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Hubert Wolf

Krypta

Unterdrückte Traditionen
der Kirchengeschichte

 

 

 

 

C.H. BECK

Zum Buch

Tief unten in den Kellern der Kirchengeschichte, verborgen selbst für die meisten Historiker, liegen jahrhundertealte Traditionen begraben, von denen die Kirche heute nichts mehr wissen will. Hubert Wolf steigt mit archäologischem Spürsinn hinab in diese Krypta. Er entdeckt dort Frauen mit bischöflicher Vollmacht, Laien, die Sünden vergeben, eine Kirche der Armen – und andere Traditionen, die heute wieder aktuell werden könnten.

Der Vatikan setzt auf die lange und unabänderliche Tradition der heute gültigen Lehren und Regeln, die dem Papst und den Bischöfen eine unvorstellbare Machtfülle geben. Laien haben nichts zu melden, erst recht wenn sie Frauen sind. Weil es angeblich schon immer so war, gelten Reformen als Sakrileg. Höchste Zeit für einen frischen Blick auf die Geschichte: Päpste waren einmal in Gremien eingebunden, die sie kontrollierten, Frauen konnten Sünden vergeben, Laien hatten etwas zu sagen, Bischöfe wurden gewählt. Die katholische Kirche war lange ein breiter Strom mit vielen Nebenarmen – den der römische Zentralismus im 19. Jahrhundert kanalisierte. Dazu wurden Traditionen erfunden, an die bis heute selbst Historiker glauben. Hubert Wolf enthüllt an zehn Beispielen Vergessenes und Verdrängtes – und gewinnt daraus Reformideen für die Kirche von morgen.

Über den Autor

Hubert Wolf, geboren 1959, ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Münster. Er wurde u.a. mit dem Leibnizpreis der DFG, dem Communicator-Preis und dem Gutenberg-Preis ausgezeichnet und war Fellow am Historischen Kolleg in München. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. der Bestseller „Die Nonnen von Sant Ambrogio“ (42013), „Index“ (BsR, 2007) sowie „Papst und Teufel“ (BsR, 2012).

Inhalt

Zur Einleitung
«Wir alle sind abgewichen»

Päpstliche Schuldbekenntnisse einst und jetzt

Reform als Wesensmerkmal der Kirche

In der Krypta der Kirchengeschichte

1. Der Bischof
Von allen gewählt

«Der Papst ernennt die Bischöfe frei»

Wie wird man Bischof? Ein Durchgang durch die Geschichte

Was ist ein guter Bischof? «Nur einmal verheiratet»

2. Bischöfinnen
Frauen mit Vollmacht

Mächtige Äbtissinnen

Äbtissinnenweihe und Bischofsweihe

Bischöfe und Kardinäle ohne Weihe

Kardinalinnen: Seit dem Zweiten Vatikanum undenkbar?

3. Das Domkapitel
Kontrollorgan und Senat des Bischofs

Der Bischof als absoluter Monarch

Ausgerechnet Limburg: Ein kollegiales Gegenmodell

Unterdrückung der kollegialen Leitung

4. Der Papst
Kollege und nicht gegen Fehler gefeit

«Die höchste, volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt»

Das Konstanzer Konzil: Oberhoheit des Konzils über den Papst

Das Erste Vatikanum: Unfehlbarkeit und Primat des Papstes

Die Ausblendung der konziliaren Option

5. Die Kardinäle
Gegengewicht zur päpstlichen Macht

Die Williamson-Affäre: Ein Papst der einsamen Entscheidungen

Kleine Geschichte der Kardinäle

Ein vatikanischer Sicherheitsrat

Die Entmachtung der Kardinäle im zwanzigsten Jahrhundert

Optionen gegen den autokratischen Führungsstil

6. Mönche und Nonnen
Höchste Autorität durch radikale Nachfolge

Der heilige Martin: Vollmacht ohne Weihe

«Göttliche Kraft» durch Askese

Die Erfindung der Privatbeichte in Irland

Amt statt Nachfolge?

7. Die Gemeinden
Primat der kleineren Einheit

Subsidiarität: Ein Konzept der katholischen Soziallehre

Die Kirche: Zentralistisch oder doch lieber subsidiär?

Das Zweite Vatikanum und die Rolle der Laien

Weltkirche gegen Ortskirche? Theologische Debatten

«Der Hirt muss den Geruch seiner Herde annehmen»

8. Die Laien
Keine unmündigen Schafe

Gleichheit in der Theorie, Unterordnung in der Praxis

Eigenkirchen: Die Herrschaft der Laien

Vereine: Mündige Laien und der Geist der Revolution

Die Stunde der Laien

9. Das Konzil von Trient
Pluraler Katholizismus

Das erfundene Konzil

Mythos I: Das Tridentinische Seminar

Mythos II: Das tridentinische Bischofsideal

Trientische Weite oder tridentinische Enge?

Mythos III: Die tridentinische Messe

In der Tradition von Trient: Das Zweite Vatikanum

10. Franz von Assisi
Option einer Kirche der Armen

Ein Papst mit Namen Franziskus

Von der Kirche der Armen zur reichen Papstkirche

Der Ketzer und der Heilige: Brüder im Geiste

Eine charismatische Gemeinschaft wird verkirchlicht

Sprengkraft einer Utopie

Zum Schluss
«Die Wahrheit, die aus der Geschichte kommt»

Gefährliche Erinnerung

Das Dogma besiegt die Geschichte

Historische Verantwortung

Anmerkungen

Zum Weiterlesen

Zur Einleitung
«Wir alle sind abgewichen»

Päpstliche Schuldbekenntnisse einst und jetzt

«Wir wissen, dass es an diesem Heiligen Stuhl schon seit einigen Jahren viele gräuliche Missbräuche in geistlichen Dingen und Exzesse gegen die göttlichen Gebote gegeben hat, ja, dass eigentlich alles pervertiert worden ist. So ist es kein Wunder, wenn sich die Krankheit vom Haupt auf die Glieder, das heißt von den Päpsten auf die unteren Kirchenführer, ausgebreitet hat. Wir alle – hohe Prälaten und einfache Kleriker – sind abgewichen, ein jeder sah nur auf seinen eigenen Weg, und da ist schon lange keiner mehr, der Gutes tut, auch nicht einer.»[1]

Diese Formulierungen stammen nicht von einem Kirchenkritiker unserer Tage, und sie stehen auch nicht im Zusammenhang mit der aktuellen Missbrauchsdebatte oder der sogenannten Vatileaks-Affäre. Sie stammen vielmehr von einem Papst, von Hadrian VI., und bilden den Mittelpunkt seines bemerkenswerten, aber weitgehend vergessenen Schuldbekenntnisses vom November 1522, das er durch seinen Nuntius Francesco Chieregati den deutschen Reichsständen auf dem Nürnberger Reichstag im Januar 1523 vortragen ließ. Der Papst reagierte damit, nachdem Martin Luther 1521 auf dem Wormser Reichstag vor Kaiser und Reich zu Wort gekommen war, auf die Herausforderungen der beginnenden Reformation und die drohende Kirchenspaltung. Er versuchte, der reformatorischen Kritik an der katholischen Kirche im Allgemeinen und an der Römischen Kurie im Besonderen den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er die vielfältigen Missstände als Perversion der göttlichen Gebote beim Namen nannte und einräumte, dass sie sich von Rom aus wie ein Krebsgeschwür über die ganze Kirche ausgebreitet hätten.

Der Papst beließ es aber nicht bei der Diagnose der Krankheitssymptome von Kirche und Kurie, sondern verordnete sich und seiner Kirche sofort die notwendige, wenn auch insbesondere für die römische Zentrale bittere Medizin: Der Nuntius sollte den Reichsständen im gleichen Atemzug mit dem eigentlichen päpstlichen Schuldbekenntnis auch die tätige Reue, die nach katholischem Verständnis zu jedem Bußakt gehört, signalisieren und versprechen, «dass Wir jede Anstrengung unternehmen werden, dass als Erstes diese Kurie, von der das ganze Übel ausgegangen ist, reformiert wird, damit sie in gleicher Weise wie sie zum Verderben der Untergebenen Anlass geboten hat, nun auch ihre Genesung und Reform bewirkt. Dazu fühlen Wir Uns umso mehr verpflichtet, als Wir sehen, dass die ganze Welt eine solche Reform sehnlichst begehrt.»

Es war Hadrian VI. aber völlig klar: Eine solche umfassende Reform der Kirche bedeutete, nicht nur von Veränderungen zu reden, sondern die Dinge – vor allem in der römischen Zentrale – wirklich anzupacken. Das verlangte Klugheit, Ausdauer, Energie und nicht zuletzt einen langen Atem. Eine umfassende Reform musste behutsam und nachhaltig angegangen werden. Aber sie würde sich lohnen, wenn es gelänge, der katholischen Kirche, der arg «entstellten Braut Christi», wie es bei Hadrian VI. heißt, ihre Glaubwürdigkeit zurückzugeben, damit sie ihren Auftrag wieder erfüllen könne, den Menschen durch alle Irrungen und Wirrungen hindurch den Weg zu Jesus Christus zu weisen.

Hadrian VI. betrachtete es als seine erste Aufgabe, «den Unterdrückten zu Hilfe zu kommen und die Gelehrten und Tugendhaften, die schon lange keiner mehr beachtet, aufzurichten und auszuzeichnen – kurz: alles zu tun, was ein guter Papst und rechtmäßiger Nachfolger des seligen Petrus tun muss». Die «Krankheit» habe sich aber im Lauf der Zeit «so tief eingefressen», die Kirche sei dadurch derartig «deformiert» worden, dass zur Heilung und Reform der sponsa deformata eine einzige Maßnahme auf keinen Fall ausreiche. Vielmehr müssten «viele verschiedene Mittel angewandt» und zahlreiche Reformmaßnahmen ergriffen werden.

Wie radikal es Hadrian VI. in seinem Schuldbekenntnis 1522 eigentlich um die Reform der Kirche ging, macht ein Vergleich mit dem zweiten bekannten Schuldbekenntnis eines Papstes in der Kirchengeschichte deutlich, der Bitte um Vergebung Johannes Pauls II. aus dem Heiligen Jahr 2000.

In den sieben Vergebungsbitten vom 12. März 2000, die nicht umsonst als liturgischer Akt und nicht als kirchenpolitische Botschaft inszeniert wurden, geht es in erster Linie um innere, geistliche Umkehr und spirituelle Reinigung. Von konkreten praktischen strukturellen Reformen und äußeren kirchenpolitischen Veränderungen ist hier dagegen keine Rede. Wenn man den Text genauer analysiert, fällt außerdem auf, dass bei Schuld, Sünde und notwendiger Umkehr immer nur von einzelnen «Gliedern» der Kirche, von den «Gläubigen», von «nicht wenigen Christen» oder den «sündigen Kindern» der Kirche gesprochen wird. Die Mitglieder der Kirche beziehungsweise einzelne Christgläubige bedürfen der Umkehr, nicht dagegen die katholische Kirche als solche. Die Kirche als sündige Institution kommt bei Johannes Paul II. mit keinem Wort vor, ganz zu schweigen von den Kirchenführern, den Prälaten, den Kardinälen oder gar dem Papst selbst. In den Augen von Johannes Paul II. haben einzelne Katholiken versagt, die Kirche dagegen offensichtlich nicht.

Deshalb taucht die Forderung nach einer Reform der Kirche im Schuldbekenntnis des Heiligen Jahres 2000 auch nicht auf. Wenn nur einzelne Katholiken schuldig geworden sind, nicht aber die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche, brauchen auch nur einzelne Gläubige Umkehr und Vergebung, nicht aber die Institution Kirche als solche.[2]

Ganz anders bei Hadrian VI. im Jahr 1522: Nicht nur einzelne Gläubige bedürfen der Umkehr, sondern zuerst und vor allem der Papst und seine Kurie. Der Pontifex maximus selbst, die Kardinäle, die Prälaten, Bischöfe und Priester seien vom rechten Weg abgewichen. Die kirchliche Hierarchie, die Amtsträger – und nicht die Laien – seien schuld an den Gräueln und Skandalen in der Kirche. Die Hirten hätten die Herde zu vergifteten Weideplätzen geführt. So wie der sprichwörtliche Fisch vom Kopf her stinkt, so sei – wie Hadrian VI. betont – das ganze Übel von der Römischen Kurie und zuletzt auch von den Päpsten ausgegangen.

Hadrian VI. dürfte seine unmittelbaren Vorgänger, die sogenannten Renaissance-Päpste des fünfzehnten und frühen sechzehnten Jahrhunderts, insbesondere Alexander VI. (Borgia), Julius II. (della Rovere) und seinen unmittelbaren Vorgänger Leo X. (Medici), im Blick gehabt haben. Die Päpste und die von ihnen geschaffenen korrupten Strukturen der Kurie, ihre herrschaftliche, verschwenderische Hofhaltung sowie ihre militärischen und sexuellen Exzesse hatten den Gläubigen den Blick auf Christus, den Erlöser am Kreuz, verstellt. Ein bloß spirituelles Schuldbekenntnis und eine rein geistliche Umkehr reichten daher nicht aus. Sie waren vielmehr die Voraussetzung für eine äußerlich sichtbare, grundlegende Umgestaltung von Kirche und Kurie. Eine reformatio in capite et in membris, eine Reform der Kirche an Haupt und Gliedern, stand an – und sie musste am Kopf beginnen, in Rom.

Der Papst wusste, dass es zahlreiche Reformversuche in der Geschichte der Kirche gegeben hatte. Sie waren jedoch immer wieder daran gescheitert, dass jeder den Reformbedarf stets nur bei den anderen gesehen hatte, auf keinen Fall aber bei sich selbst, und nicht zuletzt, weil die Beharrungskräfte der Kurie eine grundlegende reformatio in capite, eine Reform des Hauptes, verhindert hatten. Diese bittere Erfahrung musste Hadrian VI. auch selbst machen: Der bürgerliche Adriaan Florensz, geboren 1459 in Utrecht, war in Rom ein Außenseiter. Seit 1517 Kardinal und als solcher vor allem in Spanien am Hof Kaiser Karls V. tätig, dessen Erzieher er gewesen war, wurde er im Konklave am 9. Januar 1522 in Abwesenheit zum Papst gewählt. Erst am 31. August konnte er sein Amt in Rom antreten. Er blieb stets ein Fremder an der Kurie, nicht zuletzt, weil ihm die vatikanische Macht- und Prunkentfaltung jener Zeit zutiefst zuwider war. Sein einfacher Lebensstil, der auf allen Pomp papaler Selbstinszenierung verzichtete, seine Sparsamkeit und seine schlichte Frömmigkeit stießen im Rom der Renaissance auf Ablehnung. Seine radikalen Reformideen drohten Kardinälen und Prälaten, die sich eher als Renaissance-Fürsten denn als Kirchenmänner verstanden, ihre Lebensgrundlage zu entziehen und ihren aufwändigen Lebensstil grundsätzlich infrage zu stellen.

Die Eminenzen bedauerten bald, dass sie in einem Moment der Schwäche und religiösen Anwandlung einen Reformer zum Papst gewählt hatten. Sie torpedierten all seine Bemühungen und machten Hadrian VI. dadurch bei den deutschen Protestanten erst recht unglaubwürdig. Seine Reformankündigungen galten diesen als typisch päpstlich-unehrliche Rhetorik, rein taktisch bedingt, ohne ernsthafte Absichten. Der Papst konnte das Fortschreiten der Reformation und der Kirchenspaltung nicht verhindern. Gebrochen und enttäuscht starb Hadrian VI. nach einem Pontifikat von gerade einmal dreizehn Monaten am 14. September 1523. Vereinzelt tauchten sogar Gerüchte auf, er sei eines unnatürlichen Todes gestorben, vergiftet durch die Gegner einer Kurienreform. Er wurde in der deutschen Nationalkirche Santa Maria dell’Anima in der Nähe der Piazza Navona beigesetzt. Ein Satz, den er während seiner Amtszeit mehrfach ausgesprochen haben soll, ziert sein Grabmal und bringt die Tragik seines Pontifikates treffend auf den Punkt: «Ach, wie viel hängt davon ab, in welche Zeit auch des besten Mannes Wirken fällt.»[3]

Was Hadrian VI. vor einem halben Jahrtausend formulierte, gilt immer noch, vielleicht sogar heute mehr denn je. Die Situation der Kirche unserer Tage wurde in der breiten Öffentlichkeit mitunter sogar ausdrücklich mit der Krise der Kirche zur Zeit der Reformation verglichen. Auch heute sind Missstände zu beklagen, die vom sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester und Ordensleute über das undurchsichtige Finanzgebaren der Vatikanbank und die Vatileaks-Affäre bis hin zum Limburger Prunkbau reichen. Außerdem hat sich bei vielen Gläubigen angesichts des römischen Zentralismus, der die Anliegen von Ortskirchen und Laien immer mehr marginalisiert, eine tiefe Enttäuschung breitgemacht. Die extrem hohen Austrittszahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Auf jeden Fall erinnert manches an die Zeiten der Renaissance; schon die Sehnsucht nach einer weniger prunkvollen Kirche an der Seite der Armen stellt eine bemerkenswerte Parallele dar. Eine große Reform der Kirche an Haupt und Gliedern steht in der Tat an. Denn heute, in der von ganz unterschiedlichen Seiten konstatierten Kirchenkrise des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts, gilt wie damals zu Beginn der Reformation, «dass die ganze Welt eine solche Reform sehnlichst begehrt».

Doch Hadrian VI. hatte Recht: Das Wirken und die Umkehrbereitschaft eines einzelnen Mannes wird heute so wenig bewirken können wie zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts. Es braucht – wie die Geschichte der Kirche lehrt – Mitstreiter auf allen Ebenen der Kirche, angefangen in der Kurie bis hinunter zur kleinen Landpfarrei. Vor allem aber muss die Umkehr institutionalisiert und die Kirchenreform so auf Dauer gestellt werden.

Reform als Wesensmerkmal der Kirche

Das Wort «Reform» wird heute geradezu inflationär gebraucht und hat oft einen negativen Beigeschmack. Alles und jedes wird «reformiert» beziehungsweise bedarf angeblich oder wirklich der dringenden Reform. Vor lauter Rentenreform, Steuerreform, Bildungsreform, Bologna-Reform und Hartz-IV-Reform ist der Begriff nicht selten seines eigentlichen Inhalts entleert, wenn nicht sogar in sein Gegenteil verkehrt worden.

In der katholischen Kirche und Theologie dagegen ist es um Reform und Reformen in den letzten Jahrzehnten nach einer Phase der Hochkonjunktur während des Zweiten Vatikanischen Konzils und seiner unmittelbaren Umsetzung in den sechziger und siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts relativ still geworden. Die Neuerungen des Konzils galten vielen in Kurie und Hierarchie als zu weit gehend, seine Reformen wurden von manchen sogar als kirchengefährdend angesehen. Einige Reformen, die das Konzil angestoßen hatte, wurden in den letzten Jahren grundsätzlich infrage gestellt, insbesondere die Liturgiereform. So haben Johannes Paul II. und Benedikt XVI. die von Papst Paul VI. aufgehobene Form der tridentinischen Liturgie – wenn auch nur als außerordentliche Form – wieder zugelassen.

Wer während der letzten Pontifikate von einem Reformstau in der katholischen Kirche oder gar von dringend notwendigen Reformen in Rom sprach, dem wurden nicht selten Unkirchlichkeit und mangelnde Anhänglichkeit an den Heiligen Vater vorgeworfen. Der Sprachgebrauch erinnerte in manchen Formulierungen an die heftigen Auseinandersetzungen um den sogenannten Reformkatholizismus zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Damals wurden alle «Reformer» in der katholischen Kirche von Pius X. in der Enzyklika «Pascendi» 1910 als häretische «Modernisten» gebrandmarkt. Dabei war es gleichgültig, ob sie wirklich häretische «agnostische» oder «immanentistische» Positionen vertraten, indem sie die Erkennbarkeit Gottes grundsätzlich leugneten und die Existenz einer Wirklichkeit jenseits des sinnlich innerweltlichen Erfahrbaren und naturwissenschaftlich Greifbaren bestritten. Es reichte auch, wenn sich die «Reformkatholiken» dafür aussprachen, die Sakramente in der Muttersprache statt in Latein zu spenden, um die Gläubigen besser erreichen zu können, wenn sie von einer Entwicklung der kirchlichen Lehre und Verfassung in der Geschichte ausgingen oder wenn sie die Einheitlichkeit und Verbalinspiration der fünf Bücher Mose im Sinne einer historisch-kritischen Exegese infrage stellten. Für Pius X. war Reform grundsätzlich etwas Schlechtes. Jede Regung zur Veränderung stand von vornherein unter Generalverdacht. Reform und Katholizismus verhielten sich für ihn wie Feuer und Wasser. Diese Abwehrhaltung hat, mal mehr und mal weniger ausgeprägt, die meisten Päpste der Moderne gekennzeichnet.

Dabei gehört die Reform nach der klassischen Ekklesiologie, der Lehre von der Kirche, zu deren Wesensmerkmalen. Die katholische Kirche ist eine ecclesia semper reformanda, sie bedarf stets der Reform. Das Zweite Vatikanische Konzil hat diese Tatsache in seinem Ökumenismus-Dekret in Erinnerung gerufen, in dem ausdrücklich von einer perennis reformatio, einer ununterbrochenen Reform der katholischen Kirche, die Rede ist. Hier heißt es: «Die Kirche wird auf dem Weg ihrer Pilgerschaft von Christus zu dieser dauernden Reform gerufen, deren sie allzeit bedarf, soweit sie menschliche und irdische Einrichtung ist; was also etwa je nach den Umständen und Zeitverhältnissen im sittlichen Leben, in der Kirchenzucht oder auch in der Art der Lehrverkündigung – die von dem Glaubensschatz selbst genau unterschieden werden muss – nicht genau genug bewahrt worden ist, muss deshalb zu gegebener Zeit sachgerecht und pflichtgemäß erneuert werden.»[4]

Julius Kardinal Döpfner, der langjährige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und einer der vier Moderatoren des Zweiten Vatikanischen Konzils, bezeichnete Reform sogar als grundlegendes «Strukturprinzip» der Kirche, was er nicht zuletzt auf ihre Geschichtlichkeit zurückführte. Das Dokument «Erinnern und Versöhnen», das die Internationale Theologische Kommission im Heiligen Jahr 2000 im Auftrag Johannes Pauls II. vorlegte, nimmt diese Tendenz auf und bekennt sich ausdrücklich zum Prinzip der stetigen Erneuerung und Reform der Kirche.

Was bedeutet dieses Strukturprinzip genau für die katholische Kirche? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Eine grundsätzliche Schwierigkeit besteht darin, dass der lateinische Begriff reformatioim Deutschen sowohl für Reformation als auch für Reform steht. Jeder Katholik, der von Reform spricht, kann deshalb schnell in die Schublade «Reformator» geraten, auch wenn er mit der lutherischen Reformation oder den reformierten Kirchen nichts zu tun hat.

Der Begriff reformatio wurde von der klassischen evangelischen Kirchengeschichtsschreibung in einem eindeutig antikatholischen und antipäpstlichen Sinn verwendet. Von den Humanisten übernahmen die evangelischen Historiographen dazu die Dreiteilung der Geschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit. Als Kriterium für diese Periodisierung diente den Humanisten dabei der Grad der Kenntnis des klassischen Griechisch und Lateins. Die ideale Epoche sahen sie selbstredend in der Antike. Im «dunklen» Mittelalter dagegen war es ihrer Ansicht nach zu einem drastischen Verfall der Bildung und Sprache gekommen, während seit dem fünfzehnten Jahrhundert – vorangetrieben nicht zuletzt durch die Humanisten selbst – eine renaissance oder re-formatio der klassischen lateinischen Bildung erfolgte.

Aus dieser Dreiteilung der Geschichte entwickelte die protestantische Kirchengeschichtsschreibung das eingängige Schema formatio – de-formatio – re-formatio. Als Kriterium diente allerdings nicht mehr die Reinheit und Schönheit der klassischen Sprachen, sondern die Unversehrtheit der wahren christlichen Kirche. Die Phase der Formierung der Kirche dauerte demnach von den Lebzeiten des historischen Jesus bis zur Konstantinischen Wende im Jahr 313. In dieser Zeit entstand das Idealbild von Kirche. Dann begann das Zeitalter der Deformation, der Zerstörung der wahren christlichen Kirche, durch die Anerkennung des Christentums als Staatsreligion im Jahr 380, durch den daraus resultierenden Reichtum und nicht zuletzt durch die Prunkentfaltung der kirchlichen Hierarchie. Am Ende dieses Niedergangs stand aus protestantischer Sicht die pervertierte Papstkirche der Renaissance mit ihrem überzogenen Primatsanspruch, der den römischen Bischof als Nachfolger des Apostelfürsten Petrus zum alleinigen und unkontrollierbaren Herrn der Kirche machte, sowie ihrem sittlichen und religiösen Verfall. Dann kam Luther und stellte die Reinheit und Schönheit der ursprünglichen Kirche wieder her, durch seine re-formatio überwand er die katholische de-formatio des Mittelalters.

Selbstverständlich stieß dieses Konzept in der katholischen Geschichtsschreibung auf entschiedene Ablehnung, sah man doch gerade im Mittelalter, etwa in der Ordens- und Theologiegeschichte – man denke nur an Bernhard von Clairvaux oder Thomas von Aquin –, eine absolute Blütezeit der Kirche, die durch den falschen Reformator Luther zerstört worden war. Der Begriff reformatio hatte seitdem stets den gefährlichen Beiklang der Kirchenspaltung. Das wurde dadurch verstärkt, dass Protestanten die Erneuerung der katholischen Kirche durch das Konzil von Trient als eine «Gegenreformation» bezeichneten. Es dauerte lange, bis der Reformbegriff auch unter Katholiken wieder salonfähig wurde und die automatische Gleichsetzung von Reform und Reformation aufhörte. Erst im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts wurde es möglich, die Neuformierung des Katholizismus im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert als eine «katholische Reform» zu bezeichnen. Anders als der Begriff der «Gegenreformation» lenkt die Rede von der katholischen Reform den Blick auf die innere Erneuerung der alten Kirche statt auf die bloß negative, mitunter gewalttätige Abwehr des Protestantismus.

Nachdem die grundsätzliche Skepsis gegen den Terminus reformatio auf katholischer Seite einmal überwunden war, konnte der Begriff in einem viel umfassenderen Sinn positiv aufgenommen werden. Vor allem durch die Arbeiten des katholischen Kirchenhistorikers Hubert Jedin, der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts eine große Geschichte des Konzils von Trient vorlegte, galt «katholische Reform» jetzt nicht mehr nur als Reaktion auf die Herausforderungen der Reformation. Vielmehr wurden in der katholischen Kirchengeschichtsschreibung zahlreiche Reformbewegungen entdeckt, die völlig unabhängig von Luther entstanden waren: Hier sind zunächst im Vorfeld der Reformation die Reformkonzilien von Konstanz und Basel zu nennen, dann die unterschiedlichen, allesamt gescheiterten Reformversuche der Kurie des fünfzehnten Jahrhunderts und nicht zuletzt die «Selbstreformen der Glieder» von unten, die unabhängig von der kirchlichen Hierarchie entstanden. Diese umfassten zahlreiche Erneuerungsbewegungen in den Orden ebenso wie die im Spätmittelalter neue Frömmigkeit der Devotio moderna oder die Entdeckung der Heiligen Schrift und der Kirchenväter im katholischen Humanismus, etwa durch Erasmus von Rotterdam.

Reform avancierte zu einer begrifflichen Grundkategorie der katholischen Kirchengeschichte, die ganz unterschiedliche Phänomene bezeichnet: zuerst die karolingischen Reformen, die mit einer Renovatio Imperii Romanorum, einer Wiederherstellung des alten Römischen Reichs im Reich der Franken, und einer grundsätzlichen Erneuerung von Liturgie, Bildung und Ordenswesen nach antikem römischem Vorbild einhergingen; dann die Ordensreformen von Gorze und Cluny des elften und zwölften Jahrhunderts, die jeweils die alte Reinheit der Regel des heiligen Benedikt wiederherstellen wollten; ferner die «gregorianische Reform», zu deren Programmschrift der berühmte «Dictatus papae» von 1075 werden sollte, der Reform als strikte Zentralisierung der Kirche auf den Papst hin im Sinne eines extensiven, kirchenrechtlich ausgestalteten Primats definierte; und nicht zuletzt die armutsbewegte Reform eines Franz von Assisi, der sich gegen jede Verrechtlichung und klerikale Kanalisierung seiner Bewegung wehrte und einfach nur zu den idealen Anfängen der Jerusalemer Urgemeinde zurückkehren wollte, bei der, wie die Apostelgeschichte berichtet, allen alles gemeinsam war.

Der Reformbegriff bezeichnet also stets eine Umformung oder Umgestaltung einer gegenwärtigen Situation. Er beinhaltet aber – unabhängig davon, ob man ihn spezifisch kirchengeschichtlich oder allgemein verwendet – zwei ganz unterschiedliche Zielrichtungen: Reform kann die Wiederherstellung eines früheren, inzwischen abhandengekommenen, als ideal betrachteten Zustands meinen, aber auch eine Erneuerung im Wortsinn durch bislang unbekannte, bessere Konzepte.

Bei der erstgenannten reformatio in pristinum liegen die Normen in der Vergangenheit. Es geht um eine Reform im Sinne eines Zurück, einer Rück-Formung zum guten und bewährten Alten durch Beseitigung aller inzwischen eingetretenen Missbildungen und falschen Neuerungen. Für die reformatio in melius dagegen existiert kein historischer Idealzustand, ihr Zielpunkt ist allein eine ideal gedachte Zukunft. Hier geht es um vorbildlose Neuerungen und Neuschöpfungen. Die Norm für die Reformen orientiert sich an aktuellen Bedürfnissen und Einsichten.

Auch der theologische beziehungsweise katholische Reformbegriff beinhaltet diese beiden Komponenten, die sich zum Teil jedoch auch miteinander verbinden können: Einerseits geht es um Reform im Sinne einer stetigen historischen Orientierung am Ursprungsereignis der Kirche, an der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, und dessen Wirkungsgeschichte, die sich in Schrift und Tradition niedergeschlagen hat. Andererseits werden Reformen als produktive Antworten auf die aktuellen Herausforderungen für die Verkündigung des Glaubens verstanden. Für diese zweite Seite der Reform sind eher die Fächer der systematischen und praktischen Theologie zuständig. Die katholische Kirchengeschichte ist – neben der historisch-kritischen Exegese – vor allem für die erste Zielrichtung von Reform zuständig, freilich in einem wesentlich grundsätzlicheren Sinn, als es das klassische protestantische Geschichtsmodell einer Abfolge von formatio – deformatio – reformatio insinuiert.

In der Krypta der Kirchengeschichte

Es gibt nach katholischem Verständnis keine ideale Phase der Geschichte mit einer mustergültigen Verwirklichung von Kirche, auch nicht in der Jerusalemer Urgemeinde oder der Kirche der ersten Jahrhunderte, der dann mehr als tausend Jahre Niedergang gefolgt wären. Vielmehr kommen alle Ausprägungen der Kirche, ihrer Institutionen, Ämter und Lehren, die sich im Lauf von zweitausend Jahren Kirchengeschichte entwickelt haben, als Reservoir von Ideen für eine heutige Reform der Kirche in Betracht.

Dabei geht es vor allem um alternative Modelle aus der Geschichte, die derzeit praktizierten Konzepten komplementär an die Seite gestellt werden können. Kirchengeschichte als historische Wissenschaft weiß sich dem historisch-kritischen Verfahren verpflichtet, das sich in den letzten hundert Jahren bewährt hat, und versteht als theologische Wissenschaft darüber hinaus Geschichte dezidiert als Erkenntnisort, aus dem für heute anstehende Fragen relevante Einsichten gewonnen werden können. Damit die Kirchengeschichte ihre Aufgabe im Rahmen der anstehenden Kirchenreform übernehmen kann, müssen Kirche und Theologie drei Voraussetzungen akzeptieren:

Die erste Voraussetzung ist die Anerkennung der historischen Tatsache, dass die Kirche in ihrer Geschichte nie ein monolithischer Block war. Vielmehr haben immer wieder unterschiedliche Katholizismen miteinander um die ideale Verwirklichung des Katholischen gerungen. Im Bild eines sich drehenden Rades ausgedrückt, gab es eher zentrifugal und eher zentripetal wirkende Kräfte des Katholizismus. Auf wichtige Fragen wurden ganz unterschiedliche Antworten gegeben, ohne dass dabei zwangsläufig die Einheit der Kirche infrage gestellt worden wäre, wie schon die unterschiedlichen Kirchenbilder im Neuen Testament belegen.

Wenn die Geschichtlichkeit der Kirche wirklich ernst genommen wird, muss auch – und das ist die zweite Voraussetzung – die Tatsache akzeptiert werden, dass sie sich entwickelt. Die Kirche in ihrer äußeren Gestalt ist und war historisch betrachtet einem ständigen Wandel unterworfen. Ihre Ämter und Institutionen haben sich im Lauf der Zeit entwickelt und sind nicht von Jesus Christus so gestiftet worden, wie sie heute sind. Manche kirchlichen Einrichtungen sind nach einer Blütezeit vergangen, andere erst spät in der Geschichte der Kirche entstanden. Nicht umsonst hat das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Pastoralkonstitution «Gaudium et spes» formuliert: «Die historischen Fächer tragen sehr dazu bei, die Dinge unter dem Gesichtspunkt ihrer Wandelbarkeit und Entwicklung zu sehen.»[5]

Die dritte Voraussetzung ist die Abkehr von der Vorstellung einer absolut einheitlichen, durch die Jahrhunderte hindurch stets kontinuierlichen und widerspruchsfreien Lehrentwicklung in der katholischen Kirche.

Am heftigsten ist über diese Frage im Hinblick auf das Zweite Vatikanische Konzil diskutiert worden. Dabei haben sich zwei Sichtweisen herauskristallisiert: Das Diskontinuitätsmodell geht davon aus, dass das Konzil einen Bruch zur vorhergehenden Geschichte der Kirche darstellt. Während die einen diese kritische Absetzung des Zweiten Vatikanums von der sogenannten pianischen Epoche der Kirchengeschichte, die von der Wahl Papst Pius’ IX. im Jahr 1846 bis zum Tod Pius’ XII. im Jahr 1958 dauerte, als lange überfällige Reaktion der Kirche auf die Erfordernisse der modernen Zeit positiv betrachten und die innovativen Reformen feiern, sehen die anderen darin einen Verrat an der Tradition der Kirche, vor allem am Konzil von Trient, und eine Kapitulation vor dem gefährlichen modernistischen Zeitgeist. Die Anhänger des Kontinuitätsmodells bestreiten dagegen, dass das Konzil überhaupt etwas grundsätzlich Neues gebracht hat. Es habe sich vielmehr bewusst der kirchlichen Tradition untergeordnet. Während die einen diese Kontinuität als Feigheit der Väter vor wirklichen Reformen charakterisieren, äußern andere ihre tiefe Zufriedenheit darüber, dass das Konzil jeder Tendenz zum Bruch mit der kirchlichen Lehrtradition widerstanden habe.

Was die zentralistische, auf den Papst konzentrierte Kirchenlehre angeht, haben die Vertreter der Kontinuitätsthese ohne Zweifel Recht. Die Lehren des Ersten Vatikanischen Konzils vom Jurisdiktionsprimat und der päpstlichen Unfehlbarkeit sind vom Zweiten Vatikanischen Konzil klar bestätigt worden. Aber wie sieht es im Hinblick auf das Verhältnis der katholischen Kirche zu den Menschenrechten, namentlich zur Religions- und Gewissensfreiheit, oder zu den Juden aus? Muss man hier nicht doch von einer klaren Diskontinuität sprechen?

Mit dem Breve «Quod aliquantum» hatte Pius VI. 1791 nicht nur die Zivilkonstitution des französischen Klerus, sondern auch die demokratische Staatsidee und die Menschenrechte verworfen. Als der französische Priester und Philosoph Félicité de Lamennais ein Bündnis der Katholiken mit den Liberalen gegen die Restauration des alten Bündnisses von Thron und Altar propagierte, dazu den Papst als Garanten der von Gott verbürgten Freiheit anrief und die Katholiken als geborene Kämpfer für die Menschenrechte ansah, traf ihn 1832 der Bannstrahl Gregors XVI. In der Enzyklika «Mirari vos» verdammte der Papst die Gewissensfreiheit als «geradezu pesthaften Irrtum», als «quidem pestilentissimus error».[6] Pius IX. setzte diese Linie 1864 im «Syllabus errorum», einer Liste mit achtzig Zeitirrtümern, konsequent fort. Er verdammte Gewissens,- Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit als «Wahnwitz», als «deliramentum».[7] Diese Linie lässt sich bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein ziehen.

Wie anders das Zweite Vatikanische Konzil: Die Kirchenkonstitution «Gaudium et spes» bezeichnet es als vornehme Aufgabe der Kirche, «die personale Würde und die Freiheit des Menschen» zu schützen. Das Evangelium, das der Kirche anvertraut sei, proklamiere «die Freiheit der Kinder Gottes» und respektiere «sorgfältig die Würde des Gewissens und seiner freien Entscheidung».[8] Und in der Erklärung «Dignitatis humanae» betont das Konzil, Religionsfreiheit sei nicht nur ein individuelles Recht, vielmehr müsse die «Freiheit als Freisein vom Zwang in religiösen Dingen, die dem einzelnen zukommt, … ihnen auch zuerkannt werden, wenn sie in Gemeinschaft handeln».[9]

In Bezug auf die Gewissensfreiheit hat sich die Lehre der Kirche nicht nur entwickelt, sondern sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Der an der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt lehrende Jesuit Klaus Schatz bezeichnete das Dekret über die Religionsfreiheit zu Recht als einen «Einschnitt, der in seiner Bedeutung noch kaum voll erfasst ist; die durchgängige Linie des Anti-Liberalismus, der das neunzehnte und die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erfüllt, ist am entscheidenden Punkte korrigiert».[10]

Auch Benedikt XVI. forderte unmissverständlich dazu auf, die Errungenschaften der Aufklärung wie die Menschenrechte, insbesondere Meinungs- und Religionsfreiheit, zu akzeptieren. In einer Ansprache an die Mitglieder der Kurie vom 22. Dezember 2006 im Nachgang zu den Irritationen, die seine Regensburger Vorlesung hervorgerufen hatte, stellte er fest, dass «die islamische Welt heute mit großer Dringlichkeit sich vor einer ganz ähnlichen Aufgabe findet, wie sie den Christen seit der Aufklärung auferlegt ist und vom Zweiten Vatikanischen Konzil als Frucht eines langen Ringens … zu konkreten Lösungen geführt wurde».[11] Damit sprach der Papst zwar nicht von einem Bruch, räumte jedoch ein, dass der Katholizismus, was sein Verhältnis zur Moderne angeht, eine grundlegende Entwicklung durchgemacht hat.

Eine ähnliche Wende vollzog die Kirche auch in ihrem Verhältnis zu den Juden. Über Jahrhunderte hinweg war sie von Antijudaismus geprägt. Noch 1930 konnte der Jesuit Gustav Gundlach in der ersten Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche einen verbotenen völkischen Rassenantisemitismus von einem kirchlich erlaubten und staatspolitisch notwendigen Antisemitismus unterscheiden. Die Bekämpfung des «tatsächlich-schädlichen Einflusses des jüdischen Volksteils auf den Gebieten des Wirtschafts- und Parteiwesens, des Theaters, Kinos und der Presse, der Wissenschaft und Kunst» sei – mit «sittlichen und rechtlichen Mitteln» – durchaus geboten.[12] Legenden von jüdischen Ritualmorden und der Verunglimpfung der Juden als «Gottesmörder» trat die Kirche nicht entschieden entgegen. Und am Karfreitag sprachen die Katholiken eine Fürbitte für die Juden, die mit «Oremus et pro perfidis Judaeis» – Lasset uns auch beten für die treulosen Juden – begann. Die meisten Katholiken assoziierten hiermit «perfide Juden». Weiter wurde «ob jenes Volkes Verblendung» für die Juden gebetet, «dass Gott, unser Herr, wegnehme den Schleier von ihren Herzen», auf dass sie «Christus erkennen» und ihren «Finsternissen entrissen» werden.[13]

In der Erklärung «Nostra aetate» des Zweiten Vatikanischen Konzils wird dagegen nachdrücklich das gemeinsame Erbe von Juden und Christen beschworen. Das Konzil lehnt die pauschale Verurteilung der Juden als von Gott «verworfen oder verflucht» ab und beklagt alle «Verfolgungen … und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgendjemandem gegen die Juden gerichtet haben». Die Juden seien nach wie vor «von Gott geliebt». Da das «Christen und Juden gemeinsame geistliche Erbe so reich» sei, wolle das Zweite Vatikanum die «gegenseitige Kenntnis und Achtung» auf dem Weg des «brüderlichen Gespräches» fördern.[14]

Diese neue Hochschätzung für das Volk des Alten Bundes wurde in der Neuformulierung der Karfreitagsfürbitte für die Juden im Messbuch Papst Pauls VI. von 1970, dessen deutsche Fassung 1975 erschien, noch deutlicher: «Lasst uns beten für die Juden, zu denen Gott, unser Herr zuerst gesprochen hat: Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen, damit sie das Ziel erreichen, zu dem sein Ratschluss sie führen will.»[15] In der Konsequenz dieses radikalen Umdenkens der Kirche steht auch das Schuldbekenntnis Johannes Pauls II., in dem er um Vergebung für die Sünden «gegen das Volk des Bundes und der Seligpreisungen» bat.[16]

Die grundsätzliche Wende, die die katholische Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil in ihrem Verhältnis zu den Juden und zur Religionsfreiheit vollzogen hat, zeigt, dass die Lehre der Kirche sich nicht nur weiterentwickeln, sondern in zentralen Punkten sogar zu konträren Aussagen gelangen kann. Mit anderen Worten: Die Kirche ist in der Lage, aus Fehlern zu lernen. Das heißt aber auch: Wenn die Kirche in so zentralen Fragen wie der Gewissensfreiheit, den Menschenrechten und der theologischen Einschätzung der Juden ihre Position radikal ändern beziehungsweise reformieren konnte, dann kann sie es – zumindest theoretisch – auch in anderen Bereichen. Reformen müssen sich dabei nicht zwangsläufig an dem orientieren, was in der Tradition überliefert ist. Und doch lohnt es sich, in der Geschichte bereits einmal verwirklichte Ideen mit in den Blick zu nehmen.

Hier setzt Krypta an. Selbstredend kann kein erschöpfender Überblick über all die alternativen Modelle und verborgenen – so der eigentliche griechische Wortsinn von krypta – Traditionen geboten werden, die die Geschichte der Kirche komplementär zu derzeitigen Konzepten, Erscheinungsformen oder gar angeblich «ewigen Wahrheiten» bereithält. Vielmehr sollen vergessene und nicht selten unterdrückte Optionen der Kirchengeschichte in Erinnerung gerufen werden – so wie zahlreiche Krypten unter antiken und mittelalterlichen Kirchen verschüttet und später wieder ausgegraben wurden.

Denn seit den ersten Kirchenbauten über die Romanik bis zum Aufkommen der Gotik besaß so gut wie jedes Gotteshaus eine Krypta, einen unter der Erdoberfläche gelegenen verborgenen Raum unterhalb des Altars. Sie stellte das eigentliche Fundament der Kirche, ihre materielle und geistliche Basis dar. In der Krypta befand sich das Grab des Heiligen, dem die Kirche geweiht war. Der sichtbare Altar oben im Gottesdienstraum benötigte als unverzichtbare Grundlage das unsichtbare Heiligengrab in der Krypta. So befindet sich bis heute der Papstaltar von Sankt Peter in Rom über dem Grab des heiligen Petrus in der Unterkirche. Im Laufe der Kirchengeschichte wurden jedoch zahlreiche Krypten zugeschüttet. Sie fielen einem neuen Stil im Kirchenbau und einem neuen Verständnis des Altars zum Opfer, in dem die Reliquien des Heiligen jetzt direkt eingemauert wurden. Nicht selten gerieten die Krypten in völlige Vergessenheit und wurden erst bei grundlegenden Kirchenrenovierungen im neunzehnten oder zwanzigsten Jahrhundert wiederentdeckt.

Diese Fundamente der Kirche gilt es, wieder freizulegen. Ziel ist es zu zeigen, wie sich die Kirche entwickelte, wie sie auf gesellschaftliche Herausforderungen reagierte und sich veränderte. Dadurch werden neue alte Möglichkeiten in Erinnerung gerufen, was dazu beitragen kann, die heutigen Reformdiskussionen auf der Basis der ganzen Breite der kirchlichen Tradition zu führen. Ob und inwieweit die historisch belegten alternativen Modelle für die gegenwärtig anstehende Reform der Kirche an Haupt und Gliedern tatsächlich nützlich sind, das zu beurteilen übersteigt die Kompetenz eines Kirchenhistorikers. Hier sind alle theologischen Disziplinen und letztlich die Kirche als Ganze gefragt.

1. Der Bischof
Von allen gewählt

«Der Papst ernennt die Bischöfe frei»

Codex Iuris Canonici1