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FRITZ STERN

Zu Hause in der Ferne

Historische Essays | C.H.Beck

 

 

 

 

 

Aus dem Englischen übertragen
unter Mitarbeit von Andrea Stumpf

Zum Buch

Sein Urteil ist gefragt, wenn es um deutsche Geschichte, das deutsch-amerikanische Verhältnis oder die Deutung des weltpolitischen Geschehens geht. Fritz Stern, Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, ist nicht nur einer der großen Historiker unserer Zeit, er ist auch eine moralische und politische Instanz. Dieser Band enthält seine neuen Essays, Reden und Vorträge. Einmal mehr zeugt er von der eminenten Klugheit und Humanität des Mannes, der noch als Kind auf der Flucht vor den Nazis nach New York kam, Amerikaner wurde und trotz Verfolgung den Deutschen eng verbunden blieb.

„Fritz Stern ist eine geistige Macht eigener Art, eine unersetzbare eigene Stimme in Deutschland und der Welt.“ Richard von Weizsäcker

Über den Autor

Fritz Stern ist em. Professor für Geschichte an der Columbia University und Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels. Im Verlag C.H.Beck sind von ihm u.a. seine Memoiren Fünf Deutschland und ein Leben (92009), die Gesprächsbände Unser Jahrhundert (mit Helmut Schmidt, 62011) und Gegen den Strom (mit Joschka Fischer, 2013) sowie zuletzt zusammen mit seiner Frau Elisabeth Sifton Keine gewöhnlichen Männer. Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi im Widerstand gegen Hitler (2013) erschienen.

Für Haug von Kuenheim in Freundschaft

Inhalt

Vorwort

Dankesrede für die Verleihung des Friedenspreises

Der 20. Juli

Fritz Haber: Größe und Tragik seines Lebens und seines Landes

Entzaubertes Amerika?

Über Freiheit und Exil in Heinrich Heines Welt und in der unseren

Einstein in verkannter Einsamkeit

Betrachtungen zur deutschen Wiedervereinigung

Das gemeinsame Haus Europa

Das Deutschland, das ich nicht kannte

Der Kniefall Willy Brandts

Nachrufe

Ralf Dahrendorf

Bronisław Geremek

Anmerkungen

Quellenangaben

Vorwort

Heinrich Heine verstand Freiheitsliebe als Kerkerblume – im Kerker entbrennt diese Leidenschaft. Er hat es selbst gespürt. Über Jahrhunderte gab es in Europa eine Art geistigen Kerker; Staat und Kirche versuchten durch Zensur und Unterdrückung alles Unbotmäßige und Unorthodoxe zu verbieten. Heine beklagte jegliche Unterdrückung und fand, dass nach 1815 «ganz Europa ein Sankt Helena [wurde] und Metternich wurde Hudson Lowe.»[∗] Aber selbst in dieser düsteren Welt existierten Inseln der Freiheit, die zumindest ein Leben im Exil erlaubten. Der Kampf um die Hoffnung der Aufklärung des 18. Jahrhunderts («Geben Sie Gedankenfreiheit») wurde im 19. Jahrhundert in England und Holland, und am Anfang der Französischen Revolution weitestgehend verwirklicht. Im 20. Jahrhundert dann wurde Freiheit brutal zerstört. Eine fürchterliche Folge von Zensur, von surveillance jeglicher Art, auch von «political correctness», die oft unbewusste Selbst-Zensur, man unterdrückt sich selbst.

Als Kind im Nationalsozialismus habe ich den Kerker von Außen und die Furcht vor ihm im Inneren selbst erlebt. Freiheit war die tiefe Glut im Leben, von braunem Schutt überlagert. Freunde teilten die Leidenschaft: Ich denke an Ralf Dahrendorf und an den mutigen Bronisław Geremek, der im Gefängnis schmachtete und als leidenschaftlicher Europäer sein Lebenswerk beendete.

Exil kann zweideutig sein: zeitlich begrenzte Flucht mit Aussicht auf Heimkehr oder der Anfang eines neuen Lebens in einem neuen Milieu und in diesem Milieu sich ein Zuhause zu schaffen. Es bedeutet einen neuen Anfang, und aus der Ferne erwächst ein neuer, ein anderer Blick auf die verlassene Vergangenheit.

Deutschlands Aufstieg im 19. Jahrhundert erschütterte Europa. Eine militärische Macht entstand, gefördert von einer disziplinierten Gesellschaft, in der Wirtschaft und Wissenschaft dynamisch vorwärts strebten. Gewollt oder nicht, das neue Reich wurde zur Hegemonialmacht in Europa. Das Land aber war innerlich gespalten, und seine Führung wechselhaft und oft verunsichert, mit einer Neigung zum aggressiven Auftreten.

Deutsche Vergangenheit des 20. Jahrhunderts bleibt ein Vermächtnis von Katastrophen und ist daher eine ständige Herausforderung für Historiker. Einer der Essays behandelt jene Fehlentwicklung, die oft als Wilhelminismus gekennzeichnet worden ist. Zwei Größen der deutschen Wissenschaft – Einstein und Haber – hatten ein grundverschiedenes Verhältnis zu diesem Aufstieg – und beide mussten ihr Leben im Exil beenden.

Von Kindheit an wusste ich, dass es Menschen gab, die sich gegen den bejubelten NS-Staat stellten, die ihren Anstand auf viele Weisen aktiv bewiesen, und das in dem Bewusstsein, dass ihnen Folter und Tod drohten. Ich war dankbar für jede Gelegenheit, die Erinnerung an diese Menschen wachzuhalten und zu vertiefen. Deutsche Vergangenheit schärft den Blick auf die amerikanische Gegenwart, bedrückend, wie sie einem jetzt erscheint.

Die zweite deutsche Republik konnte sich friedlich entwickeln dank Menschen, die aus der Vergangenheit gelernt haben und sich für einen demokratischen Neuanfang engagierten. Aber auch Dank des amerikanischen Schutzes; und man kann mit Recht sagen, dass die Bundesrepublik den größten Erfolg der amerikanischen Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg darstellt. Bemerkenswert ist, dass die jetzige politische Leitung des Landes bestimmt wird von Menschen, die im östlichen Kerker aufgewachsen sind. Die Bundesrepublik genoss Fortuna, etwas, dass vorhergehenden Staatsformen fatal fehlte.

Ich bin dankbar für die verschiedenen Aufforderungen, die zu diesen Essays geführt haben. Zu Hause in einer neuen Welt, konfrontiert mit neuen Herausforderungen, konnte ich versuchen, deutsche und europäische Vergangenheit mit amerikanischer Gegenwart zu verbinden. Auch hier mag meine Ansicht, dass Geschichte ein menschliches Drama darstellt, von Menschen gestaltet und erlitten, herrühren und sichtbar werden.

Die folgenden Essays gehören zu einer von mir besonders bevorzugten Gattung des Schreibens: Das Festhalten am spontanen Einfall, ein ahnendes Grübeln, auf Kosten von langwieriger Vollkommenheit. Ein Essay ist ein Versuch, manchmal sogar ein Wagnis, und ich habe eine Auswahl von Versuchen, die mir besonders am Herzen liegen, getroffen.

Ich bin Detlef Felken, Cheflektor bei C.H.Beck, erneut herzlich dankbar für sein Verständnis, seine Ermutigung und seine oft notwendigen Korrekturen.

Fritz Stern

29. April 2015

 

 

 

∗ Lowe war Gouverneur von St. Helena und als solcher verruchter Wächter von Napoleon.

Dankesrede für die Verleihung des Friedenspreises

(1999)

Zuerst meinen Dank an den Börsenverein des Deutschen Buchhandels für diese Ehre. Es ist eine beklemmend großartige Reihe, in die Sie mich aufnehmen: bewundernswerte Schriftsteller, die hier vor Ihnen standen. Heute verleihen Sie den Preis – ich glaube zum ersten Mal – einem Historiker, einem Erben einer alten Kunst und einem Schüler einer relativ neuen, sich stets ändernden Wissenschaft. Wir Historiker sind aufeinander angewiesen, lernen voneinander, und daher – und auch als eine Art Selbstbefreiung – möchte ich Ihren Preis umdeuten als eine Anerkennung der Historie überhaupt, unseres Bestrebens, der Gegenwart die Vergangenheit darzustellen. Der Ansporn kommt zur richtigen Zeit, und wir wiederum sind allen Kollegen des Buchhandels dankbar, denn ohne ihr Bemühen hätten wir gar keine Leser. Das gedruckte Buch wird auch in der elektronischen Zukunft den Menschen ein unentbehrlicher Wert bleiben. Ich bin dem Außenminister der Republik Polen dankbarer, als ich es je ausdrücken könnte. Lieber Bronik Geremek, Sie sind eine beglückende Ausnahme unter uns Historikern. Nicht nur weil Sie der erste große Historiker seit Alexis de Tocqueville sind, dem das Amt eines Außenministers anvertraut worden ist; Tocqueville wurde französischer Außenminister genau vor 150 Jahren und bedauerte das Scheitern liberaler Hoffnungen auf deutsche Einheit. Sie, Herr Außenminister, und die Menschen in Ihrem Land haben das befreiende Jahr 1989 mitbestimmt, das den friedlichen Zerfall des kommunistischen Imperiums bewirkte und die deutsche Wiedervereinigung ermöglichte. Sie haben Ihr Geschichtswissen in politische Tat umgesetzt: Sie haben das Leben der Ausgeschlossenen des französischen Mittelalters erforscht, und Sie haben Ihrer ausgeschlossenen Nation den Weg in die Freiheit mit ermöglicht, und zwar mit Hinnahme eigener Verfolgung. Die Vision Europa hat Solidarność ermutigt, und das jetzige Europa verdankt Solidarność die Möglichkeit seiner Vereinigung. Unser gemeinsamer Auftritt hier ist aber auch Zeugnis für das neue Deutschland, ein Land, in dem so viele Bürger sich der Vergangenheit bewusst sind und sich um Versöhnung bemühen.

Ich dachte, meine Bewunderung für die polnische Nation sei eigene Errungenschaft, aber inzwischen weiß ich, dass mein Urgroßvater väterlicherseits, ein bekannter Arzt in Breslau, jetzt Wrocław, im Jahre 1849 für seinen prodemokratischen Einsatz und seine polnischen Sympathien für ein Jahr ins Gefängnis kam. Diese Ehre ist mir erspart geblieben, aber ich empfinde den heutigen Tag als eine feierliche Bestätigung seiner Überzeugungen. Ich freue mich über die wiederaufgenommene Familientradition.

Diese Feier ist die letzte in diesem Jahrhundert und die erste in der neuen Berliner Republik. Unvermeidlich stoßen wir auf Vergangenheit und Gegenwart: Sie sind untrennbar. Es gibt kein Ende der Geschichte, auch keinen Schlussstrich, keinen völlig neuen Anfang. Trotzdem begrüße ich die neu proklamierte Berliner Republik mit großem Vertrauen und mit kleinem Unbehagen. Die ersten 50 Jahre der Bundesrepublik rechtfertigen das Vertrauen. Das Unbehagen entspringt der Benennung: Warum müssen deutsche Demokratien durch Städte begrenzt oder identifiziert werden: Weimar, Bonn, Berlin. Damit wird die unerwünschte Diskontinuität nur unterstrichen. Warum nicht endlich eine deutsche Demokratie, wie so manche sie sich hier in der Paulskirche gewünscht und für die so viele später gekämpft haben? In seiner bewegenden Rede am 17. Juni 1988 hat der damalige Bundesverfassungsgerichtspräsident Roman Herzog den Wunsch nach «leisen Tönen» geäußert, leisen Tönen für die deutsche Frage. Berlin ist für vieles bekannt, doch nicht gerade für leise Töne.

Als mir Herr Ulmer am 19. April die mich völlig verblüffende Nachricht übermittelte, dass ich den Friedenspreis erhalten sollte, standen wir am Anfang eines Krieges, der nicht aus nationalem Egoismus oder aus wirtschaftlichen Interessen entsprang, sondern aus dem Entschluss einer demokratischen Allianz, eine brutale Unmenschlichkeit nicht länger zu dulden. Die militärische Verteidigung der Menschenrechte ist etwas Erstmaliges, aber in einer Zeit des neu aufsteigenden Nationalismus – der den Kommunismus sozusagen beerbt hat als vorherrschende Ideologie – stehen uns ähnliche Fälle bevor. Diese Entscheidungen können nicht ad hoc erledigt werden; als Mindestvoraussetzung brauchen wir ein klares Konzept für das Zusammenwirken der westlichen Demokratien. Die Verantwortung sollte nicht allein bei der einen globalen Macht liegen.

Der ewige Friede bleibt unerreichbare Utopie; Immanuel Kant erkannte die Notwendigkeit von internationalen Institutionen, die «der Bösartigkeit der menschlichen Natur» Einhalt bieten könnten. Unsere internationalen Institutionen sind noch zu schwach für solche Aufgaben. Aber der Friede fängt im Inneren an, auch mit dem Einzelnen. Das Gebot «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst» setzt eine Selbstliebe voraus, die in ihrer Existenz oder Berechtigung nicht unbedingt vorausgesetzt werden kann. Friede verlangt nach einem Minimum von innerem Zusammenhalt: Im Leben Europas und der Vereinigten Staaten haben innere Spannungen oft zu äußeren Auseinandersetzungen geführt; in einem Land der Unzufriedenheit oder einem Land, das sich in einem latenten Bürgerkrieg zu befinden glaubt, mag eine Verlagerung des Konflikts, eine Flucht nach vorn eine gewisse Versuchung darstellen.

Der Erste Weltkrieg – die Urkatastrophe in diesem Jahrhundert – entstand zum Teil aus den inneren Zerwürfnissen der großen Mächte, gerade auch in dem kaiserlichen Deutschland, diesem zerrissenen Land, in dem die paranoide Angst vor sogenannten inneren Feinden die Angst vor äußeren Feinden schürte. Der innere Friede ist Voraussetzung für maßvolle Politik nach außen. Auch daher meine Hoffnung, schon oft geäußert, dass das neue Deutschland seine innere Versöhnung finden möge. Es darf in diesem Deutschland keine Bürger zweiter Klasse geben oder Menschen, die sich als solche empfinden; es hat genug Bürger zweiter Klasse in der Geschichte gegeben. Ich habe es selbst erlebt.

Wir stehen am Ende des grausamsten Jahrhunderts in der Geschichte Europas – eine solche Vergangenheit vergeht nicht. Sie ist gegenwärtig in allen unseren Ländern, aus begreiflichen Gründen besonders stark in Deutschland. Mit Recht gibt es Mahnungen gegen Vergessen, diese Stimmen aber beschwören keine Schuld für die heutige Generation. Gefordert wird Verantwortung, verstärkt durch das Wissen um Fehler und Verbrechen in der Vergangenheit. Wir können aus der Vergangenheit lernen, auch dass der Gang der Geschichte offen ist, dass er von Menschen gestaltet wird. Der Glaube an historische Zwangsläufigkeit ist ein gefährlicher Irrtum. Er verführt zur Passivität.

In früheren Zeiten wurde das Geschichtsstudium als Eckpfeiler der Bildung betrachtet. Große Dramatiker brachten Historie auf die Bühne, und Historiker genossen so etwas wie ein Monopol für die Erzählung erforschter Vergangenheit. In einem waren sich Dramendichter und Historiker einig: Die Geschichte ist menschliches Drama, das Wissen um die Vergangenheit sollte das Leben bereichern und erklären.

Ein Dramatiker war in vieler Hinsicht eine Ausnahme: Georg Büchner hat in «Dantons Tod» die große Tragik der Französischen Revolution geschildert, dieses Blutvergießen mit gutem Gewissen. Dantons unerbittliche Frage an Robespierre sollte auswendig gelernt werden: «Ist denn nichts in dir, was dir nicht manchmal ganz leise, heimlich sagte, du lügst, du lügst.»

Sein Stück wurde als unsittlich beschimpft, seine freiheitlich-radikalen Ideen im «Hessischen Landboten», die soziale Gerechtigkeit fordernd, bedingten sein Exil.

Die meisten Historiker und auch Dramatiker waren eher autoritätskonform und passten sich an jegliches Establishment an und sie wollten und sollten ja identitätsstiftend sein, ihrer Nation eine glorreiche Vergangenheit präsentieren. Kritik war suspekt und meist unerwünscht. Für radikal kritische Darsteller, wie es auch Büchner in seinen politischen Äußerungen war, gab und gibt es im Deutschen den hässlichen Ausdruck des Nestbeschmutzers, der freilich meist die trifft, die das Nest bereinigen wollen.

Historiker sind nicht mehr die Hauptverwalter der Vergangenheit; sie teilen die Verantwortung mit den Regisseuren neuer Medien, die jetzt die Vergangenheit – oft in notgedrungener Verkürzung und oft auch in vermeidbarer Verzerrung – in Beschlag nehmen. Auch hat sich die Zunft zurückgezogen in immer engere Spezialisierung, und schriftstellerische Ambitionen werden oft als nebensächlich abgestreift.

Was aber deutsche Historiker in kritischer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in den letzten 40 Jahren erreicht haben, ist bewundernswert. Wir haben heute ein sehr viel nuancierteres Bild der deutschen Vergangenheit als je vorher. Historikerstreit hat es und wird es immer geben: aber was erreicht wurde – die Verbindung mit der internationalen Forschung, der Einklang mit Fachkollegen im Ausland –, wird nicht leicht verloren gehen.

Wir leben heute im Zeichen einer Erinnerungskultur, in der die Erinnerungen Einzelner ebenso wie öffentliche ritualisierte Erinnerung einen wichtigen Platz einnehmen. In den 80er Jahren begann eine Welle von Erinnerungstagen, die die Schreckenszeiten ins Gedächtnis riefen; die Rede von Bundespräsident von Weizsäcker am 8. Mai 1985 war eines der eindrucksvollsten Plädoyers, der Opfer deutscher Gewalt zu gedenken. «Schonung unserer Gefühle durch uns selber oder durch andere hilft nicht weiter.» Der Generationswechsel kommt hinzu: Die Menschen, die noch die volle Wucht extremer Zeiten erlebt haben, treten ab und wollen doch noch Zeugnis ablegen, auch stellvertretend für diejenigen, die als stumme Opfer aus dem Leben scheiden mussten. Die 100 Millionen Europäer, die in diesem Jahrhundert einem unnatürlichen Tode verfallen sind, bleiben in unserem Gedächtnis.

Neue Forschungen über Verstrickungen in bisher unvermuteten Bereichen deutschen und europäischen Lebens haben kritische Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit verschärft. Viele unserer Länder befinden sich sowieso im Zuge eines historischen Revisionismus, das heißt, man befasst sich mit den dunklen Seiten der Vergangenheit, um das überlieferte, meist biedere Bild zu korrigieren.

Jeglicher Revisionismus bringt neue Entzweiung mit sich. Deutschland mit der größten Last hat am frühesten mit diesem Revisionismus angefangen; man muss hoffen, dass die schwer erkämpfte Offenheit bestehen bleibt. Deutsche Geschichte wird immer umstritten bleiben, und zwar die gesamte Geschichte und besonders die des Dritten Reichs, das weder Zufall noch historische Notwendigkeit, weder Ausnahme noch Ziel deutscher Geschichte war. Ein ausgewogenes Urteil über die eigene Vergangenheit zu gewinnen ist nicht leicht. Am Vorabend des Schweizer Nationalfeiertags hörte ich die Bundespräsidentin Ruth Dreyfuss sagen, dass sie an ihr Land mit «Dankbarkeit und Schmerz» denkt. Diese Worte empfand ich als einen neuen und überzeugenden Ton in der politischen Sprache Europas; sie beschreiben eine schwierige, aber notwendige Mischung der Gefühle.

Erinnerung und Historie sind verwandt und doch tief verschieden. Erinnerung klammert sich an symbolhaltiges Geschehen, ein Bild aus der Vergangenheit haftet in uns. Erinnerung mag mächtig und kann doch ungenau sein, sie hält uns wach, aber führt uns nur an die Schwelle von historischem Verständnis. Erinnerung ist keine erforschende Rekonstruktion der Vergangenheit. Es könnte sein, dass eine nur erinnerte Vergangenheit als Ersatz-Vergangenheit ein ahistorisches Zeitalter in ihrem Bann hält.

Ich habe meine eigenen Erinnerungen: Die Zeiten des Nationalsozialismus sind mir schärfer im Bewusstsein als die Erlebnisse ruhiger Zeiten. Als Siebenjähriger habe ich die Wochen der Machtergreifung erlebt, die ersten Verschleppungen der politischen Feinde des neuen Regimes, Freunde meiner Eltern. Die ersten Opfer des Nationalsozialismus und der wiedereingeführten Folter waren so genannte Arier. Zynischer Sadismus begleitete das Regime von Anfang an. Dachau war mir ein Schreckensbegriff, und ich erinnere mich an die Angst, die der Terror verbreitete, auch an die Hetze gegen Juden, an ihre stets erweiterte Ausgrenzung, wie auch an den Anstand von treu gebliebenen Freunden, an Pastoren der Bekennenden Kirche, die mehrmals im Gefängnis verschwanden – zu einer Zeit, da die meisten Menschen dem Regime und seinen Erfolgen mit Begeisterung folgten. Es war eine Zeit des Aufschwungs und des Scheins von Normalität; Staat und Partei genossen ein Monopol der Kriminalität. Noch sehe ich die glanzvollen Aufmärsche uniformierter Nazis, die mit ihren stolz getragenen Riemen Macht und Bedrohung ausstrahlten. Im Breslauer Gymnasium habe ich Niedertracht und Anstand erfahren, Schmerz und Dankbarkeit empfunden. Ich erinnere mich an die Freunde im Exil, an unser eigenes Bemühen um Auswanderung, wobei mir jetzt erst klar wird, dass das Wort «wandern» ja kaum passend ist. Es war die unbewusste Übertragung der Erfahrung von Millionen Deutschen, die im 19. Jahrhundert freiwillig ihr Land verlassen hatten, um ein besseres Leben in Amerika zu wagen.

Meine Familie ist vier Wochen vor dem November-Pogrom 1938 in Amerika angekommen; für mich ein beglückender Neuanfang. Ich erinnere mich an die Briefe von Freunden und Verwandten, die in Deutschland zurückgeblieben waren, an die ersten Nachrichten von Selbstmord, um der Deportation zu entgehen, an die spätere Nachricht, dass nahe Verwandte nach Theresienstadt deportiert und dann in Auschwitz umgebracht wurden. Der deutsche Viehwagen erweckt noch heute einen Schauer in mir. Aber ich erinnere mich auch, wie sehr meine Eltern an der Heimat gehangen haben, mit welcher Selbstverständlichkeit sie sich bis 1933 als Deutsche empfanden. Nach dem Krieg besuchten sie Westeuropa, aber nicht Deutschland; enttäuschte Liebe ist schwer zu überwinden. Care-Pakete haben sie an deutsche Freunde geschickt; vor kurzem bin ich auf einen Brief eines früheren Kollegen meines Vaters, Mortimer von Falkenhausen, gestoßen, der ihm im Februar 1948 schrieb: «Was ich nie werde verstehen können, ist, dass sich zahllose Deutsche widerspruchslos zu grausamen Verbrechern erniedrigen ließen, die in bestialistischer Weise mordeten und wüteten und das ganz in Ordnung fanden. Das wird am Deutschen wie ein Verbrechermal haften bleiben, und darum werden Sie verstehen, dass ich mich schäme, umso mehr als ich keine Besserung sehe.» Es kam Besserung.

Das sind persönliche Beispiele, Erinnerungen, Fragmente aus alter Zeit. Stimmen und Stimmungen sind eigentlich nur Wegweiser zum Ziel des Verstehens. Um einen Begriff Hegelscher Herkunft zu benutzen: Man muss Erinnerungen aufheben, das heißt, sie behalten und gleichzeitig aufwerten, indem man ihren Kontext, die Komplexität der Umstände klarzustellen versucht. Nur dann nähert man sich dem Verstehen. Jedes Urteil muss berücksichtigen, was die Menschen zu der gegebenen Zeit wussten, nie vergessend, dass sie ihre eigene Zukunft, die wir kennen, bestimmt nicht kannten. Sie lebten in einer anderen Welt, mit anderer Mentalität, anderer politischer Kultur.

Mein Anliegen, die Erinnerungen der Vergangenheit in ein breiteres, meist europäisches Geschichtsverständnis aufzuheben, entspricht der vergangenen Wirklichkeit wie der Notwendigkeit unserer Zukunft. Das Verlangen nach einer vergleichenden europäischen Geschichte ist alt und hat mit dem heutigen Brüssel wenig zu tun, obwohl einer der Ersten ihrer Befürworter der belgische Historiker Henri Pirenne war. Der Nestor der deutschen Geschichtsschreibung, Leopold von Ranke, hat in seinem 85. Lebensjahr angefangen, eine Universalgeschichte zu schreiben. Historiker, so wird behauptet, werden mit Alter und Erfahrung immer besser – vielleicht ein Trost für allzu stockende Entwicklung. Wir sollten früher als Ranke mit den neuen Aufgaben beginnen.

Der Nationalsozialismus lastet auf uns allen. Er vergeht nicht, und in einigen dunklen Ecken sieht man, dass der Reiz der reinen Volksgemeinschaft auch jetzt noch verlockend wirkt. Die Verbrechen sind in allgemeiner Erinnerung; die Frage «Wie war es möglich?» wird nicht verjähren, und jegliches Ausweichen in «Normalität» ist vergeblich. Der entfesselte Sadismus, mit dem das europäische Judentum vernichtet wurde, wird mit Recht als Zivilisationsbruch bezeichnet. Das geschah in der langen Nacht der organisierten Bestialität.

Ich habe oft und überall gesagt, dass jegliche Instrumentalisierung oder Trivialisierung der Vernichtung der Juden, jegliches Vergessen der Millionen anderer Opfer sich an den Opfern selbst vergeht. Man ehrt die Opfer eher mit dem Versuch, die Welt, der sie entrissen wurden und die meist mit ihnen zu Grunde ging, in historischer Forschung zu rekonstruieren und so im kollektiven Gedächtnis aufzuheben – und gerade dieser Aufgabe wird im heutigen Deutschland in bemerkenswerter Weise nachgegangen.

Unvermeidlich aber, dass Auschwitz für alle Zeiten als ein Ort deutscher Unmenschlichkeit, des unvorstellbar Bösen bleiben wird. In der für mich überzeugendsten und bewegendsten Darstellung, in Primo Levis «Ist das ein Mensch?», verfasst als Warnung, dass, was einmal passiert ist, auch in Zukunft passieren könnte, gibt es eine Erinnerung an seinen ersten Tag in Auschwitz, die mir wie ein Mahnmal für alle Zeiten erscheint. Levi schildert den grauenvollen Transport im Viehwagen mit quälendem Durst und fährt fort: «… Durstig wie ich bin, sehe ich vor dem Fenster in Reichweite einen schönen Eiszapfen hängen. Ich öffne das Fenster und mache den Eiszapfen ab, doch gleich kommt ein großer und kräftiger Kerl, der draußen herumging, und reißt ihn mir mit Gewalt aus der Hand. ‹Warum?› frage ich in meinem beschränkten Deutsch. ‹Hier gibt es kein Warum›, gibt er mir zur Antwort und treibt mich mit einem Stoß zurück.»

Dieses «Hier gibt es kein Warum» ist die Verachtung alles Menschlichen, die verbale Vernichtung. Das «Warum» ist die existenzielle Frage, die jeder Mensch an seinen Gott oder an sein Schicksal richtet. Verbietet man die Frage, verweigert man die Antwort – dann bescheinigt man dem Menschen sein Nicht-Sein, seine absolute Rechtlosigkeit. Hiob beschwört seinen Gott mit Fragen: «Warum tust du dich nicht von mir und lassest mich nicht, bis ich nur meinen Speichel schlinge? … Warum machst du mich zum Ziel deiner Anläufe, dass ich mir selbst eine Last bin?»

Für mich ist dieses Verweigern von «Warum» der authentische Ausdruck des Totalitarismus, es enthüllt den tiefsten Sinn des Systems: die Negation der westlichen Zivilisation. Die Menschen werden der absoluten Willkür ausgesetzt. Das «Warum» ist nicht nur existenzielle Urfrage, sondern auch die Grundlage jeglichen Rechtssystems; es erzeugt den Anfang des Denkens, den Anstoß zur Wissenschaft, zum fruchtbaren Argument. Die westliche Welt hat den Kampf gegen intolerante Orthodoxie bestanden, hat sich von der Inquisition befreit, und diese Offenheit und Freiheit, die mit dem uneingeschränkten «Warum» beginnt, hat ihr den Vorsprung im geistigen und politischen Leben ermöglicht. Gerade diesen Fels der Menschlichkeit wollte der Totalitarismus zerstören. War der Nationalsozialismus nicht auch der Gräuel einer mörderischen Orthodoxie, einer bejubelten Inquisition in technologischer Vollkommenheit? Der Bolschewismus hat sich meist mit lügenhaften Antworten auf das «Warum» begnügt.

Die Verweigerung des «Warum» hat eine noch größere, allgemeinere Bedeutung für uns. Wir haben den Totalitarismus überwunden und damit den Feind verloren, der uns sozusagen automatisch unserer Tugend versicherte. Früher konnten wir uns begnügen mit dem Gefühl: Wir sind nicht wie diese. Heute sind andere Maßstäbe gefordert: Nehmen wir die Verpflichtung des «Warum» ernst genug, als Recht der Mündigkeit, als Grundanspruch menschlicher Würde? Das In-Frage-Stellen sollte im familiären Bereich beginnen, mit der Ermutigung der Neugier von Kindern, im beruflichen Leben fortgesetzt werden und im politischen Leben einen Höhepunkt erreichen. Aber gerade hier gibt es in unseren Demokratien ein großes Defizit.

Werden heute politische Entscheidungen gründlich erörtert, wird der Bürger er- oder verzogen? Verlassen sich Politiker auf Meinungsumfragen, statt Meinungsbildung zu fördern? Hier sind auch Parlament, Presse und andere Medien gefordert. Noch vor ein paar Jahren war das englische Wort «accountability» in jedermanns Mund. Heute wird öffentliche Rechtfertigung eher vernachlässigt. Public Relations als Ersatz für Public Reasoning, für öffentliche Auseinandersetzung! Das beschreibt einen bedauerlichen Niedergang. Man kann die Bürger durch gezielte Langweile anöden. Die res publica zur Banalität zu erniedrigen oder als technisches Mysterium zu verdecken führt schließlich zur enttäuschten Ermüdung des Bürgers. Denkt man an die Herausforderungen einer sich globalisierenden Welt, dann erschrickt man ob ungenügender Aufklärung. Verdummung oder vorexerzierte Gleichgültigkeit können leicht zum Vorspiel eines neuen Autoritarismus werden.

Die Erinnerung an die Vergangenheit mag die Errungenschaften der Gegenwart klarer erscheinen lassen. Wir haben von ihr gelernt: Faschistische Diktatur gab den Anstoß zu der Erklärung universaler Menschenrechte – die allerdings für lange Zeit unbeachtet blieb. Erst jetzt und nur in einigen Regionen der Welt scheint man bereit zu sein, sie tatkräftig zu schützen. Die mühselige Integration Westeuropas – die sich hoffentlich sehr bald auf Gesamteuropa erstreckt – war Antwort auf die mörderischen Bürgerkriege, die Europa an den Rand des Abgrunds geführt hatten. Beispiel Deutschland: Die Väter des deutschen Grundgesetzes haben das Scheitern Weimars berücksichtigt. Als die Bundeswehr gegründet wurde, hat man den Bürger in Uniform als Ziel gesetzt und dem Kadavergehorsam ein Ende bereiten wollen.

Aber eine andere Grunderfahrung der früheren Jahre sollte uns nicht verloren gehen. Der große deutsche Physiker Max von Laue, der sich unter dem Nationalsozialismus vorbildlich benahm, schrieb nach dem Krieg: «Wir haben alle gewußt, daß Unrecht geschah, aber wir wollten es nicht sehen, wir betrogen uns selbst und brauchen uns nicht zu wundern, daß wir dafür zahlen müssen.» Dieses «wir wollten es nicht sehen» halte ich für die Furcht erregende Signatur unseres Jahrhunderts: Selbst in diesem Jahrzehnt haben wir den brutalen Zerfall des früheren Jugoslawien zu ignorieren versucht, uns mit Ausreden beruhigt, dass diese Menschen schon immer dem Hass und Morden verfallen sind, dass sie unheilbar anders sind als wir. Das Wegsehen ist nicht nur ein moralisches Versagen, es hat praktische, zerstörerische Folgen. In den ersten Jahren des nächsten Jahrhunderts wird eine völkerrechtliche Basis für die Intervention gegen staatliche Verletzung von Menschenrechten zu schaffen sein. Die Vergangenheit hat uns in mancher Hinsicht gelehrt, wie man es nicht machen soll; wie man es machen soll, bleibt die Aufgabe der Zukunft.

Wir können ahnen, mit welchen Herausforderungen Europa in den nächsten Jahren konfrontiert werden wird; das neue Deutschland als das mächtigste Land in Europa wird besonders gefordert sein. Die Zeit, da man civisme