortlich machen, ist es für den wahrhaft radikal denkenden Nietzsche das auf die Wahrheit gegründete Wissen, das die décadence unausweichlich macht.
Mit dieser hochtheoretischen Konstruktion, die ihn in den letzten Jahren seiner Autorschaft wiederholt beschäftigt, hat Nietzsche seine These von der Notwendigkeit des Todes Gottes begründet, zugleich aber auch das größte Fragezeichen hinter seine kühne Behauptung gesetzt. Denn abgesehen davon, dass er mit seinem Gottesbegriff weit hinter den Einsichten zurückbleibt, die in der Philosophie gerade mit Blick auf Wissen und Wahrheit längst gewonnen sind, muss er sich fragen lassen, was der Tod Gottes denn eigentlich erbringen soll, wenn der Gewaltakt den Menschen nicht zu der Selbstständigkeit befreit, in deren Verhinderung die angebliche Schuld Gottes liegen soll? Denn wenn nach seinem Tod sogar die Selbsterkenntnis ihren Sinn verliert, ist, zumindest für den von Nietzsche geforderten Menschen, alles verloren, weil es mit ihm auch sinnlos wird, von der «Selbstüberwindung» zu reden.
Aber das ist nicht alles. Nietzsche verlangt vom Menschen, sich mit dem Verzicht auf das Wissen auf die pure Leiblichkeit zu beschränken und seine Lebensmittel (einschließlich seiner geistigen Leistungen) allein aus der Selbstbezüglichkeit des Leibes zu gewinnen. So treffend und erhellend es ist, von der «grossen Vernunft des Leibes» zu sprechen (Z 1, 3): Es kann gar nicht sein, dass die Vernunft allein aus der Selbstorganisation des nur auf sich selbst bezogenen Körpers hervorwächst. «Selbst» und «Ich» laufen keineswegs nur am «Gängelband» des Leibes, der sich mit ihrer Hilfe auf sich bezieht (Z 1, 3): Sie sind immer auch Funktionen der sozialen Einbindung des Leibes in die (mit der Welt auf die Welt) gerichteten Verständigung mit zahllosen anderen Leibern (FW 354).
Jeder reflexive Akt eines Leibes steht ursprünglich unter dem Einfluss anderer ebenfalls reflexionsbegabter – und darin als prinzipiell gleich erfahrener – Leiber. Somit zieht die Entfremdung nicht erst mit dem Wissen und der Wahrheit ein; sie liegt bereits darin, dass jemand sich als «Selbst» und «Ich» auszeichnet. Denn das tut ja jeder andere auch. Eine rein leibliche Aktivität könnte die Funktion eines selbstbewussten Ich gar nicht ausfüllen, weil es gar nicht am «Gängelband» nur eines Leibes läuft, sondern zwischen den Leibern in einer nicht bloß körperlichen Weise vermittelt. Erst in der (die Welt immer auch als Mittel einsetzenden) Verständigung kann sich der Leib als ein selbstbewusstes Individuum präsentieren. Und das, was er sich und seinesgleichen in dieser sozialen Funktion mitteilt, ist eben das, was wir bewusst und geistig nennen.
Sosehr jeder Mensch Leib ist, der in die generative Kette vieler Leiber gehört und sich nur im sozialen Konnex mit anderen Leibern erhalten kann, so können sich die Menschen nur im Medium eines sie in jedem Ausdruck und Eindruck bereits vorab verbindenden Bewusstseins durch sachhaltige Mitteilung verständigen. Nur in diesem Bewusstsein können sie «in sich» gehen, und nur in ihm können sie sich «äußern». Dieses auf Mitteilung angelegte Bewusstsein nennt auch Nietzsche «Geist», dem er in der Gestalt des «freien Geistes» zutraut, die décadence zu überwinden und dem Menschen, trotz allem, eine Zukunft zu eröffnen.
Das hat Folgen, die Nietzsche durchaus hätte bedenken können. Denn es ist ihm ja möglich, den Leib als «Gesellschaftsbau vieler Seelen» und das Bewusstsein als einen Akt der «Mitteilung» zu begreifen (J 12 u. 19). «Bewusstsein», so sagt er, sei «eigentlich nur ein Verbindungsnetz zwischen Mensch und Mensch» (FW 354). Aber eine Konsequenz für das Selbstverständnis des Individuums zieht er daraus nicht. Der Einzelne bleibt in sein «Bewusstseinszimmer» eingesperrt und kann nur durch die «Spalten» in den Wänden etwas von dem erraten, was draußen vor sich geht (WL 1; 1, 877). Erst ein solches skeptizistisches Missverständnis legt es nahe, Wissen und Wahrheit als Agenten eines äußeren Zwangs anzusehen und sie als etwas Fremdes zu beargwöhnen. Deshalb kann Nietzsche auch kein Verständnis dafür haben, dass Gott, in dem der Mensch seine Wahrheit sucht, als das dem Menschen Nächste begriffen wird. Hier wird er tatsächlich zum Antipoden Platons und – zum Widersacher seiner selbst.
Zu solchen Antipoden und Widersachern müssten wir alle werden, wenn es uns gelänge, uns nur als Leib zu begreifen. Gewiss würde das manches erleichtern. So brauchte sich niemand die Mühe zu geben, ein «freier Geist» zu werden oder als ein solcher gelten zu wollen. Selbst das poetische Bild von der «Flamme», die wir «sicherlich» sein sollen (SLR 62; 3, 367), ließe sich nicht verstehen, weil es Wahrnehmung durch andere «Flammen» unterstellt. Das nur für sich selber flackernde Licht des Selbstbewusstseins kann nicht schon alles sein. Denn es liegt in der Logik des notwendig auf Andere und auf anderes seiner selbst bezogenen Bewusstseins, dass es als Licht auch anderen in deren Licht erscheint und sich dabei auf eine Welt bezieht, in der – neben dem Licht – auch das vorkommt, was im Licht erscheint. Und wenn wir, dem späten Nietzsche entgegenkommend, unterstellen, dass alle Menschen in dasselbe «Bewusstseinszimmer» eingesperrt sind, müsste derart viel Welt im Zimmer sein, dass es einfach lachhaft wäre zu behaupten, die «wahre Welt» sei außerhalb des Raums. Was man durch die Ritzen der Wände dieses Raums erraten könnte, kann in der Tat nur die «Hinterwelt» sein.
Die wirkliche Welt im gemeinsamen Verständigungsraum der Menschen, also die Welt, die Gegenstand, Voraussetzung und Rahmen aller bewussten Mitteilung ist, ist nun aber nicht ohne einen Sinn zu denken, den jeder sowohl in ihr wie auch in sich zu finden vermag. Und dieser, gewiss nur im Bewusstsein vorkommende, notwendig auf Andere und anderes bezogene Sinn, steht unter der Erwartung, allen, die über Bewusstsein verfügen, etwas zu bedeuten. Kann das aber sein, wenn vorab entschieden sein soll, dass es unsinnig ist, nach seiner Bedeutung zu fragen? Kann diese Bedeutung ohne die Wahrheit sein, die wir auf geradezu natürliche Weise mit ihr verbinden? Müssten wir nicht wenigstens an sie glauben, damit die Bedeutung ihre Bedeutung oder der Sinn seinen Sinn behält?
2. «Vielleicht alles sinnlos?» Die aus der kritisch prüfenden Lektüre Nietzsches folgenden Fragen an das eigene Fach verweisen auf Bewusstseinsleistungen, die ein in Gemeinschaft mit seinesgleichen lebendes, technisch hantierendes, auf Zukunft gerichtetes und unvermeidlich unter Unsicherheitsbedingungen stehendes Dasein ermöglichen. Man braucht den Erwägungen nur wenige Schritte nachzugehen, und schon kann man nicht mehr behaupten, die «Wirklichkeit» und die «Wahrheit» könne es nicht geben. Es gibt sie zumindest in dem Sinn, in dem wir uns verständigen. Und obgleich wir uns häufig missverstehen, ist doch an der Tatsache der Verständigung so wenig zu zweifeln wie daran, dass sie nicht ohne den Unterschied zwischen «wahr» und «falsch» auskommen kann. Sie ist überdies darauf angewiesen, sich auf Tatbestände in der Welt zu beziehen, und kann daher auch nicht leugnen, dass sie die Welt mindestens als Rahmenbedingung ihrer semantischen Leistungen benötigt.
Die Welt ist damit nicht nur die notwendige Voraussetzung zwischenmenschlicher Kommunikation, sondern auch des jeweiligen Selbstverständnisses der an ihr beteiligten Individuen. Im logischen Schluss auf die Welt haben wir den Eindruck, von ihr zu wissen; im Großen und Ganzen aber können wir nur darauf vertrauen, dass sie so, wie wir sie aufgrund vergleichsweise geringer Kenntnisse erschließen, tatsächlich ist und bleibt.
Das aber heißt: Wir glauben an die Welt, in der wir sind. Und sie kann von uns, wenn sie uns in einer exemplarischen Ansicht als übergroß und übermächtig, vielleicht sogar als staunenswert, schön oder erhaben gegenübertritt, als göttlich erfahren werden. Und wenn wir das Göttliche der Welt als etwas uns personal Entsprechendes annehmen, können wir es, sofern wir uns selbst als Person begreifen und in ihr ein persönliches Gegenüber suchen, als Gott ansprechen. Das ist die theologische These des vorliegenden Buches.
Diese These bleibt von der Einsicht, nach der die Welt sinnlos «ist», unberührt. Für sich genommen, hat gar nichts einen Sinn – weder die Sonne noch der Mond, die Erde oder das Leben, das sich auf ihr regt. Mit dieser Feststellung hat schon Kant eine seiner frühen Vorlesungen begonnen (Naturrecht 27, 2,2, 1319). Demgegenüber bleibt Zarathustras Rede vom «Sinn der Erde» reine Poesie. Der schwer erkrankte, inzwischen verstorbene Schriftsteller Wolfgang Herrndorf ließ sich mit einem Zettel fotografieren, auf dem zu lesen steht: «Weltformel nicht in Sicht. Vielleicht alles sinnlos?» Das «Vielleicht» hätte er sich der tapfere Autor ebenso sparen können wie das Fragezeichen. Wenn «alles» nur das ist, was es in aufzählbaren Sachverhalten gibt, ist nichts sinnloser, als nach dem Sinn der Welt zu fahnden.
Doch die Lage ändert sich augenblicklich, sobald wir, anstatt von einer «Weltformel» objektive Auskunft zu erwarten, von uns selbst ausgehen und die «Selbstformel» als das Paradigma ernst nehmen, an das alles Suchen nach Sinn und Bedeutung gebunden ist. Für die «Selbstformel» ist der Sinn bereits konstitutiv. Hier brauchen wir ihn noch nicht einmal zu suchen, sondern er gehört bereits zu den allgemeinen Bedingungen unserer Frage, die ohne ihn schon als Frage gar nicht verständlich wäre. Wenn Helmuth Plessner 1946 von der «unergründlichen Ergründbarkeit» der Welt spricht (Mensch und Tier, 8, 61), gibt er dieser sich dem Menschen öffnenden Sinndimension der Welt einen Namen. Die Sinndimension ist die Voraussetzung dafür, in der Welt überhaupt nach einem Sinn suchen zu können. Man müsste schon das Fragen verbieten, wenn man die Suche ausschließen will. Aber selbst das Verbot würde noch einen Sinn verfolgen, nach dessen Sinn dann vermutlich gar nicht oder nur in einem begrenzten Umfang gefragt werden dürfte.
Wenn aber der Sinn in der Lage ist, eine Frage als Frage auszuzeichnen, kann er nicht, wie es wohl der herrschenden Ansicht entspricht, als «bloß» subjektiv gelten. Denn in ihm müssen sich nicht nur verschiedene Fragesteller, sondern auch alle einig sein, die ebenfalls eine mögliche Antwort erwägen, ganz gleich, ob sie positiv oder negativ ausfällt. Überdies dürfte schwerlich zu leugnen sein, dass eine Frage zu den objektiven Strukturmerkmalen einer ja stets von vielen Menschen gesprochenen Sprache gehört. Also braucht man nur daran zu erinnern, dass sich Fragen in verschiedenen Sprachen stellen und in der Regel auch in alle Sprachen übersetzen lassen, um kenntlich zu machen, dass ihr Sinn nicht nur ein Moment der gesprochenen Sprachen, sondern bereits des Bewusstseins ist, das sich in ihnen artikuliert. Also hat der Sinn schon im Bewusstsein des einzelnen Menschen einen Rang, der sich nicht als «bloß» subjektiv qualifizieren lässt. Es ist vielmehr so, dass er nicht nur eine objektive, sondern überdies eine die Objektivität einer Mitteilung allererst ermöglichende Stellung innehat.
Wir könnten selbst von einer «Weltformel» nicht sprechen, wenn es nicht den Sinn gäbe, der es uns ermöglicht, uns so auf die Welt und ihre Elemente zu beziehen, dass andere uns folgen. Gestehen wir unter diesen Bedingungen schließlich noch zu, dass es angemessen wäre, den stets gegebenen Anteil des Selbst in jeder möglichen Mitteilung über die Welt in Rechnung zu stellen, haben wir sogar darauf zu dringen, dass die Rede von einer «Weltformel» nur sinnvoll ist, wenn wir sie als «Selbst- und Weltformel» verstehen. Und in ihr ist der Sinn nicht etwas, das darin nicht gefunden werden kann. Er ist im Gegenteil das wesentliche Element, aus dem die Welt besteht, die freilich – als Welt – nur von einem Selbst gedacht werden kann.
Von diesem Sinn, in dem wir durchschnittlich leben, als sei er uns bekannt, und der uns verzweifeln lässt, sobald er fehlt (und dennoch die Verzweiflung trägt), handelt das vorliegende Buch. Es sucht zu zeigen, dass alles, was wir mit einer über den Augenblick hinausgehenden Sinnerwartung tun, auf einen tragenden Sinn des Daseins vertraut, in dem wir mit dem Ganzen verbunden sind. Unter dem Eindruck dieses uns stützenden und fördernden Sinns gewinnen wir die rationale Zuversicht, der zu sein, der wir sind oder sein möchten, um dort, wo es uns wichtig erscheint, über uns selbst hinauszugehen. Darauf beruht alles, was wir als kulturelle Leistung schätzen.
Suchen wir diesen Sinn zu benennen, haben wir die Freiheit, alles anzuführen, was uns so überzeugend erscheint, dass wir auf Zustimmung Gleichgesinnter rechnen können. Was immer eine auf gute Gründe und ernste Absichten gestützte Einigkeit einer größeren Zahl von Menschen rechnen kann, kommt als ein solcher Sinn in Frage. In der Regel dürfte dabei der Anspruch bestehen, möglichst viele, vielleicht sogar alle Menschen in diesem Sinn vereinigt oder durch ihn erklärt zu sehen. In der Antike war vorzüglich vom Ruhm, vom Glück oder auch nur von der Lust die Rede, die mit der Erwartung langer Dauer verbunden war. Es gab auch den – bis heute zu findenden – Wunsch nach ewigem Leben und nach Erlösung.
Diese und andere Sinnerwartungen entstehen, wenn man ein im Leben sich stets nur begrenzt einstellendes Erleben ohne Unterbrechung und auf lange Sicht genießen können möchte. So kann das Gefühl der Überlegenheit oder des Erfolgs mit dem Verlangen nach Steigerung und nach Dauer verknüpft werden. Aber die Perspektive der Unendlichkeit ist keineswegs zwingend. Man kann sich auch mit einer als groß angesehenen und hoch bewerteten Aufgabe zufriedengeben, die man wenigstens in Angriff genommen und für die man alles gegeben hat, was in den eigenen Kräften steht. So dürfte man heute gewiss nicht wenige finden, die den Sinn ihres Lebens darin sehen, ihr Leben in großen Zügen, in äußerster Konzentration, in höchster Sichtbarkeit, mit allseitiger Anerkennung oder einfach bewusst, klug und exemplarisch zu führen. Manchen mag auch ein lange gesuchtes oder nie für möglich gehaltenes Glück im Augenblick genügen.
Alles dies ist möglich, und es ist durchaus mit Blick auf die Umstände, die vorhandenen Kräfte und die Ansprüche des Individuums zu begründen. Gleichwohl gibt es gute Gründe, allen diesen Sinnerwartungen einen sie fundierenden Sinn zu unterlegen, der ihnen einen von den jeweiligen inneren und äußeren Bedingungen unabhängigen Status verleiht. Und zur Kennzeichnung dieses allgemein gefassten, den Lebensvollzug im Ganzen fundierenden Sinns bietet sich, so meine ich, bis heute kein besserer Begriff an als der des Göttlichen. Und wo es einem Menschen gelingt, sich zu diesem Göttlichen in ein ihn persönlich berührendes Verhältnis zu setzen, hat er einen guten Grund, das Göttliche als Gott anzusprechen. Dagegen ist aus Sicht der Philosophie kein Einwand zu erheben, und es wird durch nichts entkräftet, was es Individuen im Einzelfall unmöglich macht, an ihrem Glauben festzuhalten.
3. Der Gang der Untersuchung. Die in sechs Kapiteln vorgetragenen Überlegungen sind von der Überzeugung getragen, dass der Sinn des Menschen eine Realität ist, ohne die er nicht leben kann. Die vor uns liegende Analyse wird kenntlich machen, wie sehr uns der Sinn in unserer physischen, sozialen, psychischen, logisch-semantischen und intellektuellen Existenz umfasst; sie soll zeigen, wie Glauben und Wissen aufeinander angewiesen sind, und wie man das Göttliche als das begreifen muss, was uns die Welt bedeutet. Dabei stellt sich wie von selbst die Einsicht ein, dass es abwegig ist, nach der gegenständlichen Existenz Gottes auch nur zu fragen. Nicht weniger abwegig ist die Umkehrung des Kindermärchens vom «lieben Gott», der einst «im Himmel» gethront haben und nunmehr «tot» sein soll. Und vollkommen verdreht ist die Vermutung, Gott sei durch die «Schuld» der Wissenschaft treibenden modernen Menschen «getödtet» worden.
Demgegenüber ist deutlich zu machen, wie wenig man von sich und seiner Welt versteht, wenn man auf die Frage nach dem Sinn des eigenen Handelns verzichtet. Die ernst genommene Frage nach dem Sinn des eigenen Daseins ist es, die uns mit Notwendigkeit auf ihren existenziellen Grund: den unser Dasein tragenden Sinn aller uns wesentlichen Sinnperspektiven führt. Ihn kann man in Übereinstimmung mit einer zweieinhalbtausendjährigen philosophischen Tradition das Göttliche nennen, das in der Suche nach einem personalen Gegenüber als Gott angesprochen werden kann.
Die Deutung des Göttlichen als Sinn des Sinns hat eine Reihe begrifflicher Voraussetzungen, auf die im ersten Kapitel mit zunehmendem Ernst hingeführt wird. Das geschieht zum einen durch die Kritik an der populären Entgegensetzung von Glauben und Denken, hinter der die vermeintliche Opposition von Glauben und Wissen steht. Es geschieht zum anderen durch Überlegungen zum Begriff des Ganzen, der sich als die tragende Kategorie der Erörterung erweisen wird. Er muss nämlich nicht nur auf der Seite des Daseins und der Welt, sondern auch auf der des nach Einheit mit diesem Ganzen suchenden Menschen vorausgesetzt werden. Dabei wird augenblicklich klar, dass sich das Ganze des Menschen nur als das zugehörige Gegenüber des Ganzen der Welt begreifen lässt. Beide zusammen können als das sinntragende Ganze verstanden werden. Und erst bei diesem alle erlebten und erdachten Ganzheiten umfassenden Ganzen sind wir dem Begriff des Göttlichen nahe.
Im Buch ist so oft vom Ganzen die Rede, dass der Überdruss des Lesers vorhersehbar ist. Deshalb sei vorab die Vielfalt der Anwendung des Begriffs an jenen Fällen illustriert, die für die nachfolgenden Überlegungen entscheidend sind, ohne im Einzelnen zum Vortrag zu kommen:
– Der Mensch versteht sich, wann immer er etwas tut oder sich auf sich bezieht, selbst als ein Ganzes – als Individuum oder Person. Er versteht auch sein Gegenüber so – obgleich er von sich und von seinem Gegenüber weiß, dass ein Individuum sich sehr wohl als «teilbar», als widersprüchlich und in sich zerrissen erleben kann.
– Schon ein Embryo im Mutterleib muss aufgrund seiner physiologischen Einheit und mit Blick auf das, was aus ihm wird, als ein Ganzes angesehen werden, sosehr er auch mit dem ihn ganz umgebenden anderen Körper verbunden ist. Doch noch in Bezug auf den Embryo lässt sich der Körper der Schwangeren als ein Ganzes begreifen, das er auch nach der Geburt bleibt.
– Nach seiner Geburt wird der Mensch in seiner nun auch physiologisch bestehenden Einheit und Ganzheit für jeden sichtbar. Wenn alles gut geht, bleibt zunächst die Mutter die vorrangige Bezugsperson. Aber das Ganze ist nun das soziale Umfeld in der empfundenen und erlebten Nähe. Eine Weile lang können Mutter, Vater, Geschwister mit ihrer Umgebung zu dem Ganzen werden, das dem Kind die Welt bedeutet.
– Im Gang der weiteren Entwicklung eines Menschen werden verschiedene Ganzheiten bedeutsam für ihn. Es können die Sprache, die Freunde, die Schule, die Heimat oder, in der üblichen Abstraktion, die Gesellschaft sein. Wer sich emphatisch auf sich als Mensch bezieht, dem ist die Menschheit das Ganze, in dem er sich begreift.
– Das Ganze, in dem eine Pflanze oder ein Tier sich behaupten, wird als Umwelt bezeichnet. Die Umwelt des Menschen ist die Welt. Sie ist das Ganze der von ihm wahrgenommenen, erkannten und begrifflich erschlossenen Natur und zugleich das All sämtlicher wirklicher und möglicher Sachverhalte überhaupt. Die zahlreichen Begriffe, die es für das All der Welt gibt, machen jeweils auf ihre Weise klar, dass der Mensch eine Referenz zum universalen Ganzen benötigt, um überhaupt einen begrifflichen Bezug zu einzelnen Dingen oder Vorgängen herstellen zu können. Dieses Ganze, das notwendig alles in sich fasst, was überhaupt als Einzelnes erkannt werden kann, hat den historischen und systematischen Anlass zur philosophischen Rede von Gott gegeben.
– Alles Ganze steht in Relation zu dem, was es in sich fasst. So variiert der Begriff des Ganzen auch in Relation zu dem Subjekt, das es sinnlich oder begrifflich zu fassen sucht. Es ist ein Ganzes, dem der Mensch mit seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten gewachsen sein will – ohne es in vollem Umfang begrifflich bestimmen zu können. Dieses das Ganze der Welt und des Selbst in ihrer bewussten Relation umfassende Ganze wird im Gang der Argumentation als göttlich ausgewiesen.
– Das ins Göttliche überhöhte Ganze des Daseins ist die Entsprechung des ins Personale erhöhten Ganzen unserer individuellen Existenz. Im Selbstbegriff unserer Person gehen wir sowohl über die naturalen wie auch über die sozialen Konditionen unserer Beziehung zur Umwelt hinaus und beanspruchen eine Eigenständigkeit, die sich in einem von allen Situationen unabhängigen Identitätsbewusstsein des Einzelnen behauptet. An ihm hängt die Überzeugung von einer (bis zum Heroismus steigerbaren) existenziellen Konsistenz des Ich, das auch im Augenblick radikaler Einsamkeit bei seinem Willen bleiben kann. Es begünstigt bis heute die Hoffnung auf eine über den Tod hinaus bestehende Beharrlichkeit der Seele. Das Gegenüber einer so exponierten (unbeugsamen oder «unsterblichen») Person kann nur ein gegenüber allem exponiertes (selbst unveränderliches und «ewiges») Ganzes sein, dem der Titel des Göttlichen gebührt.
– Wir benötigen das Göttliche somit als die existenzielle Kondition eines personalen Begriffs unserer selbst. Und diese existenzielle Bedingung erlaubt es, das Ganze so anzusprechen, als sei es selbst eine Person. So kommt es zur Personalisierung des Göttlichen als Gott, das so nur in Korrespondenz zur Person des unter dem Eindruck des Göttlichen stehenden Menschen genannt werden kann. Die Aufwertung findet somit auf beiden Seiten statt, und sie ist existenziell zu nennen, weil sie der einzelnen Person in ihrer Singularität einen universalen Rang verleiht.
– Vor Gott wird das Individuum exemplarisch. Damit ist, wenn auch erst gegen Ende des fünften Kapitels, die Rede von einem personalen Verständnis Gottes mit rein philosophischen Mitteln erläutert. Dass dabei die breite Palette des menschlichen Sinns, die Komplementarität von Wissen und Glauben und vor allem die alles grundierende Leistung des Gefühls eine Rolle spielen, wird in den vorangehenden Kapiteln mit dem Bemühen um Anschaulichkeit auseinandergesetzt.
Im zweiten Kapitel werden historische Positionen skizziert, die das Verständnis der nachfolgenden systematischen Überlegungen erleichtern sollen. Es sind nicht mehr als Illustrationen durch exemplarische Fälle aus der Geschichte der Philosophie. Vor dem Hintergrund der notorischen Selbstüberschätzung der Moderne sollen sie verständlich machen, warum die philosophische Erörterung des Gottesproblems auch heute noch in der Antike ansetzen kann. Nach einem kurzen Blick auf Heraklit und Parmenides wird am Beispiel Platons vor Augen geführt, dass Gott notwendig zu einer Welt gehört, die man zu verstehen glaubt. Dabei zeigt sich die Vielfalt, in der uns das Göttliche begegnet.
Das zweite Beispiel entnehmen wir dem Werk Kants, dessen notwendig zur Vernunftkritik gehörende Religionsphilosophie in ihrer gleichermaßen existenziellen wie sozialen Leistung dem Menschen das bietet, was ihm Wissenschaft, Moral und Politik allein nicht zu geben vermögen. Mit Blick auf die moderne Erfahrungswelt verweist Kant in methodischer Konzentration auf den, wie er sagt, «Wert» und «Sinn» des einzelnen Daseins. So kann jeder für sich das einholen, was Platon im Reichtum kosmischer, ästhetischer, ethischer und politischer Selbsterfahrung anschaulich macht.
Im dritten Kapitel beginnt die systematische Arbeit mit einer Analyse des die These des Buches tragenden Begriffs des Sinns. Alles ist darauf konzentriert, die Bedeutungsvielfalt des Begriffs durch die unterschiedlichen Ebenen zu erklären, auf denen er zur Anwendung kommt. Im Sinnbegriff liegen verschiedene Bedeutungsschichten neben- und übereinander, die eine beträchtliche Reichweite haben. Es sind physiologische, soziale, affektive, logisch-semantische und intellektuelle Momente, die es ermöglichen, im Sinn das Bindungs- und Bildungsmittel zu erkennen, das den Menschen auf seine Weise mit allem verknüpft, was für ihn Bedeutung haben kann. So kommt es zu einem fließenden Übergang in die Dimension des religiösen Sinns, in dem die gleichermaßen epistemische wie emotionale Verbindung des Individuums mit dem Ganzen seines Daseins gesucht wird.
Im vierten Kapitel wird gezeigt, dass Glauben und Wissen wechselseitig aufeinander angewiesen sind. Damit wird der immer wieder anzutreffenden Überzeugung, die Zunahme des Wissens führe zu einer sukzessiven Ersetzung des Glaubens durch Wissen, der Boden entzogen. Kein Wissen kommt ohne Glauben aus, und es ist kein Glauben denkbar, der nicht auf Wissen beruht. Der umfassende, das Wissen nicht nur tragende, sondern auch überschreitende Charakter des Glaubens liegt wesentlich darin, dass er mitsamt seiner unerlässlichen epistemischen Gehalte als Gefühl verstanden werden muss. Auf die Ermittlung der emotionalen Dimension des Glaubens wird einige Mühe verwandt. Sie vermag es, anschaulich werden zu lassen, dass es tatsächlich das Ganze des Menschen ist, das nach einem Sinn im Ganzen des Daseins verlangt.
Das fünfte Kapitel entfaltet die im Titel des Buches zum Ausdruck gebrachte These, dass wir das Göttliche nur als etwas nicht Stoffliches, nicht Gegenständliches, aber gleichwohl unüberbietbar Bedeutungsvolles, nämlich als eine unser gesamtes Verstehen tragende, allgegenwärtige Größe verstehen können. Dazu ist es wichtig, das Göttliche als die alles umfassende Welt zu begreifen, zu der wir selbst gehören und die sich selber trägt – einschließlich unserer selbst. Ohne sie kann nichts Einzelnes, kein Wort, kein Satz, keine Tat, kein menschliches Dasein mit einem über es selbst hinausweisenden Sinn verbunden sein. Ohne diesen Sinn ist alles zwar dies und das – und dennoch kann es uns und unseresgleichen nichts bedeuten. Ohne Sinn bleibt die Welt ein Sammelsurium von Gegenständen und Vorgängen, von Daten und Fakten, die weder untereinander noch mit uns so verbunden sind, dass sie uns auch nur den geringsten Aufschluss darüber geben können, in welchem Verhältnis wir zu ihnen stehen und was wir so mit ihnen tun könnten, dass anzunehmen ist, daraus könnte ein nachvollziehbarer Vorteil erwachsen. Erst der leiblich fundierte Sinn mischt die stets sozial vermittelte Einsicht ins Selbst- und Weltverhältnis ein.
Der «Sinn des Sinns» verbindet alle im Einzelnen gegebenen Bedeutungen derart, dass sie im Ganzen eine Bedeutung für die Individuen haben können, die sich darin selbst als ganze zu erhalten und zu entfalten haben. Schon der Begriff des Sinns macht kenntlich, dass es nicht um eine einzige, objektive, für alle möglichen Wesen in allen möglichen Zeiten gültige Bedeutung gehen kann. Es bleibt uns verschlossen, welcher Sinn Lebewesen überzeugen könnte, von denen wir nichts wissen. Wir können es spüren, fühlen oder ahnen, aber wissen können wir es nicht.
Von anderen Lebewesen, die sich uns als Mitmenschen zu erkennen geben, können wir natürlich einiges wissen – und nicht nur das, was sie uns in Worten mitteilen. Wir können auf ihre Einstellungen schließen, können manches erraten und wissen vermutlich schon bald aus hirnphysiologischen Untersuchungen, ob und wie sie was bei welchen Anlässen empfinden oder vorstellen. Gleichwohl wird uns das, was sie in bestimmten Lagen so denken, wie es ihnen richtig erscheint, so lange verschlossen bleiben, als sie es uns nicht von sich aus mitteilen. Wo immer ihr ihnen selbst bedeutsames Denken gegen ihren Willen abgezwungen wird, ist ihr Recht auf Eigenständigkeit verletzt. Dieses Recht ist daher ausnahmslos zu garantieren, um den Ursprung des existenziellen Sinns zu sichern. Unter den Titeln der Würde und der Integrität ist das Ganze einer Person selbst gegenüber dem Ganzen der Welt – und somit ihr jeweils eigener Sinn – zu wahren.
Also ist der Sinn, der eine Wirklichkeit im menschlichen Dasein darstellt, als die offene Möglichkeit eines jeden Menschen zu schützen. Um was es dabei geht, wird mit der Formel vom «Sinn des Sinns» umrissen. Es ist das Universelle, das ohne individuellen Zugang noch nicht einmal gedacht werden kann. Der Sinn, der alles umspannen kann, ist in jedem Fall auf den einzelnen Menschen gegründet.