Theo Sommer
China First
Die Welt auf dem Weg
ins chinesische Jahrhundert
C.H.Beck
China hat sich in wenigen Jahrzehnten vom Armenhaus im Mao-Look zur Hightech-Nation gewandelt. Vielspurige Autobahnen und Hochgeschwindigkeitszüge verbinden die Zentren. Wer aus Schanghai nach Berlin kommt, erlebt eine Reise in die Vergangenheit. Oft heißt es, die Technologie sei nur importiert, ja geraubt, und die sozialen und ökologischen Probleme seien übermächtig. Doch das ist ein gefährlicher Irrtum. Das chinesische Jahrhundert hat bereits begonnen. Theo Sommer blickt hinter die Kulissen der chinesischen Expansion, die einem ehrgeizigen Masterplan folgt. Wer sein luzides Buch voller überraschender Fakten und Zusammenhänge gelesen hat, wird China und den Westen mit anderen Augen sehen.
Theo Sommer, Journalist und Historiker, war 20 Jahre lang Chefredakteur der ZEIT und zusammen mit Marion Gräfin Dönhoff und Helmut Schmidt Herausgeber der Hamburger Wochenzeitung. Asien ist eines seiner großen Lebensthemen. Er reist seit fast fünf Jahrzehnten immer wieder nach China, oft als Begleiter hochrangiger politischer Delegationen, und hat vielfach zur Rolle Chinas in Asien publiziert.
Karte
Vorwort
Einleitung: Die Chinesen kommen? Sie sind schon da!
Erster Teil: CHINA ERWACHT
1: Vier Jahrzehnte China im Visier
Die Volksrepublik nach der Kulturrevolution
Das unterschätzte Reich
Das chinesischer Jahrhundert beginnt
2: Und die Menschenrechte?
Das System duldet keine Abweichler
Zensur, Überwachung und die Suche nach dem Rechtsstaat
Humanitäre Gesten mit politischem Zweck
Zweiter Teil: WIRTSCHAFTLICHE SUPERMACHT MIT PLAN
3: Chinas beispielloser Wirtschaftsaufstieg
Von Mao zu Deng
Ein meteorhafter Aufstieg
Vom Fahrrad zum Elektroauto: Wohlstand und Wachstum
China: Größter Automarkt der Welt
Patente und wissenschaftliche Publikationen: China holt auf
Fälschungsweltmeister und Hightech-Entwickler
4: Die Schattenseiten des Aufstiegs
Chinas Schuldenberg drückt
Die Wohlstandslücke zwischen Stadt und Land
Das Paradox der kommunistischen Milliardäre
China wird alt, bevor es reich wird
In die Städte und in die Hochhäuser
Noch macht Stadtluft nicht frei
Xi Jinpings Kampf gegen die Korruption
Rechtsunsicherheit
Vergangenheitsbewältigung? Bloß nicht!
Mangelware: Sauberes Wasser und reine Luft
Billiglohnproduktion wandert aus
5: Chinas rote Magnaten
Kommunistischer Uradel: Wang Jianlin
Jack Ma und Alibaba
Aggressiver Firmensammler: Chen Feng
Schöpfer eines undurchschaubaren Firmengeflechts: Wu Xiaohui
Chinas Warren Buffet: Guo Guangchang
Chinas Zuckerberg: Pony Ma
Vom Bauernsohn zum Autobauer: Li Shufu
Die Partei nimmt die Wirtschaft an die Kandare
6: Die Chinesen auf Einkaufstour
Die Chinesen in Deutschland
Going Global
Pekings Hafenstrategie
Stoßrichtung Balkan
16+1: Chinas Spaltpilz in Europa
Chinas Seiteneingang nach Europa
7: Der Rückschlag: Wie viel China ist zu viel?
Chinesische Investitionen: Chance oder Risiko?
Aggressive Industriepolitik
Umstrittene Ankäufe: Kuka, Aixtron, Osram
Politische Reaktionen in Deutschland und Europa
Weltweite Schranken für chinesisches Geld
Dritter Teil: CHINAS NEUE WELTPOLITIK
8: Außenpolitik: Poltergeist oder Partisan der Besonnenheit?
Das Reich der Mitte, umgeben von fremden Teufeln
Windungen und Wendungen unter Mao
Die eigene Stärke verbergen, den richtigen Zeitpunkt abwarten: Zurückhaltung unter Deng
Xi und die «chinesische Lösung» der Menschheitsprobleme
9: Xi Jinping: Make China great again!
Wer ist dieser Xi Jinping?
Die Partei ist er
Patriotismus als Staatsräson
Chinas autoritäre Demokratie
King of China: Ämterhäufung und Personenkult
Konzentrierte Führung: Politbüro und absolute Macht
Xis großer Plan
10: Die neuen Seidenstraßen
Ein geopolitisches Grand Design
Alte und neue Seidenstraßen
Afrika als Versuchsgelände
Vordringen in der asiatischen Nachbarschaft
«Unentbehrlicher Partner»: Lateinamerika
Singen im Chor der Seidenstraße
Seidenstraße – Seitenhieb für den Westen?
Container statt Containment
«Gürtel und Straße»: Hält der Gürtel?
Europa und die Seidenstraßen
11: China rüstet auf
Die alte Volksbefreiungsarmee: Tofu-Kocher und Balletteusen
Vom Erbfeind Vietnam geschlagen
Xi Jinpings Wehrstrukturreform
Kampf gegen Korruption im Militär
Weltmacht durch Seemacht
Abkehr von Maos Atomdoktrin: «300 Millionen Tote – na und?»
China als größter Truppensteller der UNO
Ein Staatspräsident im Flecktarn
Militärtechnisch aufholen, geographisch ausholen
12: Auftrumpfen im Südchinesischen Meer
Superhighway der Meere
Künstliche Inseln werden Meeresfestungen
Keine Einigung mit ASEAN
Streit mit den Philippinen
Ein Balanceakt auf schmalem Grat
Vierter Teil: GEFÄHRLICHE SPANNUNGSFELDER
13: China und Japan: Ewige Erbfeindschaft?
Hundertfünfzig Jahre Krieg, Krise, Konfrontation
Streit um fünf öde Inseln
Trostlose Aussichten für dauerhaften Frieden?
14: Im asiatischen Spannungsfeld: China und Indien
China dringt in indische Einflusssphären vor
Grenzstreitigkeiten im Himalaya
Die Furcht vor Einkreisung
Scharmützel auf 4000 Meter Höhe
Hürden gegen «Gürtel und Straße»
Zusammenarbeiten oder zusammenstoßen?
15: Eine prekäre Entente: China und Russland
Einhundertfünfzig Jahre geopolitische Achterbahnfahrt
Mao und Stalin: ungleiche kommunistische Brüder
Eiszeit zwischen Moskau und Peking
Mehr Schwierigkeiten als Möglichkeiten?
Die Seidenstraße auf Eis
Russlands Exportschlager: Rohstoffe und Rüstungsgüter
Angst vor chinesischer Überfremdung
Das russisch-chinesische «Great Game» in Zentralasien
16: In der Thukydides-Falle: Krieg zwischen den USA und China?
Die neue Weltmacht und die alte Ordnung
Was ist dran an diesen Hiobsbotschaften?
17: Die Taiwan-Frage: Zeitlupenkrise oder Zeitbombe?
Vorposten des Westens: Die Insel Quemoy
Kompromisse, Kontakte und rote Linien
Trumps neue Taiwan-Politik
Wachsende Unsicherheiten
18: Donald Trump: Wider die neue «Gelbe Gefahr»
Ein neues Modell der Großmachtbeziehungen
Scharfmacher und Beschwichtiger auf beiden Seiten
USA und China: Ineinander verhakelte Titanen
Trump: «China ist nicht unser Freund»
Feuer und Zorn oder Frieden in Korea?
Vom Zollstreit in den Handelskrieg?
Ein verheerender Handelskonflikt
Weiter im Angriffsmodus
Wer hat mehr zu verlieren?
19: Die deutsch-chinesischen Beziehungen
Bewunderung, Angst und gute Geschäfte
Tsingtau-Bier und die Hunnenrede Wilhelms II.
Helmut Schmidt und China
Partnerschaft, Konkurrenz, Rivalität
20: China und der Westen: Keine Illusionen, keine Obsessionen
Keine Illusionen
Keine Obsessionen
Für eine realistische China-Politik
Werte und Interessen
Eindämmen oder Zurückdrängen?
Influencing, die neue Angriffsart
Gesteigerter Unmut in Australien
Einbinden durch Einhegen
Verschiedene Träume im gleichen Bett
Partner, Konkurrent, Rivale, Kontrahent?
Dank
Literatur
Bildnachweis
Register
Das Register enthält Namen von Personen, Orten und Unternehmen.Kursive Seitenzahlen verweisen auf Bildunterschriften.
Meinen Enkelkindern
Jan, Jonathan, Freddie, Greta, Rupert und Konstantin,
die das chinesische Jahrhundert erleben werden
Dies ist nicht das Buch eines Sinologen. Es ist das Werk eines Journalisten, der seit fast sieben Jahrzehnten die Weltpolitik begleitet, sie an ihren Brennpunkten erlebt und in Aberhunderten von Analysen, Leitartikeln und Vorträgen kommentiert hat. Asien war eines der großen Themen meines Lebens. Den Zugang dazu habe ich mir buchstäblich mit der Brechstange eröffnet: Als ich 1951 einen Sommer-Job in der Bibliothek der University of Chicago fand, musste ich mit diesem Werkzeug riesige Holzkisten öffnen. Sie enthielten die Akten des Tokioter Kriegsverbrecherprozesses, des Gegenstücks zu den Nürnberger Prozessen. Ich las mich fest in den Dokumenten über die deutsch-japanischen Beziehungen während des Dritten Reiches. Zunächst wurde daraus der Entwurf einer Magister-These, dann in Tübingen meine Doktorarbeit: «Deutschland und Japan zwischen den Mächten, 1935–1940». Sie wurde ins Japanische übersetzt und brachte mir 1962 eine erste Einladung ins Reich des Tenno. In den folgenden Jahren flog ich öfter nach Japan, erschloss mir aber nach und nach auch die Nachbarn Korea, Taiwan und Hongkong. Mehrfach berichtete ich für die ZEIT von der Dschungelfront des Vietnamkrieges.
Der Blick auf China faszinierte mich schon damals. Im Tross von Helmut Schmidt kam ich dann bei dessen Staatsbesuch in der Volksrepublik 1975 zum ersten Mal nach Peking, Nanking und Urumtschi. In den nächsten vier Jahren – den Umbruchsjahren nach Maos Tod 1976 und vor dem Beginn der Öffnungs- und Reformpolitik Deng Xiaopings Ende 1978 – war ich regelmäßig dort. Anfang 1979 veröffentlichte ich mein Buch Die chinesische Karte. Noch war China Steinzeit, aber es zeichnete sich bereits ab, dass es sich mit aller Macht in die Moderne und zu neuer weltpolitischer Größe katapultieren würde.
Seitdem war ich immer wieder in der Volksrepublik, meist in politisch-journalistischen Angelegenheiten, das letzte Mal jedoch 2016 als touristischer Mitfahrer auf einer Teilstrecke der von der ZEIT und China Tours organisierten Busreise Schanghai–Hamburg. Zugleich jedoch hatte ich China immer aus der Warte seiner Nachbarn im Blick: als Mitglied des Deutsch-Japanischen Forums (seit seiner Gründung 1993), Vorsitzender der Deutsch-Indischen Beratungsgruppe (1996–2007), Mitgründer, Vorsitzender (2002–2007) und bis heute Mitglied des Deutsch-Koreanischen Forums; als Vorsitzender der Gesellschaft für Asienkunde (2003–2007) übrigens auch aus wissenschaftlicher Sicht.
Der Wiederaufstieg des Reichs der Mitte verändert nicht nur das globale Mächtemuster, er hat auch tiefen Einfluss auf das Alltagsleben der Menschen in allen Erdteilen. In diesem Buch erzähle ich die Geschichte des chinesischen Erwachens, schildere das phänomenale Wirtschaftswunder der zurückliegenden vierzig Jahre und beschreibe den unbändigen geopolitischen Ehrgeiz der Pekinger Führungselite. Der Höhenflug Chinas – ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung – stellt den Westen vor eine beispiellose Herausforderung. Noch ist sie nicht ganz in unser Bewusstsein gedrungen. Es ist höchste Zeit, sich darauf einzustellen, wenn wir uns in dem heraufdämmernden chinesischen Jahrhundert behaupten wollen.
Hamburg, im November 2018 |
Theo Sommer |
Einleitung
Die Menschheit erlebt derzeit den dramatischsten geopolitischen, geostrategischen und geoökonomischen Wandel seit einem halben Jahrtausend. Genau genommen ist es die dritte historische Machtverschiebung der neueren Geschichte. Die erste war der Aufstieg Europas, der sich um das Jahr 1500 anbahnte, als Kolumbus Amerika entdeckte und Vasco da Gama über den Seeweg den indischen Subkontinent erreichte. Die zweite Machtverschiebung setzte Ende des neunzehnten Jahrhunderts ein, als die Vereinigten Staaten auf die Weltbühne traten, die sie dann hundert Jahre lang beherrschten – politisch, ökonomisch und militärisch. Heute sind wir Zeugen der dritten historischen Wandlung: einer gewaltigen Verschiebung von Macht und Wohlstand vom Westen zu den aufstrebenden Ländern der übrigen Welt. The West and the Rest, in Niall Fergusons einprägsamer Formulierung, finden sich mit einem Mal in einem völlig neuen Verhältnis zueinander wieder.
Das neunzehnte Jahrhundert war das Jahrhundert Europas, das zwanzigste das American Century. Das einundzwanzigste Jahrhundert, so lauteten die meisten Vorhersagen um die Jahrtausendwende, werde das Jahrhundert Asiens.
Irrtum: Es wird das chinesische Jahrhundert.
Immer wieder steht in den Schlagzeilen: «Die Chinesen kommen». Das ist der zweite Irrtum. Die Chinesen sind schon da. In den letzten vierzig Jahren haben sie einen in der ganzen Weltgeschichte beispiellosen Aufschwung genommen. Seit dem Beginn von Deng Xiaopings Wirtschaftsreformen und der Öffnung Chinas zur Welt Ende 1978 ist das Bruttoinlandsprodukt um das Vierzigfache gestiegen, das Pro-Kopf-Einkommen hat sich verhundertfacht, ebenso der Export. Seit 2010 ist China die größte Handelsmacht und seit 2012 die zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde. Im Laufe des nächsten Jahrzehnts wird es Amerika überholen und seinem Sozialprodukt nach wieder das sein, was es bis Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gewesen ist: die größte Nationalökonomie auf unserem Planeten.
Der Aufbruch hat China verändert: 700 bis 800 Millionen der 1,4 Milliarden Chinesen haben sich über die Armutslinie in den Mittelstand hochgearbeitet, alle, die noch in Armut leben, sollen bis 2020 daraus befreit werden. Die Grundbedürfnisse der Menschen sind erfüllt, für 2021 ist das Ziel ein «umfassender bescheidener Wohlstand» mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 12.000 Dollar. Bis 2035 will das Land sich ins Mittelfeld der starken Industrienationen vorarbeiten, bis 2049 an deren Spitze treten. Von der exportgetriebenen Entwicklung schwenkt China nun um auf einen gesteigerten Binnenkonsum und den Ausbau des «Internets der Dinge». Entschlossene Digitalisierung soll der Wirtschaft einen entscheidenden Schub nach vorn geben. Auf den Forschungsfeldern Künstliche Intelligenz, Quantencomputer und Big Data prescht das Land machtvoll voran; bis 2030 will China das führende KI-Zentrum der Welt sein.
Im März 2015 veröffentlichte die Regierung ihren Masterplan «Made in China 2025». Es ist ein gigantisches Aufholprogramm, das die alten Industriestaaten bis Mitte des nächsten Jahrzehnts abhängen soll. Zehn Schlüsselindustrien sollen bis dahin an die Weltspitze gehievt werden: Informationstechnologie, Robotik, Luft- und Raumfahrt, Meerestechnik und Schiffbau, Hochgeschwindigkeitsschienenverkehr, alternative Automobilantriebe, Energieerzeugung, neue Werkstoffe, Landwirtschaftsmaschinen, Biomedizin und medizinische Geräte. So soll 2025 der Anteil der chinesischen Hersteller an Hightech-Produkten auf dem einheimischen Markt 70 Prozent erreichen; auch sollen bis dahin die meisten wichtigen Werkstoffe im Lande produziert werden. Dabei greift der Staat den künftigen global champions mit Fördergeldern in Höhe von vielen hundert Milliarden Dollar unter die Arme. Allein ein Forschungsfonds für Halbleiter erhält über 100 Milliarden Dollar. Der Sektor Künstliche Intelligenz (KI) soll bis 2030 zu einer 150-Milliarden-Industrie hochgepäppelt werden, die weltweit führend ist und auch die Standards für die anderen setzt. «China führte einst die Welt an, und es wird dies bald wieder tun,» prophezeit Tang Xiao’ou, der Gründer des Pekinger KI-Pioniers Sensetime. Darauf ist auch der Ehrgeiz des Staatspräsidenten Xi Jinping gerichtet.
Im April 2018 stand Xi in Yichang auf dem Drei-Schluchten-Damm und erklärte den versammelten Arbeitern im Blaumann, China werde seinen eigenen Weg zur technologischen Supermacht gehen. Das Weiße Haus fest im Blick, sagte er: «In der Vergangenheit haben wir den Gürtel enger geschnallt, die Zähne zusammengebissen, Atombomben, Wasserstoffbomben und Satelliten gebaut. Auch beim nächsten Schritt in die Zukunftstechnologie müssen wir alle Illusionen fahren lassen und uns ganz auf uns selbst verlassen.»
Machen wir uns nichts vor: «Made in China 2025» ist auch eine Kampfansage an die westlichen Industrienationen, die Bundesrepublik eingeschlossen. Zwar darf man wohl bezweifeln, dass die Chinesen ihr Ziel bis 2025 erreichen; es wird mit Sicherheit länger dauern. Das räumt sogar Ministerpräsident Li Keqiang ein. Den deutschen Sorgen, dass chinesische Firmen, wenn sie sich erst einmal die fortgeschrittene Technologie angeeignet hätten, über Nacht zu Konkurrenten würden, hielt er beschwichtigend entgegen, die chinesische Fertigung müsse «bis zum Einstieg in die Middle- und High-End-Produktion noch einen recht langen Weg gehen, und zwischen beiden Ländern wird die Komplementarität in Industrie und Technik noch lange Bestand haben». Aber schaffen werden es die Chinesen am Ende. Und dann?
Torsten Benner vom Berliner Global Public Policy Institute mag übertrieben haben mit seiner Aussage: «Wenn ‹Made in China 2025› gelingt, können wir zusammenpacken und nach Hause gehen.» Das Gleiche gilt für die Aussage von Peter Navarro, dem Handelsdirektor im Weißen Haus: «China hat Amerikas Zukunftsindustrien aufs Korn genommen, und Präsident Donald Trump versteht besser als sonst einer, dass Amerika keine wirtschaftliche Zukunft haben wird, wenn China die neu aufsteigenden Industrien erobert.» Doch dürfen wir die Herausforderung auch nicht auf die leichte Schulter nehmen. China ist nicht länger nur ein riesiger Absatzmarkt für uns und ein Produktionsstandort mit unerschöpflichen Kapazitäten, es ist ein mächtiger, potentiell erdrückender Konkurrent geworden.
Auch weltpolitisch strebt China an die Spitze. Die Pekinger Führung will die Größe und Würde der chinesischen Zivilisation wiederherstellen und die Demütigung überwinden, die es nach seiner gewaltsamen Öffnung durch den Westen im Opiumkrieg von 1839–1842 rund hundert Jahre lang hat erfahren müssen. Die fremden Mächte zerstückelten das Reich der Mitte in protektoratsähnliche Einflusszonen und überzogen es – erst die Europäer, dann die Japaner – mehrfach mit Krieg. Sie annektierten riesige Gebiete und entrissen der Staatsverwaltung zentrale Bereiche. Bis 1930 übten sie die Zollhoheit aus; das Seezollamt und das Salzinspektorat standen noch länger unter ausländischer Kontrolle. Erst im Zweiten Weltkrieg wurden die juristische Exterritorialität und andere Sonderprivilegien der Westmächte abgeschafft, und noch lange danach wehte die sowjetische Flagge über Port Arthur. Seine Souveränität hat China erst nach dem Sieg der Kommunisten zurückerlangt. Damit war die schmähliche Epoche vorbei, in der jeder nach Lust und Laune durch die «offene Tür» nach China hineinspazieren konnte. In den Schulen werden den Kindern bis heute die vier Zeichen wuwang guochi eingebläut – «Nie die nationale Erniedrigung vergessen!».
Der britische Autor Tom Miller schrieb 2016 das Buch China’s Asian Dream. Die Chinesen träumten davon, war seine These, ihren historischen Status als Asiens Vormacht wiederherzustellen. Doch seitdem ist klar geworden, dass der Traum von neuer Größe weit über die Grenzen der alten Tribut- und Vasallenstaaten hinausreicht. Staatspräsident Xi Jinping macht überhaupt kein Geheimnis daraus. «Die chinesische Nation erhebt sich mit neuem Selbstbewusstsein im Osten der Weltkugel», verkündete er auf dem 19. Parteitag der chinesischen Kommunisten. Und er wirft nun das ganze wirtschaftliche Gewicht seines Landes in die Waagschalen der Weltpolitik. Sein Führungswille verändert das globale Mächtemuster, er hat Großes vor mit der Volksrepublik. Nicht länger sieht er sie als Regionalmacht, vielmehr will er sie ins «Zentrum der Weltbühne» rücken. Zur mächtigsten Militärmacht will er sie machen, zur größten und führenden Wissenschaftsmacht, zur Innovationsgroßmacht, zur Infrastruktur-Supermacht, zum Anführer im Kampf gegen den Klimawandel, zur Weltkulturmacht und zur Weltfußballmacht. Eine «Schicksalsgemeinschaft der Menschheit» will er aufbauen, der er «weise chinesische Ideen für Problemlösungen» anbietet und eine «Harmonie der Vielfalt», was nichts anderes heißt als die kompromisslose Anerkennung aller chinesischen Positionen.
Das alles war so dick aufgetragen, dass es überall im Westen Argwohn und Kritik erregte. Dies veranlasste die Partei Mitte 2018, die Medien anzuweisen, Chinas Ziele und Errungenschaften nicht mehr so überschwänglich anzupreisen. Arroganz mache ein Land nicht mächtig, hieß es nun. Deswegen solle nicht mehr behauptet werden, die Volksrepublik rücke «ins Zentrum der Welt» und sei «in vielen Bereichen die unangefochtene Nummer eins». Auch darf der Masterplan «Made in China 2025», der die alten Industriestaaten zu einschneidenden wirtschaftspolitischen Gegenmaßnahmen bewog, nicht mehr erwähnt werden. Es handle sich dabei nur um das Papier einiger Wissenschaftler, die damit «die Führung, die Öffentlichkeit und sogar sich selbst getäuscht haben». Doch soll Staatspräsident und Parteichef Xi Jinping, der den ganzen Rummel schließlich selbst losgetreten hatte, wirklich von ein paar Ökonomen hereingelegt worden sein? Einleuchtender ist da schon die Erklärung, dass er es angesichts der westlichen Gesetzesinitiativen gegen seinen Technologie-Feldzug angebracht fand, eine verbalkosmetische Korrektur vorzunehmen – ohne freilich im Geringsten von seiner auf Weltgeltung und Innovationsführerschaft angelegten Politik abzugehen.
Ebenso wenig wird Xi von dem neuen Modell der «Großmachtbeziehungen» lassen, das er seit seinem Amtsantritt propagiert. Es verlangt Respekt vor Chinas «Kerninteressen». Dazu gehören Taiwan, Tibet und Xinjiang, die Inbesitznahme der Inselwelt des Südchinesischen Meeres und der aggressiv verfochtene Anspruch auf die von Japan verwalteten Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer, darüber hinaus aber auch Chinas «eigener Entwicklungsweg». «Harmonie» und «Respekt» versteht Xi als Hinnahme, ja: Billigung seines weltpolitischen Konzepts, seiner Ziele, seiner Methoden. Dass auch andere Staaten Kerninteressen haben, die zu respektieren sind, blendet er gern aus.
Unter den Staatslenkern unserer Gegenwart ist Xi Jinping der einzige, der ein weltpolitisches grand design hat und diesen Entwurf mit einer grand strategy zielstrebig zu verwirklichen sucht – nach einer Pentagon-Analyse der «ehrgeizigsten Strategie, der sich ein Staat in neuerer Zeit verschrieben hat». Sein Entwurf wird bewusst oder unbewusst von zwei Theorien unterfüttert, die vor China noch keine andere Nation gleichzeitig zur Grundlage ihrer auswärtigen Politik gemacht hat: den Gedanken des amerikanischen Seestrategen Mahan und des britischen «Herzland»-Theoretikers Mackinder. In seinem 1890 erschienenen Buch The Influence of Sea Power on History hatte der US-Admiral Alfred Thayer Mahan, der «Clausewitz der Meere», die Seemacht zur bedeutendsten geopolitischen Gestaltungskraft erklärt. Hundertzwanzig Jahre danach ließ die chinesische Staatsführung Mahans Ideen wiederaufleben: Wer die Meere beherrscht, der beherrscht die Welt. Zudem griff sie die Heartland-Theorie des Geographen Halford J. Mackinder auf, die der Urheber des Begriffs «Geopolitik» 1904 in seinem Aufsatz «The Geographical Pivot of History» umrissen hatte: «Wer über das östliche Europa herrscht, beherrscht das Herzland» – die Weiten Zentralasiens; «wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel»– Zentralasien plus Afrika. Auf die Beherrschung der Meere und des Herzlandes zielt Xi Jinpings Seidenstraßen-Initiative.
Der geopolitische Entwurf des chinesischen Präsidenten kommt unter dem harmlosen Banner «One Belt, One Road» daher, «Gürtel und Straße» in Pekings gedrechselter deutscher Übersetzung. Er knüpft an die alten Handelsrouten an, die das Reich der Mitte einst mit dem Westen verbanden, Marco Polos Seidenstraße im Norden und die maritimen Expeditionsrouten des Admirals Zheng He im Süden. Ursprünglich sollten «Gürtel und Straße» nur das pulsierende Wirtschaftszentrum Ostasiens mit dem Wirtschaftszentrum Westeuropa und der Küstenregion Ostafrikas verbinden. Inzwischen hat Xi praktisch die ganze Welt in den Blick genommen. «Alle Länder, ob in Asien, Europa, Afrika oder den Amerikas, können Zusammenarbeitspartner der Gürtel-und-Straße-Initiative sein», heißt es nun. Neuerdings ist sogar der Plan für eine «Polare Seidenstraße» in der Arktis umrissen worden.
So haben die Chinesen rund hundert Länder und Organisationen dazu aufgerufen, sich am Ausbau der neuen Seidenstraßen zu florierenden Wirtschaftskorridoren zu beteiligen. Mit über achtzig Staaten wurden bereits Kooperationsverträge abgeschlossen. «Konnektivität», Vernetzung, ist die Parole, Ausbau der Infrastruktur das Ziel: Eisenbahnen und Straßen, Pipelines, Kraftwerke, Staudämme und Glasfasernetze sollen zur Grundlage für einen beispiellosen Wirtschaftsaufschwung in sechs Korridoren werden, die nach Südostasien und Südasien, nach Eurasien und dem Mittleren Osten, Europa und Afrika führen. China hat bisher schon über 115 Milliarden Dollar dafür ausgegeben, doch insgesamt steht für 900 Seidenstraßen-Vorhaben die gewaltige Summe von rund 1000 Milliarden Dollar bereit. Zum Vergleich: Für den Marshall-Plan genehmigte der US-Kongress 1948 bis 1952 alles in allem 13 Milliarden Dollar, nach heutigem Wert etwa 131 Milliarden. Allerdings gab es in Europa nur sechs Empfängerländer der Marshall-Gelder, China hingegen will über achtzig Staaten mit seiner Billion bedenken.
Die Chinesen arbeiten sich dabei Schritt für Schritt vor, Region für Region, Sektor für Sektor – nach dem alten chinesischen Grundsatz «Mit den Füßen nach den Steinen tastend den Fluss überqueren» – anders als Mao, der stets zum Großen Sprung ansetzte und dabei jedes Mal ins Wasser fiel. Und sie denken in langen Zeiträumen. «Zweimal hundert Jahre» ist Xi Jinpings Schlachtruf. Bis zum hundertsten Gründungstag der Kommunistischen Partei im Juli 2021 soll «bescheidener Wohlstand für alle» erreicht sein, ehe dann die sozialistische Modernisierung bis 2035 «im Wesentlichen vollendet» wird. Zum hundertsten Gründungstag der Volksrepublik China am 1. Oktober 2049 soll das Reich der Mitte dann «reich, mächtig, demokratisch, kultiviert, harmonisch und schön» dastehen. Zudem sind die Chinesen ausdauernd. Nicht von ungefähr zitierte Xi in einem Toast auf Trump die alte chinesische Weisheit: «Keine Entfernung, auch nicht ferne Berge und weite Ozeane, können Leute mit Beharrlichkeit daran hindern, ihr Ziel zu erreichen.» Einen dazu passenden Spruch Benjamin Franklins brachte er ebenfalls noch an: «Wer Geduld hat, kann kriegen, was er will.» Langmut rühmt er auch in dem Band Xi Jinping erzählt Geschichten als nachahmenswerte Tugend. In einer der 109 Erzählungen geht es um einen alten Mann und einen Berg, der ihm die Aussicht versperrt. Also beginnt er, den Berg mit Schaufel und Eimer abzutragen. Als ihn die Nachbarn verlachen, denn so werde er es nie schaffen, erwidert er, dann würden es eben seine Kinder und Kindeskinder und deren Nachkommen vollbringen. Die Geduld und die Ausdauer des Alten rühren den Allmächtigen so sehr, dass er den Berg versetzt.
Noch gehen bei uns die Meinungen auseinander, wie dem Aufstieg der Volksrepublik zu begegnen sei. Auch die Einkaufstour der Chinesen, bei der sie sich die Rosinen aus dem westlichen Industriekuchen herauszupicken suchen, wird noch sehr unterschiedlich beurteilt. Einige Unternehmen sehen chinesische Investitionen als belebende oder gar rettende Finanzquelle. Viele blicken in erster Linie auf China als einen riesigen Absatzmarkt für die eigenen Erzeugnisse, was alle anderen Erwägungen erstickt. Doch immer öfter blitzt auch schon eine beunruhigende Schrift an der Wand auf: Macht euch nichts vor, ihr seid willkommene Steigbügelhalter, bis China im Sattel sitzt, dann aber werdet ihr an die Wand gedrängt. Überall im Westen wächst die Entschlossenheit, der chinesischen Einkaufskampagne Schranken zu setzen.
Auch Pekings Seidenstraßenprojekt ist nicht so harmlos, wie es aussieht. Mit seinen Zuschüssen, Krediten und kompletten Finanzierungspaketen schafft sich China Einflusssphären rings um den Globus. Es ist überall willkommen, wo das Geld knapp ist und wo politische, besonders menschenrechtliche Auflagen der Geldgeber unwillkommen sind. Den armen Ländern erscheint es wie der reiche Onkel, der keine Fragen stellt. Während der Westen Strukturreformen verlangt, die Beachtung der Menschenrechte einfordert und Freihandelsabkommen als wirksamstes Instrument bevorzugt, setzt China auf den Bau von Infrastruktur. Seine enormen Kapitalreserven, sein Ingenieurs-Knowhow, seine Produktions- und Baukapazität geben der Globalisierung ein chinesisches Gesicht. Dies gestattet Xi Jinping, sich zum Herold des Multilateralismus aufzuwerfen.
Weltweit kaufen oder finanzieren und bauen die Chinesen Häfen, Eisenbahnen und Stromnetze. Ihre Hafenstrategie verschafft ihnen mehr und mehr bestimmenden Einfluss auf die Seefrachtrouten rund um den Globus. Eisenbahnen bauen sie in Südostasien, Russland, in der Türkei und im Iran, auf dem Balkan, in Afrika und Lateinamerika. Ferner suchen sie überall Beteiligungen an Stromnetzen. Allein in Europa steckten sie seit 2008 nach der Berechnung von Le Monde 34,5 Milliarden in den Energiesektor. In Portugal gaben sie knapp 10 Milliarden Euro für Anteile am den elektrischen Netzen des Landes aus, in Italien 2,1 Milliarden; bei Eandis in Belgien und 50Hertz in Deutschland kamen sie jedoch nicht zum Zug. In Dänemark investierten sie in die Windkraft, und am britischen Atomkraftwerk Hinkley Point, das von Energie de France (EDF) erbaut wird, übernahmen sie für 7 Milliarden Euro 33,5 Prozent der Anteile. Nicht zuletzt sind sie dabei, eine die eurasische Landmasse umspannende «digitale Seidenstraße» zu bauen, wobei Alibaba in Russland in einem Gemeinschaftsunternehmen mit mail.ru und dem Russian Direct Investment Fund den Vorreiter macht.
Zugleich reklamiert China mit seinem Infrastruktur-Kreuzzug Einflusszonen für sich, in denen es nicht nur um Seide und Gewürze oder Fernstraßen, Bahnlinien und Stromnetze geht, sondern um dominierende Gestaltungsmacht. Immer kräftiger rütteln sie an dem nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen internationalen System. Es geht ihnen um eine neue Weltordnung (siehe Kapitel 10 «Die neuen Seidenstraßen»). Und wo der Westen in Pessimismus versinkt, strotzen sie vor Optimismus. Bei einer Umfrage 2017 sagten 87 Prozent, ihr Land bewege sich in die richtige Richtung (in 27 anderen Ländern lag der Durchschnitt bei 40 Prozent, wobei die Westeuropäer besonders pessimistisch waren).
Von Amerika bis Australien werden Chinas Aufstieg, seine Außenpolitik und seine unaufhörliche Aufrüstung vielfach als potentielle oder gar aktuelle Bedrohung wahrgenommen. Dies gilt zumal für Pekings imperial-expansionistische Strategie in der von mehreren pazifischen Nationen beanspruchten Inselwelt des Südchinesischen Meers und im Ostchinesischen Meer. Auf beiden Konfliktfeldern beschwört das chinesische Vorgehen zudem eine Konfrontation mit den Vereinigten Staaten herauf, bei der es, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, zu bewaffneten Zusammenstößen kommen könnte. In Peking wie in Washington gibt es einerseits Hardliner und andererseits Ausgleichsbefürworter; die Ersteren halten einen regelrechten Krieg zwischen China und den Vereinigten Staaten für unausweichlich, die Letzteren warnen beschwörend vor ihm. Auf jeden Fall steigen die Spannungen.
Viele Beobachter sehen bereits einen neuen Kalten Krieg heraufdämmern. Mit dem Ost-West-Konflikt zwischen Moskau und der freien Welt hätte er freilich wenig gemein. Die Sowjetunion war militärisch und politisch eine Großmacht, doch ökonomisch war sie für den Westen ohne Bedeutung; es tat ihm nicht weh, die UdSSR mit Embargos, Boykotten oder Sanktionen zu belegen. Ganz anders China, dessen Wirtschaft mit den Nationalökonomien der übrigen Welt so eng verflochten ist, dass schon ein Handelskrieg und erst recht ein Kalter Krieg viele in den Ruin stürzen würde.
Was an Konfrontationszunder bleibt, sind die ideologischen Gegensätze. Die Erwartung, dass China mit wachsendem Wohlstand eine Demokratie werde, wie wir dies in Südkorea und auf Taiwan erlebt haben, hat sich als Illusion erwiesen. Ebenso wenig hat sich die Hoffnung auf Wandel durch Handel erfüllt. Vielmehr hat sich gezeigt, dass der Kapitalismus keineswegs unausweichlich zu einer freiheitlichen Ordnung nach westlichen Begriffen führt; er funktioniert auch ohne Demokratie. Und so schwer uns diese Einsicht auch fallen mag – der wachsende Wohlstand hat die Massen nicht in den Ruf nach Demokratie ausbrechen lassen. Und zwar nicht, weil sie – abgesehen von der kleinen Schar von Dissidenten – brutal unterdrückt werden, sondern weil sie zufrieden sind damit, dass das Regime ihnen ein spürbar besseres Leben beschert hat. Schon als es China noch schlecht ging, gab es nur wenige Regimekritiker. Seit es ihm gut geht, ist die Zahl derer, die den Mangel an Gedankenfreiheit als Problem empfinden, noch mehr geschrumpft.
Das Land wird heute von der Partei wieder so fest im Griff gehalten wie zu Zeiten Mao Zedongs. Die Mehrheit der Chinesen jedoch, das ist die durchgängige Erfahrung der in China lebenden und arbeitenden Ausländer, kümmert sich überhaupt nicht um die Partei, solange es weiter vorwärts und aufwärts geht (und soweit sie ihnen nicht als Karriere-Sprungbrett dient). Minxin Pei, Politikprofessor und China-Spezialist am Claremont McKenna College, bestätigt dies: «Die meisten Chinesen, selbst Parteimitglieder, glauben nicht wirklich an irgendeine offizielle Lehre. … Die Kommunistische Partei ist im täglichen Leben der gewöhnlichen Chinesen praktisch irrelevant geworden.» «Es gibt in der Volksrepublik keine mächtige Forderung nach Demokratie», befindet auch der französische Sinologe Jean-Pierre Cabestan. Die neue Mittelklasse sei «lepenisiert» und stelle ihr Bedürfnis nach Sicherheit über das Verlangen nach Freiheit. Wohl gebe es vielerlei örtliche Spannungen, doch habe die Partei die finanziellen Mittel und die Unterdrückungsinstrumente, um damit fertigzuwerden. Die neureiche Wirtschaftselite dringe nicht auf Wandel, sondern sei in die Partei eingetreten und finde dort Gehör und Unterstützung für ihre Anliegen. Die Bildungselite sei mehr damit beschäftigt, dem Sozialismus chinesischer Prägung eine intellektuelle Fundierung zu geben, als ihn infrage zu stellen; sie rede den Machthabern nach dem Mund.
Der Pekinger Verfassungsrechtler Xu Zhangrun, Xi Jinpings schärfster Kritiker, der im Juli 2018 mit seinem Essay «Derzeitige Befürchtungen und unsere Hoffnungen» Aufsehen erregte, sieht dies genauso. Als soziale Wesen genössen die Chinesen Freiheit, schreibt er, nicht jedoch als Bürger: «In der Privatsphäre können die Menschen sich begrenzter persönlicher Freiheiten erfreuen, zumal der normalen Vergnügen wie Essen, seinen täglichen Geschäften nachgehen, sich hinter geschlossen Türen der Intimität hingeben. Sie können ihre Frisur und ihre Kleidung frei wählen, Massagesalons und öffentliche Bäder besuchen, sich mit Speisen vollstopfen und außereheliche Affären anfangen.» Xu zeigt sogar Verständnis dafür. «Man kann nicht einmal kritisieren», sagt er, «dass die Leute lieber normalen Alltagsvergnügungen frönen als gefährliche Forderungen nach Bürgerrechten zu erheben. Die Achtung der Privatsphäre erklärt zum großen Teil, dass sie sich mit dem gegenwärtigen politischen Arrangement abfinden.»
Dissidenten, denen unser Herz gehört – zwei Prozent oder fünf Prozent des Volkes? –, fallen gegenüber der passiven Mehrheit kaum ins Gewicht. Wohl auch, weil Xi Jinping kein blutrünstiger, ins Chaos verliebter und jegliche Ordnung immer wieder brutal auf den Kopf stellender Despot ist, kein chronischer Zerstörer, Vernichter und Verwüster wie einst Mao Zedong, der Große Steuermann; er ist ein rationaler, kaltblütiger, auf Ruhe und Ordnung bedachter Herrscher. Sein China ist ein anderes als dasjenige Maos, aber auch ein anderes als das China Deng Xiaopings.
In den fünf Jahren seiner ersten Amtszeit hat sich Xi Jinping von Dengs Prinzip der kollektiven Führung abgewandt und einen Personenkult wieder aufleben lassen, der – obwohl das Parteistatut jede Form von Personenkult ausdrücklich verbietet – an die Vergötterung Mao Zedongs erinnert, neben dessen Bildnis er neuerdings gern das seine zeigt. Die Trennung von Wirtschaft und Politik, die es eine Zeitlang in mehr als bloßen Ansätzen gab, hat er abgeschafft. Zielstrebig hat er alles wieder unter Kontrolle genommen: die Partei, die Armee, die Unternehmen, die Medien und das Internet, aber auch die aufblühenden Religionsgemeinschaften. Die Begrenzung der Amtszeit des Staatspräsidenten auf zweimal fünf Jahre hat er aufheben und das «Xi-Jinping-Denken» in der Verfassung verankern lassen. Darüber hinaus ist er dabei, die Gesellschaft einer digitalen Gesinnungs- und Tugenddiktatur zu unterwerfen, die Orwells 1984 weit in den Schatten stellt. Unter ihm macht sich China auf den Weg vom autoritären zum totalitären Staat. Zugleich ist das United Front Work Department («Einheitsfront») zu einem machtvollen, technisch und finanziell hervorragend ausgestatteten Propaganda-Instrument zur Beeinflussung des Auslands und der chinesischen Diaspora geworden. Seit 2012, als Xi Jinping Generalsekretär wurde, ist das Department um 40.000 Mitarbeiter verstärkt worden. Mit seiner weltweiten Wühlarbeit erinnert es an die Komintern unseligen Angedenkens.
Vor allem jedoch hat Xi sich von Deng Xiaopings außenpolitischem Grundsatz tao guang yang hui abgewandt: Haltet euch zurück, drängelt euch nicht vor, wartet die Zeit ab. Mit Dengs Kultur der Zurückhaltung hat er Schluss gemacht. Aus einer Status-quo-Macht ist eine auftrumpfende, eine ausgreifende Macht geworden. Auch Xi Jinping will den Frieden, ist er doch die Voraussetzung für Chinas weiteres Aufblühen. Aber er will einen Frieden, den er selbst gestaltet und beherrscht. Außenpolitik heißt für ihn, «Diplomatie als Großmacht» zu betreiben (wobei die Scheckbuchdiplomatie für die Devisengroßmacht China der stärkste Pfeil im Köcher ist). Und wo Deng stets darauf bestand, dass China für niemanden ein Modell sei, preist Xi Jinping heute sein System als Vorbild für andere an – als Gegenentwurf zu dem des Westens, der gekennzeichnet sei durch «zerrissene Gesellschaften, endlose Machtübergänge und soziales Chaos».
Friedlich soll sich der Wiederaufstieg des Landes vollziehen, aber seine Interessen wird es beinhart vertreten. China First oder Make China great again könnte die Devise sein, Frieden durch Stärke das Motto. Daher wird auch rasant aufgerüstet. Pekings Sicherheitspolitik scheint auf Chinas Vorherrschaft mindestens im asiatisch-pazifischen Raum hinauszulaufen, was durchaus unfriedliche Konsequenzen haben könnte. Auf jeden Fall wollen die Chinesen mit den Großmächten, zuvörderst mit den Vereinigten Staaten, «auf gleicher Stufe» verkehren (wie Leopold von Ranke zu sagen pflegte, ehe das schiefe Bild von der «Augenhöhe» in Mode kam).
Kulturell will China an die internationale Spitze vordringen. Dafür baut es zielstrebig seine soft power aus. Vor dem 19. Parteitag verkündete Xi hochgemut: «Die Soft Power des Landes im Kulturbereich und der Einfluss der chinesischen Kultur wurden beachtlich verstärkt.» Der Begriff wurde einst von dem Harvard-Politologen Joseph Nye geprägt; er beschreibt die Fähigkeit, politische Ziele ohne Anwendung von Zwang oder Gewalt zu erreichen («Nicht deine Rüstung zählt, sondern deine Story»). Im Zeughaus der soft power gibt es vielerlei Waffen: Handel, Investitionen und Entwicklungsförderung ebenso wie die Entsendung von Ärzten nach Afrika, Werbung für chinesische Heilkunde (etwa Chi-Meds Antikrebsmittel Savolitinib), für Akupunktur oder für Kalligraphie. Auch hat China mit 600.000 Studierenden aus über 200 Ländern inzwischen die drittgrößte Anzahl ausländischer Hochschulbesucher, zehnmal mehr als 2003; weit über hunderttausend erhalten Stipendien. Der Pianist Lang Lang begeistert wie seine Kollegen Haiou Zhang und Yuja Wang in allen fünf Kontinenten das Publikum. Chinesische Artisten fehlen in keinem großen Zirkus. Und in Hongkong hat Alibabas Jack Ma die ob ihrer Qualität und Objektivität hoch angesehene South China Morning Post auch zu dem Zweck gekauft, Chinas angeschlagenes Image in der Welt zu verbessern. Er hat viel Geld in die Modernisierung des Blattes und die Aufstockung des Redaktionspersonals gesteckt. Manche Beobachter sagen, die Zeitung, die in der Volksrepublik legal nicht zu lesen ist, gebe seitdem regierungsfreundlichen Meinungsstücken mehr Platz.
Auch mit ökonomischen Argumenten sucht China seine soft power rund um den Globus zur Geltung zu bringen. Beim Davoser Weltwirtschaftsforum Anfang 2017 warf sich Staatspräsident Xi Jinping zum Protagonisten des Freihandels auf und wetterte, ohne ihn beim Namen zu nennen, gegen Donald Trumps protektionistisches Programm: «Protektionismus zu verfolgen, ist wie sich in einer Dunkelkammer einzuschließen. Wind und Regen bleiben draußen, aber auch Licht und Luft. Keiner wird aus einem Handelskrieg als Gewinner hervorgehen.» China habe ursprünglich Vorbehalte gegenüber der Globalisierung gehabt und sei sich nicht sicher gewesen, ob es der Welthandelsorganisation WTO beitreten solle. Aber es habe den Mut aufgebracht, sich in den weiten Ozean des Weltmarktes zu stürzen, habe manches Mal Wasser geschluckt und sei in Wirbel oder kabbelige Wellen geraten, doch es habe dabei Schwimmen gelernt. «China wird seine Tür weit offen halten», beteuerte Xi in seiner charmepolitischen Offensive. «Und wir hoffen, dass auch die anderen Länder ihre Türe offen halten werden.» Im Kongressgebäude des Graubündner Skiparadieses wurde Xis Plädoyer für eine open door policy kräftig bejubelt, wobei den Wenigsten bewusst war, dass genau dies vor 120 Jahren der Kernbegriff der amerikanischen Chinapolitik war. Konkrete Schritte zu weiterer Öffnung folgten der vollmundigen Ankündigung Xis allerdings erst nach über einem Jahr, als Donald Trumps Androhung eines Handelskrieges die Chinesen zu zaghaftem Einlenken brachte.
Im Dienste der chinesischen soft power stehen selbst die niedlichen, wiewohl in der Wildnis nicht ungefährlichen Panda-Bären, von denen noch fast 2000 in den tropischen Bambus-Dschungeln Chinas leben. Peking verschenkt oder verleiht die seltenen Tiere, Letzteres oft auch gegen eine Gebühr von 1 Million Dollar im Jahr pro Pärchen und mit der Auflage, eventuellen Nachwuchs zu repatriieren. Für die einzelnen Panda-Übergaben behält sich Xi Jinping die letzte Entscheidung vor; sie sind jedes Mal ein politisches Statement.
Seit Neuestem setzt das Regime jedoch ohne Skrupel seine sharp power ein. Sie ist weniger als militärische hard power und mehr als soft power, kulturelle Anziehungskraft. In letzter Zeit hat sich dafür auch der Ausdruck «Influencing» eingebürgert. Nach den Lehranweisungen, die der Financial Times und anderen Medien vorliegen, soll die Einheitsfront, in der auch die Konfuzius-Institute eine Rolle spielen, «freundlich und inklusiv alle Kräfte vereinen, die vereint werden können», doch zugleich rücksichtslos «eine eiserne Große Mauer» bauen gegen feindliche Kräfte im Ausland, die darauf aus seien, Chinas Territorium aufzusplittern oder seinen Aufstieg zu behindern. «Die Einheitsfront», heißt es in dem Manual, «ist eine große Zauberwaffe, mit der wir 10.000 Probleme loswerden können, um den Sieg zu erringen».
Seit China sich Ende der 1970er-Jahre zu öffnen begann, hat der Westen darauf gesetzt, dass es sich einfügen werde in die nach 1945 entstandene Weltordnung. Auch dies könnte sich noch als Illusion entpuppen. Die Volksrepublik wurde 1971 in die Vereinten Nationen aufgenommen, spielte dort indes lange nur eine eher unauffällige, rein reaktive Rolle. In den frühen Jahren ihrer Mitgliedschaft im UNUSAWTO