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JÖRN LEONHARD

Der überforderte Frieden

Versailles und die Welt
1918–1923

C.H.BECK

Zum Buch

Aus aller Welt kamen im Frühjahr 1919 Diplomaten und Staatsmänner nach Paris, um den größten Krieg, den die Welt bis dahin gesehen hatte, zu beenden. Doch die Aufgabe musste die Handelnden überfordern. Jörn Leonhard erkundet in seinem eindrucksvollen Buch die Ereignisse in Europa und weit darüber hinaus. In stetem Wechsel zwischen Akteuren, Orten und Perspektiven zeigt er, wie die Welt inmitten von Aufbrüchen und Untergängen, Revolutionen und fortdauernden Kämpfen vom Krieg in den Frieden schlitterte. Dabei werden die hochfliegenden Erwartungen und die teils widersprüchlichen Versprechen ebenso deutlich wie die erdrückenden Probleme bei der Umsetzung und die Unterschiede zwischen den Annahmen in Paris und den Realitäten vor Ort. Ob im Blick auf untergehende Reiche und neue Staaten, ethnische Minderheiten oder das neue Massenphänomen von Flucht und Vertreibung: Die Art und Weise, wie der Krieg zu Ende ging, schuf Enttäuschungen und Konflikte, die das 20. Jahrhundert prägen sollten. Jörn Leonhard legt eine faszinierende Globalgeschichte dieser Zeitenwende vor, deren schwieriges Erbe fortwirkt – bis in unsere Zeit.

Über den Autor

Jörn Leonhard ist Professor für Westeuropäische Geschichte an der Universität Freiburg. Bei C. H.Beck ist von ihm erschienen: «Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges» (52014).

Inhalt

I.: «Die ganze Welt wird anders»: Vergangenheit und Zukunft am Ende des Krieges

II.: Hohe Erwartungen, offene Ausgänge: Die Scharniere des Krieges 1916 bis 1918

1. Kriegsziele, Friedensinitiativen und die paradoxe Ökonomie der Opfer

2. Neue Utopien und entfernte Verwandtschaft: Weltrevolution, Weltdemokratie, Selbstbestimmung

3. Asymmetrischer Frieden und progressive Rhetorik:Brest-Litowsk und die Vierzehn Punkte Woodrow Wilsons

4. Die ideologischen Arsenale des Friedens

III.: Reiche und Revolutionen:Das lange Kriegsende im Herbst 1918

1. Aufteilen und Erhalten:Das Ende des Krieges im Osmanischen Reich

2. Loyalitätswandel und Legitimitätskrise:Der Zerfall der Habsburgermonarchie

3. Fragiler Konsens, überzogene Hoffnungen:Der lange Weg der Alliierten und Deutschen nach Compiègne

4. Drei Waffenstillstände zwischen Kapitulation und Revolution

IV.: Triumph und Trauer: Der globale November 1918

1. Herausfinden und Zurückfinden: Der November 1918 der Soldaten

2. Emotion und Epoche:Heimatfronten zwischen Restabilisierung und Verunsicherung

3. Kapitulation und Ermächtigung: Das weltweite Kriegsende

4. Gespiegelte Geschichte?August 1914 und November 1918

V.: Nach dem Krieg, vor dem Frieden: Das «Traumland» zwischen November 1918 und Frühjahr 1919

1. Kurze Wege nach Paris:Erschöpfte Sieger und erhoffte Friedensdividenden in Europa

2. Lange Reisen nach Europa:Globale Akteure und konkurrierende Erwartungen

3. Entscheidungen, Bedrohungen, Vorbereitungen:Die Zwischenzeit der deutschen Republik

4. Variationen und Improvisationen der Niederlage:Österreich und Ungarn zwischen Revolution und Frieden

5. Nach dem Imperium: Staatsbildung und umkämpfte Souveränität in Ostmittel- und Südosteuropa

6. Erosion und Intervention:Übergangszonen zwischen Russland und dem Osmanischen Reich

7. Ansprüche und Visionen:Kolonialgesellschaften nach dem Krieg

8. Vor Paris:Die Hypotheken der Zwischenzeit

VI.: Aus dem Krieg und wieder zu Hause: Demobilisierte Gesellschaften und remobilisierte Gewalt

1. Zurückkehren und empfangen werden:Von Soldaten zu Veteranen

2. Rekonstruktion, Reintegration und Exklusion:Die widersprüchliche Heimat des Nachkrieges

3. Unterwegs und dazwischen: Flüchtlinge, Staatenlose und der Kampf um Anerkennung und Status

4. Übergänge und Entgrenzungen:Das Kontinuum der Gewalt

5. Utopie und Untergang:Intellektuelle Diagnosen und Aufbrüche

6. Nach dem Krieg: Generationen und Frakturen

VII.: Moral und Interesse: Die Pariser Friedenskonferenz ab Januar 1919

1. Eröffnen und Ausschließen, Anwesende und Abwesende: Die Widersprüche der Konferenz

2. Wissen, Arkanum und Öffentlichkeit:Die Konferenz der Experten, Diplomaten und Journalisten

3. Vertrauensvorschuss und Glaubwürdigkeitskrise:Der Kampf um die Völkerbundakte

4. Dekolonisierungsimpuls und Machtinteresse:Der Testfall der Mandate und die Zukunft des Kolonialismus

5. Das Vakuum der postimperialen Zusammenbruchzone:Konkurrierende Ansprüche in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa

6. Ansprüche und Wirklichkeiten:Der Nahe Osten in Paris

7. Verflochtene Agenden: Deutschlands Status, Polens Staat, Frankreichs Sicherheit

8. Schuld und Schulden: Von der moralischen zur politischen Ökonomie der Reparationsfrage

9. Der Krieg als Verbrechen:Auf der Suche nach einer internationalen Rechtsordnung

10. Saarland und Fiume, Schantung und Kleinasien:Die Krise der Konferenz im April 1919

11. Nebenbühnen, Katzentische, Hinterzimmer:Globale und postkoloniale Vorstellungen jenseits der Friedenskonferenz

12. Der Preis der Kompromisse: Stabilisierungsleistung und Aporien auf der Pariser Friedenskonferenz im Frühjahr 1919

VIII.: Die polyzentrische Krise:Paris und die Welt seit März 1919

1. Die Präsenz der Abwesenden: Revolutionärer Internationalismus und nationale Behauptung in Russland und Ungarn

2. Die bedrohte Republik und die Diskussion der Schuldfrage:Das lange Warten der Deutschen bis Mai 1919

3. Ermächtigung und Emanzipation:Die Eigenlogik der globalen Krisenschwellen

4. Universalismus der Versprechen, Partikularismus der Kontexte:Über Gleichzeitigkeit und Kausalität

IX.: Kalkül und Emotion:Versailles im Sommer 1919

1. Unterstellte Demütigung und verletzte Ehre:Der Vertragsentwurf vom 7. Mai 1919

2. Inkrementale Lösungen und emotionale Überwölbung:Der Kampf um die Annahme des Friedensvertrags

3. Die Grenzen der Inszenierung:Von der Unterzeichnung zur Friedensfeier

4. Der Weg nach Versaillesund das Versagen der politischen Kommunikation

X.: Postimperiale Räume:Verträge und Revisionen 1919 bis 1923

1. Rechtsnachfolge, Anschluss, Rumpfstaat?Österreich und die Konferenz von Saint-Germain

2. Innenpolitische Belastung und kollektives Trauma:Bulgarien in Neuilly und Ungarn in Trianon

3. Von Sèvres nach Lausanne, von Istanbul nach Ankara:Vertragsrevision und Souveränitätsanspruch der Türkei 1919 bis 1923

4. Imperiale Erosion, koloniale Expansion?Der Nahe und Mittlere Osten

XI.: Nach Paris:Das lange Ringen um eine Nachkriegsordnung

1. Bedingter Frieden: Revisionsanläufe und Weltvisionen nach dem Sommer 1919

2. Fluide Formationen: Staatsbildung, Statuskonflikte und Stabilisierungsansätze in Ostmittel- und Südosteuropa

3. Belagerte Republik:Die Krisen des deutschen Nachkrieges bis 1923

4. Untergangsvision und Aufbruchssignal:Liberalismus und Massendemokratie nach 1918

XII.: Eine globale Epochenschwelle: Der überforderte Frieden und das 20. Jahrhundert

Universalismus und Partikularismus

Friedensvisionen und Handlungsgrenzen

Recht und Emotion

Sieger und Besiegte

Internationalismus und Nationalismus

Friedensordnung und Sicherheitsversprechen

Erfahrungsumbruch und Erwartungssicherheit

Anhang

Anmerkungen

I.«Die ganze Welt wird anders»: Vergangenheit und Zukunft am Ende des Krieges

II.Hohe Erwartungen, offene Ausgänge: Die Scharniere des Krieges 1916 bis 1918

III.Reiche und Revolutionen:Das lange Kriegsende im Herbst 1918

IV.Triumph und Trauer: Der globale November 1918

V.Nach dem Krieg, vor dem Frieden: Das «Traumland» zwischen November 1918 und Frühjahr 1919

VI.Aus dem Krieg und wieder zu Hause: Demobilisierte Gesellschaften und remobilisierte Gewalt

VII.Moral und Interesse: Die Pariser Friedenskonferenz ab Januar 1919

VIII.Die polyzentrische Krise:Paris und die Welt seit März 1919

IX.Kalkül und Emotion:Versailles im Sommer 1919

X.Postimperiale Räume:Verträge und Revisionen 1919 bis 1923

XI.Nach Paris:Das lange Ringen um eine Nachkriegsordnung

XII.Eine globale Epochenschwelle: Der überforderte Frieden und das 20. Jahrhundert

Quellen- und Literaturverzeichnis

Verzeichnis der Karten

Bildnachweis

Dank

Personenregister

Sach- und Ortsregister

Dieses Werk wurde gefördert durch einen einjährigen Forschungsaufenthalt
am Historischen Kolleg in München. Das Historische Kolleg wird finanziert
aus Mitteln des Freistaates Bayern. Die Mittel für das Forschungsstipendium des Verfassers 2016/17 haben je zur Hälfte der Freistaat Bayern und
das Institut für Zeitgeschichte in München zur Verfügung gestellt.

Meinem Vater

Horst Leonhard
1933–2014

in Dankbarkeit

I.

«Die ganze Welt wird anders»: Vergangenheit und Zukunft am Ende des Krieges

War es wirklich die Grippe? Jedenfalls hatte Franz Kafka Fieber, sehr hohes Fieber sogar. Während draußen in den Straßen Prags die Unruhe spürbar zunahm, diagnostizierte der am 14. Oktober 1918 von der Familie in das Haus am Altstädter Ring herbeigerufene Arzt bereits am Mittag eine Körpertemperatur von über 40 Grad. Für den Schriftsteller, bei dem 1917 eine Lungentuberkulose diagnostiziert worden war, bedeutete das unmittelbare Lebensgefahr.[1] An seinen Freund Max Brod schrieb der Kranke noch bedauernd, die gemeinsamen Hebräischstunden müsse man vorerst absagen. Es sollte die letzte Nachricht für über vier Wochen sein.[2] Als Kafka das Gröbste überstanden hatte, war eine Welt untergegangen. Aus dem k.u.k.-Untertan war der Bürger eines neuen tschechoslowakischen Staates geworden, dessen Proklamation eine jubelnde Menschenmenge am 28. Oktober 1918 auf dem Prager Wenzelsplatz gefeiert hatte.

Überall konnte man die Zeichen der um sich greifenden Infektion beobachten: Innerhalb weniger Tage, ja oft nur weniger Stunden verbreitete sie sich. Erschreckend war für die Zeitgenossen das Plötzliche der Erkrankung, der Umschlag von der scheinbaren Gesundheit zur unmittelbaren Todesnähe. Was bei zuvor beschwerdefreien und kräftigen Menschen mit starken Kopfschmerzen, Gliederschmerzen und Schüttelfrost begann, steigerte sich in kürzester Zeit zu extremem Fieber. Wie viele andere Menschen empfand auch die 18-jährige Agnes Zenker aus Sachsen Anfang November 1918 eine große Friedenssehnsucht, obwohl sie ihr «so grässlich unpatriotisch» vorkam. Aber alles war plötzlich überlagert von der Krankheit, die sich am Ende des Krieges wie ein unheimlicher Totentanz auszubreiten schien. Als großer Gleichmacher schien die Grippe alle Unterschiede zwischen Front und Heimat einzuebnen, sodass Agnes Zenker das Gefühl einer schmerzvollen Gerechtigkeit überkam: «Es ist ja alles schändlich, und es müssen immer mehr junge Menschen sterben. Außerdem geht die Grippe (Influenza) zum zweiten Mal um. Auf der ganzen Welt tritt sie auf und viel schlimmer als das erste Mal. Die meisten Menschen bekommen Lungenentzündung dazu und sterben dran. Jeden Tag stehen viele in der Zeitung, die daran gestorben sind […] Es kommt mir vor, als sollte ein Ausgleich stattfinden. Weil so viele junge Männer sterben, müssen halt auch junge Mädels weg. Warum nicht!»[3]

Die Pandemie hatte zunächst Afrika, Asien, die Vereinigten Staaten und Lateinamerika heimgesucht, bevor sie schließlich nach Europa kam. Ihr Verlauf ging weit über das hinaus, was man bislang in den Kriegsgesellschaften an Entbehrungen gekannt hatte. Die jetzt stark ansteigende Zahl der Opfer offenbarte, wie erschöpft die Menschen waren. Wer es sich leisten konnte, den eigenen Körper lange genug zu schonen, hatte eine realistische Chance, dem Tod zu entgehen, doch für viele Menschen in den Großstädten war das angesichts des täglichen Kampfes um Lebensmittel illusorisch.[4] Die klassische Medizin verfügte gegen diese Pandemie, die man die Spanische Grippe nannte, weil spanische Zeitungen zuerst über sie berichtet hatten, über keine wirksamen Mittel, zumal nicht gegen die mit ihr häufig einhergehende Lungenentzündung. Ihr Haupterreger, das H1N1-Virus, sollte erst in den 1990er Jahren nachgewiesen werden.

Zu einem welthistorischen Ereignis wurde die Spanische Grippe erst im Rückblick. Der globale Zusammenhang und das ganze Ausmaß der Krankheit wurden von den Zeitgenossen 1918 kaum wahrgenommen. Viel zu sehr beunruhigten sie andere Nachrichten von den militärischen Fronten und den politischen Umbrüchen in den Heimatgesellschaften. Insgesamt forderte die Pandemie etwa 20 Millionen Tote, mehr als die militärischen und zivilen Opfer des gesamten Krieges. Doch für die demographische Globalkatastrophe bei Kriegsende gab es kaum ein Bewusstsein, und schon gar keine angemessene Reaktion der staatlichen Behörden. Der österreichische Minister für Volksgesundheit glaubte, die Öffentlichkeit allein mit der Ankündigung von drei Tonnen Aspirin beruhigen zu können.[5]

Die Spanische Grippe war die Katastrophe im Schatten der vielen Umbrüche, obwohl sie lange vor den Waffenstillständen 1918 und Friedenskonferenzen 1919 einen unsichtbaren weltweiten Zusammenhang geschaffen hatte.[6] Sie überlagerte sich mit den vielen gleichzeitigen Ereignissen, welche die Menschen in ihren Bann schlugen: mit dem Kriegsende, mit Revolutionen und Bürgerkriegen in vielen Teilen Europas, mit dem Zerfall alter und der Bildung neuer Staaten, mit einer Zukunft, die in ihrer Offenheit zugleich verheißungsvoll und bedrohlich schien. Die meisten Menschen konzentrierten sich darauf, sicher durch diese Wochen zu kommen, die Ernährung der eigenen Familie zu organisieren oder an verlässliche Informationen über den Verbleib eines Angehörigen an der Front oder in Kriegsgefangenschaft zu gelangen. Für sie waren die vielen Krankheitsfälle nur ein weiteres Menetekel eines katastrophischen Kriegsjahres.

Dabei beschleunigte sich die Ausbreitung der Pandemie genau im Augenblick des krisenhaften Übergangs in eine unabsehbare Zukunft. In Afrika dezimierte sie Gesellschaften, die seit Jahren nur noch aus geschwächten Frauen, chronisch unterernährten Kindern und Alten bestanden, weil die männlichen Ernährer als Kolonialsoldaten, Hilfstruppen oder Träger von Kriegsmaterial eingesetzt waren. Hier starben jetzt bis zu fünfmal mehr Menschen als während des Krieges. In Europa traf die Grippe auf Behörden, die mit dem absehbaren Kriegsende, der Demobilisierung von Millionen von Soldaten, mit Gewalt, prekärer Lebensmittelversorgung und Staatszerfall überfordert waren. Das verstärkte das Gefühl der Unsicherheit und des Chaos.[7] Gleichzeitig bestimmte die Krankheit indirekt politische Entwicklungen mit, indem sie in einem dramatischen Augenblick höchster Spannung wichtige Akteure über Wochen ausschaltete. Im Herbst und Winter 1918 war die Grippe das retardierende Element – und wirkte gerade dadurch politisch. Als die Zionisten in den europäischen Staaten angesichts des Zerfalls des Osmanischen Reiches eine Antwort auf die Frage finden mussten, wie man in Palästina einen eigenen Staat der Juden gründen konnte, wurde der Führer der Bewegung, Martin Buber, über Wochen von einer Lungenentzündung heimgesucht und musste sich danach auf Rat seiner Ärzte lange Zeit aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Gustav Landauer, Bubers langjähriger Freund und ein pazifistischer Sozialist, hatte das Ende des Wilhelminischen Reiches lange herbeigesehnt, aber in den entscheidenden Wochen des Umsturzes in München war er durch die Grippe gelähmt. Die Krankheit machte am Ende des Krieges wenig Unterschiede. Ihr fiel Ende Oktober 1918 der Maler Egon Schiele genauso zum Opfer wie der französische Schriftsteller Guillaume Apollinaire in Paris nur zwei Tage vor dem Waffenstillstand im November 1918 und der britische Diplomat Mark Sykes, einer der Architekten der Neuordnung im Nahen und Mittleren Osten, während der Pariser Friedensverhandlungen Mitte Februar 1919. Die Auswirkungen der Grippe hielten an, denn viele geschwächte Menschen hatten der nächsten Infektion nichts mehr entgegenzusetzen: weder Sophie Freud, die kleine Tochter des Wiener Psychiaters Sigmund Freud am 25. Januar 1920, noch der deutsche Soziologe Max Weber am 14. Juni 1920 in München. So erinnerte die Grippe an eine Grunderfahrung der Soldaten im Krieg: die permanente Todesnähe und die Zufälligkeit des Sterbens.[8]

Die Überlebenden waren über Tage und Wochen der Krankheit oder der mühsamen Genesung zum Zusehen verurteilt – und was sie beobachteten, war atemberaubend. Während Franz Kafka mit dem Tod rang und sich bei dem Tuberkulosekranken eine gefährliche Lungenentzündung einstellte, beschleunigte sich vor dem Haus der Familie am Altstädter Ring in Prag der Rhythmus der Weltgeschichte. Für den 14. Oktober hatten die im Nationalausschuss zusammengeschlossenen tschechischen Parteien in ganz Böhmen zu Massenkundgebungen aufgerufen. In Prag, so lauteten Gerüchte, wolle man einen unabhängigen tschechischen Staat ausrufen. Während Polizei und Militär den Altstädter Ring in einer letzten Machtdemonstration der Habsburgermonarchie absperrten, sprach das «Prager Tagblatt» bereits von der «Liquidation des alten Staates», die «in aller Ruhe vor sich gehen» sollte.[9] Zwei Wochen später war es soweit. Am 28. Oktober konnten Menschen in großen Aushängen das Wort «Přímĕří» lesen – Waffenstillstand. Ob es sich dabei noch um ein Gerücht oder bereits ein konkretes Angebot an die Gegner handelte, mochte für Soldaten an der Front über Leben und Tod entscheiden. Für die Menschen in Prag reichte das Wort, um vielen aufgestauten Erwartungen ein Ventil zu geben. Plötzlich schien eine Bewegung in die Politik zu kommen, die jeden erfasste und dazu zwang, Position zu beziehen.

Auch in die Wohnung der Kafkas drangen die Rufe der Menge, die den Führer der Exiltschechen, Tomáš G. Masaryk, und den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson hochleben ließen. Während rumänische und ungarische Soldaten, an ihren Kokarden noch als Angehörige der k.u.k.-Monarchie erkennbar, die Ereignisse in Prag unschlüssig beobachteten, ohne in das Geschehen einzugreifen, lösten sich tschechische Einheiten und bildeten eigene Truppenverbände des neuen Staates, ergänzt um Mitglieder des nationaltschechischen Turnverbandes Sokol in ihren charakteristischen roten Hemden. Der Übergang von der Monarchie zur Republik vollzog sich zunächst symbolisch: Anstelle des habsburgischen Doppeladlers als Symbol des alten Staates wehten nun an offiziellen Gebäuden der Stadt tschechische und amerikanische Fahnen. Fast überrascht von der Leichtigkeit der Machtübertragung proklamierte der tschechische Nationalausschuss den unabhängigen Staat der Tschechen und Slowaken. Dieser Umbruch war dreifach: zur Selbstermächtigung der souveränen Nation kam die Bildung eines neuen Staates durch Sezession aus dem Reichsverband der Habsburgermonarchie und der Übergang zur Republik. Der fehlende Widerstand und die relative Gewaltlosigkeit dieser Revolution ließen erahnen, wie ausgehöhlt das Ordnungsversprechen der Monarchie, wie fadenscheinig das Vertrauen in die Institutionen des Staates geworden war.[10]

Wie im August 1914 der Beginn des Krieges, so konfrontierte das Kriegsende jeden Einzelnen mit einer Situation, in der sich Epoche und Alltag trafen. Kafkas Familie verhielt sich abwartend, nachdem Juden in diesem Krieg gelernt hatten, wie schnell sich die Stimmung gegen sie wenden konnte.[11] Als Kafka die Krise der Krankheit im November überlebt hatte und vom Balkon des Hauses auf den ihm so vertrauten Altstädter Ring blickte, war die alte Welt untergegangen. Aus dem jüdischen Untertan der k.u.k.-Monarchie, der seine Texte in Prag auf Deutsch schrieb, war ein Bürger der Tschechoslowakischen Republik geworden, in der Deutsche eine Minderheit bildeten. Auf die Straßen der Stadt schwärmten jetzt freigelassene Kriegsgefangene – eben noch von der Kriegspropaganda verteufelte Kriegsgegner, waren die Franzosen, Italiener und Russen plötzlich Freunde des neuen Staates geworden. Unübersehbar kündeten neue Namen vom eingetretenen Umbruch: Aus dem Bahnhof, der bis dahin den Namen des 1916 gestorbenen Kaisers Franz Joseph trug, jenes dynastischen Symbols für den Zusammenhalt der Habsburgermonarchie, war der «Nádraži Wilsonovo», der Wilson-Bahnhof geworden. Den alten Staatsbahnhof hatten die Behörden in ihrer Suche nach neuen Identifikationsfiguren in Masaryk-Bahnhof umbenannt. Das alles sprach für ein ausgeprägtes Bewusstsein der Zeitgenossen, dass sie Zeugen eines «Weltaugenblicks» waren, einer «rite de passage», durch die man etwas wurde, was man zuvor nicht gewesen war.[12] Ihr galten die Markierungen: die Fahnen, die Umbenennung der ersten Prager Straße nach dem Datum des 28. Oktober, die tschechische Kameramänner auf große Filmrollen bannten.[13]

Kafka registrierte nicht allein neue Postkartenserien mit anti-deutschen und antisemitischen Karikaturen, die in den Läden die Zeugnisse des Durchhaltepatriotismus der k.u.k.-Monarchie ersetzten, sondern erfuhr den welthistorischen Umbruch plötzlich ganz konkret: Bei seinem bisherigen Arbeitgeber, der Arbeiter-Unfall-Versicherung, schaffte die neue tschechische Direktion Deutsch als Amtssprache ab. Angesichts der über 80 Millionen Kronen Kriegsanleihen, die jetzt wertlos geworden waren, erschien die Existenz der Versicherung ohnehin denkbar unsicher. Kafkas eigenen Ersparnissen, rund 18.000 Kronen, die er 1915 in Kriegsanleihen angelegt und mit denen er eine von der Familie und zumal vom Vater unabhängige Existenz als Schriftsteller hatte aufbauen wollen, drohte das gleiche Schicksal.[14] Die k.u.k.-Monarchie, die für die Rückzahlung verantwortlich gewesen wäre und der man im zweiten Kriegsjahr noch patriotisch vertraut hatte, gab es nicht mehr. So bildeten symbolische Inwertsetzung des Neuen und Entwertung des Alten zwei Seiten dieses historischen Moments. Für Kafka war die während des Krieges immer wieder erträumte Zukunft nach dem Krieg plötzlich in ihrer Offenheit vor allem eines: unsicher und bedrohlich. Wie ihm erging es Millionen.[15]

In welchem Verhältnis stand diese Erfahrung vom Herbst 1918 zum Sommer 1914? Kafka selbst hatte auf den Kriegsausbruch zunächst unbeabsichtigt lakonisch reagiert: «Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule» – so seine berühmt gewordene Tagebucheintragung vom 2. August 1914. Danach hatte er mit «bösem Blick» die Aufmärsche der Freiwilligen und ihren patriotischen Jubel in Prag verfolgt.[16] Während kaum jemand am 2. August 1914 hatte ahnen können, welche Dynamik dieser Krieg entfachen würde und deshalb niemand die Tragweite dieses Tages hatte erschließen können, die sich erst im Rückblick ergeben sollte, lagen im Oktober 1918 51 Monate Erfahrungen hinter den Menschen, die jede Erwartungssicherheit unter Vorbehalt stellten. Hatten sich Anfang August 1914 noch deutsche «Heil» – und tschechische «Nadar»-Rufe bei den Prager Truppenaufmärschen vermischt, konnte man im Oktober 1918 die alltägliche Nationalisierung der Gesellschaft wie in einem Brennglas und in Zeitlupe beobachten.[17]

Welche Vergangenheit hatte der Krieg hinterlassen, welche Zukunft versprach das Kriegsende? Ein Angehöriger des böhmischen Wandervogels hatte 1914 den Kriegsausbruch verflucht, «weil er in meine ruhige, schöne Welt Unfrieden bringt, mein friedliches Herz erregt». Doch hatte er ihn zugleich begrüßt als das «reinigende Gewitter, das eine frischere Neuzeit einleiten möge».[18] Und 1918? Das von Robert Musil in seinem Roman «Der Mann ohne Eigenschaften» avisierte Doppeljubiläum jedenfalls fiel aus. In dem Roman hatte der Mathematiker Ulrich 1913 beschlossen, für ein Jahr «Urlaub vom Leben» zu nehmen. Doch von seinem Vater überzeugt, bewarb er sich schließlich um eine Stelle, auf der er ein besonderes Doppeljubiläum vorbereiten sollte: Denn das siebzigjährige Thronjubiläum von Kaiser Franz Joseph und das dreißigste Regierungsjahr Kaiser Wilhelms II. würden auf das Jahr 1918 fallen.[19] Scheiterten Musils Protagonisten der «Parallelaktion» an der Aufgabe, eine universelle Idee in die Praxis umzusetzen, weil sie nur noch spezialisierte Lebensbereiche darstellten, so fielen zwischen 1917 und 1923 vier kontinentaleuropäische Monarchien in Russland, Deutschland, Österreich-Ungarn und schließlich im Osmanischen Reich dem Krieg und seinen Folgen zum Opfer. Während das Deutsche Reich als Staat überlebte, lösten sich das Zarenreich, die Habsburgermonarchie und etwas später auch das Osmanische Reich auf.

So stand das Jahr 1918 nicht im Zeichen eines monarchischen Doppeljubiläums, sondern zahlreicher krisenhafter Übergänge, die Gesellschaften auf der ganzen Welt erfassten. Zunächst war dies der Weg vom Krieg zum Waffenstillstand und von dort zu Friedenskonferenzen und schließlich zu formalen Friedensverträgen. Das Kriegsende markierte aber auch den Umbruch von Monarchien zu Republiken, von begrenzter politischer Teilhabe zur Praxis der Massendemokratie in freien Wahlen, die nun in vielen Gesellschaften zum ersten Mal stattfanden. Zugleich zerfielen, beginnend mit dem Russischen Zarenreich 1917 und sich im Herbst 1918 beschleunigend in Deutschland und der Habsburgermonarchie, europäische Reiche, welche die Geschichte mit ihren Dynastien über Jahrhunderte geprägt hatten. Das Osmanische Reich überlebte das Kriegsende zunächst, aber seine territoriale Integrität stand unter Vorbehalt. Die Vielfalt multiethnischer und multireligiöser Empires auf dem europäischen Kontinent wich einer Landkarte neuer Nationalstaaten. Doch deren homogene Farben und präzise eingezeichneten Grenzlinien verhießen eine Eindeutigkeit und Stabilität, die sich an der Wirklichkeit komplexer Minderheitenprobleme brechen sollten. Mit den Revolutionsanläufen spitzte sich die Frage nach der politischen und sozialen Horizontlinie ideologisch begründeter Gewalt zu. Die überkommenen politischen Leitbegriffe des 19. Jahrhunderts – Liberalismus, Konservatismus, Sozialismus, aber auch Nation und Nationalismus – wurden von radikal neuen Zukunftsversprechen herausgefordert, wie sie etwa die russischen Bolschewiki vertraten. Und schließlich zerbrach das europäische Gleichgewichtssystem, die Fortschreibung der 1648 in Münster und Osnabrück sowie 1815 in Wien gefundenen Machtbalance. Aus dem Weltkrieg entstand eine globale Veränderungsdynamik, in deren Konsequenz sich Gewichte, Erwartungen und Positionen ganzer Weltregionen verändern sollten. Mit den neuen Schlüsselbegriffen der demokratischen Selbstregierung und der nationalen Selbstbestimmung gerieten auch die europäischen Kolonialreiche unter Druck.

All das machte aus dem Weg vom Krieg in den Frieden eine Schwelle des 20. Jahrhunderts, deren Erbe bis in die unmittelbare Gegenwart reicht. Viele Gewalträume im südöstlichen Europa, in der Ukraine, im Nahen und Mittleren Osten sowie in Nordafrika liegen in den Zonen der ehemaligen Großreiche der Habsburgermonarchie, des Zarenreiches und des Osmanischen Reiches. Ein Erbe jener Zeit ist auch der Zusammenhang von Nationalstaat und Demokratie, von ethnischer Zugehörigkeit und Teilhabeversprechen, sowie die Gewalt im Namen von Ideologien und das moderne Verständnis von Staatenlosigkeit und Flüchtlingen. Und nicht zuletzt zeigt sich das Erbe in der über 1918 hinaus verlängerten und teilweise sogar ausgedehnten europäischen Kolonialherrschaft in Asien und Afrika sowie im außenpolitischen Selbstverständnis der Vereinigten Staaten. Das Erbe der Jahre zwischen 1918 und 1923, zwischen den Friedenschlüssen von Brest-Litowsk und Lausanne, wirkt weiter, wenn wir über die Möglichkeiten nachdenken, in einer komplizierten Welt Kriege zu beenden, Frieden zu schließen und überhaupt zu verstehen, was Kriege sind und was Frieden bedeutet.

Die Offenheit des Moments, der Chancen und Bedrohungen bedeutete, aber keine Rückkehr in eine Vorkriegsnormalität mehr zuließ, hatten manche Zeitgenossen bereits im Sommer 1914 geahnt. Jetzt wurde der Umbruch zur Gewissheit und verband Kriegsausbruch und Kriegsende miteinander. Am 2. August 1914, ganz zu Beginn des Weltkrieges, hatte Ernst Troeltsch, Professor der Theologie an der Universität Heidelberg, eine Rede gehalten, die weit mehr als ein Beitrag zum Patriotismus der Stunde gewesen war, zum Kulturkrieg der Intellektuellen und zu den deutschen «Ideen von 1914», die man gegen die französischen Ideen von 1789 wie gegen den englischen «Händlergeist» und Materialismus ausspielte.[20] Der Krieg werde, da war sich Troeltsch 1914 sicher, alle überkommenen Sicherheitsversprechen, die auf Rationalität beruhenden sozialen und staatlichen Ordnungsstrukturen aus dem 19. Jahrhundert und damit die Basis bürgerlicher Kultur erschüttern: «So zerbrechen auch uns heute alle rationellen Berechnungen. Alle Kurszettel und Kalkulationen, die Versicherungen und Zinsberechnungen, die Sicherstellungen gegen Unfälle und Überraschungen, der ganze kunstreiche Bau unserer Gesellschaft hat aufgehört, und über uns allen liegt das Ungeheure, das Unberechenbare, die Fülle des Möglichen.»[21]

Vier Jahre und fünf Monate später, im Frühjahr 1919, beobachtete Troeltsch als aufmerksamer Chronist in Berlin die Zeitläufte: Kriegsende und Revolution, das «Traumland der Waffenstillstandsperiode, wo jeder sich ohne die Bedingungen und realen Schlussfolgerungen des bevorstehenden Friedens die Zukunft phantastisch, pessimistisch oder heroisch ausmalen konnte», und die vielfältigen Hoffnungen, die sich seit November 1918 auf die Friedenskonferenz in Paris konzentrierten.[22] In seinen «Spectator-Briefen», diesem einzigartigen Kommentar zu einer widersprüchlichen Zeit, rang der Autor immer wieder darum, die Unübersichtlichkeit, das permanente Nebeneinander der Ereignisse zu ordnen. Einerseits setzte Troeltsch ganz anders als 1914 seine Hoffnungen nun auf den «guten Kern des Sozialismus und das auch durch keine Restauration aufhaltbare Drängen zur Demokratie». Andererseits erkannte er die Tragweite der durch Krieg, Demobilisierung und Reparationen ausgelösten wirtschaftlichen Krise. So rechnete er mit «kolossaler Auswanderung, mit Geburtenrückgang, mit Wieder-Agrarisierung und nur einer dünnen industrielle[n] Decke». Zudem erschien ihm die internationale Entwicklung denkbar unsicher. Wie wenige andere Zeitgenossen spürte Troeltsch dem Zusammenhang zwischen politischer und wirtschaftlicher Entwicklung nach, dem Durchbruch zur Massendemokratie und den Bedingungen eines globalen Kapitalismus. Die Gegenwart sah er gekennzeichnet durch viele «unsichere Rechnungen, von der Entwicklung des ‹Völkerbundes› und der Weltrationierung der Rohstoffe, sowie von der Gestaltung der Lohnverhältnisse». Angesichts des Nebeneinanders und der Verflechtung so vieler Ereignisse formulierte er im ersten Spectator-Brief im Februar 1919 das Leitmotiv dieser Monate nach dem Ende des Krieges: «Die ganze Welt wird anders. Es ist noch lange nicht aller Tage Abend.»[23]

In diesen beiden Sätzen charakterisierte Troeltsch das Gefühl spannungsreicher Gleichzeitigkeit. Diese Prozesse, da war er sich sicher, ließen sich nicht mehr auf jene europäischen Gesellschaften reduzieren, die 1914 in den Krieg eingetreten waren. Troeltsch beschrieb diesen Moment nicht zufällig als «Traumland» nach dem Ende des Krieges und vor den ausformulierten Friedensschlüssen von 1919: als Phase der großen Erwartungen, der Projektionen und Visionen, die der Krieg mit jedem Jahr akkumuliert hatte, die sich jetzt kreuzten, verknüpften und überlagerten – und doch schon im Begriff waren, sich an der Realität konkurrierender Interessen zu brechen. Bedingungslose Offenheit gab es nach 1918 nicht, denn häufig trafen die Visionen auf längst vollendete Tatsachen vor Ort, wie sich auf der Pariser Friedenskonferenz zeigen sollte – ob es um neue Staaten, Grenzverläufe oder die Zuordnung von Bevölkerungen ging. So waren die konkreten Handlungsbedingungen der Friedensmacher viel begrenzter als es die Hoffnungen der Zeitgenossen in ihrem Blick nach Paris nahelegten.

Dieses Gefühl einer Gegenwart, die in Bewegung geraten war und sich einer einfachen Definition entzog, die nicht auf einen Nenner zu bringen war, hielt an. Thomas Mann sprach in seinem Tagebuch im Mai 1921 von der «Gleichzeitigkeit der Dinge, des geteilten Lebens, des ‹Unterdessen›. Ein Film wäre zu entwerfen mit dem Titel ‹Die Fülle der Zeit›.»[24] Diese «Fülle» war nichts anderes als eine Chiffre für das zeitliche Zusammenfallen von Ereignissen, die ihre eigene Vorgeschichte, Dynamik und je eigene Konsequenzen besaßen. Was sich zur gleichen Zeit abspielte, konturierte historisch ganz Ungleichzeitiges und war doch vielfach miteinander verbunden. Darin entfalteten sich die Erbschaften des Krieges und ein neues Verhältnis zwischen Erfahrungen und Erwartungen, die sich nicht auf die Jahre 1918 und 1919 reduzieren ließen. Diese Phase brachte nicht so sehr alles Neue aus sich selbst hervor, sondern beschleunigte und verdichtete viele längerfristige Prozesse. In der Wahrnehmung jedoch standen 1918 und 1919 für einen Moment der einzigartigen Veränderungsmöglichkeit.

Abb. 1:  Die Kosmologie der erneuerten Menschheit am Ende des Krieges – Ferenc Márton, «Világforradalom»/«Weltrevolution» (Ungarn 1919)

Der ungarische Künstler Ferenc Márton übersetzte die mit dem Kriegsende und den Revolutionen identifizierten Menschheitshoffnungen 1919 in eine expressive Formensprache. Seine Darstellung mit dem bezeichnenden Titel «Weltrevolution» brachte vor dem konkreten Hintergrund der ungarischen Räterepublik die Überzeugung zum Ausdruck, dass sich das Ende aller bisherigen Sicherheit als radikaler Umbruch in ein neues Zeitalter offenbare. Solche Vorstellungen gehörten zum Bedeutungsreservoir aller neuzeitlichen Revolutionen, deren Akteure sich nicht mehr in einem zyklischen Zeitverständnis bewegten, sondern an die Linearisierung von Fortschritt und die Zielgerichtetheit historischer Prozesse glaubten. Geschichte war demnach kein gegebenes Schicksal mehr, sondern vom Menschen aktiv gestaltbar.[25] Ein solcher Moment schien nach 1918 gekommen, und gerade Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle wie Ernst Toller oder Erich Mühsam in München suchten eine öffentliche Rolle, um die Kraft der Utopie in die Wirklichkeit zu übersetzen.[26] Márton, gerade erst aus dem Weltkrieg zurückgekehrt, knüpfte an die Metapher der sich erneuernden Natur an, mit der Revolutionäre bereits nach 1789 und 1848 ihre politische und soziale Fortschrittsmission vermittelt hatten, und übertrug sie auf die Ebene des Kosmos. Seine Darstellung zeigte eine sich im Weltall mit hoher Geschwindigkeit drehende Erdkugel, deren Dynamik sich kein Mensch entziehen konnte. Das Zentrum dieser Bewegung war nicht länger eine göttliche Schöpfungsordnung, sondern die menschliche Gestaltungskraft. Für sie standen zwei Figuren im Zentrum, die auf dem Globus ihre Fackeln entzündeten. Das Licht symbolisierte die sozialistische Befreiung des Menschen als weltweite Hoffnung.[27]

Am Ende des Krieges schien die Offenheit des Übergangs, der Moment zwischen Vergangenheit und Zukunft, zu einem globalen Phänomen geworden, das auch der Soldat Paul Klee 1918 in seiner Zeichnung «Der Komet von Paris» markierte. Sie zeigte einen Seiltänzer mit einer Balancierstange auf einem unsichtbaren Seil über dem Pariser Eiffelturm, zwischen Himmel und Erde, um seinen Kopf ein Komet mit Schweif und ein weiterer in Form eines Davidsterns. In dieser Metapher steckte eine ambivalente Botschaft, nämlich das Nebeneinander von Faszination und Schrecken, von Entzücken und Bedrohung, eben das «mysterium tremendum et fascinans», das der Theologe Rudolf Otto 1917 als den Kern religiöser Erfahrung charakterisiert hatte.[28] Übertragen auf Paul Klees Zeichnung von 1918 stand neben dem Glück der Zukunft, dem freien Wunsch beim Blick auf eine Sternschnuppe zugleich die Angst vor einem Meteoritensturz auf die Erde, dessen Zerstörungskraft außerirdische Dimensionen haben konnte.[29]

Abb. 2:  Himmel und Erde, Faszination und Schrecken – Paul Klee, «Der Komet von Paris» (1918)

Es schien, als habe die Geschichte ihren Aggregatzustand verändert, als hätten sich im langen Übergang vom Krieg zum Nachkrieg Strukturen verflüssigt, die über lange Zeit festgefügt gewesen waren: Strukturen der politischen Ordnung, der sozialen Beziehungen und Hierarchien, der überkommenen Staaten und Eliten, der Selbstversicherung des Einzelnen. Dieses Gefühl beschrieb William Butler Yeats, der irische Dichter, der den Osteraufstand in Dublin 1916 genauso erlebt hatte wie die neuen Kämpfe um einen eigenen irischen Staat nach 1918. In seinem Gedicht «Die Wiederkunft» («The Second Coming») von 1919 blickte er aus der Sicht eines fliegenden Falken, der seinen Falkner nicht mehr hört, auf eine Gegenwart der Revolutionen, der Gründung neuer Staaten und damit verknüpfter Kriege, auf ein Panorama des Ordnungsverfalls, der Gewalt und Anarchie, der erodierenden Werte und der orientierungslosen Affekte: «Alles zerfällt, die Mitte hält nicht mehr:/Schiere Anarchie ergießt sich auf die Welt,/Bluttrübe Flut ergießt sich überall/Versinkt der Unschuld feierlicher Brauch;/den Besten fehlt der Glaube und die Schlimmsten/Erfüllt hingebungsvolle Leidenschaft.»[30]

Doch zugleich gab Yeats der großen Erwartung Ausdruck, dass es nach diesem Krieg eine neue Offenbarung geben müsse. Klang hier noch das christliche Motiv der Apokalypse des Johannes an, der Zusammenhang zwischen Weltende und prophezeiter Wiederkehr des christlichen Weltenretters, gehörte die Zukunft in Yeats’ Gedicht nicht mehr einem barmherzigen Christus, sondern einem mitleidslosen, raubtierhaften Gegenbild. Das versprach keine Erlösung am Ende der Welt, sondern nur eine endlose Kette von neuen Gewaltepochen. So war sein Gedicht Ausdruck einer tiefen Erschütterung, einer Zwischenzeit, einer Orts- und Orientierungslosigkeit, in der das Alte zerbrochen war und allenfalls noch als Fragment erhalten blieb, das Neue sich aber noch nicht zu erkennen gab: «Gewiß steht Offenbarung dicht bevor;/Gewiß, die Wiederkunft steht dicht bevor/[…] Dann wieder Dunkelheit; doch weiß ich jetzt,/Daß zwei jahrtausend-tiefen Schlaf von Stein/Zum Albtraum aufgewühlt ein Wiegenschaukeln;/Welch wüste Bestie, der die Stunde kam. Schlurft, daß man sie gebiert, gen Bethlehem?»[31]

Viele Zeitgenossen empfanden die Offenheit als verheißungsvoll und gleichzeitig als bedrohlich, weil sie ahnten, dass sie neue Verluste bedeuten konnte. Und hatte man in diesen zurückliegenden 52 Monaten nicht schon genug Veränderungen und permanente Unsicherheit erlitten? Viele Menschen, unter ihnen viele zurückkehrende Soldaten, wünschten sich, in eine imaginierte Normalität von Heimat, Beruf und Familie zurückzukehren, die es so nicht mehr gab.[32] Das sollte den langen Übergang von den Durchhalte- und Erschöpfungsgesellschaften des Krieges in die Schicksalsgemeinschaften der Sieger und Besiegten, der vom Krieg Gezeichneten und Trauernden prägen. Fast spiegelbildlich offenbarten sich im «Traumland» der Waffenstillstandsperiode die Kriegserfahrungen seit dem Sommer 1914. Deshalb verschwanden die Belastungen des Krieges durch die Demobilisierung nicht einfach, sie verwandelten oftmals nur ihre Form. Der Weg in den Frieden war viel länger, widersprüchlicher und schmerzvoller, als es sich viele Soldaten an den Fronten und ihre Familien in der Heimat hatten vorstellen können.

Was sich während des Krieges unter der Oberfläche angestaut hatte, schien nun hervorzubrechen und ließ das Gewohnte in Bewegung geraten. Die Bruchstücke alter und neuer Ordnungsversprechen stießen aneinander, zerbrachen weiter und formten Neues. So wurde die Phase ab 1918 ein Nährboden für Krisendiskurse: Oswald Spenglers Bestseller über den «Untergang des Abendlandes», erschienen zwischen 1918 und 1922, traf offenkundig einen Nerv der zeitgenössischen Erfahrung. In das Panorama eines europäischen Niedergangs, 1919 von dem französischen Geographen Albert Demangeon in «Le déclin de l’Europe» entfaltet, mischte sich die Angst vor der Revolte «niederer Rassen» und der Zukunft Frankreichs.[33] Was bei den einen melancholische Erkenntnis oder Bedrohungsgefühle provozierte, klang bei den anderen wie ein Versprechen, so im Bild neu erwachender Völker und Nationen, nicht allein in Europa, sondern gerade in Asien, wie der indische Freiheitskampf nach 1918 und die Diskussion über eine neue kulturelle Orientierung in China zu beweisen schien. Politische Niedergangsszenarien standen neben neuen Hoffnungen auf kulturelle Erweckung und Modernisierung.[34]

Während die alten Monarchien auf dem europäischen Kontinent untergingen und nach der Gründung der Türkischen Republik im gesamten eurasischen Raum keine traditionelle Monarchie mehr existierte, zeichnete sich bei Kriegsende der Übergang zu einer neuen Generation politischer Führer ab.[35] Ihnen gelang es, die militärische Erfahrung von Krieg und Nachkrieg nach 1918 in politisches Kapital zu konvertieren. Das verband bei allen Unterschieden Józef Piłsudski in Polen, Gustav Mannerheim in Finnland, Mustafa Kemal in der Türkei, Paul von Hindenburg in Deutschland und Philippe Pétain in Frankreich. Eine künftige Generation politischer Führer des 20. Jahrhunderts erlebte das Kriegsende und den Kampf um die Zukunft nach 1918 unmittelbar: Adolf Hitler und Josef Stalin genauso wie der spätere Ho Chi Minh oder der künftige Josip Broz Tito.[36]

Bei allen Belastungen eröffnete das Ende des Weltkrieges also vielfältige neue Chancen. Was der erste Präsident des neuen tschechoslowakischen Staates, Tomáš Masaryk, mit den beiden Begriffen «Weltdemokratie» und «Weltrevolution» zusammenfasste, bezeichnete eine globale Suche nach neuen politischen Visionen, sozialen Konzepten und kulturellen Orientierungen.[37] Seit 1917/18 verstärkten konkurrierende Zukunftsvorstellungen das Denken in Alternativen, ob in der Hoffnung auf den Völkerbund als Symbol einer neuen Ära des Internationalismus, auf Massendemokratie und soziale Teilhabe, oder in der Hoffnung auf den «Neuen Menschen», den der deutsche Schriftsteller Karl Otten 1918 proklamierte: «Versprengt in vielen, wie Keim einer neuen Seele eines neuen Menschen, leuchtet Hoffnung auf bessere Zukunft.»[38] All das galt für die Gesellschaften Europas genauso wie für Menschen in Asien, Afrika oder Lateinamerika. Hoffnungen auf eine neue Weltordnung und Bedrohungsängste, das diffuse Gefühl, dass alles miteinander zusammenhänge und gerade deshalb nicht mehr kontrollierbar sei, standen nebeneinander. Dazu trug ein anderes Erbe des Krieges bei: Aus der Mobilisierung der Heimatfronten, dem Kampf um Meinungen, der unterstellten Wirkung der Kriegspropaganda hatte sich ein neues Verständnis von Öffentlichkeit entwickelt. Der Einsatz moderner Massenmedien, der Zeitung und Illustrierten, des Telegraphen und Telefons, verkürzte den wahrgenommenen Abstand zwischen Ereignissen und Publikum. Das alles verstärkte das Gefühl von Präsenz und Zeugenschaft und provozierte eigene Erwartungen.[39]