Franziska Meier
DANTES GÖTTLICHE KOMÖDIE
Eine Einführung
Verlag C.H.Beck
Es gibt wenige Bücher, die sich so unangefochten unter den größten Büchern der Weltliteratur behaupten wie Die Göttliche Komödie. Dante Alighieri verfasste sie zwischen 1306 und 1321 unter widrigen Umständen. Das gegen ihn verhängte Todesurteil hatte ihn 1301 ins Exil gezwungen. Diese große Krise seines Lebens wollte er ausgleichen, ja überwinden, indem er seinen gleichnamigen Helden an der Seite Vergils und seiner Jugendliebe Beatrice auf eine Reise durch die drei Jenseitsreiche göttlicher Justiz schickte.
Was dieser Held dort sieht oder hört, ist sehr persönlich und zeitverhaftet. Zugleich spiegelt es zweitausend Jahre Geschichte wider, soweit sie ein Florentiner um 1300 kennen konnte. Dante gelang es, antike und christliche Traditionen lebendig zusammenzubringen und dabei neue, in die Renaissance und Moderne weisende Wege einzuschlagen.
Franziska Meier ist Professorin für Romanische Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Georg-August-Universität Göttingen.
Einleitung: In der Mitte unsrer Lebensreise – Nel mezzo del cammin di nostra vita
I. Wer war Dante Alighieri?
1. Dante – die kanonische Biographie
2. Dante Alighieri – historische Rekonstruktionen
3. Warum schreibt Dante die Göttliche Komödie?
4. Welche Form gab Dante seiner Komödie?
II. Das Jenseits und seine Bewohner
1. Dantes Vorläufer und Quellen
Aeneas’ Abstieg in die heidnische Unterwelt
Die Entrückung des Apostels Paulus
Die mittelalterlichen Visionen
Die Miradsch (Mohammeds Himmelfahrt)
2. Dantes Jenseits als Synthese aus Antikem und Christlichem
Geographie
Landschaften
Die Wächter
Die drei Führer
Die Herkunft der Seelen
Die physiologische Erklärung der Schattenleiber
3. Die Ordnungen der Jenseitsreiche
Das Inferno und die aristotelische Ethik
Das Purgatorium und die sieben Todsünden
Das Paradies und die Tugenden
4. Die einzelne Seele und ihr Ort in der göttlichen Ordnung
III. Der Wanderer und der Dichter auf ihren Wegen durchs Jenseits
1. Zeitpunkt und Ablauf der Reise: Das Jubeljahr 1300
2. Der Wanderer im Inferno: Ein Lernprozess
Vorschusslorbeeren für den Dichter der Komödie
Der erste Schock: Francesca da Rimini
Die Werte des Diesseits
Der Wanderer unter bestechlichen Politikern
Ulisse: Dantes Alter Ego
Der Rückfall: Die Lust am Streitgedicht
3. Der Wanderer im Purgatorium: Ein Prozess der Läuterung
Die Läuterung des Wanderers
Die Läuterung des Lyrikers
Dantes Konfession vor Beatrice
4. Der Wanderer in den Himmelssphären
Sich dem Göttlichen nähern
Die Fragen des Wanderers
Die Gottesvision
5. Die Niederschrift der Jenseitsreise
Die Anrufung der Musen
«Dichter der irdischen Welt»
Das Problem: Dichtung eine schöne Lüge?
IV. Zur Rezeption der Komödie
1. Die frühen Leser und Kommentatoren
2. Die Komödie als Anfang der modernen Dichtung: Die Rezeption in Europa nach 1800
3. Die Commedia übersetzen
Weiterführende Literatur
Bildnachweis
Zeittafel
Register
Auch wer kaum mehr als den Namen Dante Alighieri oder den Titel Göttliche Komödie gehört hat, der wird vielleicht in der ein oder anderen Form die ersten Verse daraus kennen. Da ist die Rede von einem Menschen, der in der Mitte des Lebens vom rechten Wege abgekommen ist.
Nel mezzo del cammin di nostra vita
Mi ritrovai per una selva oscura
Ché la dritta via era smarrita.
Grad in der Mitte unsrer Lebensreise
befand ich mich in einem dunklen Walde,
weil ich den rechten Weg verloren hatte. (Inf. I 1–3)
Damit ist der Ausgangspunkt einer außergewöhnlichen Reise benannt, die in der Komödie geschildert wird. Ein Mann erinnert sich daran, wie er aus höchster Not von dem Schatten Vergils gerettet wurde und an dessen Seite durch die Kreise der Hölle hinunterkletterte, die unwegsamen Terrassen des Läuterungsberges erklomm und schließlich zusammen mit der geliebten Beatrice über die kreisenden Planeten in den Sternenhimmel aufstieg, bis sich ihm sogar das göttliche Licht aufschloss.
In den ersten Versen umreißt der Dichter mit wenigen Worten seine einstige verzweifelte Lage. Er hatte sich verirrt, genauer er war sich auf einmal bewusst geworden, dass er sich verirrt hatte. Und im Mittelalter heißt das meist, dass er sich von Gott entfernt hatte, wenn nicht sogar – aufgrund einer schweren Sünde – von ihm abgefallen war. Dante findet sich in einem dunklen und wilden Wald wieder – schon das vom Lateinischen abgeleitete Wort selva bedeutete Gefahr und Verderben.
Die Landschaft ist übrigens keineswegs originell. Vielmehr setzt sie sich aus im Mittelalter weitverbreiteten Topoi zusammen, die indes bei Dante weder künstlich noch abgegriffen wirken. Im Gegenteil, wie uns die Rezeptionsgeschichte der Komödie lehrt, vermittelt die knappe Szenerie bis auf den heutigen Tag Lesern in allen Teilen der Welt das Gefühl einer existentiellen Angst und Orientierungslosigkeit.
Von den ersten Versen an lässt Dante keinen Zweifel daran aufkommen, dass er seine eigene, ganz persönliche Geschichte erzählt. Gleich zu Beginn führt er das so charakteristische Wechselspiel zwischen seinem erlebenden Ich, dem Wanderer Dante, und seinem schreibenden Ich, dem Dichter Dante, ein (ist von diesen beiden literarischen Figuren der Commedia die Rede, erscheint der Name im Folgenden kursiv). Wer einmal eine Rezitation der Gesänge, etwa von Roberto Benigni, erlebt hat, der weiß, dass dieses Ich, das in der Komödie einmal bei seinem Vornamen Dante gerufen wird, die ganze Jenseitswanderung und Dichtung eindrucksvoll beherrschen wird. Es ist Dante, der handelt, hört, sieht, riecht, fühlt und redet. Es ist Dante, der mit den Worten ringt und das Unglaubliche seinen Lesern begreiflich und plausibel zu machen sucht. Dieses individuelle Ich ist das, was alles zusammenhält. Und diese Setzung war Anfang des 14. Jahrhunderts revolutionär.
Allein aus dem ersten Vers geht ebenso unverkennbar hervor, dass Dante mit seiner eigenen Geschichte zugleich die aller Menschen beschreibt. Was er beschwört, ist die Mitte unseres Lebens, also eine Zeit, in der es, wie man heute sagen würde, zur Midlife-Crisis kommen kann, wenngleich mit unterschiedlicher Härte und existentieller Wucht. Seine persönliche Notlage erweitert Dante mittels des Possessivpronomens nostra (unser) um etwas, das jeden in der Lebensmitte treffen kann. Im Mittelalter verstand man darunter vornehmlich den sündigen Christen. Die Formulierung ist indes so offen, dass man sie auch jenseits der Religion auf everyman beziehen kann, wie es Ezra Pound ausgedrückt hat. In den ersten Versen ist somit jeder Leser eingeladen, sich mit dem Wanderer Dante auf den Weg aus dem Dickicht heraus zu begeben. Von Zeitgenossen der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts – Primo Levi in Auschwitz oder Ossip Mandelstam und Anna Achmatowa unter der stalinistischen Schreckensherrschaft – wissen wir, dass Dantes Komödie für sie zum Vademecum wurde, an dem sie sich in ihrer Verzweiflung und erschütternden Angst ein Stück weit aufrichten und sogar für Augenblicke ihres Menschseins vergewissern konnten.
Über das, was vor dem Eintritt in den Wald liegt und den Protagonisten in die missliche Lage brachte, sagt Dante nichts. Hatte er nicht aufgepasst, war er eingeschlafen oder war die Gegend auf einmal unwegsam geworden? Die Aufmerksamkeit gilt allein dem Zustand der Dunkelheit, des qualvollen Nichtweiterwissens. Zunächst schleppt er sich allein weiter: Vom düsteren Wald gelangt er zu einem Tal voll Wasser, das an das biblische Tal der Tränen gemahnt. Zuletzt erblickt er einen von den Strahlen der aufgehenden Sonne erleuchteten Berg, der ihn wieder Mut fassen lässt. Sein Weg führt ihn somit aus den Niederungen zum Anblick der Höhe, aus der Dunkelheit ins Licht, lauter Topoi, die weitverbreitet sind und die Dante sowohl emotional als Ausdruck von Schrecken und Verheißung als auch allegorisch in ihrem christlichen und moralischen Gehalt ausschöpft.
Der Mut verlässt ihn allerdings alsbald wieder, da ihm der Weg hinauf zur Spitze des Berges versperrt ist. Drei Tiere, erst eine Pantherkatze mit geflecktem Fell, dann ein stattlicher Löwe und schließlich eine abgemagerte hungrige Wölfin, stellen sich ihm entgegen. Sie stehen allegorisch für drei Todsünden, vermutlich für die Wollust, den Hochmut und den Geiz, der zugleich gefräßige Gier nach immer mehr Besitz ist. Hier oszillieren die Verse zwischen autobiographischem Bericht und einer allgemeinen Diagnose der eigenen Zeit. Denn die Todsünden, auf jeden Fall die ersten beiden, belasten Dante persönlich, darüber hinaus gehören sie, allen voran der Geiz oder die Gier nach Reichtum, zu den Geißeln menschlichen Zusammenlebens, wie sie gerade auch in sozialen und politischen Krisenzeiten zutage treten, in denen sich Italien damals befand.
Seinem verzweifelt suchenden Blick zeigt sich auf einmal ein Wesen. Es ist der Schatten des großen römischen Dichters Vergil, dessen Werke der Wanderer so intensiv studierte und sich zum Vorbild erkor. Von ihm erfährt er, dass er an den drei Tieren niemals vorbeikommen werde. Vielmehr müsse er einen Umweg nehmen, nämlich erst nach unten, durch den Höllenschlund. Auf dieser beschwerlichen Reise bietet sich ihm Vergil als Führer an, der ihn bis zu jener strahlenden Bergspitze, auf der sich der Garten Eden befindet, mit Rat und Tat geleiten wird. Dort werde dann eine mit dem Himmel vertraute Selige seine Stelle einnehmen. Damit ist der Aufriss der Wanderung bis zur Wiederbegegnung mit Beatrice, seiner Jugendliebe, skizziert.
Der Einleitungsgesang verdeutlicht das kolossale Wagnis, auf das sich der Wanderer wie der Dichter, aber eben auch der Leser einlässt. Für alle drei steht viel auf dem Spiel. Der verirrte Wanderer Dante lässt sich auf ein riskantes Spiel mit dem Feuer ein, denn welcher Lebende war je aus dem Reich der Toten unversehrt zurückgekommen? Der Dichter wiederum stellt höchste, im Grunde skandalöse Ansprüche an sein Werk. Er will seine unerhörten Begegnungen mit dem Transzendenten nicht nur selbst zu Papier, sondern sie obendrein in eine diesem angemessene sprachliche Form bringen. Seine Komödie entfaltet somit nicht nur die gefahrenreiche Geschichte einer Reise, die noch niemand machte, sondern auch das stete, häufig verzweifelte Ringen des Dichters mit den beschränkten Möglichkeiten menschlicher Sprache. Mit deren Klängen und Bildern strebt er, das Unerhörte und Unsagbare sagbar und hörbar zu machen. Der Leser schließlich erlebt die Ängste, Sorgen und Freuden des Wanderers mit. Zugleich sieht er sich immer wieder neu herausgefordert, in die verschiedenen Sinnschichten der Komödie einzutauchen und sie sich klarzumachen. Auch das Lesen hat seine Klippen, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn.
Wer nach einem Bild von Dante Alighieri sucht, wird meistens bei einem Fresko von Domenico di Michelino landen, das 1465 entstand und im Florentiner Dom an prominenter Stelle, ganz nahe am Hauptaltar, angebracht ist. (s.S. 13) Der Ehrenplatz ist weniger dem Status Dantes als Dichter der drei Jenseitsreiche geschuldet als der städtischen Memorialpolitik, die die mächtigen Zünfte im Dom betrieben. Dargestellt ist Dante in voller Größe mit der für ihn so typischen Adlernase und dem entschlossenen Mund. In seiner linken Hand hält er das aufgeschlagene Buch seiner Komödie, während sich die rechte ausgestreckt zur andern Seite öffnet. Sie zeigt gleichermaßen auf den Zug der Sünder in die Hölle und auf den weit dahinterliegenden, von einem Engel bewachten Eingang zum Läuterungsberg, über dem die Planeten und Sterne ihre Bahnen ziehen. Auf der von uns aus gesehen rechten Seite verschanzt sich die Stadt Florenz mit den Wahrzeichen der Kuppel und des Turms des Palazzo Vecchio hinter einer Mauer. Der Dichter ist ausgeschlossen, doch überragt er seine Heimatstadt, die sich im 15. Jahrhundert vergebens darum bemühte, seine sterblichen Überreste aus Ravenna an den Arno zurückzuholen.
Domenico di Michelino: Dante zeigt die drei Reiche seiner Komödie. Fresko (1465) im Florentiner Dom.
Dieses Fresko hat dazu beigetragen, dass wir Dante in ein Florenz versetzen, das er, selbst wenn er aus dem Exil heimgekehrt wäre, nicht hätte sehen können. Es könnte zwar sein, dass er Ende des 13. Jahrhunderts von einigen der gewaltigen Bauvorhaben der Stadt hörte, sie vielleicht sogar kraft seines politischen Amtes förderte, aber die Arbeiten begannen erst später. Geplant war seinerzeit eine neue Stadtmauer, die wegen der stark anwachsenden Bevölkerung (Florenz gehörte damals zu den fünf größten Städten in Europa) nötig geworden war, sowie ein eigener Regierungssitz an der Piazza della Signoria, den wir heute Palazzo Vecchio nennen. Zudem wurde der Architekt Arnolfo di Cambio mit dem Bau des Doms betraut, Giotto mit dem des Campanile. Das Florenz Ende des 13. Jahrhunderts müssen wir uns als eine Baustelle und ein Gewirr von Straßen, Häusern und 110 Kirchen vorstellen, aus denen majestätisch das Baptisterium, das heute älteste intakte Bauwerk in der Stadt, mit seinen byzantinischen Mosaiken ragte. Nach diesem San Giovanni, in dem Dante 1266 getauft worden war, sehnte er sich zurück.
Die anachronistische Assoziation Dantes mit dem Florenz der Renaissance auf dem Fresko verrät zugleich eine Crux jeder Beschäftigung mit ihm. Denn lange hat man sich ihm durch den Filter der italienischen Renaissance genähert, die Dante, obgleich er in das von den Humanisten so verachtete dunkle Mittelalter gehört, zu den ihren zählen wollte. Jacob Burckhardt wird in seiner Kulturgeschichte der italienischen Renaissance Dante als den ersten eindrucksvollen Beleg für die um 1300 spürbare Individualisierung des Menschen würdigen, die über 100 Jahre später ihren Höhepunkt erreicht.
Bis heute stützt sich vieles, was wir über Dante wissen, auf spätere Quellen. Das gilt für die ersten Lebensbeschreibungen, die im 14. Jahrhundert Giovanni Boccaccio und im 15. Jahrhundert Leonardo Bruni aus dem Geiste des Humanismus verfassten, ebenso wie für die Anekdoten und Berichte über Ereignisse im Leben des Dichters, die in zeitgenössischen Chroniken, Kommentaren zur Komödie aus dem 14. und 15. Jahrhundert sowie in Novellensammlungen überliefert sind. Früh begann der Kult um den Dichter. Die volkstümliche Tradition erzählte gern Geschichten von Dantes Jähzorn oder seiner auffallend dunklen Hautfarbe; Chronisten erinnerten an seinen unerträglichen Hochmut; die humanistisch geprägten Bewunderer wiederum schätzten in ihm den Universalgelehrten sowie den Autor, der die großen antiken Traditionen wiederbeleben wollte.
Zuverlässige Zeugnisse aus der Zeit Dantes dagegen sind spärlich gesät. Wir besitzen nicht einmal ein Autograph. Leonardo Bruni muss Anfang des 15. Jahrhunderts noch einen Brief aus Dantes Feder in Händen gehalten haben; jedenfalls sagt er ihm eine gotische Kanzleischrift (cancelleresca) nach. Die historischen Dokumente zur Familie Alighieri insgesamt, vorwiegend juristische Standardverträge über Streitfälle, Mitgift und Geschäftsabwicklungen, die im 19. Jahrhundert aus Archiven zum Codice diplomatico dantesco zusammengetragen wurden, wirken spröde, nichtssagend.
Es ist daher nur zu verständlich, wenn die Dante-Biographen vom 18. Jahrhundert an vieles von ihren humanistischen und novellistischen Vorgängern übernahmen und ansonsten sich an Dantes Aussagen hielten. Denn eine in der Tat hervorstechende Eigenheit von Dantes Werk besteht in seinem Drang, das eigene Schreiben zu kommentieren und mit autobiographischen Hinweisen zu durchsetzen. Sein erstes Buch etwa, die Vita Nova, bettet die verstreute frühe Lyrik in die eigene Liebesgeschichte ein und sucht sie daraus zu erklären. Bis heute richten sich Biographen an diesen zahlreichen autobiographischen, übrigens auch selbstkritischen Einlassungen des Dichters aus, selbst wenn diese sich manchmal widersprechen oder mit historischen Geschehnissen nicht immer in Einklang zu bringen sind. Dann gilt: im Zweifel für den Dichter.
Daraus ergibt sich in etwa folgende Vita: Mit neun Jahren begegnet Dante erstmals der Frau seines Lebens: Beatrice, die seit Boccaccio mit der Tochter des reichen Kaufmanns Folco Portinari, genannt Bici, identifiziert wird. Über ihren Anblick und Gruß wird Dante zum Liebhaber und Lyriker. Seinem unerhörten dichterischen Talent verdankt er die rasche Aufnahme in die Elite der Florentiner Dichter, denen er später das Label Dolce Stil Novo verleihen wird. Der hochangesehene, auch philosophisch versierte Lyriker Guido Cavalcanti, dem Dante sein erstes Rätsel-Sonett mit der Bitte um Antwort gesendet hat, wird zu seinem «ersten Freund». Auf den frühen Tod der Beatrice 1290 folgen Jahre des intensiven Studiums, besonders der Philosophie, und die Fertigstellung der Vita Nova.
Über die Jahre zwischen 1295 und 1302 gehen die Biographen meist hinweg. Sie erwähnen Dantes Eintritt in die Politik, mit dem alles Unglück seines Lebens, wie er gerne zitiert wird, seinen Anfang nahm. Seine philosophischen Interessen zusammen mit den moralischen Canzonen brachten ihn in den Ruf eines Weisen. In kürzester Zeit gelangte er daraufhin in die höchsten politischen Ämter der Stadt, bis er 1300 turnusgemäß dem Priorat zwei Monate lang vorstand. Aufgrund seines rhetorischen Talents wurde er auf wichtige diplomatische Missionen gesandt, etwa zu Papst Bonifaz VIII. nach Rom. Deshalb hielt er sich glücklicherweise nicht in Florenz auf, als im November 1301 die Partei der Neri (Schwarzen) die Stadt im Handstreich nahm und die bis dahin dominierenden Bianchi (Weißen) stürzte. In Abwesenheit wurde Dante daraufhin zusammen mit anderen Parteigängern der Bianchi von seinen politischen Gegnern zu einer hohen Geldstrafe und im März 1302 zum Tode verurteilt. Zeit seines Lebens war er vogelfrei.
Mit besonderer Akribie widmen sich die Biographen den schweren Jahren des Exils, wenngleich gerade hier historische Zeugnisse fehlen. Umso ergebener halten sie sich an das, was Dante sagt. Mutig habe er sich von der Partei der Bianchi gelöst, kurz bevor sie im Juli 1304 vernichtend in Lastra westlich von Florenz geschlagen wurde. Fortan sei er auf sich allein gestellt gewesen und habe sich über die für die italienischen Stadtkommunen so aufreibenden bürgerkriegsähnlichen Kämpfe erhoben. Kopfzerbrechen bereitete allerdings die Wende vom papsttreuen Guelfentum, das sich in Florenz nach 1270 endgültig durchgesetzt hatte, zum kaisertreuen Ghibellinismus, was innerhalb des lange für starr gehaltenen Antagonismus der beiden Lager schwer begreiflich war. Auf jeden Fall schien es undenkbar, dass das lateinische Traktat Monarchia, in dem Dante den Kaiser als Universalmonarchen bestimmt, der von Gott direkt und folglich nicht vom Papst eingesetzt ist, um für Frieden zu sorgen, einem parteipolitischen Engagement oder Kalkül entsprungen sein könnte. Dante stand über den Parteien.
Aus den wenigen Andeutungen in der Komödie wurden die Widrigkeiten des Exils, Dantes Abhängigkeit von großzügigen Herrschern, seine Armut und Einsamkeit, vor allem aber der nicht zu brechende Stolz des exul immeritus beschworen. Seinen Werken entnahm man einen Aufenthalt in der Universitätsstadt Bologna, eine Stippvisite an der Artistenfakultät in Paris, die Boccaccio ausmalte, sowie die Zuflucht, die Dante bei den Scaligern in Verona, bei den Malaspina in der Lunigiana und zuletzt bei Guido da Polenta in Ravenna fand. Aus seinen präzisen Beschreibungen italienischer Landschaften und Gebräuche, einmal sogar aus der Nennung einer Straße in Paris, schloss man, dass er alle diese Orte mit eigenen Augen gesehen haben müsse, und tüftelte entsprechend seine Wege im Exil aus. Im Übrigen gingen die Jahre bis zu seinem Tod 1321 in der verzehrenden Arbeit an seinem Meisterwerk, der Göttlichen Komödie, dem Ziel und Angelpunkt all seines Strebens auf. Darin hob er die jung verstorbene schöne Beatrice – wörtlich: die Beseligende – aus dem Profanen ins Sakrale, setzte seiner den gesamten Kosmos erschließenden Liebe ein alle Zeiten überdauerndes Denkmal und zog mit den großen dichterischen Autoritäten der Antike gleich.
Lange Jahre neigten sogar Historiker dazu, vom Zeitalter Dantes zu sprechen. Aufgrund der Kargheit historischer Quellen aus dem 13. Jahrhundert bediente man sich seines Werkes, um sich ein Bild von den Menschen und Verhältnissen zu machen. Von den Figuren in der Komödie aus durchstöberte man Archive, schwelgte in Personengeschichte. Dantes Sicht auf die Florentiner Politik und die Ursachen der blutigen Unruhen galt als sakrosankt. Inzwischen haben sich die historischen Forschungen von dem imposanten Bild, das Dante von seiner Epoche zeichnet, nicht abgewandt, aber etwas abgelöst. Neuerdings wendet man umgekehrt Einsichten, die aus Dokumenten der politischen Geschichte zum Ringen um die politischen Institutionen, zur Heiratspolitik oder auch zur Schulausbildung und Weiterbildung in Florenz gewonnen wurden, auf Dante an und relativiert dadurch manche seiner Selbstdarstellungen.
Eheschließung. Boccaccio ist der Erste, der Dantes Heirat mit der jüngeren Gemma Donati erwähnt. Von zwei der Kinder des Dichters wusste man schon immer, denn Jacopo und Pietro kommentierten seine Komödie. Von Dantes jüngster Tochter Antonia ist bei Boccaccio zu lesen, dass sie unter dem Namen Beatrice den Schleier genommen habe. Auf die Mutter Gemma verschwendete man kaum Gedanken. Aus kulturhistorischer Sicht erweist sich Dantes Ehevertrag, in dem die Übergabe der Mitgift von 200 sogenannten kleinen Fiorini bezeugt wird, als rätselhaft. Ehen wurden zwar frühzeitig ausgehandelt, die Übergabe der Mitgift war jedoch erst unmittelbar vor dem zivilen Akt der Trauung fällig, der vom Vollzug der Ehe unabhängig ist. An dem Tag, auf den der Vertrag datiert ist, war Dante indes erst zwölf Jahre alt und damit selbst nach kanonischem Recht nicht in heiratsfähigem Alter. Wollte die Familie Alighieri dem früh verwaisten Jungen auf diese Weise einen Platz in der Gesellschaft verschaffen? Oder war ihnen selbst daran gelegen, sich mit dem mächtigen, alteingesessenen Florentiner Geschlecht der Donati zu verbinden? Gemma gehörte allerdings einem ökonomisch offenbar weniger gut gestellten Zweig der Familie an. Die Ehe sollte Dante später zwar nicht in die Arme der Donati und damit der Neri treiben. Aus dem Exil könnte er aber durchaus über seine Frau, die zunächst mit den Kindern in Florenz geblieben sein muss, bei den neuen Machthabern vorgefühlt und Möglichkeiten seiner Rückkehr ausgelotet haben.
Politische Laufbahn und Verbannung. Ob Dante tatsächlich am liebsten Bürgermeister von Florenz geworden wäre, bleibt dahingestellt. Gewöhnlich führt man seine politische Karriere auf philosophische Lektüren, auf ein nach dem Tod Beatrices aufgekommenes Verantwortungsgefühl für das Wohl der Stadt zurück. Daraus ergab sich von allein, dass Dante nur das unschuldige Opfer von Privatinteressen und Parteirivalitäten in der Florentiner Kommune sein konnte. Wenn man die politischen Verhältnisse im Florenz des 13. Jahrhunderts hinzuzieht, wie sie sich heute darstellen, fragt man sich allerdings, ob Dante nicht einfach nur Pech gehabt hat, weil er sich der zuletzt unterlegenen Partei angeschlossen und sie zu spät verlassen hatte.
Im Vergleich zu anderen verlief seine politische Laufbahn bemerkenswert glatt. Er stammte aus einer Familie, die politisch eher in der zweiten Reihe agierte. Es mag sein, dass ihn seine philosophischen Studien in den Ruf eines Weisen brachten und er 1294 nach dem Tod des Meisters der politischen Rhetorik in Florenz, Brunetto Latini, damit liebäugelte, dessen Platz einzunehmen und sich gleichsam zum moralischen Erzieher der Stadt aufzuschwingen. Seltsam ist indes, warum seine philosophische Expertise ausgerechnet zu einem kniffligen technischen Problem, zum Wahlverfahren bei den Prioren, erbeten wurde.
Politisch aktiv wurde Dante 1295, als die Ordinamenti di Giustizia wieder aufgeweicht wurden. Seit Januar 1293 waren dadurch die wegen ihres präpotenten, gewalttätigen Auftretens verhassten Adligen und Magnaten von allen politischen Ämtern ausgeschlossen worden. Die Reform dieser Reform sah nun vor, dass der, der ein politisches Amt ausüben wollte, Mitglied einer Zunft sein musste. Dante, der Sohn eines Geldwechslers, trat daraufhin in die Zunft der Ärzte, Apotheker und Gewürzhändler ein: die Arte dei medici e degli speziali. Erst saß er im allgemeinen Rat der Kommune. Im Oktober wurde er von seinem Stadtteil, dem Sestiere Por San Piero, für sechs Monate in den engen Kreis kooptiert, der den Capitano del Popolo flankierte. Entgegen der Vorschrift einer halbjährigen Pause wurde er gleich anschließend in den Rat der Hundert gewählt. Dessen Mitglieder mussten einen gewissen Wohlstand nachweisen, den die Familie Alighieri indes nach Lage der Quellen nicht besaß. Es deutet somit einiges darauf hin, dass Dantes politische Karriere gefördert wurde, wahrscheinlich von der reichen Familie Cerchi, die erst im 13. Jahrhundert vom Land in die Stadt gezogen war. Kaum zu glauben, dass Dante womöglich ein redegewandter Intellektueller im Dienste der späteren Anführer der Bianchi gewesen sein könnte. Überliefert ist, dass er sich, als sich der Zwist zwischen den Neri und den Bianchi blutig zuspitzte, im Namen des inneren Friedens für die Verbannung sämtlicher Streithähne einsetzte. Unter diesen fand sich auch Guido Cavalcanti, der an den Folgen des Exils in der Maremma sterben sollte.
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