Konservative
Ästhetik
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Marcel Lepper, Stephan Schlak: |
KONSERVATIVE ÄSTHETIK |
Willibald Sauerländer: Ein fundamentalistischer Jeremias. |
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Karl Heinz Bohrer: Das Problem des Sinns |
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Harry Liebersohn: Doktrinärer Liberalismus. |
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Ben Hutchinson: Anglokatholik, Royalist, Klassizist. |
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Henning Ritter: Deutsche Dinge |
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Ulrich Raulff: Henning Ritter – anstelle eines Nachrufs |
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Helmut Lethen: Der Gracián-Kick im 20. Jahrhundert |
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Karl-Siegbert Rehberg: Arnold Gehlen als Briefschreiber |
KONZEPT & KRITIK |
Valentin Groebner: Ein Staubsauger namens Emotion. |
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Ariane Leendertz: Die Logik der Landnahme |
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Im nächsten Heft: Die spinnen! |
Konservative Ästhetik dominierte die frühe Bundesrepublik. Dagegen beherrschten die Köpfe und Lehrpläne spätestens seit den Sechzigerjahren linke ästhetische Unternehmen, autorisiert in der Regel mit den Denkikonen der Kritischen Theorie Georg Lukács, Theodor W. Adorno und Walter Benjamin. Von dieser linken Ästhetik gingen Versprechen aus. Mochte sich die Veränderung der Realverhältnisse in kleinen Reformschritten erschöpfen, in der modernen Avantgardekunst schien die zukünftige Gesellschaft schon einmal ihr Lager aufgeschlagen zu haben. Wie dialektisch gebrochen auch immer – hier schien der Fortschritt zu sich zu kommen, Versöhnung möglich zu sein. Und die ästhetische Theorie schrieb den Kommentar dazu – der Kommentar war das Goldrähmchen der modernen Kunst. Die begriffspolitische Signatur «Ästhetik» verschmolz mit den Jahren mit dem emanzipatorischen Projekt der Moderne so sehr, dass die konservative Ästhetik immer mehr abgedunkelt wurde. Und gab es auf dieser Flanke überhaupt ein begrifflich strenges Nachdenken über Kunst? Oder walteten nur Affekte, Ressentiments und überreizte Stimmungen – wie die Hüter des Neuen und Verfechter des Progressiven stetig mutmaßen?
Diese Ausgabe konzentriert sich mit Hans Sedlmayr, Arnold Gehlen und Martin Heidegger auf Denker ambitionierter wie umstrittener Gegenentwürfe zur linken Ästhetik. Sie waren mit ihren Stichworten in den ästhetischen Diskursen der Zeit präsent. Hielt der skeptische Blick dieser konservativen Außenseiter auf die Moderne phänomenologische Einsichten über die modernen Künste parat – wie Karl Heinz Bohrer pointiert –, die den unbedingten Fortschrittsfreunden verstellt waren? So überraschend modern sich heute Arnold Gehlens soziologisch ausgekühlte «Zeit-Bilder» lesen lassen, so idealistisch traditionell gestrickt mag dagegen Adornos über lange Zeit repräsentative ästhetische Theorie anmuten – samt ihrer bildungsbürgerlichen Vorbehalte. Die ästhetischen Programme der Nachkriegszeit lassen sich nicht so einfach ideologisch ausmünzen.
Sie waren eng gekoppelt an das revolutionäre Versprechen der modernen Kunst – in Vereinnahmung wie Ablehnung. Heute haben sich die kunstrevolutionären Energien, die ständigen Ankündigungen des Aufbrechens von Sehgewohnheiten, die immer gleichen Provokationsspiralen weitgehend erschöpft. Was einmal Impulsgeber der Avantgarde war, das Streben nach Originalität, hat sich im Kreislauf des Kunstmarktes aufgebraucht. «Das Neue wurde in dem Augenblick zur Wiederholung», notiert Henning Ritter, «als es eine künstlerische Konvention geworden war.» Dieser Pathosverlust des Neuen hat Spuren im ästhetischen Diskurs hinterlassen. Was einmal auf dem avantgardistischen Index stand – die Objektivität der Form, Kriterien und Standards, überhaupt das Lob der Handwerklichkeit –, ist in die Ästhetik zurückgekehrt. Das Neue in den Künsten ist nicht selten die Wiederentdeckung des Alten, in der Malerei wird die einstmals verpönte Gegenständlichkeit gefeiert, selbst Pop-Autoren unterwerfen sich dem Werk-Gedanken. Was einmal ein Minoritätenprogramm eigentümlicher Denker war, erlebt ein irritierendes Comeback – konservative Ästhetik. Das Bild ist unruhiger, als die Frontverläufe der Nachkriegszeit es nahelegten. Auf dem Umschlag dieser Ausgabe hält der konservative Bildhauer Arno Breker im Altmeisterkittel ein Foto des Kunstrevoluzzers Joseph Beuys in der Hand. Regressionen, Vereinnahmungen, unheilige Allianzen? Jedenfalls Grund zur Aufmerksamkeit: Die Zonen vermischen sich.
Marcel Lepper
Stephan Schlak
Über Hans Sedlmayr
1942, als großdeutscher Offizier in Russland, hat Hans Sedlmayr unter dem Titel Das Goldene Zeitalter ein zauberhaftes Buch über seine Kindheit im alten kaiserlichen Österreich-Ungarn geschrieben. Er wollte nicht das Erinnerte, sondern das Bleibende schildern. Der Ausblick vom väterlichen Haus, so notiert er, sei wie ein Vorschein für seine spätere Verzückung durch das sich selbst ordnende Land in Frankreich gewesen: «Geheime Ursache dafür, dass ich die Schlösser und Gärten des 17. und 18. Jahrhunderts wie eine verklärte Heimat empfinde, dass in unserem Reich die Landschaft von Vaux und Versailles vorbereitet und mit der Heiterkeit der Loire vermählt war.» Er erzählt vom Prinzen Eugen, der «den Zipfel des Reichs», in dem er aufwächst, «dem Kaiser wiedergekriegt» hat, und dann folgt der Satz: «Den Kaiser habe ich selbst gesehen, wie er an der Spitze seiner Generale auf der Straße unter unserem Haus, an der Parkmauer entlang gegen die Drau ritt.» Wer die Kontur des konservativen Renegaten Hans Sedlmayr nachzuzeichnen versucht, muss an diese monarchisch-österreichischen Wurzeln in dessen Kindheit erinnern. Als die Monarchie gestürzt war, studierte er Kunstgeschichte im Wiener Seminar Max Dvoráks, das damals von geflüchteten Anhängern Béla Kuns bevölkert war. Sedlmayr aber schrieb seine Doktorarbeit über Fischer von Erlach, den universalsten Architekten des untergegangenen kaiserlichen Österreich.
1926, drei Jahre nach seiner Promotion, veröffentlicht er einen Artikel mit der alarmierenden Titelfanfare «Der absolute Städtebau», in dem er sich mit den umstürzlerischen Stadtbauplänen von Le Corbusier auseinandersetzt. Hier tauchen zum ersten Mal die Argumente einer fundamentalistischen Kritik an der technisch geprägten Moderne auf, die sich drei Jahrzehnte später in Sedlmayrs sensationellstem und bekanntestem Buch Verlust der Mitte (1948) überschlagen werden. Er beobachtet: «Le Corbusier behandelt eine Stadt und ihre Teile genau so, wie man eine Maschine, eine Fabrik, ein Schiff baut… Von Stadtbaukunst sollte man nicht sprechen. Aber gerade in der Konsequenz, mit der die Stadt als Werkzeug aufgefasst wird, liegt die Überlegenheit seiner Entwürfe. Es kommt darin eine in unserer Zeit lebendige Tendenz auf reinliche Scheidung verschiedener ‹Wesen› zum Ausdruck.» Das war in nuce bereits die provozierende These vom Verlust der Mitte.
Erst 1939 kehrte Sedlmayr, jetzt aber unter völlig veränderten äußeren Bedingungen, zur Kritik am Purismus des technischen Zeitalters zurück. Das geschah in dem Aufsatz «Die Kugel als Gebäude – oder: Das Bodenlose», dessen Schlüsselstellung unter seinen Schriften gern übersehen wird. In der Zwischenzeit hatte er mit einem dezisionistischen Zugriff, der gerade nicht konservativ war, sondern von einer radikalen Modernität und Ausschließlichkeit, die kunstwissenschaftliche Interpretation durch Ausbeutung der Gestaltpsychologie Kurt Koffkas und Max Wertheimers psychologisch und physiognomisch aufgeladen. Ohne hermeneutische Skrupel hat er für das «gestaltete Sehen» die «richtige Einstellung» zu den beobachteten «Kunstgebilden» in Anspruch genommen. In seiner 1930 erschienenen Monographie Die Architektur Borrominis hat er diesen Transfer noch einen Schritt weiter getrieben. Aus der Gestalt von dessen Bauformen meinte er in dem Architekten Borromini den «schizothymen» Typus aus Ernst Kretschmers damals populärem Buch über Körperbau und Charakter (1921) erkennen zu können. Nun haben diese Studien zwischen Kunstgeschichte und Psychologie, sieht man einmal von ihrem totalitären Duktus ab, gewiss nichts mit der Perspektive des «Verlusts der Mitte» zu tun. Doch sie stellten ein Instrumentarium bereit, dessen sich die kulturkritische Pathologie Sedlmayrs ab 1939 bedienen konnte.
Abb. 1 Der Kunsthistoriker als Sonnenkönig: Ankunft von Hans Sedlmayr mit der Kutsche zu seinem Abschiedsfest als Ordinarius, München 1964
Doch es gibt noch eine weitere, hochnervöse Station auf dem Weg zum Verlust der Mitte. 1934 veröffentlichte Sedlmayr eine Abhandlung mit dem enigmatischen Titel Die ‹macchia› Bruegels. In der Bruegel-Forschung spielt sie heute keine Rolle mehr, bleibt aber ein signifikanter kunsthistorischer Text aus den dreißiger Jahren. Gleichzeitig ist sie ein wahrnehmungspsychologisches und mentales Labor für Sedlmayrs spätere Abhandlungen zur Pathologie der Kunst in der Moderne. Er überträgt hier das «gestaltete Sehen», das er bis dahin nur an den abstrakten Formen der Architektur exemplifiziert hatte, erstmals auf das Menschenbild in der darstellenden Malerei. Dazu schreibt er:
«Die ‹macchia› Bruegels schlägt also gewisse … Ausdrucksregister an … das Plumpe, Dumpfe, Unartikulierte, Primitive; das Stückhafte, Zusammengesetzte, Zerfallende; … das Massenhafte; der Wirrwarr, das Durcheinander, das Chaos. Diese ‹Charaktere› bilden gleichsam die Brücke von der nackten ‹macchia› zu gewissen Bildstoffen … die Bauern, die Kinder, die Defekten (Krüppel, Blinde, Epileptiker, Narren), die Masse, die Affen, der Wahnsinn … Es sind jene Grenzformen des Menschlichen, in denen und von denen her das Wesen des Menschen fragwürdig wird. Und es sind … die nämlichen Gegenstände, denen die moderne Anthropologie in der letzten Zeit ihr Hauptinteresse zugewendet hat, als ob es möglich wäre, das Wesen des Menschen gerade an jenen Grenzstellen zu erfassen, an denen es in andere Reiche übergeht (Psychologie der Primitiven, der Kinder, der Geisteskranken, der Masse, der Affen, des Rausches).» Übergehen wir die Seitenhiebe etwa auf Prinzhorns Bildnerei der Geisteskranken oder Wolfgang Koehlers Studien zur Psychologie der Affen, die zwar versteckt sind, aber dennoch Sedlmayrs konservative Grundeinstellung verraten. Mit der «macchia» Bruegels waren das Vokabular und der diagnostische Blick für die fundamentalistische Kritik der Moderne aufbereitet. Ihre erste Anwendung erfolgte im Jahr nach dem Anschluss der österreichischen Republik an das Heil und Ordnung verheißende großdeutsche Reich in dem bereits erwähnten Aufsatz «Die Kugel als Gebäude – oder: Das Bodenlose» von 1939.
Nach über einem Jahrzehnt tauchen in diesem Aufsatz jene Affekte gegen die moderne Architektur wieder auf, welche sich schon 1926 in dem frühen Text über Le Corbusiers Stadtbaupläne angekündigt hatten. Jetzt setzt Sedlmayr über seinen neuen, einerseits melodramatisch alarmierenden, andererseits trivial zur bodenverbundenen Umkehr auffordernden Essay einen visionären Satz des Anti-Aufklärers und Deutschtümlers Ernst-Moritz Arndt: «Die Teufelei des transzendierenden Geistes, der den Leib der Erde überfliegt und alles aus Begriffen machen will, worin er zuerst alles zerschneidet.» In der Entwicklung der Architektur zeigt sich diese «Teufelei des transzendierenden Geistes» im Obsiegen der aufgeklärten Vernunft über die Tektonik. «Tektonisch», so verfügt der kunsthistorische Renegat, «ist, was die Erde als Basis anerkennt.» Die Polemik gegen das moderne Bauen, welches seine Häuser nicht mehr in der Erde verwurzelt, sondern auf Pylonen stellt – siehe Le Corbusier – ist unüberhörbar. Anklagend spricht Sedlmayr von der «radikalen Gleichsetzung der architektonischen mit den geometrischen Grundformen» und fährt fort: «Damit hat sich die Architektur unter eine unmenschliche Heteromonie begeben: die der puren Geometrie.» Und er steigert sich dann zu der verdammenden Schlussfolgerung: «Die Dogmen des ‹Neuen Bauens› verleugnen das Wesen des Architektonischen.» Das ist eigentlich schon der Befund des «Verlusts der Mitte». Das «gestaltete Sehen» diagnostiziert die Pathologie der europäischen Architektur, ihren Verfall durch die Verlockung der aufgeklärten Vernunft.
Aber erst, wenn man die historischen Beispiele mit in den Blick nimmt, an denen Sedlmayr den Triumph des Geometrischen über das Tektonische exemplifiziert, wird das kulturpolitische Relief seines Aufsatzes erkennbar. Als kritische Form für die aufgeklärte Bodenlosigkeit wählt er das Kugelgebäude, wie es ab 1774 in den Entwürfen des damals außerordentlich erfolgreichen und mondänen Architekten Claude-Nicolas Ledoux (1736–1806) für die Saline von Chaux in der Franche-Comté erscheint. Unbestreitbar ist, dass diese Kugelbau-Entwürfe mit der Passion für die Geometrie zusammenhängen, wie sie in der französischen Aufklärung – man denke nur an Voltaire und die Marquise du Châtelet – florierte. Der kunsthistorische Wiederentdecker der Kapricen Ledoux’, der später nach Amerika emigrierte Emil Kaufmann sprach von «Architecture in the Age of Reason», von «Architektur im Zeitalter der Vernunft». An dieser Stelle greift nun Sedlmayr mit einer Volte ein, welche die kritische Form des Kugelgebäudes in einen historisch-politischen Kontext rückt, der zwar sachlich nicht zutrifft, aber von einer aktuellen ideologischen Brisanz ist. Er nennt die Kugelbau-Entwürfe Ledoux’ «Revolutions-Architektur» und entreißt sie damit der aufgeklärten Vernunft und denunziert sie stattdessen als eine Art architekturgeschichtliches Jakobinertum. Die ertragreiche Konsequenz dieses Tricks und dessen Aktualität werden erst sichtbar, wenn man sich den abschließenden Partien des Aufsatzes zuwendet.
Abschnitt VII der Abhandlung trägt die Überschrift «Der Kugelbau in der zweiten architektonischen Revolution». Auf die Jakobiner folgen nun die Bolschewisten. «Die zweite Blütezeit des abstrakten Bauens, dessen Symptom und Symbol der Kugelbau ist, ist die Zeit nach 1917. So wie Frankreich die erste, so führen jetzt die Utopien russischer Entwürfe die zweite Revolution an. Der Kugelbau rückt wieder an hervorragende Stelle.» Als Exemplum demonstriert er Leonidows Plan für ein Lenin-Institut. Er zitiert El Lissitzkys Erläuterung dieses Entwurfs: «Eine unserer Zukunftsideen ist die Überwindung des Fundaments der Erdgebundenheit. Dieser Aufgabe stellt sich auch der Entwurf für das Lenin-Institut.» Die Absage an die «Erdgebundenheit» in den Kugelgebäuden von Ledoux und Leonidow ist für Sedlmayr das architektonische Simile der politischen Revolutionen von 1789 und 1917. Ob diese Behauptung für den Entwurf Leonidows in gleicher Weise zu verwerfen ist wie für die Bauten der Saline von Chaux, stehe dahin. Für Sedlmayr jedenfalls handelt es sich in beiden Fällen um den Zerfall des Tektonischen im Augenblick des gesellschaftlichen Umsturzes. Doch an einer Stelle muss man noch aufhorchen. Hinter den Namen von El Lissitzky setzt er die anrüchige Apposition «(ein Jude?)». In die Diagnose des tektonischen Zerfalls spielt das antisemitische Préjugé von der Wurzellosigkeit des ewig wandernden Juden herein. Wir sind im Jahre 1939 angekommen.
Angesichts dieser Chronologie wirken die aktuellen Ausblicke im letzten Abschnitt des Textes fatal opportunistisch. Dort kann man lesen: «Die Tribünen eines russischen Stadions lösen sich vom Boden, sie scheinen labil bis aufs äußerste. Das Reichssportfeld Werner Marchs senkt den Bau zur Hälfte in die Erde und fasst ihn in eine Ordnung, die dem Bau das Maßvolle gibt. Der totale Staat, dem seit 1938 auch Österreich angehört, sorgt auch im Tektonischen für den ‹Retour à l’ordre›.» Ganz in diesem angepassten Sinne fährt Sedlmayr fort: «Der Anführer der Gegenbewegung war um 1800» – will sagen im Klassizismus – «und ist heute Deutschland.» Es fällt schwer, hier nicht an die Verdammung des «neuen Bauens» durch den Nationalsozialismus zu denken. Aber dann greift der Autor über den Bereich der Architektur hinaus und beansprucht für das «gestaltete Sehen» die visionäre Position einer umfassenden Kritik eines aus den Fugen geratenen Zeitalters. «Der Kugelbau», so schließt er, «enthüllt nicht nur die Lage der Baukunst, sondern er ist Signal eines noch allgemeineren Zustands der ‹Bodenlosigkeit›, der in den verschiedensten Gebieten des Lebens und Schaffens zu beobachten ist.» Man kommt nicht um den Befund herum: Die erste öffentliche Verkündigung des «Verlusts der Mitte» erfolgte im weltanschaulichen Rahmensystem der nationalsozialistischen Gegnerschaft gegen die Moderne, gegen die kosmopolitische Entwurzelung und gegen die Juden als deren angebliche Wortführer. Das heißt natürlich nicht, dass Sedlmayrs alt-österreichischer Konservativismus, sein offensichtliches Leiden an der Moderne, sich aus seiner vorübergehenden Nähe zum Nationalsozialismus erklären liesse. Immer muss man als Supplement das Buch über das «Goldene Zeitalter» seiner Kindheit im Kopf behalten. Der gleiche Autor, welcher 1939 das fatale Pamphlet über den Kugelbau verfasste, publizierte im Jahr zuvor hochsensible Aphorismen über «Die Idee des Paradieses als Zentralmonade der französischen Kunst», die zu den schönsten Äußerungen zur Kunst Frankreichs in deutscher Sprache gehören, aber fügte diesen nach dem Anschluss als Vorwort ein ungemein törichtes Bekenntnis zu Hitler hinzu. Nein, der Fall dieses eminent reizbaren österreichischen Konservativen ist alles andere als einfach.
1945 war jene deutsche «Gegenbewegung», von welcher sich Sedlmayr 1939 eine salvatorische Rückkehr zum Tektonischen erhofft hatte, physisch ausgelöscht und moralisch zuschanden geworden. Sedlmayr hat sich nie zu seiner Verführung durch den Nationalsozialismus geäußert. Den Aufsatz über die «Kugel als Gebäude» hat er niemals nachdrucken lassen, und auch in der mittlerweile umfangreichen Literatur zu Sedlmayr scheint er eher vergessen zu sein. Als Sedlmayr sich 1947 unter dem Pseudonym Hans Schwarz mit einem dramatisch anti-modernen Artikel über «Die Säkularisation der Hölle» in der Kunst der Gegenwart wieder zu Wort meldet, schreibt er über die Höllenbilder von Bosch: «Sie kommen aus einer tiefen, mit bannender Kraft verwirklichten Erfahrung einer Welt, die Gott abgesagt hat.» Die pathologischen Erscheinungen in der Kunst werden unter den nach 1945 veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in eine theologische Perspektive gerückt. In dem 1948 immer noch unter dem Pseudonym Hans Schwarz publizierten Aufsatz «Über Sous- und Surrealismus oder Breton und Plotin» wird diese Perspektive polemisch zugespitzt und nun dezidiert auf Phänomene der modernen Kunst bezogen. «Der Surrealismus ist», so formuliert er herrisch, «vielleicht die konsequenteste Darstellung dessen, wie der Mensch ‹denkt›, ‹handelt›, ‹produziert›, der Gott total abgesagt hat.» Und dann proklamiert er: «Zum Surrealismus muss man Stellung nehmen.» Eine nochmalige Steigerung dieser Vorstellung findet sich in dem 1950 nun wieder unter eigenem Namen publizierten Text «Die Kunst im Zeitalter des Atheismus». Dieser setzt mit einer emphatischen Behauptung ein: «Unsere Zeit, die irgendwann im 18. Jahrhundert begonnen hat und wer weiß wann enden wird, das Zeitalter des ‹Atheismus› zu nennen, hat mindestens ebensoviel Berechtigung als von einem Zeitalter der Technik zu sprechen.» Mittlerweile hat der kunsthistorische Diagnostiker sich zum anderen Pol seiner zeitkritischen Zirkelschlüsse gerettet. Die Pathologie der künstlerischen Formen wird nicht mehr durch das «gestaltete Sehen» ermittelt, sondern deduktiv aus der Verirrung des Zeitalters abgeleitet. Sedlmayr diktiert: «So muss die Kunst im Zeitalter des Atheismus sich gestalten.» Die angeblich zwingende Konsequenz: «Alle Künste streben fort von einer gemeinsamen Mitte, in der und durch die sie einmal miteinander verbunden waren.» «Verlust der Mitte» – jetzt ist das Schlagwort gefallen, mit dem der Erfinder des «gestalteten Sehens» in den vielleicht einflussreichsten konservativen Zeitalter-Kritiker – fast möchte man sagen: zu einer Art neuer Spengler – für das verunsicherte Mitteleuropa der ersten Nachkriegsjahre mutierte.
Im Nachwort zu dem Buch Verlust der Mitte erinnert Sedlmayr, dass er die dort niedergelegten Gedanken zwischen 1937 und 1944 entwickelt habe. Das mag so sein. Aber als die Publikation 1948 vor die Öffentlichkeit trat, stieß sie auf eine durch die «deutsche Katastrophe» (Friedrich Meinecke) jeden moralischen Selbstvertrauens beraubte Leserschaft. In diesem Augenblick hatte es etwas von einer Erlösung. Es bot eine Erklärung der Katastrophe an, die jegliche politische Ursachen überging und durch die Diagnose der «kritischen Formen» einen fast zwangsläufigen Prozess von Auflösung, Zerspaltung, Zerfall, Chaos und Tod beschrieb, dessen Anfänge und Antriebe in der westlichen Aufklärung und der Revolution von 1789 zu erkennen seien. Das war eine höchst opportune, wenn man will, infame Variante der konservativen Kulturkritik. Sie schob die Schuld am «Verlust der Mitte» den westlichen Illuminaten zu, welche bei deutschen Gebildeten ohnedies im Verdacht der gleichmacherischen Planierung standen. Brillant gelang es Sedlmayr, seiner alarmierenden These vom «entfesselten Chaos» und vom «Abfall von Gott» durch den abgründigen Blick auf die Symptome des künstlerischen Verfalls eine fast unwiderstehliche Suggestivkraft zu verleihen. Kaum je hat das Buch eines Kunsthistorikers so weit über die Grenzen der eigenen Disziplin für Aufregung, Zustimmung und Widerspruch gesorgt. Allerdings blieb diese Wirkung auf den deutschen Sprachraum beschränkt. In den westlichen Ländern, die über eine wachere demokratische Öffentlichkeit und einen offeneren Diskurs über Kunst verfügten, stieß es kaum auf Resonanz. Auch sollte man nicht vergessen, dass der Verlust der Mitte ein alt-österreichisches Pandämonium war, welches einerseits spezifisch wienerische Untergangsstimmungen beschwor, andererseits näherliegende Verantwortungsfragen durch seine hellseherischen Symptomdeutungen überblendete.
Nicht zu leugnen ist, dass diese obsessive, bösartige Anklageschrift gegen Aufklärung und Moderne mit einem ganzen Fächer von nervösen, seismographischen Diagnosen von Schlüsselphänomenen der Kunst des gottverlassenen Zeitalters glänzt. Das «gestaltete Sehen» ist zu einer Art medizinischem Blick auf die Pathologien der Moderne geworden. Ja, man muss sogar einräumen: Der «Malocchio» des konservativen Renegaten erkennt die Konturen der Moderne oft schärfer als deren begeisterte Anhänger und Prediger. Sedlmayr war selbst jener exklusiven Radikalität verfallen, die er wie ein kunsthistorischer Jeremias schalt. Er war ein Moderner, der die Moderne hasste. Aber neben den brillanten Aperçus finden sich im Verlust der Mitte immer wieder ätzende, schneidende, denunzierende Urteile, deren marktschreierischer Tenor der desaströsen Generalthese des Buches geschuldet ist. Man lese die Stellen über Cézanne oder Seurat. Das Buch bleibt im Zirkel der gesellschaftlichen, politischen, kirchlichen Vorurteile seines Autors gefangen. Alle die Vorwürfe gegen die Autonomie der Künste im atheistischen Zeitalter machen nur Sinn, solange man ihnen, wie Sedlmayr es ohne jede analytische oder historische Explikation tut, die Einheit der Künste in den Kirchen und Palästen der vorrevolutionären Zeit als den gottgewollten Ordo entgegenstellt. Am «Goldenen Zeitalter» des alten kaiserlichen Österreich werden die Verfalls-Erscheinungen seit 1789 gemessen und verdammt. Sedlmayr sieht durchaus richtig, dass die in die Freiheit entlassenen Künste Gefährdungen, Brüche, Unsicherheiten ertragen und produktiv verarbeiten mussten, die es in den Kaisersälen des 18. Jahrhunderts noch nicht gab. Aber seine präjudizierte Weigerung, sich auf diese modernen Prozesse einzulassen, sein renitenter Rekurs auf die Ganzheitlichkeit der Künste im alten katholischen Europa der Monarchien blockiert die Kulturkritik. Sie bleibt gefangen im Traum vom «Goldenen Zeitalter».
Der Verlust der Mitte gehört geistesgeschichtlich, vor allem aber stimmungsmäßig und politisch, in die frühe Nachkriegszeit. Die Flucht ins Theologische, die Beschwörung der Hölle hatten in jenen Jahren Konjunktur. Eine Wirkungsgeschichte dieses für einen Augenblick sensationellen Buches gibt es meines Wissens nicht. In dem legendären Darmstädter Gespräch von 1950 waren Sedlmayr erstmals produktive Moderne wie der Maler Willi Baumeister mit empörter und schlagender Polemik entgegen getreten. Als Sedlmayr 1955 ein zweites, inhaltlich, aber nicht tendenziös etwas anders angelegtes Katastrophenbuch nachlegte – Die Revolution der modernen Kunst –, wiederholte sich der Erfolg des Verlusts der Mitte nicht. Im Vorjahr war mit der ersten documenta die von der «deutschen Gegenbewegung» verfolgte und verdammte Kunst der Moderne als Bildsprache der freien Welt breit akzeptiert worden. In den sechziger Jahren begann mit der Pop Art ein Gespräch über die Rolle der Kunst und die Macht der Bildmedien in der kapitalistischen Gesellschaft, das die Rede vom «Verlust der Mitte» in die Vergangenheit verwies. Es hat etwas Bizarres, dass Sedlmayr just in diesem Augenblick, 1962, ein beschwörendes «Memorandum zur katholischen Kirchenkunst» an das Zweite Vatikanische Konzil richtete, in dem er die Konzilsväter vor dem Eindringen der «unchristlichen» modernen Kunst in die Gotteshäuser warnte und dafür die ganze Litanei der Verfallserscheinungen aus dem Verlust der Mitte anstimmte. Im Alter hat er sich in das barocke Salzburg zurückgezogen. In einem Appell mit dem Titel «Die demolierte Schönheit» hat er «Zur Rettung der Salzburger Altstadt» aufgerufen. Da wären wir wieder beim «Goldenen Zeitalter». Wie sich der Albtraum vom «Verlust der Mitte», an den er wohl wirklich geglaubt und unter dem er vielleicht sogar gelitten hat, mit der intellektuellen und politischen Biographie dieses alt-österreichischen und zwischendurch großdeutschen Renegaten verschränkt hat, bleibt wohl für immer im Dunkel.
Bildnachweis: Abb. 1: Bildarchiv Foto Marburg.
Der Terminus «konservative Ästhetik» bekommt Kontur, wenn man einschlägige Theoreme unterscheiden will von solchen mit ausgesprochen progressiv-geschichtspolitischer Perspektive, die sich inzwischen als die repräsentativen modernen Kunsttheorien etabliert haben: voran Adornos Ästhetische Theorie von 1971, flankiert auf rechter Seite von Walter Benjamins, auf linker Seite von Georg Lukács ästhetischen Schriften der zwanziger, dreißiger und fünfziger Jahre. Damit der Terminus aber Gehalt bekommt, bedarf es gleichrangiger Namen und Titel. Vorzuschlagen wären Arnold Gehlens Zeit-Bilder von 1960 (aktualisiert 1972), Martin Heideggers Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerkes von 1935 (ergänzt 1956) und Hans Sedlmayrs Buch Die Revolution der modernen Kunst von 1955.
Was könnten die Letzteren – blickt man zurück auf die Entwicklung der Künste seit Mitte des letzten Jahrhunderts – dem beigefügt haben, was die Autorität Adornos, in geringerem Umfang Benjamins, bis heute mehr oder weniger unwidersprochen etabliert haben? Diese Frage müsste sich angesichts von Adornos und Benjamins geschichtsphilosophisch gestütztem Erkenntnisinteresse auf die Möglichkeit konzentrieren, dass den progressiven Ästhetiken aufgrund ihres politischen Interesses spezifische phänomenologisch zu benennende Eigenschaften der Kunst bzw. der Literatur entgangen sein könnten, welche von den konservativen Ästhetiken dagegen erfasst wurden, obwohl diese selbst ideologisch prädominiert sind. Bis zur Konsequenz, dass der Sprung der modernen Kunst von gegenständlicher Darstellung zur abstrakt-ungegenständlichen sowohl von Gehlen als auch von Sedlmayr unter dem Kriterium des «Sinn»-Defizits als ästhetisches Aus verstanden wurde, wobei Sedlmayr dieses Argument substantialisiert mit dem Vorwurf der «Humanitäts»-Ferne. Heideggers Kunstwerk-Aufsatz geht auf die Differenz und Folgen der Entgegenständlichung erst gar nicht ein, sondern setzt die Gegenstands-Erfassung der Kunst, das heißt die Erfassung der «Wahrheit» des Gegenstands geradezu als hermeneutisches Apriori voraus und nähert sich dabei – in der Darstellung von van Goghs Bauernschuhen – Sedlmayrs reaktionärer Anthropologie.
Nun ist es aber gerade die Emphatisierung dieser Gegenstands-Referenz, die den konservativen Ästhetiken ihre Aktualität gibt, zumal Adorno und Benjamin, ganz zu schweigen von Lukács sich der Frage der Referenz von Kunst nicht eigentlich stellen müssen, denn ihre Sujets sind durchweg Paradigmen der klassisch-romantischen Literatur oder der klassischen Moderne, bei denen sich das Problem der radikalen Entgegenständlichung noch nicht stellt. Der Prozess der sich permanent überbietenden Forminnovationen beschränkte sich innerhalb der modernen Literatur auf eine nur kurze Periode.
Die Verfehlung des ästhetischen Mehrwerts infolge politischer Funktionalisierung ist im Falle des späten Georg Lukács (Die Zerstörung der Vernunft, 1954) so notorisch und generell akzeptiert, dass man nur darauf zurückzukommen hätte, wollte man die Methoden marxistischer Kunstauffassung noch einmal durchleuchten. Viel aktueller indes ist noch immer Walter Benjamins Fehllektüre von Baudelaires Zyklus Les Fleurs du mal und des Begriffs des ästhetischen «Chocks» infolge des naiv ausgelegten Basis-Überbau-Verhältnisses bzw. der Freud’schen Begründung der «Chockabwehr». Ohne darauf eingehen zu müssen, zumal es Adorno war, der Benjamins dialektische Shortcomings hinsichtlich des Verhältnisses von Baudelaires poetischer Metaphorik einerseits und Sozialfakten der Stadt Paris andererseits mit verletzender Schärfe schon 1938 ausgestellt hat, darf generalisiert werden: Benjamins «progressive» Ästhetik – nicht zuletzt sein berühmter, seit den siebziger Jahren als der modernen Ästhetik letzte Weisheit herumgereichter Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit – ist es nicht, was heute noch kunsttheoretisch interessant wirkt. Vielmehr sind es die «konservativen» Kategorien seines Werks: also der Begriff des «Mythos» und der «Mythologie» (aus dem Aufsatz über Goethes Wahlverwandtschaften) oder der Begriff des «plötzlichen Moments» und des «Ereignisses» (aus den Aufsätzen über den Sürrealismus und Über den Begriff der Geschichte).
Ebenfalls Theodor W. Adornos in seiner Bedeutung immer noch nicht ausgelotetes großes Werk Ästhetische Theorie erreicht seine Pointe immer dort, wo Adorno den dräuenden Begriff der Wahrheit, den er zwar glaubt, Hegel schon entwunden zu haben, endgültig verabschiedet bzw. quasi selbsttherapeutisch vergisst und stattdessen den phänomenologischen Kategorien des «Scheins», des «Augenblicks des Erscheinens» im Kontext von «Epiphanie» und «Schauer» nachdenkt.[1(Parataxis)