Lisa Warnecke
DAS GEHEIMNIS DER WINTERSCHLÄFER
Reisen in eine
verborgene Welt
C.H.Beck
Der Winterschlaf ist eines der größten Rätsel der Natur. Wie schaffen die Tiere das bloß? Die Hälfte des Jahres, ja die Hälfte ihres Lebens, liegen sie kalt und leblos in einem Erdloch, ohne irgendwelche Schäden davonzutragen. Wenn wir Menschen nur drei Wochen mit einem Gipsverband flachliegen, wird unsere Beinmuskulatur darunter mager und schwach.
Auf ihrer Reise in die verborgene Welt der Winterschläfer erzählt die Biologin und Forscherin Lisa Warnecke die Geschichte von vier Tieren, die sie auf vier verschiedenen Kontinenten unter oft abenteuerlichen Bedingungen durch den «Winterschlaf» begleitet hat: einen Igel inmitten einer deutschen Großstadt, einen Lemur im tropischen Madagaskar, eine Fledermaus in der Eiswüste der kanadischen Prärie und ein kleines Beuteltier im sonnigen Australien. Ihr Buch räumt mit weit verbreiteten Irrtümern auf: Etwa dem, dass Winterschläfer die ganze Zeit regungslos daliegen oder dass sie nur in kalten Gebieten vorkommen. Es gibt Tiere, die selbst bei lauschigen 30 °C in den «Winterschlaf» fallen. Sie sparen dabei unglaubliche 99 Prozent ihrer Energie ein. Der Winterschlaf, so ihr Ergebnis, ist ein Erfolgsrezept für die Arterhaltung. Zugleich machen ihre eindringlichen Schilderungen der Tierwelt klar, wie rasant sich die Lebensräume vieler Tiere durch das menschliche Handeln derzeit verändern und manchmal auch ganz zu verschwinden drohen.
Lisa Warnecke, geb. 1978 in Frankfurt am Main, ist promovierte Biologin. Sie hat viele Jahre in Australien die Überlebensstrategien kleiner Beuteltiere untersucht und im kanadischen Winnipeg die Winterschlafmuster erkrankter Fledermäuse analysiert. Als Trägerin des Forschungspreises der Deutschen Wildtier Stiftung hat sie in den vergangenen Jahren in Hamburg die Ökophysiologie des Igels im urbanen Lebensraum erforscht und ist nun mit ihrer Familie wieder auf dem Sprung nach Australien.
Vorwort —
TEIL I —: EINSCHLUMMERN
Kapitel 1 —:Jenseits der Reeperbahn
Großstadtdschungel bei Nacht
Energiesparmodus angeschaltet
Stachelige Angelegenheiten
Verpeilte Sender
Angelockt vom Smog
Versteckte Helfer
Torpor and the city
Winterschlaf für einen Tag
Schlummerpausen
Steinalte Igel
Kapitel 2 —:Die Fledertiere der Prärie
Fliegende Säuger
Harfenfallen
Vampire und Bat-Nerds
Eiskalte Spermien
Länger weiß als heiß
Wechselwarme Verwirrungen
Das Leben auf Sparflamme
Uralte und Kitakinder
Verschwenderische Aufwärmphasen
Kapitel 3 —:Wellen, Wein und Possums
Winter im Sommer
Säugende Beutler
Eierlegende Säuger
Grüßende Wale
Löchriger Boden
Fettpolster versus Vorratskammer
Beutler im Tagestorpor
Zitternde Beutler
Gefiederte Gesellen
Shiraz oder Cab-Sav?
Kapitel 4 —:Schlummernde Primaten
Sonnenbad
Primaten untersuchen Primaten
Inselbewohner
Surfende Lemuren
Durstige Landschaft
Torpid zum Mars
Was der Atem verrät
Eiszeitliche Korridore
TEIL II —:AUFWACHEN
Kapitel 5 —:Dornröschen im Stachelkleid
Katerstimmung
Gefährliche Großstadt
Papierkram
Dachse auf Achse
Fette Zeiten
Die Sonne lockt – nicht alle
Ein Leben nach dem Winterschlaf
Kapitel 6 —:Fledermäuse in Bedrängnis
Gefrorene Wimpern
Bärengeschichten
Wässrige Luft
Gemeinsam einheizen
Weiße Nasen
Hörnchen und Viren
Tödlicher Winterschlaf
Teure Fledermäuse
Schuldiger Höhlentourist
Kapitel 7 —:Der Opportunist gewinnt
Torpor bimodal
Igel mit Schnabel
Ein Jahr Winterschlaf
Labor ≠ Freiland
Beutler auf Bergen
Kaltes Herz
Passives Erwärmen
No worries, mate?
Kapitel 8 —:Affen ohne Regeln
Wie man sich bettet
Schlaflos im Winterschlaf
Durch dick und dünn
Eine blutende Insel
Torpide Tiere leben länger
Schnürsenkel im Torpor
Torpid in die Zukunft
Danksagung
Literaturverzeichnis
Hamburg (Kapitel 1 und 5)
Ökologie und Winterschlaf der Igel
Großstadt-Tiere
Tiere unter dem Gefrierpunkt
Hamster, Tenrek und Schnabeligel
Dachs, Stinktier, Waschbär und Nacktmull
Physiologie, Torpor, Fettsäuren und Braunes Fett
Aktionsraum
Andere Aspekte
Kanada (Kapitel 2 und 6)
Die Kleine Braune Fledermaus in Kanada
Fledermausökologie
Torpor und Reproduktion
Persönlichkeit bei Tieren
Hauskatzen und ihre Beute
Wissenschaftsbasierte Schutzstrategien
Raumfahrt und Torpor
Hörnchen
Weißnasen-Syndrom
Der «Wert» von Fledermäusen und Windenergie
Amphibiensterben
Bärengeschichten
Australien (Kapitel 3 und 7)
Opportunistischer Winterschlaf
Beuteltiere und andere Säugetiere
Zugtiere: Torpor und Orientierung
Torpor bei Vögeln
Schlangen
Schnabeligel
Sonnenbaden und passives Aufwärmen
Weltrekorde im Winterschlaf
Freiland versus Labor
Bergbilchbeutler
Kaltes Herz
Backenhörnchen und Ziesel
Australiens Umwelt in Not
IUCN – Weltnaturschutzorganisation
Genozid in Australien
Körpertemperatur beim Menschen
Madagaskar (Kapitel 4 und 8)
Winterschlafende Lemuren
Madagaskar: Tierwelt, Evolution und Artenschutz
Tiere in Trockenheit
Torpor bei hohen Temperaturen
Weitere torpide Primaten
Medizinische Anwendung, Hypothermie
Torpide Astronauten
Todesursachen Bevölkerung Deutschlands
Sonnenbad
Schlaf
Torpor, Altern und Aussterben
Zellen unseres Körpers
Klimawandel
Bildnachweis
Register der genannten Tierarten
Für Matilda und das kleine Wesen
in meinem Bauch
Sich im Herbst gemütlich zusammenrollen und erst mit dem Frühling wieder aufwachen – davon träumen viele von uns, sobald das letzte Laub von den Bäumen gefallen ist. Weit verbreitet ist die Vorstellung, dass Tiere sich für den Winterschlaf in einem kalten Erdloch verkriechen und dort für sechs Monate schlafen. Doch der Begriff «Winterschlaf» ist denkbar irreführend. Denn erstens schlafen Tiere während dieser Zeit gar nicht und zweitens muss sie nicht zwingend im Winter liegen. Tiere können weiterhin auf äußere Impulse reagieren, lediglich etwas verzögert. Auch wird der Winterschlaf alle paar Wochen von Aufwärmphasen unterbrochen.
Wir Biologen nennen den Zustand, den Tiere im Winterschlaf eingehen, Torpor. Ausschließlich Säugetiere und Vögel sind zum Torpor in der Lage und können ihren Energiebedarf auf diese Weise um unglaubliche 99 Prozent reduzieren. Lebenserhaltende Funktionen wie Stoffwechsel, Körpertemperatur und Herzschlag werden stark gedrosselt, die Tiere scheinen leblos; jedoch handelt es sich um einen hochregulierten Zustand, den die Tiere jederzeit aus eigener Kraft wieder verlassen können. Schon lange fasziniert der Winterschlaf die Wissenschaft – doch noch immer geben uns viele Vorgänge Rätsel auf: Wie schaffen Tiere es nur, sechs Monate des Jahres kalt und fast bewegungslos zu verbringen, ohne Schäden davonzutragen? Welche Vorgänge laufen dabei im Körper ab und welche Tiere nutzen weltweit Winterschlaf? Geht es dabei wirklich nur um die Einsparung von Energie?
Mein Buch lädt Sie ein zu einer Forschungsreise auf vier Kontinente, um bekannte und weniger bekannte Winterschläfer unter die Lupe zu nehmen: Igel in Hamburg, Fledermäuse in Kanada, Beuteltiere in Australien und Lemuren in Madagaskar. Für jeden Lebensraum beschreibe ich biologische Freilandarbeit, die zu neuen Erkenntnissen über den Winterschlaf führte. Die Vorgänge im Tier selbst, aber auch die Einflüsse der Umwelt werden dabei beleuchtet. Die Tiere werden durch das große Schlummern begleitet: In Teil I des Buches beschreibe ich die Vorbereitungen zum Winterschlaf und die ersten Winterschlafmonate. Teil II konzentriert sich auf Vorgänge während des «Winters» bis zum Beginn der nächsten Aktivitätsperiode.
Freilandforschung geschieht heutzutage immer im Team. In die von mir erzählten Geschichten aus dem Alltag unserer kurzweiligen Feldarbeit fließen die Ergebnisse von zahlreichen wissenschaftlichen Studien über verschiedene Aspekte des Winterschlafs mit ein. In Hamburg (Kapitel 1 und 5), Kanada (Kapitel 2 und 6) und Australien (Kapitel 3 und 7) war ich selbst vor Ort und habe die beschriebenen Forschungsprojekte gemeinsam mit KollegInnen durchgeführt. In Madagaskar (Kapitel 4 und 8) dagegen war ich nicht persönlich; doch die Lemuren hüten solch spannende Geheimnisse des Winterschlafs, dass ein Abstecher in ihre Welt in diesem Buch nicht fehlen soll, und ich beschreibe dafür die Feldarbeit einer Kollegin.
Mein Interesse liegt beim Winterschlaf als Überlebensstrategie in extremen Lebensräumen: Welche Rolle spielt er für das Überdauern stressiger Zeiten inmitten einer deutschen Millionenstadt, in der Eiswüste der kanadischen Prärie, an den Küsten Australiens oder im tropischen Madagaskar? Zusätzlich beleuchte ich verschiedene Fragestellungen wie beispielsweise: Warum können Tiere im Winterschlaf nicht schlafen? Wie geht es Wildtieren in der Großstadt? Welche Bedeutung hat der Winterschlaf für das schlimmste bisher dokumentierte Säugetiersterben? Warum müssen sich Winterschläfer alle paar Wochen erwärmen? Warum leben winterschlafende Tiere länger als solche, die das nicht können? Welche Rolle spielt Torpor in der Evolution und im Zuge des Klimawandels? Wie können Tiere bei behaglichen 30°C überhaupt winterschlafen und – wenn andere Primaten das können, was ist dann mit uns Menschen? Wie nah sind wir dem Traum wirklich, den Winter zu verschlafen?
TEIL I —