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Heike Wiese

Kiezdeutsch

Ein neuer Dialekt entsteht

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch:

“Wunderbar, das Deutsche. Wie es immer neue Varianten entwickelt und neue Wörter wie lassma oder ischwör. Oder wie dort das Wörtchen so auf ganz neue Weise eingesetzt wird: Die ist so blond so.“

Axel Hacke

Kiezdeutsch ist keine „Kanak Sprak“, kein Anzeichen mangelnder Integration und auch keine Gefahr für das Deutsche, sondern ein neuer Dialekt mit grammatischen Eigenarten, die mit anderen deutschen Dialekten vergleichbar sind. Das zeigt die renommierte Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese anhand zahlreicher Beispiele. Ihre Analyse ist ebenso lehrreich wie unterhaltsam und bietet reichlich Diskussionsstoff.

„Heike Wiese ist eine außergewöhnlich gute Linguistin.“

Guy Deutscher, Autor von „Im Spiegel der Sprache: Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht“

Über die Autorin

Heike Wiese ist Professorin für Deutsche Sprache der Gegenwart an der Universität Potsdam und Sprecherin des dortigen Zentrums „Sprache, Variation und Migration“.

 

Gewidmet den Informanten und Informantinnen in unseren Kiezdeutsch-Studien: den Jugendlichen, die so großzügig ihr sprachliches Wissen mit uns geteilt und uns oft mit ihrer Kreativität beeindruckt haben.

Inhalt

1  Kiezdeutsch – keine «Kanak Sprak»

Teil 1

Was ist Kiezdeutsch?
Eine sprachwissenschaftliche Betrachtung

2  Kiezdeutsch hat viele Väter: Die Dynamik des mehrsprachigen Kontexts

 2.1 Deutsch als lebendige Sprache

 2.2 Mehrsprachige Einflüsse in Kiezdeutsch

 2.3 Kiezdeutsch ist keine Mischsprache

 2.4 Die besondere Dynamik von Kiezdeutsch

3  Kiezdeutsch ist typisch deutsch: Grammatische Innovationen und ihre Basis

 3.1 Grammatische Innovationen in Kiezdeutsch

 3.2 Was heißt überhaupt «typisch deutsch»?

 3.3 «Wir gehen Görlitzer Park.» – Neue Ortsangaben

 3.4 «Ich frag mein Schwester.» – Neue Verkürzungen

 3.5 «Lassma», «musstu», «ischwör» und «gibs» – Neue Aufforderungswörter und Partikeln

 3.6 «Machst du rote Ampel!» – Neue Funktionsverbgefüge

 3.7 «Danach ich ruf dich an.» – Neue Wortstellungsoptionen

 3.8 «Zu Hause red ich mehr so deutsch so.» – Neue Aufgaben für so

 3.9 Kiezdeutsch als Neuzugang zum Deutschen

4  Kiezdeutsch ist nicht allein: Jugendsprachen im urbanen Europa

 4.1 Forschung zu neuen Jugendsprachen in Europa

 4.2 Wer spricht diese neuen Jugendsprachen?

 4.3 Jugendsprachen und Standardsprachen

 4.4 Andere Länder, gleiche (Sprach-)Sitten

Teil 2

Kiezdeutsch als neuer Dialekt

5  Was bedeutet es, ein Dialekt zu sein?

 5.1 Dialekte, Soziolekte, Regiolekte

 5.2 Kiezdeutsch als multiethnischer Dialekt

 5.3 Dialekt und Standarddeutsch

6  Kiezdeutsch ist kein gebrochenes Deutsch – und Schwäbisch ist nicht der gescheiterte Versuch, Hochdeutsch zu sprechen

 6.1 Der Mythos

 6.2 Die sprachliche Realität

 6.3 Fakten zum Sprachgebrauch: sprachliche Kompetenzen der Sprecher/innen

 6.4 Guter Dialekt, schlechter Dialekt

 6.5 Von der Abwertung des Sprachgebrauchs zur Abwertung der Sprecher/innen

 6.6 Das Schreckgespenst der «Doppelten Halbsprachigkeit»

7  Kiezdeutsch weist nicht auf mangelnde Integration – und a Bayer tät nie so redn als wie a Preiß

 7.1 Der Mythos

 7.2 Die Realität: Vielfalt als sprachliche Grundbedingung

 7.3 Ein kurzer Exkurs: Was ist ein «Deutschtürke»?

8  Kiezdeutsch ist keine Bedrohung – und Sächsisch-Sprecher gefährden nicht das Deutsche

 8.1 Der Mythos

 8.2 Die Realität: Deutsch ist keine bedrohte Sprache

 8.3 Wenn die Wellen der Empörung hoch schlagen: Vom Bedrohungsgefühl zur «Moral Panic»

9  Fazit und Ausblick: Kiezdeutsch als sprachliche Bereicherung

Literaturnachweis

Bildnachweis

Glossar zu einigen Fachbegriffen im Buch

Anhang 1: Der Kiezdeutsch-Test: Wie gut ist Ihr Kiezdeutsch schon? 7 Fragen zum Selbsttest!

Anhang 2: Gemeinsame Stellungnahme von Wissenschaftler/inne/n sprachwissenschaftlicher Forschungseinrichtungen zum Mythos der «doppelten Halbsprachigkeit»

1   Kiezdeutsch – keine «Kanak Sprak»

Seda: Isch bin eigentlisch mit meiner Figur zufrieden und so, nur isch muss noch bisschen hier abnehmen, ein bisschen noch da.

Dilay: So bisschen, ja, isch auch.

Seda: Teilweise so für Bikinifigur und so, weißt doch so.

[…]

Dilay: Isch hab von allein irgendwie abgenommen. Isch weiß auch nisch, wie. Aber dis is so, weißt doch, wenn wir umziehen so, isch hab keine Zeit, zu essen, keine Zeit zu gar nix. […]

Heute muss isch wieder Solarium gehen.

Dies ist ein Ausschnitt aus einem Gespräch zwischen zwei jungen Frauen in Berlin-Kreuzberg.[1] Beim Lesen ist Ihnen vermutlich einiges aufgefallen. Erst einmal ist es natürlich ungewohnt, gesprochene Sprache verschriftet zu sehen. Zum Beispiel sagen auch Sie und ich normalerweise «hab», man schreibt aber «habe». Aber auch über diese generellen Merkmale gesprochener Sprache hinaus, die ich hier in der Verschriftung beibehalte, gibt es in dem Ausschnitt einige Besonderheiten, zum Beispiel in der Aussprache («isch»), in der Wortstellung («Wenn wir umziehen, isch habe keine Zeit, …»), in der Verwendung von manchen Nomen ohne Artikel («für Bikinifigur», «Solarium gehen») und im Gebrauch von so («wenn wir umziehen so»).

Können diese Jugendlichen nicht richtig deutsch? Oder geben sie sich nicht genug Mühe, «richtig» zu sprechen? Ganz im Gegenteil: In diesem Buch will ich Ihnen zeigen, dass es hier nicht um einen Sprachmangel geht, sondern dass wir Zeuge einer faszinierenden neuen Entwicklung in unserer Sprache werden: der Entstehung eines neuen deutschen Dialekts.

Ich will Ihnen zeigen, dass der Sprachgebrauch, der hier illustriert ist, nicht einfach «falsches Deutsch» ist, sondern eine eigene Dialektgrammatik bildet. Mit anderen Worten: Hinter den Besonderheiten, die wir hier finden, steckt ein System. Sie sind keine willkürlichen Fehler, sondern weisen auf systematische, in sich schlüssige sprachliche Entwicklungen.

Im folgenden Gesprächsausschnitt kommen ganz ähnliche Konstruktionen vor wie in dem ersten. Hier unterhalten sich zwei junge Männer und es geht um ein Thema, das immer wieder aktuell ist – Beziehungen, Freundschaften und das Single-Dasein:

Markus: Is einfach nur zwanghafte Beziehung bei euch.

Is nich mehr aus Glück, einfach nur aus Liebe, dass man glücklich is und so. Einfach nur gezwungen, wegen der Wohnung und, keine Ahnung, wegen was noch, ey.

Nico [lacht]

Markus: Was? – Is einfach nur komisch bei euch. Aber eigentlich anfangs so hatt ich auch gar nich so großen Bock auf Beziehung so, weil Beziehung – is immer belastend, und wenn du Single bist, is witziger.

Du hast mehr Spaß.

Nico: Ja, aber du hast kaum Zeit für deine Freunde.

Markus: Ja, und? Un wenn du mal Party bist: «Oah, geile Olle!» – Boom, boom, und nimmst du die. Is ne andere Party – «Boah, die is auch nich schlecht!» – kannste auch noch ma nehmen.

Nico: Hm.

Markus: Wenn du ne Freundin hast – «Oah, geile Olle!

Scheiß, ich hab ne Freundin» so. Hat auch Vorteile, so Freundin so, aber bei dir seh ich nich so große Vorteile, ne. Bei dir seh ich gar keine Vorteile eigentlich. Weil, du bist genervt, hast überhaupt keine Zeit für Freunde; nur, wenn sie arbeiten is.

Die beiden Passagen stammen aus Unterhaltungen unterschiedlicher Sprecher/innen, es geht um ganz unterschiedliche Themen, und die Situationen sind jeweils anders. Trotzdem finden wir dieselben Besonderheiten, zum Beispiel im Gebrauch von so, der im zweiten Beispiel noch einmal deutlicher hervortritt (teilweise bildet so eine regelrechte Klammer: «so Freundin so»), und in der Bildung von Ortsangaben («wenn du mal Party bist»/«Ich muss Solarium gehen»).

Diese Parallelen sind kein Zufall, sondern ein erster Hinweis darauf, dass wir es hier mit systematischen Entwicklungen zu tun haben. Lassen Sie uns noch in ein drittes Gespräch hineinhören: Hier unterhalten sich fünf Jugendliche, die in einem Kreuzberger Probenraum gemeinsam Tanzschritte einüben (die Namen, die im Gespräch fallen, sind hier abgekürzt).

Elif: Isch kann misch gut bewegen, wa? Ischwöre. Egal, was für ein Hiphopmusik isch höre, ey, mein Körper drinne tanzt voll, lan.
[…]

Aymur: Was steht da auf ihre Hose? [= im Tanzvideo, das im Hintergrund läuft]

Sarah: Bestimmt ihr Name oder so.

Aymur: «Melinda» oder so.

Deniz: Melissa. Mann, die is ein Püppschen, lan.

Juri: Ihre Schwester is voll ekelhaft, Alter. Ischwöre.

Sarah: Ey, weißte, Mann. Lara is ihre Schwester, wa.

Die ähneln sisch bisschen.

Elif: Wer?

Juri: Sie und Lara.

Elif: Wer is Lara?

Juri: Die mit den Knutschfleck immer hier. Du kennst!

Elif: Mann, die hat tausend! Jeden Tag nen neuen Freund, Mann.

Aymur: Ja. Und die hat immer hier Knutschfleck.
[…]

Juri: Manschmal, wenn isch tanze, isch geh an Spiegel, isch mach so.

Sarah: Mach mal.

Juri: Melissa – danach sie macht so. Danach sie tanzt so.

Sarah: Ey, tanzt doch ma rischtisch, was is n das hier, ja! Wir sind hier zum Training gekommen!
[…]

Elif [versucht zu telefonieren]: Seid ma ruhisch! [schreit laut:] Hallo! – Ja. – Ja, mach, aber ruf misch, isch komm auch. Fußball gucken? Wo denn? Ku’damm? Ja, isch glaub, isch kann kommen. Wo sollen wir’n treffen?

Neben Bildungen wie «ischwöre» tritt hier auch ein neues Fremdwort auf, lan, das ungefähr die Bedeutung «Alter» hat (darauf komme ich später noch zurück). Wie in den anderen Beispielen stehen auch hier einige Nomen alleine, bei denen wir im Standarddeutschen einen Artikel hätten («Knutschfleck»), wir finden wieder Besonderheiten in der Wortstellung («Danach sie macht so. Danach sie tanzt so»), und auch noch weitere Veränderungen, zum Beispiel an den Endungen («auf ihre Hose») – und Ihnen ist sicher noch mehr Interessantes aufgefallen!

Diese einführenden Beispiele sollen Ihnen einen ersten Eindruck von dem neuen Sprachgebrauch geben, um den es in diesem Buch gehen soll, nämlich «Kiezdeutsch». Was ist Kiezdeutsch nun aber genau? Kiezdeutsch ist ein Sprachgebrauch im Deutschen, der sich unter Jugendlichen in Wohnvierteln wie Berlin-Kreuzberg entwickelt hat, in denen viele mehrsprachige Sprecher/innen leben – und die Ausschnitte, die ich Ihnen hier gezeigt habe, stammen auch alle aus Gesprächen unter Kreuzberger Jugendlichen. Kiezdeutsch ist aber natürlich nicht auf Kreuzberg beschränkt, sondern tritt überall dort in Deutschland auf, wo Menschen unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Erst- und/oder Zweitsprachen zusammenleben, das heißt grundsätzlich in multiethnischen Wohngebieten. Interessanterweise besitzt Kiezdeutsch sprachliche Gemeinsamkeiten über unterschiedliche Regionen hinweg (außerdem finden sich, wie ich in Kapitel 4 noch zeigen werde, ganz ähnliche neue Sprechweisen sogar in vergleichbaren Wohnvierteln in anderen europäischen Ländern).

Daneben gibt es natürlich auch unterschiedliche lokale dialektale Einflüsse. So geht im bayerischen Raum etwa die Aussprache von Alter eher in Richtung «Oider»,[2] und Kreuzberger Jugendliche verwenden oft das Berliner wa am Ende von Sätzen. Kiezdeutsch-Sprecher/innen leben ja nicht im sprachlichen Vakuum, sondern erleben auch andere lokale Dialekte. Im folgenden Beispiel unterhalten sich drei Freundinnen in Kreuzberg über das Berlinische und imitieren die Mutter von einer von ihnen, die diesen Dialekt spricht:

Jessica: «Icke, micke!»

Elias: «Icke war jestern in Lidl.»

Jessica: «Hör uff damit. Wat soll die Scheiße? Hör uff, hör uff damit hier!»

Aygül: «Um fümwe biste zuhaose.»

Jessica: «Du bist um fümwe zuhause, keene Minute später, sonst gehste morgen ne raus. Hast ma verstanden?»

Elias: [lacht] Labert deine Mutter so?

Jessica: Mhm.

Aygül: Ihre Mutter immer: «um ölwe, um neune, um fümwe». Isch liebe dis!

Das heißt, Jugendliche, die Kiezdeutsch sprechen, kennen – und, in diesem Fall, lieben – natürlich auch andere Dialekte und Sprechweisen im Deutschen. Kiezdeutsch ist, wie ich noch genauer zeigen werde, ein Element aus dem sprachlichen Repertoire von Jugendlichen, aber nicht das einzige.

Wer sind diese Jugendlichen, die Kiezdeutsch sprechen? In der öffentlichen Wahrnehmung tritt der «typische Kiezdeutschsprecher» oft klischeehaft als männlicher Jugendlicher türkischer Herkunft auf, möglichst in aggressiver Pose. Die Realität ist anders und sehr viel interessanter: Kiezdeutsch wird ebenso von Mädchen und jungen Frauen gesprochen, und es wird auch nicht nur von Sprecher/inne/n einer bestimmten Herkunft verwendet, sondern übergreifend von Jugendlichen in multiethnischen Vierteln.

Mit anderen Worten: Kiezdeutsch spricht man nicht, weil die eigenen Großeltern irgendwann einmal aus der Türkei eingewandert sind, sondern Kiezdeutsch spricht man mit seinen Freunden, wenn man in einem multiethnischen Viertel groß wird, ganz unabhängig davon, ob die Familie aus der Türkei, aus Deutschland oder aus einem anderen Land stammt. Kiezdeutsch ist nicht etwas, an dem Jugendliche deutscher Herkunft nur als Trittbrettfahrer beteiligt sind, oder gar, wie ich kürzlich las, eine «Sondersprache nicht oder nur unzureichend assimilierter junger türkischstämmiger Jugendlicher, die mittlerweile von deutschen Jugendlichen nachgeahmt wird»,[3] sondern Kiezdeutsch hat sich gemeinsam unter Jugendlichen türkischer, arabischer, deutscher, bosnischer, … Herkunft entwickelt – eine erfolgreiche sprachliche Koproduktion.

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Kiezdeutsch als Koproduktion

Die Bezeichnung «Kiezdeutsch» greift dies auf. Sie entstand auf der Basis von Interviews, die wir mit Jugendlichen in Berlin-Kreuzberg geführt haben. Auf die Frage, wie sie ihren Sprachgebrauch bezeichnen würden, antworteten sie, dies sei einfach die Sprache, die sie im Kiez sprächen – ein Ausdruck, der im Berlinischen ein alltägliches Wohnumfeld bezeichnet.[4] «Kiez-Deutsch» hebt damit hervor, dass es sich um eine informelle, alltagssprachliche Form des Deutschen handelt. Außerdem macht dieser Ausdruck klar, dass wir es mit einer Varietät des Deutschen zu tun haben:[5] Kiezdeutsch ist deutsch.

Gespräch unter Freundinnen über eine Aufnahme, die eine von ihnen für unser Forschungsprojekt von ihrer Unterhaltung macht:

Melanie: Bin isch auch grad drauf?

idil: Natürlisch.

Lale: Isch auch?

idil: Wir alle sind drauf.

Lale: Wie red isch?

idil: Was weiß isch. Kannst du gleisch hören.

Lale: Deutsch?

idil: Ja, Kiezdeutsch.

Schließlich beinhaltet die Bezeichnung «Kiezdeutsch», anders als etwa «Türkendeutsch», keine ethnische Eingrenzung und erfasst damit, dass diese Jugendsprache nicht nur von Sprecher/inne/n einer bestimmten Herkunft gesprochen wird. «Türkendeutsch» ist auch aus anderen Gründen nicht passend für eine Jugendsprache, die sich in Deutschland entwickelt hat: Dies ist nicht das Deutsch von Türken – die Sprecher/innen sind keine Bewohner der Türkei, sondern Jugendliche, die hier in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Ich komme darauf später, in Abschnitt 4.2, noch zurück. Hier zum Einstieg schon einmal ein Gesprächsausschnitt, in dem dies aus der Einstellung der Jugendlichen selbst deutlich wird (beide Sprecher sind arabischer Herkunft):

Unterhaltung über die Fußball-Weltmeisterschaft:

Amir: Wenn die sieben Tore kassieren, Deutschland, was würdest du – für wen bist du dann?

Tarek: Ich bin für Deutschland.

Amir: Auch, wenn die sieben Tore kassieren?

Tarek: Ich bin in Deutschland – ich bin in diesem Land geboren, ich bin Deutscher.

Mitunter findet man auch den Ausdruck «Kanak Sprak» für den Sprachgebrauch, den es in diesem Buch geht. Dieser Ausdruck wurde ursprünglich durch den Kieler Schriftsteller Feridun Zaimoğlu aufgebracht im Sinne eines sprachlichen Reclaims, das heißt einer Rückeroberung und positiven Umdeutung eines negativ besetzten Begriffs.[6] In der öffentlichen Debatte hat der Ausdruck jedoch seine negativen Assoziationen beibehalten: Erstens wird der Sprachgebrauch Jugendlicher als eigene Sprache, «Sprak», vom Deutschen abgegrenzt; zweitens wird er als Sprache Fremder exotisiert und mit «Kanak» stark abgewertet.

Kiezdeutsch ist jedoch nichts Exotisches oder Fremdes, sondern ist ein deutscher Dialekt mit hohem Wiedererkennungswert: Wie ich Ihnen in den weiteren Kapiteln zeigen will, sind die sprachlichen Eigenheiten von Kiezdeutsch fest verankert im System der deutschen Grammatik, und vieles, was uns in Kiezdeutsch zunächst auffällig vorkommt, finden wir bei genauerem Hinsehen auch in anderen Varianten des Deutschen – wenn auch möglicherweise (noch) nicht so systematisch oder in so ausgeprägter Form. Wir werden uns daher in diesem Buch auch mit dem Deutschen generell und neueren Entwicklungen in anderen Dialekten und Sprachstilen beschäftigen – und uns so auch außerhalb von Kiezdeutsch einiges Interessante aus Umgangssprachen und Standardsprache ansehen.

Das Besondere an Kiezdeutsch, der Aspekt, der es zu einem so spannenden deutschen Dialekt macht, ist, dass es sehr viel dynamischer ist als andere Dialekte: Kiezdeutsch kann man sich als eine Art «Turbodialekt» vorstellen, in dem wir Sprachentwicklung wie im Zeitraffer beobachten können.

Ich bin zum ersten Mal Ende der 1990er auf Kiezdeutsch aufmerksam geworden, als ich im Bus durch Kreuzberg fuhr und Jugendliche hörte, die sich unterhielten und dabei einige neue Wendungen benutzten, die grammatisch interessant klangen und die ich näher untersuchen wollte. Kiezdeutsch hat mich seitdem nicht mehr losgelassen: Aus meinem ersten, eher beiläufigen Interesse ist eine anhaltende Faszination für diesen neuen Sprachgebrauch und seine Sprecher/innen mit ihren vielen mehrsprachigen Kompetenzen geworden.

Ein weiterer Grund, warum mich Kiezdeutsch nicht mehr losgelassen hat, ist ein gesellschaftlicher: Kiezdeutsch hat sich für mich nicht nur als ein hochinteressanter Fall sprachlicher Entwicklung und der Entstehung neuer sprachlicher Variation im Deutschen entpuppt; an diesem Dialekt habe ich auch vieles über den Zusammenhang von Grammatik, Sprachgemeinschaft und der sozialen Wahrnehmung von Sprache gelernt.

Denn die sprachliche Wirklichkeit von Kiezdeutsch, seine grammatische Innovationsleistung und seine systematische Einbettung ins Deutsche ist nur die eine Seite. Die andere Seite ist die gesellschaftliche Bewertung dieses neuen Dialekts, die oft äußerst negativ ausfällt. Diese soziale Abwertung teilt Kiezdeutsch grundsätzlich mit anderen Dialekten. – Die Tatsache, dass Dialekte interessante grammatische Systeme bilden, hilft ihnen generell wenig in der gesellschaftlichen Wahrnehmung.

Der Leipziger Schriftsteller Erich Loest, Träger des Deutschen Nationalpreises und ehemaliger Vorsitzender des PEN-Clubs, entgegnete in einem Zeitungs-Interview auf die Feststellung, dass Sächsisch «laut einer Umfrage die mit Abstand unbeliebteste Mundart Deutschlands» sei:

«Daran seid ihr Journalisten schuld. Und diese blöden Kabarettisten, die ein arschbreites, fürchterliches Sächsisch sprechen, das es gar nicht gibt. In Wirklichkeit ist Sächsisch reizvoll und verspielt. In Kneipen hört man manchmal die herrlichsten Wendungen, da ist mit drei, vier Worten alles gesagt.»[7]

Das kann man fast eins-zu-eins auf Kiezdeutsch übertragen, von negativen Darstellungen in den Medien und der Stilisierung durch Kabarettisten bis zu den «herrlichsten Wendungen», die man im realen Sprachgebrauch demgegenüber findet. Wenn Sie Kiezdeutsch also ebenso furchtbar oder sogar noch furchtbarer finden sollten als andere Leute Sächsisch, wenn Ihnen eine Gänsehaut über den Rücken läuft, wenn Sie Jugendliche so sprechen hören, und wenn Sie sich große Sorgen um die Zukunft Ihres Sohnes machen, wenn er anfängt, so zu reden, dann ist es meine Aufgabe in diesem Buch, Sie davon zu überzeugen, dass Kiezdeutsch kein Anlass zur Beunruhigung ist, sondern ein spannender neuer Dialekt. Ein Dialekt, der allerdings – wie andere Dialekte eben auch – oft negativ bewertet wird.

Im Vergleich zu anderen Dialekten hat die gesellschaftliche Abwertung von Kiezdeutsch oft noch eine besondere Vehemenz, auf die ich im zweiten Teil dieses Buches genauer eingehe. Die «Sprachbeispiele», die man in der öffentlichen Diskussion findet, sind oft weniger reale Gesprächsausschnitte wie in den Beispielen vorne, sondern selbst gebastelte Scheinzitate voller Drohungen und Beleidigungen, die mit der sprachlichen Realität wenig zu tun haben;. sie malen ein Bild ausgegrenzter Jugendlicher, die sich scheinbar nur noch aggressiv verhalten.

Der Spiegel spricht in einem Bericht über die Rütli-Schule gar von einer «verlorenen Welt» und charakterisiert diese Welt und ihre Sprache dann folgendermaßen:

«Was soll der Scheiß? So reden die Bewohner dieser Welt. Ey, Mann, ey. Nutte. Killer. Krass. Es gibt viele «sch»- und «ch»-Laute in dieser Sprache, kaum noch ganze Sätze. Dreckische Deutsche, so reden sie.»

«Respekt bekommt, wer die eigene, also die türkische oder libanesische Schwester vor Sex und Liebe und diesem großen glitzernden Westen schützt und selbst deutsche Schlampe fickt. Ohne Artikel. Wie sie eben reden.»[8]

Wenn man solche Darstellungen liest, wird man fast von einer morbiden Sorge um den Verfall unserer Gesellschaft ergriffen. Kiezdeutsch scheint hier Ausdruck einer massiven Bedrohung zu sein: Uns wird eine Sprache präsentiert, die eigentlich gar keine Sprache mehr ist, sondern nur noch ein Problem, die «kaum noch ganze Sätze» enthält und in der an sich harmlose Aussprachebesonderheiten wie «sch» statt «ich» in «isch» zum Zeichen von Ausgrenzung und Gewalt werden (Was sagen eigentlich die Hessen dazu, bei denen das «isch» auch zum lokalen Dialekt gehört?).

Der vorne zitierte Artikel mag ein extremer Fall sein, eine echte Ausnahme ist er nicht: Grundsätzlich ist die öffentliche Wahrnehmung von Kiezdeutsch stark von negativen Mythen geprägt. Kiezdeutsch wird als gebrochenes Deutsch angesehen, als Ausdruck mangelnder Sprachkompetenzen, als Zeichen für Integrationsverweigerung oder gar als eine Bedrohung für das Deutsche insgesamt.

Was auffällt, ist das völlige Fehlen sprachwissenschaftlicher Sachargumente in dieser Diskussion. Das ist kein Zufall: Zu Sprache und sprachlichen Entwicklungen hat eigentlich jeder eine Meinung und glaubt oft auch schon alles zu wissen – einfach, weil jeder Sprache benutzt. Oder, wie eine Journalistin zu mir einmal so treffend sagte: «Das ist wie bei der Fußball-WM: Da ist auch jeder immer Bundestrainer!»

Die Linguisten Laurie Bauer und Peter Trudgill diskutieren dieses Phänomen in ihrem lesenswerten Sammelband zu «Language Myths» (Sprachmythen) und argumentieren:

«Wenn man etwas über die Physiologie des menschlichen Atemsystems wissen will, sollte man einen Mediziner oder Physiologen fragen, nicht einen Sportler, der schon mehrere Jahre erfolgreich geatmet hat. Und wenn man wissen will, wie Sprache funktioniert, dann sollte man einen Sprachwissenschaftler fragen und nicht jemanden, der Sprache in der Vergangenheit erfolgreich benutzt hat. Die Anwender eines Systems brauchen kein bewusstes Wissen davon zu haben, wie das System funktioniert, um es zu nutzen.»[9]

Dieses Buch soll dazu beitragen, eine sprachwissenschaftliche Sicht auf Kiezdeutsch zu entwickeln. Hierzu will ich mit Ihnen nach diesem einleitenden Kapitel im ersten Teil des Buches (Kapitel 2 bis 4) zunächst einige besonders interessante Merkmale von Kiezdeutsch ansehen und analysieren. Vor diesem Hintergrund können wir dann im zweiten Teil (Kapitel 5 bis 8) populäre Ansichten und Fehlwahrnehmungen zu Kiezdeutsch genauer unter die Lupe nehmen. Dabei werden wir viele sprachliche Mythen zu Kiezdeutsch als solche entlarven – als verbreitete, gesellschaftlich etablierte, aber sachlich nicht begründete Ansichten, die eben nicht auf sprachlichen Fakten beruhen, sondern auf bestimmten Einstellungen. Im Fall von Kiezdeutsch sind diese Ansichten oft nicht nur sehr verbreitet, sondern eben auch mit starken Emotionen verknüpft.

Sprache ist etwas, das uns alle fasziniert, es definiert uns als Menschen und ist zentral für menschliche Gesellschaften. Sprachveränderungen, neue Entwicklungen lassen daher niemanden kalt, und für Entwicklungen wie in Kiezdeutsch, das unter Jugendlichen in multiethnischen Wohnvierteln gesprochen wird, gilt das offensichtlich in besonderem Maße. In der öffentlichen Diskussion schlagen die Wogen oft hoch, es wird ein großes, engagiertes Interesse deutlich, weitaus stärker als bei vielen anderen sprachwissenschaftlichen Themen.

Kiezdeutsch ist nicht mein einziges Forschungsgebiet, es ist aber das einzige, das ein solch starkes Interesse auslöst. Wenn ich auf einer Party auf meine Arbeit angesprochen werde und ich dann von Nominalkomposita, Zahlwortgrammatik oder der Architektur des grammatischen Systems zu erzählen beginne, löst das bei meinem Gegenüber eher Reaktionen des Typs «Ich glaube, ich hol mir mal noch ein Bier» aus. Mit Kiezdeutsch passiert mir das nicht. Hier hat praktisch jeder eine dezidierte Meinung, glaubt, zentrale Eigenschaften dieser Jugendsprache zu kennen, und vertritt seine Ansichten dazu mit Vehemenz.

Im Folgenden werde ich dem eine Untersuchung zur sprachlichen Realität von Kiezdeutsch entgegensetzen. Ich werde zeigen, dass Kiezdeutsch nicht defektiv oder gar gefährlich ist, sondern grammatisch komplex und sprachlich innovativ. Ich will Ihnen Kiezdeutsch an vielen realen Beispielen näher bringen, das heißt wir sehen uns den Sprachgebrauch von Jugendlichen an, wie er tatsächlich auftritt, nicht, wie er stilisiert in Comedy-Sendungen oder in manchen Zeitungsartikeln dargestellt wird.

Die Beispiele, die ich dafür verwende, stammen zum Großteil aus dem «Kiez-Deutsch-Korpus» (wie auch die Gesprächsauschnitte am Anfang dieses Kapitels).[10] Dies ist eine Sammlung von Texten, das spontansprachliche Gespräche Kreuzberger Jugendlicher enthält, das heißt Unterhaltungen, die diese untereinander geführt haben (in sogenannten Peer-group-Situationen), ohne dass wir als Sprachwissenschaftler/innen dabei waren oder das vorher gesteuert haben. Hierfür haben wir den Jugendlichen Aufnahmegeräte mitgegeben und sie gebeten, sich und ihre Freunde nachmittags aufzunehmen, wenn sie sich unterhalten. Das Ergebnis sind natürliche Gespräche im informellen, entspannten Rahmen über ganz unterschiedliche Themen, von alltäglichen Begebenheiten und Erlebnissen über Freunde und Beziehungen zu Kleidung, Musik, Filmen, Fußball, Schule usw.

Diese Aufnahmen sind im KiezDeutsch-Korpus in Form von Transkriptionen verschriftet, die nicht nur den genauen Wortlaut und die Wortformen wiedergeben, sondern auch solche Dinge wie Hauptbetonung und Pausen, die für unterschiedliche sprachwissenschaftliche Analysen relevant sind.[11] Wie in den Beispielen vorne in diesem Kapitel bereits deutlich wurde, halte ich mich bei der Wiedergabe in diesem Buch weitgehend an die normale Orthographie, um die Lesbarkeit zu verbessern. Ich gebe aber auch hier die Verkürzungen und Veränderungen, die in den Gesprächen auftreten, in der Verschriftlichung wieder. Dies können Besonderheiten von Kiezdeutsch sein ebenso wie Eigenheiten, die generell typisch für gesprochene Sprache sind, zum Beispiel die Verkürzung von Endungen wie in lachn statt lachen oder Satzabbrüche und Zögersignale wie äh, hm u.a.

Das KiezDeutsch-Korpus umfasst im sogenannten Hauptkorpus Transkriptionen von rund 48 Stunden Aufnahmen, die insgesamt 17 Jugendliche bei Gesprächen mit ihren Freund/inn/en für uns gemacht haben. Daneben gibt es ein kleineres, rund 18 Stunden umfassendes Ergänzungskorpus, das vergleichbare Aufnahmen enthält, die 7 Jugendliche aus Berlin-Hellersdorf bei Gesprächen mit ihren Freund/inne/n gemacht haben.

Hellersdorf ist ein guter Vergleichsort, um die multiethnischen Charakteristika von Kiezdeutsch abzuklopfen, weil dies einserseits ein Wohngebiet mit ähnlichen sozioökonomischen Indikatoren wie Kreuzberg ist (hinsichtlich durchschnittlichem Haushaltseinkommen, Arbeitslosenquote u.ä.), andererseits aber relativ monoethnisch, das heißt es hat einen sehr niedrigen Bevölkerungsanteil nicht-deutscher Herkunft. Während die Kreuzberger Jugendlichen in unserer Studie unterschiedlicher Herkunft waren (zum Beispiel türkischer, arabischer, kurdischer, aber auch deutscher), stammen die Familien der Hellersdorfer Jugendlichen sämtlich aus Deutschland.

Die Jugendlichen, die uns so als Informant/inn/en unterstützt haben, waren zum Erhebungszeitpunkt 14 bis 17 Jahre alt. Es handelte sich um Schüler/innen der 9. Klasse aus zwei Berliner Schulen (in Kreuzberg und Hellersdorf), mit denen wir unabhängig vom KiezDeutsch-Korpus im Rahmen von sprachwissenschaftlichen Projekten kooperierten. Aus Gründen des Datenschutzes können die Schulen hier nicht namentlich genannt werden. Ich will ihnen aber zumindest anonym an dieser Stelle für ihre tatkräftige Unterstützung – durch Schulleitung, Kollegium und besonders die Deutschfachleitungen – und für die freundliche und aufgeschlossene Zusammenarbeit ganz besonders danken.

Ein großer Dank gebührt auch den Mitgliedern meiner Arbeitsgruppe an der Universität Potsdam, die mich nicht nur durch vielerart Recherchen bei diesem Buch unterstützt haben – das ging von dialektalen Phänomenen und Bevölkerungsstatistiken bis zur Identifizierung von Politikerreden und Teilnahmebestimmungen für die Winterolympiade in Kanada –, sondern in verschiedenen Forschungsprojekten zu Kiezdeutsch zu den Ergebnissen beigetragen haben, auf denen dieses Buch aufbaut: Ulrike Freywald, Katharina Mayr, Sören Schalowski, Kathleen Schumann, Sibylle Duda, Kerstin Paul, Tiner Özçelik, Jens Roeser und Eva Wittenberg.

Einen wichtigen Rahmen für meine Forschung zu Kiezdeutsch, mit vielen interdisziplinären Anregungen von Studierenden, Doktorand/inn/en, Postdocs und Professor/inn/en, bildete und bildet das Zentrum «Sprache, Variation und Migration» der Universität Potsdam.

Von den vielen Kolleg/inn/en, die mir in Diskussionen auf Konferenzen, Vorträgen und Arbeitstreffen wertvolle Anregungen für unterschiedliche Bereiche dieses Buches gaben und mit ihren Arbeiten eine wichtige Basis für die Untersuchung in diesem Buch legten, seien an dieser Stelle stellvertretend für viele die Mitglieder der LiRAME-Gruppe genannt («Linguistic Realities of Adolescents in Multiethnic urban Europe»), die mir besonders das Feld der Spracheinstellungen neu erschlossen haben, das für Kiezdeutsch eine so große Rolle spielt: Jannis Androutsopoulos, Ellen Bijvoet, Kari Fraurud und Pia Quist.

Weiterhin möchte ich zahlreichen «Testlesern» aus der Sprachwissenschaft ebenso wie aus Schule, Jugendarbeit und Wirtschaft danken, die mich mit Kritik, Anregungen und Kommentaren zum Manuskript unterstützt haben. Besonders will ich hier nennen: meine Kollegen Horst Simon und Christoph Schroeder sowie, von außerhalb der Sprachwissenschaft, Karen Wiese, Ilse Wiese, Kurt Denecke, Steffi Turano und Stefano Turano.

Ein besonderer Dank geht an Jonathan Beck vom Verlag C.H.Beck, ohne dessen Anregung dieses Buch gar nicht entstanden wäre.

Zuletzt will ich noch meinen beiden Töchtern danken, die als echte Kreuzberger Gören schon aus Kindergarten und Grundschule neue Ausdrücke und Wendungen, die mir Zugänge zum Sprachgebrauch in mehrsprachigen Wohngebieten liefern, nach Hause mitbringen und die mir, wenn sie älter sind, sicher noch einiges zu Kiezdeutsch beibringen können.

Für finanzielle Unterstützung der Forschung, die in dieses Buch eingeflossen ist, danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Förderung des Sonderforschungsbereichs 632 «Informationsstruktur», Projekt B6, «Kiezdeutsch») und dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (Förderung der europäischen LiRAME-Arbeitsgruppe).

1 Aus Datenschutzgründen sind die Namen der Jugendlichen hier und in den folgenden Gesprächszitaten im Buch geändert.

2 Vgl. etwa das Sprachbeispiel in Füglein (2000:89), siehe Abschnitt 3.4.

3 Diese Darstellung stammt aus Göttert (2010:351).

4 Wiese (2006). Vgl. auch den Ausdruck «Stadtteilsprache», den laut Kallmeyer & Keim (2003:31) Jugendliche in Mannheim verwenden.

5 Der Begriff «Varietät» beschreibt eine Sprechweise mit eigener grammatischer Systematik (vgl. Freywald et al. 2012 zur Einordnung von Kiezdeutsch als Varietät).

6 Vgl. Zaimoğlu (1995).

7 Tagesspiegel, 20.2.2011; Interview mit Björn Rosen und Esther Kogelboom.

8 Spiegel 14/2006, «Die verlorene Welt», von Stefan Berg, Klaus Brinkbäumer, Dominik Cziesche, Barbara Hardinghaus, Udo Ludwig, Sven Röbel, Markus Verbeet, Peter Wensierski. Vgl. auch Androutsopoulos (2007) für eine ausführliche Analyse der hier deutlich werdenden Sprachideologie.

9 Bauer & Trudgill (1998: xvi); meine Übersetzung (H.W.). Im Original: «if you want to know about the human respiratory physiology you should ask a medic or a physiologist, not an athlete who has been breathing successfully for a number of years. […] And if you want to know how language works you should ask a linguist and not someone who has used language successfully in the past. […] users do not need to have a conscious knowledge of how a system works in order to exploit it.»

10 Wiese et al. (2012).

11 Im Kiez-Deutsch-Korpus sind die Transkriptionen nach dem GAT-Basistranskript (Selting et al. 1998) durchgeführt, in EXMARaLDA (Schmidt 2001; Schmidt & Wörner 2005) erfasst, im XML-Dateiformat gespeichert und mit Audiodateien verknüpft.

Teil 1

Was ist Kiezdeutsch?
Eine sprachwissenschaftliche
Betrachtung

Was ist also Kiezdeutsch? Bevor wir Einstellungen und Meinungen zu diesem neuen Sprachgebrauch genauer betrachten und uns mit einigen typischen Mythen und Missverständnissen aus der öffentlichen Diskussion auseinandersetzen, sollen die folgenden Kapitel ein genaueres Bild von Kiezdeutsch selbst geben. Mit anderen Worten: Wir untersuchen Kiezdeutsch als sprachliches Phänomen, und wir tun dies – sinnvollerweise – in Form einer sprachwissenschaftlichen Betrachtung.

Das mag selbstverständlich klingen, ist es aber, wie eingangs schon erwähnt, oft nicht: Häufig wird über Kiezdeutsch diskutiert, gestritten und geurteilt, wird dieser neue Sprachgebrauch abgelehnt oder auch bewundert, ohne dass klar ist, worauf sich diese Urteile überhaupt beziehen, das heißt um was für einen Sprachgebrauch es sich hier eigentlich handelt.

In diesem ersten Teil des Buches zeige ich daher genauer, was diesen sprachlichen Neuzugang zum Deutschen ausmacht. Ich stelle dabei vor, was typisch für Kiezdeutsch ist, so wie es unter Jugendlichen in mehrsprachigen Wohngebieten gesprochen wird, und nicht so sehr die stilisierten Formen à la «Ich mach dich Krankenhaus» betrachten, die als Klischees dieser Jugendsprache kursieren.

Die folgenden drei Kapitel behandeln der Reihe nach drei zentrale Eigenschaften von Kiezdeutsch: (1) Kiezdeutsch hat viele Väter, es ist durch seine vielen mehrsprachigen Sprecher/innen besonders dynamisch. (2) Kiezdeutsch bleibt dabei aber letztendlich typisch deutsch: die grammatischen Innovationen, die aus dieser Dynamik hervorgehen, sind fest im System der deutschen Grammatik verankert. Kiezdeutsch nutzt die Möglichkeiten, die dieses System bietet, und baut sie weiter aus. (3) Kiezdeutsch ist nicht allein, sondern ist eine neue Art von Jugendsprache, wie wir sie auch in anderen europäischen Ländern finden.

2   Kiezdeutsch hat viele Väter: Die Dynamik des mehrsprachigen Kontexts

Menschliche Sprachen sind dynamische Systeme, das heißt sie sind ständigem Wandel unterworfen. Variation ist daher ein natürlicher, zentraler Bestandteil von Sprachen: Sprachen sind nicht starre, einmal festgeschriebene und unveränderliche Regelwerke, sondern Systeme, die im und durch den Gebrauch einer Sprechergemeinschaft und durch diesen leben und sich daher mit Variationen dieses Gebrauchs auch verändern. Diese Veränderungen führen unter anderem zur Entstehung neuer Stile, Register und auch neuer Dialekte, und Kiezdeutsch ist ein solcher neuer Dialekt, eine neue sprachliche Variante mit typischen, regelhaften Eigenheiten.[1]

Das Besondere an Kiezdeutsch ist, dass seine Sprecher/innen neben dem Deutschen noch eine ganze Reihe weiterer Mutter- und Zweitsprachen einbringen. Diese vielsprachigen Kompetenzen machen Kiezdeutsch zu einem besonders dynamischen Dialekt, der neue sprachliche Entwicklungen besonders unterstützt. Im Folgenden sehen wir uns als Hintergrund zunächst einige Beispiele für verschiedene Bereiche der Sprachentwicklung im Deutschen an, bevor wir auf diese besondere Dynamik in Kiezdeutsch eingehen. Ich zeige dabei in diesem Kapitel zunächst Beispiele für lautliche Veränderungen und neue Fremdwörter in Kiezdeutsch, die auf Einflüsse der verschiedenen Herkunftssprachen hinweisen. Später, in Kapitel 3, untersuchen wir dann genauer die grammatischen Innovationen, die Kiezdeutsch hervorgebracht hat und die seine Verortung innerhalb des Deutschen widerspiegeln.

2.1   Deutsch als lebendige Sprache

Wie alle lebenden Sprachen verändert sich auch das Deutsche ständig. Es nimmt nicht nur neue Fremdwörter in seinen Wortschatz auf, sondern wandelt sich auch in allen Bereichen der Grammatik: Lautstrukturen verändern sich, Wörter ändern ihre Bedeutung, es entwickeln sich neue Endungen, andere entfallen, es entstehen neue Möglichkeiten der Wortstellung und der Kombination von Wörtern und Wortgruppen/Phrasen ebenso wie neue Beschränkungen.

So gab es beispielsweise im 6. und 7. Jahrhundert eine Lautverschiebung, die das Althochdeutsche von den übrigen germanischen Sprachen und Dialekten absonderte und so zur Entstehung der hochdeutschen Dialekte führte («hoch» im Gegensatz zu den «nieder-» bzw. «platt»-deutschen Dialekten, siehe auch im Glossar am Ende dieses Buches). Diese sogenannte Hochdeutsche Lautverschiebung führte zum Beispiel zur Veränderung von [p] zu [f] im Auslaut, so dass wir heute im Hochdeutschen Schiff sagen, während es auf Plattdeutsch Schipp heißt und auf Englisch ship.

Eine interessante grammatische Veränderung, die noch nicht ganz abgeschlossen ist, betrifft das Verb brauchen: Wer brauchen ohne zu gebraucht… – zeigt damit, dass er die Grammatik des heutigen Deutsch beherrscht! Im Gegenwartsdeutschen ist nämlich der Infinitiv ohne zu charakteristisch für Modalverben, also Verben wie wollen, sollen oder können, die ein Verhältnis zu einem Sachverhalt darstellen: Man sagt «Sie will tanzen» oder «Sie muss tanzen» (Sachverhalt: sie tanzt), aber nicht «Sie muss zu tanzen». Und genau wie wollen, müssen etc. drückt auch brauchen eine solche Modalität aus, in verneinter Form wird es typischerweise als negatives Gegenstück zu müssen gebraucht: «Sie braucht nicht (zu) tanzen.» Weil brauchen also von der Bedeutung her ein Modalverb ist, wird es im heutigen Deutsch oft auch grammatisch als Modalverb behandelt und mit einem Infinitiv ohne zu kombiniert.

Dies geht sogar noch weiter, nämlich bis in die Flexion: In der 3. Person Singular wird brauchen in der gesprochenen Sprache typischerweise ohne die Endung -t ausgesprochen: «Sie brauch nicht tanzen» statt «sie braucht». Bei rauchen, das ja lautlich fast identisch ist, macht das niemand: Keiner sagt «sie rauch» statt «sie raucht». Der Grund ist wieder, dass brauchen (im Gegensatz zu rauchen) ein Modalverb ist. Modalverben haben im Deutschen in der 3. Person Singular kein -t: «er muss», nicht «er musst» etc. Dies hat mit ihrem Modalverbstatus erst einmal gar nichts zu tun, sondern hat historische Gründe: Modalverben haben sich aus alten Präteritumformen entwickelt, und im Präteritum haben wir im Deutschen kein -t in der 3. Person («er lief» anstatt «er lieft»). Weil es genau die Modalverben betrifft, ist das fehlende -t aber zu einem ihrer Kennzeichen geworden, und das wird nun zunehmend auch auf brauchen übertragen.

Das Faszinierende ist, dass dies kein gesteuerter, geplanter Prozess ist, sondern etwas, das von selbst in der Sprechergemeinschaft passiert. Es gibt keine staatliche «Grammatikkommission», ähnlich etwa einer Rechtschreibkommission, die etwa kommenden Freitag entscheiden könnte, dass brauchen nun endlich auch grammatisch als Modalverb behandelt werden soll, und dann sprechen wir ab nächster Woche alle so. Und wenn Sie jemanden fragen, warum er «Sie brauch nicht tanzen» sagt, wird er vermutlich nicht antworten, dass er dies tut, weil brauchen ein Modalverb ist, sondern er wird vielleicht so etwas sagen wie «Das mache ich automatisch».

Es ist ein allgemeines Merkmal von Sprachwandel, dass grammatische Veränderungen nicht durch explizite Verabredung geschehen, sondern «automatisch», das heißt unbewusst über ihre Verbreitung in der Sprechergemeinschaft. Von Grammatikbüchern wie zum Beispiel dem Duden werden diese Veränderungen immer nur beschrieben, nicht vorgeschrieben. Sie spiegeln Veränderungen im sprachlichen System wider, zum Beispiel Angleichungen, die wie im Fall von brauchen zu einer größeren Systematik in einem bestimmten Bereich führen (hier: der Bereich der Modalverben). Systematiken wie diese erkennen wir unbewusst, so wie wir das gesamte grammatische System unserer Sprache unbewusst beherrschen: Als Sprecher/innen wenden wir das sprachliche System an und nutzen seine Strukturen, ohne bewusst zu wissen, wie es aufgebaut ist.

Das heißt zum einen, dass wir solche grammatischen Begriffe wie «Modalverben» oder die Liste der typischen Merkmale von Modalverben im Deutschen nicht explizit kennen müssen, um uns danach in unserem Sprachgebrauch zu richten. Das Sprachvermögen in unserem Gehirn berechnet all das, ohne unser Bewusstsein extra einzuschalten. Zum anderen zeigen uns Entwicklungen wie die von brauchen, dass neue grammatische Formen nicht durch mangelnde Sprachkompetenz oder mangelnde Sorgfalt der Sprecher/innen entstehen: Wer brauchen intuitiv wie ein Modalverb behandelt und dementsprechend sowas sagt wie «Sie brauch nicht tanzen», ist nicht dumm oder schludrig, sondern grammatisch versiert. Er passt brauchen besser in den Bereich der Modalverben ein, dem es von der Bedeutung her angehört, und macht diesen Bereich der Grammatik dadurch systematischer.

Solche systematischen Veränderungen sind daher keine sprachlichen Probleme oder gar Hinweise auf drohenden «Sprachverfall», sondern bilden die Grundlage für Sprachentwicklung. In den Worten des Sprachwissenschaftlers Rudi Keller, der grundlegende Arbeiten zum Sprachwandel im Deutschen verfasst hat:

«Die systematischen Fehler von heute sind […] mit hoher Wahrscheinlichkeit die neuen Regeln von morgen.»[2]

Ein weiteres Beispiel für eine systematische Veränderung, die in der Öffentlichkeit mitunter als «schlechter Sprachgebrauch» verkannt wird, ist die Wortstellung bei weil. Wir finden hier manchmal eine sogenannte Hauptsatzstellung, bei der das Verb an zweiter Stelle (wie im Hauptsatz) statt an letzter Stelle (wie in typischen Nebensätzen) steht:

«Der Hausmeister ist schon gegangen, weil sein Anorak hängt da nicht mehr am Haken.»

Auch hier zeigt sich aber weniger mangelnde Kompetenz als vielmehr ein differenziertes sprachliches Wissen. Anders als bei brauchen geht es hier nicht um eine bessere Einpassung in einen bestimmten Bereich, sondern um eine Ausdifferenzierung. Durch die Verb-zweit-Stellung (sogenanntes V2) können andere Kausalbeziehungen ausgedrückt werden als durch die Verb-letzt-Stellung. Mit solchen V2-Sätzen kann man nämlich als Sprecher/in deutlich machen, warum man von dem Sachverhalt im Hauptsatz («Hausmeister ist gegangen») überzeugt ist – eine sogenannte epistemische Beziehung: Ich weiß, dass der Hausmeister schon gegangen ist, weil ich sehe, dass sein Anorak nicht mehr am Haken hängt.[3] Das könnte man mit Verb-letzt-Stellung nicht ausdrücken:

«Der Hausmeister ist schon gegangen, weil sein Anorak da nicht mehr am Haken hängt.»

Mit dieser Wortstellung bedeutet der Satz etwas völlig anderes: wir müssten das zum Beispiel so interpretieren, dass der Hausmeister beleidigt nach Hause gefahren ist, weil jemand seinen Anorak vom Haken genommen hat. Die epistemische Lesart funktioniert hier nicht. Grammatische Veränderung in der Sprache, die Entstehung einer V2-Option für weil, hat also zu zusätzlichen Ausdrucksmöglichkeiten geführt (neben der neuen epistemischen Bedeutung kann man mit V2-weil aber auch weiterhin «normale», nicht-epistemische Kausalität ausdrücken). Diese Option ist übrigens nicht besonders neu, es gab sie schon im Alt- und Mittelhochdeutschen.[4]

Wie im Fall von brauchen haben wir es also auch hier mit einer Veränderung zu tun, die nicht auf mangelnde Sprachkompetenz hinweist, sondern aus Sicht des grammatischen Systems sinnvoll ist und sich im Gebrauch der Sprecher/innen systematisch manifestiert. Auch hier läuft diese systematische Veränderung für die Sprecher/innen unbewusst ab – so unbewusst, dass einzelne Sprecher/innen, die die neuen Formen gebrauchen, dies auf Nachfrage vehement dementieren:

«Ich verwende nie weil mit Verb-zweit-Stellung, weil das klingt furchtbar!» (Aussage einer Studentin in einem Grammatik-Seminar)

Neben lautlichen Veränderungen und Veränderungen in Flexion, Wortstellung und der Kombination von Wörtern verändert sich in Sprachen auch die Bedeutung von Wörtern, zum Beispiel im Bereich bestimmter Stile und Register. So hat im Bereich der Jugendsprache das Wort geil seine ursprünglich sexuelle Bedeutung verloren und wird nun im Sinne von gut verwendet, und ganz ähnlich bedeutete astrein, ein Wort aus meiner eigenen Jugendzeit, nicht mehr «frei von Astlöchern», sondern wurde ebenfalls für positive Bewertungen gebraucht. (Im Gegensatz zu geil war astrein nicht besonders erfolgreich und konnte sich nicht lange halten – kennen Sie es noch?)

Typischerweise verändert sich auch die Bedeutung von Ausdrücken, wenn sie als Fremdwörter in ein neues sprachliches System aufgenommen werden. So bezeichnet das Wort JobArbeitarubaitoArubaito