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Volker Reinhardt

PONTIFEX

Die Geschichte der Päpste

Von Petrus bis Franziskus

C.H.Beck

Zum Buch

Volker Reinhardt legt nach über dreißigjähriger Forschung zur Geschichte Roms und des Papsttums mit diesem Buch die seit Langem erste Gesamtgeschichte der Päpste aus der Feder eines Historikers vor. Er schildert, wie die Bischöfe von Rom in der Antike den Primat über alle anderen Bischöfe durchsetzten, im Mittelalter die Hoheit über Könige und Kaiser gewannen, als weltliche Herrscher den Kirchenstaat vergrößerten und dabei jahrhundertelang die Erhöhung der eigenen Familie im Blick hatten. Unzählige Kunstwerke zeugen bis heute von diesem vielfältigen Machtanspruch, und die meisten entstanden in Renaissance und Barock, als die Machtfülle schon bröckelte. Bis weit ins 20. Jahrhundert stemmten sich die Päpste gegen die Moderne und handelten dem Papsttum das Stigma des Ewiggestrigen ein. Aber der Ruf nach Reformern ist, wie die fulminante Darstellung zeigt, so alt wie das Papsttum. So bleibt auch Franziskus dem Rollenspiel von machtbewusster Kurie und spirituellem Erneuerer treu.

Über den Autor

Volker Reinhardt, Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg, gehört weltweit zu den besten Kennern der Papstgeschichte. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. die erfolreichen Biographien «Alexander VI. Borgia» (2. Aufl. 2011), «Pius II. Piccolomini» (2013) sowie zuletzt «Luther, der Ketzer. Rom und die Reformation» (3. Aufl. 2017).

Inhalt

Einleitung

1.: Legenden, Uranfänge und erste Machtkämpfe – Von Petrus bis Eusebius (309/310)

Das Petrus-Problem

Schattenbeschwörung: Von Linus zu Eleutherus

Streit um Ostern und das Problem des Kaiserkults:
Victor I., Zephyrinus, Calixtus I.

Das Problem der «Gefallenen»:
Urban I., Pontian, Anterus, Fabian, Cornelius, Lucius I.

Taufstreit und Autoritätskonflikte:
Stephan I., Sixtus II., Dionysius

Meeresstille und unruhige Fahrt:
Felix I., Eutychianus, Caius, Marcellinus, Marcellus I., Eusebius

2.: Die «Konstantinische Wende» und
der Weg zum doppelten Primat – Von Miltiades bis Johannes II. (311–535)

Toleranzedikt und Konzil: Miltiades, Silvester I.

Streit um ein Jota: Marcus, Julius I., Liberius

Der erste Papst: Damasus I.

Reichsverfall und Primatansprüche:
Siricius, Anastasius I., Innozenz I.

Günstlingswirtschaft, Gnadenstreit, Grabenkämpfe:
Zosimus, Bonifaz I., Cölestin I., Sixtus III.

«Konsul Gottes»: Leo I.

Zwischen Arianern und Monophysiten:
Hilarius, Simplicius, Felix III.

Zwei Schwerter, ein Papst: Gelasius I.

Zwischen Goten und Kaisern:
Anastasius II., Symmachus, Hormisdas, Johannes I.

Streit um die Designation:
Felix IV., Bonifaz II., Johannes II.

3.: Am langen Arm von Byzanz – Von Agapet I. bis Constantin (535–715)

Marionette und Märtyrer: Agapet I., Silverius, Vigilius

Zwischen Langobarden und Byzanz:
Pelagius I., Johannes III., Benedikt I., Pelagius II.

Schutzherr der Ewigen Stadt: Gregor I.

Blicke nach Westen:
Sabinian, Bonifaz III., Bonifaz IV., Deusdedit, Bonifaz V.

Der Papst als Ketzer? Honorius I.

Gegen den Monotheletismus:
Severinus, Johannes IV., Theodor I., Martin I., Eugen I., Vitalian

Ruhe vor dem Sturm:
Adeodatus, Donus, Agatho, Leo II., Benedikt II., Johannes V.

Eiszeit und Beginn der Emanzipation: Konon, Sergius I., Johannes VI., Johannes VII., Sisinnius, Constantin

4.: Der Weg nach Westen – Von Gregor II. bis Nikolaus I. (715–867)

Bilderkämpfe: Gregor II., Gregor III.

Die fränkische Wende: Zacharias, Stephan II.

Adelsherrschaft: Paul I., Stephan III.

Familienmacht und Nepotismus: Hadrian I.

Kaisermacher und Kirchenbauer:
Leo III., Stephan IV., Paschalis I.

Symbolische Selbstbehauptung:
Eugen II., Valentin, Gregor IV., Sergius II.

Seeschlacht, Borgomauern und Reliquien: Leo IV.

Legenden und letzter Glanz: Benedikt III., Nikolaus I.

5.: Silberstreifen an blutigen Horizonten – Von Hadrian II. bis Gregor VI. (867–1046)

Verbrechen an Lebenden und Toten:Hadrian II., Johannes VIII., Marinus I., Hadrian III., Stephan V.

Papst oder nicht Papst? Formosus, Bonifaz VI., Stephan VI., Romanus, Theodor II., Johannes IX., Benedikt IV., Leo V.

Mord und Geblütsheiligkeit: Sergius III., Anastasius III., Lando, Johannes X., Leo VI., Stephan VII., Johannes XI.

Alberichs Päpste:
Leo VII., Stephan VIII., Marinus II., Agapet II., Johannes XII.

Für und gegen Otto I.: Leo VIII., Benedikt V., Johannes XIII.

Marionetten der Crescenzier: Benedikt VI., Benedikt VII., Johannes XIV., Johannes XV.

Träume von einem neuen Rom: Gregor V., Silvester II.

Crescenzier-Päpste, neue Folge: Johannes XVII., Johannes XVIII., Sergius IV., Benedikt VIII., Johannes XIX.

Drei sind zwei zu viel:
Benedikt IX., Silvester III., Gregor VI.

6.: Kirchenreform und Hegemoniekämpfe – Von Clemens II. bis Cölestin III. (1046–1198)

Päpste von Kaisers Gnaden: Clemens II., Damasus II., Leo IX.

Emanzipation vom Reich:
Victor II., Stephan IX., Nikolaus II., Alexander II.

Radikalreform: Gregor VII.

Reformkurs und Kreuzzug: Victor III., Urban II.

Kämpfe mit dem Kaiser: Paschalis II.

Der Weg zum «Wormser Konkordat»:
Gelasius II., Calixtus II.

Normannen und Schismatiker: Honorius II., Innozenz II.

Kämpfe um die Kommune:
Cölestin II., Lucius II., Eugen III., Anastasius IV., Hadrian IV.

Kampf gegen Barbarossa: Alexander III.

Ketzerbekämpfung und staufische Umklammerung:
Lucius III., Urban III., Gregor VIII., Clemens III., Cölestin III.

7.: Der Kampf um die Vormacht – Von Innozenz III. bis Benedikt XI. (1198–1304)

Herr der Christenheit: Innozenz III.

Trügerische Harmonie: Honorius III.

Gegen den Antichrist: Gregor IX.

Erstes «Konklave» und finale Kämpfe gegen die Staufer:
Cölestin IV., Innozenz IV., Alexander IV.

Für die Monarchie der Anjou: Urban IV., Clemens IV., Gregor X., Innozenz V., Hadrian V., Johannes XXI.

Bärchen an der Macht: Nikolaus III.

Zwischen Rom und Neapel:
Martin IV., Honorius IV., Nikolaus IV.

Der Eremiten-Papst: Cölestin V.

Kleriker gegen Laien: Bonifaz VIII., Benedikt XI.

8.: Umzug nach Avignon und Schisma – Von Clemens V. bis Gregor XII. (1305–1415)

An der Seite Philipps des Schönen: Clemens V.

Finanzgenie mit Tiara: Johannes XXII.

Müllerssohn und Minister: Benedikt XII., Clemens VI.

Reform- und Rückkehrversuche:
Innozenz VI., Urban V., Gregor XI.

Der Weg ins Schisma: Urban VI.

Neapel am Tiber: Bonifaz IX., Innozenz VII.

Ein Papst mit zwei Rivalen: Gregor XII.

9.: Neuanfang, Renaissance-Kultur und Krise – Von Martin V. zu Paul III. (1417–1534)

Rom, süßes Rom: Martin V.

Triumph des langen Atems: Eugen IV.

Ausgleich im Westen, Katastrophe im Osten: Nikolaus V.

Türkenkrieg, Nepotismus und Personenkult:
Calixtus III. und Pius II.

Intermezzo mit Rufmord: Paul II.

Der entfesselte Franziskaner: Sixtus IV.

Atempause: Innozenz VIII.

Die Borgia an der Macht: Alexander VI.

Zurück in die 60er-Jahre – vorwärts ins Goldene Zeitalter:
Pius III., Julius II.

Genussmensch und Machtpolitiker: Leo X.

Schuldzuweisungen und Selbstzerfleischung: Hadrian VI.

Selbstzerstörung: Clemens VII.

10.: Konzil, Reform und die Grenzen der Erneuerung – Von Paul III. bis Clemens VIII. (1534–1605)

Januskopf: Paul III.

Förderer des Frohsinns: Julius III.

Reform, milde und hart: Marcellus II. und Paul IV.

Rollentausch: Pius IV.

Radikalreform: Pius V.

Rekatholisierung und neue Zeitrechnung: Gregor XIII.

Banditenkrieg und Sternplan: Sixtus V.

Nachhall der Reform:
Urban VII., Gregor XIV., Innozenz IX., Clemens VIII., Leo XI.

11.: Nepotenherrlichkeit und barocke Prachtentfaltung – Von Paul V. bis Clemens X. (1605–1676)

Verflechtung und Ängstlichkeit: Paul V.

Aktives Intermezzo: Gregor XV.

Der Kosmos der Barberini: Urban VIII.

Die «Päpstin» und ihre Skandale: Innozenz X.

Den Sonnenkönig im Nacken: Alexander VII.

Maß und Maßlosigkeit: Clemens IX., Clemens X.

12.: Wider den Geist der Zeit – Von Innozenz XI. bis Pius VI. (1676–1799)

Zweite Reform: Innozenz XI.

Rückfall und Fortsetzung: Alexander VIII., Innozenz XII.

Ohnmacht in Zeiten des Krieges: Clemens XI.

Schwach und aus alter Familie: Innozenz XIII., Benedikt XIII.

Vergreisung: Clemens XII.

Verjüngung: Benedikt XIV.

Venedig am Tiber: Clemens XIII.

Gegen die Jesuiten: Clemens XIV.

Nepoten und Jakobiner: Pius VI.

Zwischenspiel ohne Staat

13.: Selbstabschließung und Sackgasse – Von Pius VII. bis Pius X. (1800–1914)

Napoleons Papst: Pius VII.

Restauration: Leo XII.

Kurze Öffnung, lange Isolation: Pius VIII., Gregor XVI.

Flirt mit dem Risorgimento und die Revolution:
Pius IX., 1846–1849

Vorwärts ins Mittelalter: Pius IX., 1850–1870

Unfehlbarkeit und Gefangenschaft im Vatikan:
Pius IX., 1870–1878

Diplomatischer Schöngeist: Leo XIII.

Gegen Moderne und «Modernisten»: Pius X.

14.: Schwankende Haltungen zur Gegenwart – Von Benedikt XV. bis Franziskus I. (1914 bis heute)

Zwischen den Fronten: Benedikt XV.

Mussolinis Papst: Pius XI.

Der letzte Papst im alten Stil: Pius XII.

Aufbruch in die Gegenwart: Johannes XXIII.

Das Konzil und die Folgen: Paul VI., Johannes Paul I.

Polen in Rom: Johannes Paul II.

Disziplin und Fürsorge: Benedikt XVI., Franziskus I.

Anhang

Liste der Päpste und Gegenpäpste

Literaturhinweise

Weitere Überblicksdarstellungen und Epochenabrisse

Von den Anfängen bis 715

Von 715 bis 1415

1415–1800

1800 bis heute

Bibliographie

Bildnachweis

Personenregister

Einleitung

Staatsrechtlich ist der Papst heute ein letzter Restbestand Alteuropas: Er ist der einzige absolute, durch keine gesetzgebende Versammlung in seiner Gewaltenfülle eingeschränkte Herrscher des Kontinents. Gewiss, sein Staatsgebiet auf dem Vatikanischen Hügel ist das kleinste der Welt, doch das ändert nichts an dieser Ausnahmestellung. Seine Wahl vollzieht sich nicht demokratisch, sondern unter striktester Geheimhaltung in einem kleinen Kreis von etwa hundert Personen, deren Durchschnittsalter jenseits der in vielen Ländern üblichen Pensionsgrenze liegt. Nach offizieller Lesart kommt in der Kür eines neuen Papstes der Wille des Heiligen Geistes zum Ausdruck, der mit Gottvater und dessen Sohn Christus zusammen nach christlichem Verständnis die Trinität, die heilige Dreifaltigkeit, bildet. Dementsprechend wird der Papst als Heiliger Vater oder auch als Eure Heiligkeit angeredet, was beabsichtigte Missverständnisse zur Folge hat: Der regierende Papst kann nicht als Heiliger verehrt werden, weil man dafür tot sein muss. Eine Anwartschaft auf Heiligkeit scheint das Amt allerdings mit sich zu bringen. Immerhin hat mehr als ein Viertel der Päpste diesen Rang tatsächlich erreicht, die große Mehrheit allerdings in grauer Vorzeit, als dieser Aufstieg noch ohne die Hürden eines hoch formalisierten Prozesses bewältigt werden konnte. In neuester Zeit scheinen sich die Chancen der Päpste auf Heiligkeit allerdings rapide zu verbessern. Von den acht Päpsten, die zwischen 1904 und 2005 regierten, sind immerhin drei bereits heilig, weitere haben angeblich gute Chancen, dies demnächst zu werden oder zumindest die Vorstufe der Seligsprechung zu erklimmen.

Eine Ausnahmeerscheinung, die sich aus den Tiefen der Vergangenheit in die Gegenwart verirrt zu haben scheint, ist der Papst auch durch seine Multifunktionalität. Seine beiden ersten Titel lauten: Bischof von Rom und Stellvertreter Christi auf Erden. Das soll heißen, dass sein Amt nicht von dieser Welt ist, sondern von Gott selbst eingesetzt, und zwar so lange, wie die Geschichte dauert, nach christlichem Verständnis also bis zum Jüngsten Gericht. An diesem Tag des Zorns geht die Zeit in die Ewigkeit über, und jeder Mensch wird gemäß seinen Taten sein Urteil empfangen: Himmel oder Hölle – mit Ausnahme der Heiligen, die der ewigen Seligkeit bereits teilhaftig sind. Die Position als Vikar des Gottessohnes bringt naturgemäß vielfältige Aufgaben mit sich. Nach päpstlicher Interpretation des Matthäus-Evangeliums, Kapitel 16, Verse 15 bis 19, hat Christus dem Apostel Petrus die alleinige Führung seiner Kirche anvertraut; deren «Verfassung» ist also ein für alle Mal als monarchisch festgeschrieben. Als Herren der Kirche beanspruchen die Päpste durch die Gnade Gottes die einzigartige Gabe, in den großen Fragen des Glaubens und der Sittenlehre unfehlbare Entscheidungen zu fällen. 1870 hat ihnen ein Konzil diese Irrtumslosigkeit bescheinigt; sie wurde daraufhin zum Dogma erhoben, an das jeder gute Katholik zu glauben hat.

Zu dieser ersten Vorherrschaft (Primat) über die Kirche gesellte sich früh der Anspruch auf eine zweite, nicht weniger umfassende Hoheit: Als Mittler zwischen Gott und Mensch weit über die Sphäre des rein Irdischen hinausgehoben, übt der Papst eine Aufsichts- und Korrekturfunktion über die Mächtigen der Christenheit aus. Manche Wortführer der päpstlichen Gewaltenfülle dehnten diese Hoheit sogar auf die «Ungläubigen» aus, also auf die Herrscher und Bewohner nichtchristlicher Weltgegenden. Gestützt auf diesen zweiten, moralisch-politischen Primat, haben Päpste früherer Zeiten Kaiser und Könige aus der Kirche ausgeschlossen, für abgesetzt erklärt und ihre Untertanen vom Treueeid entbunden.

Doch damit erschöpft sich das Amt eines Papstes noch keineswegs. Ein doppelter Herrschaftsanspruch von solcher Tragweite ließ sich nur durchsetzen, wenn die dafür nötigen politischen Voraussetzungen gegeben waren. Deren wichtigste lautete: Unabhängigkeit von weltlichen Herrschern durch die Verfügungsgewalt über ein eigenes Territorium. Diese Rolle als Herren Roms und seiner Umgebung haben die Päpste inoffiziell bereits in der Spätantike gespielt; seit dem 8. Jahrhundert sind sie allmählich, nicht ohne Widerstände und Rückschläge, zu Herrschern eines politischen Gebildes geworden, das als Besitz des heiligen Petrus galt und im Laufe der Jahrhunderte zum «Kirchenstaat» wurde. Als dieser am 20. September 1870 mit Waffengewalt erobert wurde und im Königreich Italien aufging, fühlten sich die Päpste um ein göttliches Recht betrogen; in den Lateranverträgen, die Papst Pius XI. am 11. Februar 1929 mit dem faschistischen Italien schloss, gewannen sie dieses Recht und ihren Staat in den bis heute bestehenden Miniatur-Dimensionen zurück.

Zu diesen drei Seelen in einer Papstbrust kam lange Zeit eine vierte: der Papst als Haupt und Förderer eines Familienverbandes. Diese Rolle haben die Päpste vor allem vom 13. bis 18. Jahrhundert mit großer Leidenschaft und vollem Einsatz gespielt; zeitweise wurde so aus der wichtigsten Nebensache die alleinige Hauptsache, zum Beispiel unter Alexander VI. Borgia (1492–1503). Seit dem 19. Jahrhundert tritt der Nepotismus der Päpste stark zurück, doch Chefs eines persönlichen Umfelds und Netzwerks bleiben die Päpste bis heute. Sie haben eine lange Karriere innerhalb der Kirche hinter sich, ihren Aufstieg haben nützliche Freunde unterstützt, Feinde hingegen zu verhindern gesucht. Mit jedem Papst steigt daher eine neue Interessengruppe zur Macht auf; das schlägt sich in der Verteilung der Führungsämter und manchmal sogar in der Sprache nieder. Während des langen Pontifikats Johannes Pauls II. wurde vatikanischen Insidern zufolge das Polnische zur zweiten Amtssprache des Heiligen Stuhls, nach dem Lateinischen.

Als Ausnahme-Institution mit dem Anspruch auf eine doppelte Ausnahme-Macht trat das Papsttum früh in erbitterte Konkurrenz zu den etablierten Herrschern und Gewalten, die sich des Christentums als Staatsreligion, das heißt: als Instrument ihrer eigenen Herrschaft, zu bedienen suchten. Diesen langen Machtkampf konnten die Päpste nur bestehen und zeitweise sogar gewinnen, weil sie sich auf eine immer sorgfältiger und wortmächtiger ausgearbeitete Ideologie stützten, die die von ihnen angestrebte Machtstellung als Ausdruck des göttlichen Willens und zugleich als der Natur des Menschen angemessen und daher vernünftig verkündete. Gefährdet war ihre Position trotzdem. Der Herrschaftsanspruch der Päpste beruhte auf der Interpretation von Bibelstellen, war also abstrakt und angreifbar; umso dringender waren sie darauf angewiesen, die daraus abgeleitete Machtstellung eindrucksvoll zu veranschaulichen. Der Mensch glaubt, was er sieht: Dieser tiefen Einsicht in die Psyche und Beeinflussbarkeit des Homo sapiens folgend, haben die Päpste jahrhundertelang intensiver, kostspieliger und aufwendiger bauen, meißeln und malen lassen als alle anderen Herrscher Europas und sind so zu Pionieren moderner Propagandatechniken und Mediennutzung geworden. Ihr Ziel war es, ihre Hauptstadt Rom als Sitz der höchsten Autorität auf Erden zu kennzeichnen: sichtbar, anfassbar, durchwanderbar. Auf diese Weise wurde Rom zu einem Kulturzentrum ohnegleichen, und der Vatikan mit der Peterskirche, der Sixtinischen Kapelle, dem Papstpalast und seinen Museen zu einem einzigartigen Kunst-Heiligtum. Diese Rolle als pulsierender Mittelpunkt innovativer Ideen und stilbildender Kunstwerke ist seit etwa 1800 ausgespielt; bezeichnend dafür ist, dass die nobel freskierten Borgia-Apartments im Vatikan heute ein Museum für modernen religiösen Kitsch beherbergen.

Gemäß seinem Selbstverständnis steht das Papsttum zugleich über der Geschichte und in der Geschichte. Metahistorisch, also übergeschichtlich, ist sein Anspruch auf göttliche Einsetzung und Unfehlbarkeit sowie die damit verbundene Mission bis ans Ende der Zeit. Historisch und damit dem Wandel unterworfen sind nach eigener Auslegung die Erscheinungsformen des Amts: seine Organisation, seine Behörden, sein Personal und dessen Lebensstil. Mit dieser Verwurzelung in der Zeit und im Menschlichen ist – wiederum nach eigener Anschauung – auch die Sündhaftigkeit verbunden, die die Natur des Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies befallen hat. So kann auch ein böser Mensch Papst werden, wenn der Heilige Geist die sündhafte Menschheit mit einem schlechten Oberhaupt der Kirche strafen will. Der Heiligkeit des Amtes und seiner Irrtumslosigkeit in den dogmatischen Grundfragen aber wird damit nach eigener Auffassung kein Jota fortgenommen. Mit dieser gedanklichen Hilfskonstruktion konnte es sich die mehr oder weniger offizielle Geschichtsschreibung der Kirche erlauben, auch die sogenannten «dunklen Jahrhunderte» des Papsttums mit der «Hurenherrschaft» Marozias und ähnliche Tiefpunkte nicht zu verschweigen. Nach jeder Talsohle verhalf der Herr den Päpsten zu neuem Aufstieg und stellte damit die Unzerstörbarkeit der Kirche unter Beweis – so lautete die Schlussfolgerung aus diesen Epochen des Niedergangs.

Damit erklärt sich, dass die Geschichte der Päpste schon immer mehr war als bloße Historiographie. Im Zeitalter der rivalisierenden Konfessionen zwischen 1550 und 1700 wurde sie zu einem theologischen Kampfplatz ersten Ranges. Lutherische Historiker, die gemeinsam das Monumentalwerk der «Magdeburger Centurien» verfassten, versuchten am Wirken der Nachfolger Petri zu zeigen, wie die vorbildliche Kirche der Uranfänge durch Macht- und Habgier der Päpste vom wahren Glauben abwich und Rom schließlich zum Sitz des Antichrist, des Bösen auf Erden schlechthin, absank. Demgegenüber hob der Reformkatholik und spätere Kardinal Cesare Baronio am Beispiel der Päpste und ihrer Geschichte die göttlich garantierte Selbsterneuerungskraft der römischen Kirche und damit ihre Zukunftsfähigkeit hervor.

Dieser konfessionelle Gegensatz setzte sich in den repräsentativen Papstgeschichten des 19. Jahrhunderts mit alten und neuen Tönen fort. Als Protestant und Preuße verfasste Leopold Ranke 1832 bis 1836 sein Werk Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert aus einer doppelten Gegenposition. Gerade wegen dieses nationalen und weltanschaulichen Kontrasts wurde dieses Thema für ihn zu einer methodischen Probe aufs Exempel: Geschichte zu schreiben, wie sie wirklich gewesen war, ohne moralischen Zeigefinger, ohne Beimengung hochtrabender Geschichtsphilosophie, stattdessen ganz aus dem Geist der Zeit selbst geschöpft. Dieses anspruchsvolle Unterfangen, den eigenen Schlagschatten aus der Vergegenwärtigung der Vergangenheit so weit wie möglich herauszuhalten, gelang Ranke, wie er selbst wusste (und sagte), außergewöhnlich gut. Trotzdem ist sein weltanschaulicher Standpunkt allenthalben spürbar, und zwar so sehr, dass sich der katholische Konvertit Ludwig Pastor zu einem monumentalen Gegenwerk aufgerufen fühlte. Seine von 1879 bis 1928 verfasste Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters behandelt nach einem weit ausholenden Rückblick die Zeit von Martin V. bis Pius VI., also von 1417 bis 1799. Das Werk beruht auf Quellen aus dem Vatikanischen Geheimarchiv, dem Archivio Segreto Vaticano, das Leo XIII. mit seinen älteren Beständen 1881, nicht zuletzt auf Drängen Pastors, für die Historiker geöffnet hatte. Pastors Papstgeschichte ist konfessionell eingebunden und macht auch kein Hehl daraus: Der doppelte päpstliche Primat ist von Gott eingesetzt, Papstgeschichte ist daher letztlich Heilsgeschichte. Gemäß diesen außerwissenschaftlichen Überzeugungen wird das Handeln der Päpste in der Geschichte so weit wie möglich gerechtfertigt und nicht selten beschönigt, doch ohne aus dieser theologisch-moralischen Perspektive peinliche Tatbestände zu verschweigen. So ist Pastors Werk trotz längst überholter Konzeptionen und Deutungen im Großen wie im Kleinen durch die Fülle des gesichteten Materials bis heute ein unerschöpflicher Steinbruch für alle Versuche, Papstgeschichte anders zu verstehen und darzustellen.

Im Geiste Pastors, allerdings in Polemik und Apologie deutlich zurückgenommen, nahm Franz Xaver Seppelt ab 1931 eine Geschichte der Päpste von den Anfängen bis zur Gegenwart in Angriff, die von seinem Schüler Georg Schwaiger weiter- und schließlich zu Ende geführt wurde. Obwohl im Ton moderater, steht auch sie ungebrochen in der Tradition des konfessionellen Wahrheitsbeweises. Das gilt auch für Johannes Hallers drei Jahre nach Seppelt begonnene Papstgeschichte, allerdings aus der protestantisch-konservativen Gegenposition, wie schon der Untertitel «Idee und Wirklichkeit» andeutet. Für Haller ist der Aufstieg des Bischofs von Rom zur Herrschaft über die Kirche und die Christenheit eine Geschichte des Abfalls von den urchristlichen Prinzipien, ganz so, wie es Flavius Illyricus und seine Mitstreiter der Magdeburger Centurien sahen, nur sehr viel verbindlicher in der Wortwahl und natürlich auf der Höhe neuer Quellenerschließungen.

Der alles beherrschende Gegensatz zwischen katholischen und protestantischen Standpunkten, Blickwinkeln, Zugängen und Urteilen durchzieht die Geschichte der Päpste bis heute, allerdings noch unterschwelliger, uneingestandener und damit unaufrichtiger und unwissenschaftlicher. Das zeigt sich zum Beispiel selbst in der 2000 erschienenen dreibändigen Enciclopedia dei Papi, die von dem renommierten Institut des Dizionario biografico in Rom organisiert wurde und deren einzelne Pontifikatsabrisse in der Regel von ausgewiesenen Fachleuten aus ganz Europa und damit aus unterschiedlichen historiographischen Traditionen stammen. Trotzdem treten Differenzen der Bewertung deutlich hervor; sie stechen zwischen katholischen und nicht-katholischen Sichtweisen hervor, doch sind auch nationale Einfärbungen pro und contra oft unübersehbar.

Eine Geschichte der Päpste ist somit eine Nagelprobe auf die Wissenschaftlichkeit der Geschichte. Nach offiziellem vatikanischem Amtsverständnis kann ein Papst als Stellvertreter Christi auf Erden nicht abgesetzt werden, weder von weltlichen Machthabern noch von Konzilien. Diese nicht historisch, sondern theologisch bestimmte Sicht der Vergangenheit hat Eingang in den offiziösen Katalog der Päpste im Annuario Pontificio gefunden. Nach dieser Zählung ist der regierende Papst Franziskus I. der 267. Bischof von Rom, Petrus eingeschlossen. Doch so einfach ist weder die Auflistung noch der ihr zugrunde liegende Sachverhalt. Für die Zeitgenossen war häufig nicht erkennbar, welcher Papst legitim und welcher nur «Gegenpapst» war. Besonders verzwickt, ja geradezu zum Verzweifeln unübersichtlich war die Lage 1378, als sich die Kirche für fast vierzig Jahre erst in zwei, dann sogar drei Päpste und ihre Gefolgschaften spaltete. Hier im Nachhinein über Rechtmäßigkeit oder Usurpation zu entscheiden, ist dogmatisch, aber nicht historisch. In diesem Buch wird ein Mittelweg eingeschlagen: Erzählabfolge und Überschriften orientieren sich der Übersichtlichkeit halber an den offiziell in ihrer Rechtmäßigkeit bestätigten Päpsten; zugleich wird darauf verwiesen, wie die Zeitgenossen diesen Sachverhalt sahen, welche Argumente sie in diesen Debatten anführten und warum die Kirche schließlich so und nicht anders entschied.

Auch das theologisch Undenkbare ist mehr als einmal verbürgte historische Wirklichkeit geworden: Päpste sind mehrfach auch ohne ihre vorherige oder nachträgliche Zustimmung abgesetzt worden. Nur durch ihre Zustimmung aber würde eine Absetzung zu einem legitimen Rücktritt, wie ihn Cölestin V. 1294 und Benedikt XVI. 2013 vollzogen haben. Darüber hinaus haben Päpste in Entscheidungen über Glaubensfragen nach dem Urteil ihrer Nachfolger und der Gesamtkirche nachweislich geirrt.

Eine Geschichte der Päpste lässt sich also als eine Geschichte des Glaubens und als eine Geschichte des Wissens schreiben, doch sollte man diese grundverschiedenen Gattungen tunlichst nicht miteinander vermengen. Noch weniger sollten sie in Konkurrenz zueinander treten. Als wissenschaftliche Darstellung der Papstgeschichte behandelt das vorliegende Buch alle Fragen des Glaubens als reine Ideen und Vorstellungen, nicht als Tatsachen. Auch wer mit der Geschichte der Päpste höhere, transzendente Wahrheiten verknüpft, sollte an dieser Beschränkung keinen Anstoß nehmen: Als Wissenschaft vom Menschen ist die Geschichte im Sinne Voltaires die Summe menschlicher Erfahrungen; das Übernatürliche hat darin als menschliche Vorstellung seinen Platz. Wer mehr darin sieht, möge, nachdem er die Fakten zur Kenntnis genommen hat, zur Theologie überwechseln.

Auf diese Weise tritt eine Geschichte der Päpste notwendigerweise auch gegen Mythen des Amtes, der Institution und der Personen an. Der Hauptmythos der Päpste ist die Unveränderlichkeit ihrer Geschichte in der Substanz. Als solcher hat er in anderthalb Jahrtausenden Eingang in zahllose Verlautbarungen gefunden, die sich alle in einem Punkt einig sind: Als Fels, auf den Christus seine Kirche bauen will, ist das Papsttum in seiner vollendeten Gestalt geschaffen und verharrt in dieser bis heute. Dass dem nicht so ist, haben die Historiker früh entdeckt: Keine andere Institution der Geschichte hat ihre eigene Geschichte so oft und so kreativ neu erfunden und einen so umfassenden und häufigen Gestaltwandel erlebt wie das Papsttum. Diese Arbeit an der eigenen Geschichte ist nicht als plumper Betrug abzutun. Die Päpste und ihre Ratgeber haben zu verschiedenen Zeiten Dokumente gefälscht, um die Unordnung der Welt zu beheben und diese wieder ins Lot zu bringen. Ihre Fälschungen waren für sie daher in Wirklichkeit Richtigstellungen eines falschen, schlimmer noch: schädlichen und Gott feindlichen Zustands von Staat und Gesellschaft und daher eine dem Herrn wohlgefällige Tat.

Als Herren der Christenheit, die nach eigener Einschätzung mit einem Fuß über der Erde und mit dem anderen auf ihr standen, mussten die Päpste Trennstriche ziehen: zwischen einer dem Wandel nicht unterworfenen Wahrheit und deren zeitbedingter und zeitgemäßer Einkleidung. Diese Grenzziehung ist das Grundproblem der Kirche bis heute: Was ist verzichtbar oder vielleicht sogar bloßer Ballast, was rührt an den Kern des Amtes und seiner Mission? Diese Unterscheidung vorzunehmen, ist jedem Papst aufs Neue aufgetragen; hier muss sich jeder Pontifikat neu positionieren. Daran, wie eng oder weit er diese Trennlinie zieht, wird er von der öffentlichen Meinung gemessen – nicht erst seit dem 20. Jahrhundert.

In dieser Wahrnehmung von außen ist eine Fülle von Missverständnissen angelegt. Wie weit ein Papst der Welt und ihren Forderungen nach «Modernität», «Zeitgemäßheit» und «Reformen» entgegenkommt, ist für ihn und die Kurie nur eine Frage des taktischen Ermessens und der Imagebildung; die uralte Substanz des Amtes mit seinem Anspruch auf doppelten Primat wird durch diese wechselnde Einkleidung in keiner Weise tangiert. Daher hat es auch nie einen «Papst der Aufklärung» – gängiges Klischee für Benedikt XIV. (1740–1758) – gegeben. Die Selbstgewissheit eines Voltaire, Hume oder Kant, die Welt ohne die Deutungshegemonie der Kirche und der Religion zu erklären, war und ist für alle Päpste bis heute unannehmbar, ja geradezu ein Merkmal des Bösen: Die Ratio hat ihren Platz, doch der Glaube vermittelt höhere Wahrheiten als der Verstand. Auch die so beliebte Gegenüberstellung von «progressiven» und «rückwärtsgewandten» Päpsten relativiert sich vor diesem Hintergrund beträchtlich. Man kann sie eingeschränkt aufrechterhalten, wenn man sie auf die Haltung zur Welt, auf mehr oder weniger Entgegenkommen gegenüber dem Zeitgeist und seinen Erscheinungsformen, reduziert. Dazu gehören auch die Staats- und Herrschaftsformen wie Monarchie oder Demokratie. Die Päpste haben erst seit Johannes XXIII., das heißt erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, begonnen, sich mit der Demokratie auszusöhnen, nachdem sie diese wie den Liberalismus und die moderne Kultur lange Zeit als des Teufels verdammt hatten. Doch eine Anwendung demokratischer Prinzipien innerhalb der Kirche selbst kam und kommt für die Päpste deshalb noch lange nicht infrage; damit wäre in ihren Augen nicht die Form angepasst, sondern die Substanz zerstört.

Die vorliegende Geschichte will ein ganzheitliches Profil der Päpste und ihrer Pontifikate bieten. Dazu gehört eine Bestandsaufnahme ihrer Tätigkeiten in den Hauptfeldern der Kirchenherrschaft, der moralisch-politischen Aufsicht über die christlichen Herrscher, der Machtausübung in Rom und dem übrigen Kirchenstaat, des Nepotismus sowie der Mediennutzung und Propaganda im weitesten Sinne. Lokale, regionale, italienische, europäische und globale Gesichtspunkte sollen so in einer möglichst anschaulichen und behutsam erklärenden Erzählung miteinander verschmelzen, die nicht einem starren Schema folgt, sondern nach den jeweils hervorstechenden Aktivitäten, Problemstellungen und Strategien gewichtet.

In diesen Profilen ist von den Päpsten als «öffentlichen» Persönlichkeiten die Rede, nicht vom Menschlich-Allzumenschlichen, das sich dem Zugriff der Geschichtswissenschaft beharrlich entzieht. In einer Prälatenkarriere an der Kurie, wie sie die meisten Päpste vor ihrer Wahl durchlaufen haben, ist nichts privat. Welche Bücher ein Kardinal liest, nicht liest oder schreibt, mit wem er nützliche Allianzen schließt oder verfeindet ist, wie er wohnt, sich kleidet, welche Bilder er sammelt – all das ist öffentlich, wird gesehen und bewertet, ist also Inszenierung. Für diese Inszenierungen gibt es Grundmuster mit einem bestimmten Spielraum für individuelle Akzente, doch sind diese Freiräume begrenzt. Die Kurie ist früh eine höfische Gesellschaft, in der die Akteure Masken tragen. Der Historiker kann diese Inszenierungen beschreiben und deuten; das ist sogar seine wichtigste und schwierigste Aufgabe. In das «Wesen», das «Ich», das dahintersteht, hat er jedoch kaum je Einblick. Lobreden oder Abkanzelungen verbieten sich von selbst.

Das von dem altrömischen Historiker Cornelius Tacitus beschworene Ideal einer Geschichtsschreibung sine ira et studio, ohne Parteilichkeit und Parteinahme, verliert seine Gültigkeit als moralischer Imperativ auch dadurch nicht, dass es von seinem Erfinder und den meisten Historikern bis heute mit Füßen getreten wurde. Diesem Ideal fühlt sich der Verfasser weiterhin verpflichtet – im Wissen, dass es ein ebenso lichter wie ferner Horizont bleibt. Er hat selbst Jahrzehnte lang im Vatikanischen Archiv und zahlreichen weiteren römischen Archiven zur Geschichte der Päpste und Roms geforscht; diese Quellenstudien finden vor allem für die Zeit vom 15. bis 18. Jahrhundert in zentrale Aspekte der Darstellung Eingang. Darüber hinaus beruht die Darstellung auf einer Synthese des Forschungsstands, wie er sich gewissermaßen als Schnittmenge der wissenschaftlichen Literatur zum Thema ergibt. Welche Texte zu diesem Zweck herangezogen wurden, darüber gibt die Bibliographie Aufschluss; besonders wichtige Kontroversen der Forschung, die weitreichende Unterschiede in der Deutung wichtiger Fragen und Ereignisse zur Folge haben, werden in den Pontifikatserzählungen explizit erwähnt.

In solchen Kernpunkten wird auch aus besonders bedeutsamen Quellen zitiert, auf denen das Verständnis der Papstgeschichte letztlich beruht. Sie bestehen zum einen aus erzählenden Texten, die Vergangenheit bewusst überliefern wollen und daher immer auch standpunktabhängig, also «parteiisch» sind wie etwa die «offizielle» Papstgeschichte des Liber pontificalis, dessen Lebensabrisse seit der Antike fortgeführt wurden, sowie aus den Verlautbarungen der Päpste selbst, ihren Breven, Motuproprien, Bullen und Enzykliken. Dazu ist seit Ranke eine Fülle neuer Quellen hinzugekommen: Berichte der päpstlichen Nuntien und fremder Diplomaten, Memoiren, Tage- und Rechnungsbücher, Inschriften und archäologische Zeugnisse aller Art. Auf dieser Grundlage soll das vorliegende Buch die Leitmotive und Entwicklungslinien aufzeigen, die der Geschichte der Päpste ihre Einzigartigkeit verleihen: als Kampf um den Glauben, die Gewissen, die Seelen und damit um die Macht in ihrer höchsten und reinsten Potenz.

1.

Legenden, Uranfänge und erste Machtkämpfe

Von Petrus bis Eusebius (309/310)

Das Petrus-Problem

«Papa» wurden die Bischöfe von Rom seit dem 5. Jahrhundert genannt, sechshundert Jahre später gehörte ihnen diese Ehren-Bezeichnung allein. «Papst» in der vollen Wortbedeutung – das heißt: einschließlich der damit verbundenen Ansprüche auf alleinige Hoheit über die Kirche und die Herrscher der Christenheit – waren die Bischöfe von Rom frühestens seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts, und zwar mit so herausragenden Gestalten wie Damasus I. und Leo I., dem Großen. Trotzdem setzt die vorliegende Geschichte der Päpste mit Petrus und seinen Nachfolgern ein, wie sie von späteren «Papstlisten» aufgeführt werden. Dieser Ansatz dient nicht dazu, eine so gar nicht vorhandene Kontinuität zu untermauern, sondern will die früh wuchernden Legendenbildungen um die ersten Päpste kritisch den dürren Fakten gegenüberstellen.

Von der Persönlichkeit des Fischers Petrus aus Bethsaida und seinem Wirken berichten ausschließlich Quellen des christlichen Glaubens, nämlich vor allem die vier Evangelien und die sogenannte Apostelgeschichte des Lukas, aber keine außerhalb dieser Zirkel stehenden Historiker. Als Zeugnisse einer religiösen Gemeinschaft sind diese Texte bemüht, so viel Übereinstimmung im Glauben wie möglich herzustellen; besonders wichtig ist ihnen, dass das Zeitalter des Heils angebrochen ist und die Wiederkehr Christi unmittelbar bevorsteht. An der Lebensgeschichte der Glaubenszeugen sind diese Quellen kaum interessiert: Das Ende der Zeiten naht, alles Menschlich-Allzumenschliche tritt dagegen in den Hintergrund. Eine Petrus-Biographie, die wissenschaftlichen Maßstäben standhält, lässt sich daher nicht schreiben. Gesichert ist immerhin, dass Petrus nach der Kreuzigung Jesu in Jerusalem zu einem Zwölfer-Gremium gehörte, das eine Art lockere Führungsstellung innerhalb der dortigen judenchristlichen Gemeinde innehatte, um das Jahr 43 vor Verfolgungen fliehen musste und danach in die mit großer Leidenschaft geführte Debatte verwickelt wurde, ob Heiden Aufnahme in die neue Glaubensgemeinschaft finden durften und als deren Glieder den mosaischen Gesetzen wie der Beschneidung und dem Verbot unreiner Nahrung unterworfen waren. In dieser Kontroverse stand Petrus nach Aussage der Apostelgeschichte von Anfang an auf der Seite des Paulus, der die vollständige Lösung von den Geboten der jüdischen Religion forderte und die neue Lehre damit universell zu machen suchte. Zeugnisse des Paulus selbst weisen stattdessen auf tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten in dieser entscheidenden Frage hin.

Nach dem Jahr 48 verschwindet Petrus auch aus den zeitgenössischen Quellen des Glaubens; über seine spätere Tätigkeit und sein Ende haben sie nichts zu berichten. Kurz vor dem Ende des ersten Jahrhunderts tauchte dann erstmals die Erzählung auf, dass der Fischer aus Bethsaida unter Kaiser Nero in Rom das Martyrium erlitten habe, und zwar als Haupt der dortigen Christen-Gemeinde. Historische Beweiskraft hat diese Überlieferung nicht, zu starke Interessen waren von Anfang an mit dem Todesort des Apostels verbunden. Erst um 96 n. Chr. ist in einem Schreiben der römischen Christen an die Glaubensbrüder von Korinth davon die Rede, dass außer dem Heidenapostel Paulus auch Petrus am Tiber gewirkt und das Martyrium erlitten habe. Solche «Berichte» sind ein Kernstück der Strategien, dem Bischof von Rom einen Vorrang der Ehre und Autorität in der Kirche einzuräumen, und müssen daher mit der gebotenen Quellenkritik gewichtet werden. So ist dem betreffenden Brief, der einige Jahrzehnte später unter dem Namen des Papstes Clemens firmierte, nur zu entnehmen, dass die römischen Christen Präsenz und Märtyrertod des Petrus für ihre Stadt in Anspruch nahmen und damit eine bis heute ungebrochene Tradition begründeten. Die apostolische Gründung war nicht das einzige Argument, mit dem dieser Primat untermauert werden sollte. Im Laufe der nächsten drei Jahrhunderte kamen weitere «Beweisstücke» hinzu: Bibelstellen und ihre Auslegung vor allem, doch wurden auch der angeblich immer schon vorhandene Glaube an diese Führungsstellung und die Bereitschaft, sich dieser unterzuordnen, früh zu diesem Zweck herangezogen – die Herrschaft der Päpste beruht in hohem Maße auf ihrer selbst konstruierten Geschichte. Wie sich die Idee des päpstlichen Primats entfaltete und entwickelte, wird als zentrales Element der Papst- und Kirchengeschichte bei der Darstellung der einzelnen Pontifikate eingehend nachgezeichnet.

In wissenschaftsgläubigen Zeiten reichten die späten Textstellen, die vom Wirken des Petrus in Rom kündeten, als historische Belege nicht mehr aus. «Harte» Disziplinen wie die Archäologie sollten daher im 20. Jahrhundert bestätigen, dass der Apostel tatsächlich in Rom gestorben sei und sein Grab sich unter dem Petersdom befinde. Dort wurde zwar eine antike Totenstadt von beträchtlichen Dimensionen ausgegraben, in der ein nicht mehr auffindbares Grab offenbar als Ausrichtungspunkt für andere Bestattungen diente und ab etwa 150 besondere Verehrung genoss. Als Beweis für die letzte Ruhestätte des Petrus kann es jedoch nicht dienen. Auch der Kult, der sich seit der Mitte des 2. Jahrhunderts um den mons Vaticanus und die dort 324 von Kaiser Constantin errichtete Basilika entfaltete, zeugt nur von einer alten Tradition, nicht von historischen Fakten.

Seinen Platz kann Petrus am Beginn einer Geschichte der Päpste unter bestimmten Voraussetzungen trotzdem finden, nämlich dann, wenn er nicht für eine reale, sondern für eine imaginäre Kontinuität steht. Diese fiktive Bruchlosigkeit, die sich seit dem 5. Jahrhundert in den bis heute beliebten Porträtgalerien «von Petrus bis heute» niederschlägt, ist ein geschichtsmächtiges Motiv ersten Ranges. Der mit großer propagandistischer Kunst von Rom aus verbreitete Glaube, dass die doppelte Führungsstellung des Papstes in der Kirche und über alle Herrscher der Christenheit von Anfang an Bestand hatte, ist ein ideologischer Stützpfeiler der päpstlichen Machtstellung bis heute. Daran ändert nichts, dass rein wissenschaftlich betrachtet das Gegenteil wahr ist.

Unter den Quellen des Glaubens gewannen die im Matthäus-Evangelium (Kapitel 16,17–19) verzeichneten Worte Christi an Petrus ausschlaggebende Bedeutung. Aus gutem Grund sind sie im Inneren von Michelangelos Petersdom-Kuppel in riesenhaften Lettern verewigt: «Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwinden. Ich werde dir die Schlüssel des himmlischen Reichs geben. Und alles, was du auf Erden binden wirst, wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein.» Diese Verheißung, die zum Auftrag wird, ist in knapp zweitausend Jahren immer wieder kontrovers gedeutet worden. Für den 258 gestorbenen heiligen Cyprian wurde sie in der Person des Petrus allen Aposteln gemeinsam zuteil und ging danach an die Bischöfe in ihrer Gesamtheit über; Cyprian war selbst Bischof von Karthago, begründete mit dieser Interpretation also Würde und Autorität seines eigenen Amtes. Für diese Auslegung ließen sich zudem weitere Bibelstellen, zum Beispiel im Johannes-Evangelium Kapitel 20, Vers 23 heranziehen. Im 14. und 15. Jahrhundert hatten solche «kollektiven» Deutungen der Schlüsselgewalts-Verleihung erneut Hochkonjunktur; in einer von inneren Zwistigkeiten zerrissenen Kirche versuchten die Kardinäle, ihre korporative Führung der Kirche dadurch zu untermauern. In der Zeit des Großen Schismas von 1378 wurden die Verse des Matthäus-Evangeliums sogar als Rechtfertigung für die Oberhoheit des Konzils gedeutet – Petrus stand jetzt für die Kirche in ihrer Gesamtheit, die dem Papst nur noch eingeschränkte Kompetenzen auf Widerruf übertrug. Von der Interpretation der Matthäus-Verse hing somit die Stellung zu den Päpsten ab. So prägte die Stellung zu den Päpsten die Interpretation der Verse. Wer ihren Ansprüchen spektisch gegenüberstand, tendierte dazu, ihnen einen übertragenen Sinn zu unterlegen. Für die «Papalisten», die dem Papst unbegrenzte Vollmachten zuschrieben, war der sensus litteralis, die wörtliche Bedeutung, hingegen sonnenklar und für die Organisation der Kirche verpflichtend. Protestantische Kirchenhistoriker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts begründeten ihre kritische Sicht mit der Überlieferungsgeschichte. Das Matthäus-Evangelium war etwa vierzig Jahre nach der Kreuzigung Christi entstanden, also keine wirklich zeitgenössische Quelle; so schien manches dafür zu sprechen, dass die ominöse Rede noch später eingefügt worden sei. Hatten die Päpste im Lauf der Geschichte nicht nachweislich zahlreiche Dokumente gefälscht, die ihre Machtstellung begründen sollten? Aufgrund der Überlieferungslage ist die «Einschubtheorie» heute verblasst, doch darüber, was das «Tu es Petrus», das vertont sinnigerweise zur Papsthymne geworden ist, bedeutet, besteht bis heute zwischen Katholiken und Nicht-Katholiken keine Übereinstimmung.