Cover

Thomas Junker

DIE VERBORGENE
NATUR DER LIEBE

Sex und Leidenschaft
und
wie wir die Richtigen finden

C.H.Beck

ZUM BUCH

Ein Biologe entschlüsselt die DNA der Liebe

Warum küssen wir? Macht Reichtum sexy? Was wollen Frauen, was wollen Männer? Warum ist das Leben in einer Zweierbeziehung so erstrebenswert und das Fremdgehen manchmal so unwiderstehlich? Sind Dauer-Singles beziehungsunfähig? Lässt sich Liebe lernen? Die moderne Biologie findet überraschende Antworten auf die Fragen des menschlichen Liebeslebens. Sie bewahrt uns vor falschen Ideen und zeigt, welche Formen der Liebe unseren tiefen Wünschen entsprechen und welche nicht.

ÜBER DEN AUTOR

Thomas Junker ist Professor für Biologiegeschichte an der Universität Tübingen. Bei C.H.Beck sind von ihm lieferbar: Geschichte der Biologie. Die Wissenschaft vom Leben (2004); Die Evolution des Menschen (22009); Der Darwin-Code. Die Evolution erklärt unser Leben (zus. mit Sabine Paul; 32010); Die 101 wichtigsten Fragen: Evolution (2011).

INHALT

WARNHINWEIS

WARUM WIR SEX HABEN

KAPITEL 1: LUST OHNE LAST

Wie oft hatten unsere Vorfahren Sex?

Die sexuelle Revolution – ein animalisches Erbe

Eine weibliche Erfindung

Fazit

KAPITEL 2: AUF DER SUCHE NACH DEM BESONDEREN ERLEBNIS

Haben Tiere einen Orgasmus?

Durch Lust zur Schwangerschaft?

Multiple Orgasmen

Extreme Gefühle

Warum so laut?

Fazit

KAPITEL 3: DER ULTIMATIVE PARTNERTEST

Worüber man nicht spricht

Warum wir wählen können

Mit allen Sinnen

Die verborgene weibliche Wahl

Wenn der Höhepunkt ausbleibt

Die Erektion oder Warum so lang?

Fazit

KAPITEL 4: SEX ALS BEZIEHUNGSKITT

Wird Sex überschätzt?

Wie aus Lust Nähe wird

Liebesorgien

Warum die freie Liebe nicht frei ist

Fazit

KAPITEL 5: DER KINDERWUNSCH

Warum gibt es Männer?

Sex nach Plan

Warum es auch ohne geht

Fazit

KAPITEL 6: DIE ZUKUNFT DES SEX

Sexuelles Doping

Cybersex

Pornographie und Selbstbefriedigung

Stellungskriege

Das unbegrenzte Reich der Möglichkeiten

Fazit

WAS WIR LIEBEN

KAPITEL 7: ZURÜCK ZUR NATUR

Wer mit wem wann Sex hat

KAPITEL 8: DAS URSPRÜNGLICHE ERFOLGSREZEPT: EIN LEBEN ALS SINGLE

Strangers in the night: das Orang-Utan-Modell

Die Doppelstrategie der Männer

Alleinerziehende Mütter

Eine seltene Chance

Warum Frauen unverbindlichen Sex wollen

Von Brüdern und Samenbanken

Fazit

KAPITEL 9: EINE MÄNNLICHE IDEE: DIE ZWEIERBEZIEHUNG

Bis dass der Tod euch scheidet …

Am Anfang war die Eifersucht: das Gibbon-Modell

Vom Bewacher zum Versorger

Warum sind Frauen eifersüchtig?

Seit wann leben die Menschen in Zweierbeziehungen?

Ein seltsamer Widerspruch

Fazit

KAPITEL 10: EINE FRAGE DER GELEGENHEITEN: DER HAREM

Vom evolutionären Hauptgewinn ins Burn-out

Kein Sexparadies: das Gorilla-Modell

Warum Männer größer sind

Wie viele Frauen hatte ein Mann?

Ein unnatürliches Zwangssystem

Wenn einer nicht genug ist

Fazit

KAPITEL 11: DAS IDEAL DER FREIEN LIEBE: DIE KOMMUNE

Die Abschaffung von Ehe und Familie

Sex als Wettkampf: das Bonobo-Modell

Kollektive Ausschweifungen

Warum die Hodengröße wichtig ist

Die Überwindung der Eifersucht

Elterliche Fürsorge: ein Auslaufmodell?

Teilbare Vaterschaft

Eine alltagstaugliche Lebensform?

Fazit

KAPITEL 12: EINE SCHWIERIGE GRATWANDERUNG: PATCHWORK-GEMEINSCHAFTEN

Familien und Horden: das Pavian-Modell

Der evolutionäre Ursprung

Warum so kompliziert?

Sex als evolutionäres Zuckerbrot

Warum ist Sex privat?

Verliebte Paare

Fazit

KAPITEL 13: STRATEGIEN DER LIEBE

Warum es Vielfalt geben muss

Gehören Liebe und Sex zusammen?

Geschlecht, Alter und Status

Fazit

WIE MAN DIE RICHTIGEN FINDET

KAPITEL 14: DER EIGENSINN DES KÖRPERS

Subtile Signale

Ein Kampf der Geschlechter?

KAPITEL 15: MIT ZÄHNEN UND KLAUEN

Der Krieg der Spermien

Kein Vorrecht der Männer

Fazit

KAPITEL 16: JUGEND UND ERFAHRUNG

Vom Reiz des Unberührten

Warum Erfahrung sexy ist

Fazit

KAPITEL 17: SCHÖNHEIT

Das Auge des Betrachters und die Grenzen der Perfektion

Warum wir küssen

Haut und Haare

Fazit

KAPITEL 18: CHARAKTER UND TALENTE

Das Problem der Überprüfbarkeit

Warum Reichtum sexy macht

Fazit

KAPITEL 19: GELD UND GEWALT

Sex als Geschenk und als Ware

Seit wann gibt es Prostitution?

Und bist du nicht willig …

Fazit

KAPITEL 20: WER IN FRAGE KOMMT

Zu alt und zu jung

Ähnlich oder anders?

Das Inzestverbot

Sex mit Tieren

Das Rätsel Homosexualität

Sind alle Menschen bisexuell?

Fazit

KAPITEL 21: DIE MACHT DER LIEBE

Das Weiße im Auge

Penis und Busen

Partnersuche auf Augenhöhe

Was wollen Frauen, was wollen Männer?

Die Eltern, der Staat und die Pille

Warum sich über die Liebe nicht streiten lässt

ANHANG

ANMERKUNGEN

Warnhinweis

Warum wir Sex haben

Was wir lieben

Wie man die Richtigen findet

LITERATUR

WARNHINWEIS

Es ist riskant zu lieben. Wie riskant, davon berichten die Dichter, wenn sie die Liebespaare in ihren Geschichten sterben lassen. Schließen sich Glück und Liebe aus? Nicht unbedingt. Gerade weil die Gefahren so groß sind, muss auch der Lustgewinn besonders verlockend sein. Nicht umsonst spricht man von den Wonnen der Liebe und vom Orgasmus als dem höchsten der Gefühle.

Wer wenig riskiert, der wird meist nur wenig gewinnen. Wer viel riskiert, der kann viel erreichen, aber auch scheitern. Zu leben, ohne es zumindest versucht zu haben – das werden wohl nur die wenigsten Menschen wollen. Denn die romantische Liebe liegt in unserer Natur. Sie gibt dem Leben Sinn und verspricht einzigartige Momente der Lust. Sie kann aber auch in tiefe Verzweiflung führen und zur Quelle des Leidens werden – denn «nichts auf dieser Welt» ist «schwieriger als die Liebe», wie der Schriftsteller Gabriel García Márquez gesagt hat.[1]

Welche Rolle kann die Biologie, das Wissen über die Natur des Menschen, bei der Suche nach Liebesglück und sexueller Lust spielen? Es wäre unrealistisch, einfache Rezepte für alle Lebenslagen zu erwarten, die zehn besten biologischen Sex- und Liebestipps sozusagen. Dazu sind die persönlichen Wünsche zu unterschiedlich und die Chancen zu ungleich verteilt. Die Wissenschaft predigt auch keine neue Moral, die dem, was wir aus der Familie, den Medien, den Religionen und der Philosophie kennen, einen weiteren Katalog mit Vorschriften und Ermahnungen hinzufügt.

Sie kann aber etwas anderes leisten: Sie kann falsche Ideen über das menschliche Liebesleben richtigstellen. Sie kann die Weltfremdheit der traditionellen Sexualmoral ebenso wie die Lebensfeindlichkeit gerade angesagter gesellschaftspolitischer Utopien aufdecken. Und sie kann Empfehlungen geben, welche Formen der Liebe in welchen Situationen erfolgversprechend sind und welche eher nicht.

Der Blick in die Welt der Tiere zeigt eine bunte Vielfalt an sexuellen Optionen und Beziehungsformen. Wenn ich einige davon näher schildere und auf Parallelen zum Verhalten der Menschen aufmerksam mache, dann heißt das nicht, dass alle Varianten gut oder vorteilhaft sind. Und es bedeutet noch viel weniger, dass sie mir persönlich gefallen oder dass sie den Leserinnen und Lesern gefallen sollen. Es bedeutet zunächst nur, dass unser Liebesleben Formen annehmen kann, die so ähnlich auch bei anderen Tieren zu beobachten sind. Diese Übereinstimmungen können entstehen, weil ursprüngliche Instinkte in uns geweckt werden oder weil ähnliche Umwelten ähnliche Reaktionen hervorrufen.

Im Folgenden werde ich unterschiedliche Strategien der Liebe in ihren Vor- und Nachteilen betrachten, ohne sie zu bewerten. Ich werde mich sogar bemühen, auch negativ einzuschätzende Verhaltensweisen erst einmal stark zu machen. Warum? Weil ich der Überzeugung bin, dass man nur zu einem begründeten Urteil kommen kann, wenn man eine Sache von möglichst vielen Seiten betrachtet, ohne sie von vorneherein unter politischen, moralischen oder ästhetischen Bedenken zu begraben.

Es ist ja nicht nur aufschlussreich zu erfahren, was uns gefällt. Ebenso viel können wir aus Dingen lernen, die wir seltsam oder angsterregend finden. Die Biologie ist kein kitschiges Idyll, aber sie ist auch kein Horrorfilm. Sie hat etwas von beidem. Vor allem aber bietet sie einen unermesslichen Schatz an kulturell unberührter Lebenswirklichkeit. Davon können wir in unserem von der Natur oft so entfremdeten Leben kaum genug bekommen.

Die Biologie zeigt, dass das, was wir Liebe nennen, nichts Selbstverständliches ist, sondern dass alles auch ganz anders sein könnte. Und sie gibt einen Eindruck davon, wie sehr wir im Grunde unseres Herzens Naturwesen geblieben sind, denen der kulturelle Zuckerguss von Moral und Erziehung nur wenig anhaben konnte.

Die in den Genen gespeicherten evolutionären Erfahrungen verraten uns, welches Verhalten erfolgversprechend ist und welches nicht. Dieses Wissen entstand indirekt, weil diejenigen unserer Vorfahren, die sich mehr oder weniger zufällig richtig verhielten, mehr Nachwuchs hatten als diejenigen, die die falschen Entscheidungen trafen. Deshalb werden praktische Ratschläge, die auf persönlicher Erfahrung oder auf Intuition beruhen, oft ins Schwarze treffen.

Wenn die Umwelt sehr komplex ist oder wenn sie sich schnell ändert – beides ist im modernen Leben der Fall –, dann können die bewährten Strategien an Grenzen stoßen. Wenn der Instinkt für die Liebe zudem durch Erziehung und lebensfremde Ideale verformt und verschüttet wurde, dann weiß man eben nicht mehr automatisch, was richtig und was falsch ist. Dann kann es nicht schaden zu verstehen, warum wir so fühlen, wie wir fühlen. Warum beispielsweise das Leben in einer Zweierbeziehung so erstrebenswert ist, und warum gleichzeitig das Fremdgehen, angefangen mit einem harmlosen Flirt, so unwiderstehlich sein kann.

Im ersten Abschnitt des Buches werde ich schildern, warum wir Sex haben. Und zwar sehr viel häufiger und sehr viel spielerischer, als es zur Fortpflanzung nötig ist. Im zweiten Abschnitt geht es um die Vielfalt der Beziehungsformen. Entspricht das Singleleben, die Zweierbeziehung, der Harem oder die Kommune der menschlichen Natur? Im dritten Abschnitt steht die Suche nach dem richtigen Partner oder der Partnerin im Vordergrund. Im Leben jedes Einzelnen kommt diese Suche vor dem Sex und vor der Liebe. Hier aber steht sie am Schluss, da man erst sagen kann, wer zu uns passt, wenn man weiß, welchen Sex wir haben und welche Beziehungen wir führen wollen.

Wie sicher kann man sein, dass die biologischen Antworten auf die Rätsel des menschlichen Liebeslebens richtig sind? Es kommt darauf an. Manche Fragen lassen sich relativ eindeutig beantworten, bei anderen bleibt ein Rest von Zweifel, bei wieder anderen versteht man nur einen Teilaspekt und bei manchen tappt die Wissenschaft noch weitgehend im Dunklen. Ich werde zu den einzelnen Themen nicht nur gesichertes Wissen vorstellen, sondern auch umstrittene Hypothesen und Spekulationen. Bewährte Erkenntnisse sind das Fundament, ohne das es nicht geht. Aber die offenen Fragen und Kontroversen sind oft besonders interessant. In ihnen wird die Wissenschaft lebendig und blüht auf.

Ob eine Erklärung als überzeugend empfunden wird, hängt nicht nur von ihrer Anerkennung durch die Wissenschaft ab. Ebenso wichtig sind persönliche Erfahrungen. Gerade bei Themen wie Sexualität und Liebe, bei denen jeder in gewisser Weise Experte ist, wird es unterschiedliche Sichtweisen geben, die alle ihre Berechtigung haben können.

Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang künstlerische Darstellungen, wie man sie aus der Literatur, dem Film oder dem Theater kennt. Denn sie erzählen nicht nur von individuellen Wünschen und Erlebnissen, sondern müssen ein größeres Publikum überzeugen. Das aber kann nur gelingen, wenn sie Fragen von allgemeiner Bedeutung auf eine Art und Weise behandeln, die es den Leserinnen und Zuschauern erlaubt, sich einzufühlen.

Wenn ich also im Folgenden aus Romanen und Filmen zitiere, dann soll das die biologischen Theorien illustrieren und ihnen zusätzliche Plausibilität verleihen. Damit ist nicht gesagt, dass jede fantasievolle Übertreibung und jede künstlerische Zuspitzung die Lebenswirklichkeit unmittelbar widerspiegelt. Selbstverständlich nicht. Aber sie müssen einen Kern Wahrheit enthalten, sonst würden sie uns nicht berühren. Wenn also beispielsweise sexuelle Untreue und Eifersucht sowohl im Tierreich als auch in Romanen und Filmen intensive Emotionen auslösen, dann bestätigt das die Vermutung, dass es sich um Reaktionen handelt, die aus der menschlichen Natur entstehen und nicht nur künstlich anerzogen sind.

Wenn unsere Sehnsüchte ihre Kraft und Richtung einem in uns angelegten genetischen Programm verdanken, das sich über viele Millionen Jahre bewährt hat, dann ist zu erwarten, dass sie über alle Zeitströmungen und Moden hinweg vergleichsweise stabil geblieben sind. Und tatsächlich gibt es, von Ausnahmen abgesehen, kein Volk, das nicht in Geschichten und Liedern von der romantischen Liebe, ihren Glücksmomenten, ihrer unbedingten Macht und ihren Gefahren erzählt.

Sexuelles Begehren und Liebe gehören zu den stärksten biologischen Instinkten und sie geben den Liebenden eine beeindruckende Stärke und Unabhängigkeit. Vertraute Gewohnheiten und weltanschauliche Überzeugungen, Familienehre und berufliche Karriere, Moral, Gewissen und Freundschaften können dann zweitrangig werden. Und nicht zuletzt nehmen Sex und Liebe wenig Rücksicht auf die Liebenden selbst.

Das Liebesleben der Menschen ist nicht annähernd so vielfältig wie das der Tiere. Nichtsdestoweniger ist es für einen Einzelnen kaum möglich, alle Varianten aus eigener Erfahrung zu kennen. Wissenschaft und Kunst können weitere Aspekte beisteuern, aber sie haben ihre jeweils eigenen Grenzen.

Mein besonderer Dank gilt von daher all jenen, die mich an ihren persönlichen Erfahrungen teilhaben ließen. Deren Anregungen und Kommentare halfen, meine Argumente zu überdenken und meine Einschätzungen zu korrigieren. In diesem Sinne sei herzlich gedankt: Carola Schlüter und Hans Zitko, Ulla Hebel-Zipper und Thomas Pechar, Annegret Weeke, Hans Kantereit, Andrea und Eckhard Wolscht, Katharina Queck, Lucie Beppler, Silke Kellermann, Rolf Lauer, Maria Angeles Adillo, Nina Griesbach, Christoph Bartscherer, Eva Sumera, Andrea Alaoui, Ulrike Volles, Jennifer Hein, Walter Mann und ganz besonders Sabine Paul, ohne deren Unterstützung und Inspiration das Buch nicht zu dem geworden wäre, was es ist. Stefan Bollmann und Angelika von der Lahr vom Verlag C.H. Beck möchte ich für das engagierte Lektorat und die gute Zusammenarbeit danken.

WARUM WIR SEX HABEN

KAPITEL 1

LUST OHNE LAST

Wie oft schlafen Menschen miteinander, bevor sie ein Kind bekommen? Manchmal geht es sehr schnell, oft dauert es aber auch lang, klappt gar nicht oder ist nicht gewollt. Im Durchschnitt heißt das: Jedem einzelnen Kind stehen sage und schreibe tausendmal Sex gegenüber. Oder umgekehrt: In 999 von 1000 Fällen führt Sex nicht zur erfolgreichen Zeugung eines Kindes. Woher weiß man das?

Umfragen zufolge schlafen Frauen und Männer, die in Partnerschaften leben, zwischen ein- und dreimal pro Woche miteinander. Für die beiden fruchtbarsten Jahrzehnte – von Anfang zwanzig bis Ende dreißig – addiert sich das im Mittel auf die beachtliche Zahl von 2000. Da dem statistisch gesehen etwa zwei Kinder pro Frau gegenüberstehen, ergibt sich eine durchschnittliche Trefferquote von 1:1000. Dieser Wert dürfte einigermaßen realistisch sein.[1]

Wie kann es sein, dass das scheinbar Normalste auf der Welt, die Fortpflanzung, zu einer Geschichte von tausendundeiner Nacht wurde? Ist dieses extreme Missverhältnis eine Folge der modernen Lebensweise und letztlich unnatürlich? In diesem Zusammenhang wird man zunächst an Verhütungsmittel denken, die die Fruchtbarkeit gezielt herabsetzen. Es könnte sich auch um ein medizinisches Problem handeln, das beispielsweise durch Umweltgifte hervorgerufen wird. Aus biologischer Sicht ließe sich noch anmerken, dass ein so ineffizientes System, bei dem fortwährend kostbare Lebenszeit und Energie verschwendet werden, in einer natürlichen Umwelt längst zum Aussterben der Menschheit hätte führen müssen.

Diese und ähnliche Argumente klingen plausibel, aber sie beruhen auf der noch unbewiesenen Annahme, dass die enge Verbindung von Sex und Fortpflanzung erst vor vergleichsweise kurzer Zeit, vor wenigen Jahrzehnten, gekappt wurde. Aber ist das überhaupt richtig? Stehen wir hier vor einer neuen Entwicklung? Wurde unser Liebesleben tatsächlich durch die Erfindung der Antibabypille und die Lockerung der Sexualmoral revolutioniert? Ganz falsch ist diese Vermutung sicher nicht. Sie ist aber nur ein – eher kleiner – Teil der Wahrheit. Das zeigt ein Blick in die Frühzeit der Menschheit und auf unsere nächsten Verwandten im Tierreich.

Wie oft hatten unsere Vorfahren Sex?

Ich meine nicht unsere Großeltern und Urgroßeltern, sondern unsere frühen Vorfahren, die vor mehr als zehntausend Jahren als Jäger und Sammler umherstreiften. Dazu gibt es leider keine direkten Informationen. Nach allem, was wir wissen, waren sie aber nicht prüde.

So findet man aus der Altsteinzeit dreieckige oder kreisförmige, mit einem Einschnitt versehene Zeichen, die Vulven, das heißt weibliche Genitalien, darstellen. Weitere Beispiele sind die Venusfiguren mit ausladenden Brüsten und Hinterteilen. Auf der Schwäbischen Alb wurde erst kürzlich ein rund 28.000 Jahre alter, knapp zwanzig Zentimeter langer Steinphallus entdeckt, über dessen Funktion gerätselt wird. Der Größe und Form nach könnte es sich durchaus um ein Sexspielzeug, einen Dildo, gehandelt haben.[2]

Wir können also ziemlich sicher davon ausgehen, dass die Sexualität im Leben unserer Vorfahren eine wichtige Rolle gespielt hat, aber es gibt nur indirekte Hinweise darauf, wie sie ausgelebt wurde. Diese Lücke lässt sich durch Berichte über das Sexualleben heutiger Jäger und Sammler schließen. Noch gibt es einige wenige Völker, bei denen weder die Lebensweise noch die technischen Errungenschaften der Moderne Einzug gehalten haben. Die weder Ackerbau noch Viehzucht, weder das Internet noch chemische Verhütungsmittel kennen. Und deren soziales Leben, Familienstruktur und sexuelles Verhalten aller Wahrscheinlichkeit nach dem unserer Vorfahren ähnelt.

Die im südlichen Afrika lebenden !Kung gehören zu den am besten untersuchten Jäger-und-Sammler-Völkern. Wie die Ethnologin Marjorie Shostak berichtet, sehen sie «in Sex so etwas wie Nahrung. Ein Mensch kann ohne Essen nicht überleben, und der Hunger nach Sex kann dazu führen, dass jemand stirbt.» Man schätzt, dass die !Kung zwischen einmal täglich und einmal pro Woche Sex haben. Da sie auch in der Schwangerschaft und Stillzeit miteinander schlafen, kommt es pro Geburt einige hundertmal zum Geschlechtsverkehr.[3] Diese Zahlen sind etwas niedriger als in den Industrienationen der Gegenwart, was auch daran liegt, dass die Geburtenrate und die Kindersterblichkeit höher sind. Die Zahlen bewegen sich aber in einer ähnlichen Größenordnung und sie weisen ein fast ebenso gravierendes Missverhältnis auf.

Wenn die !Kung und andere Jäger-und-Sammler-Völker einen einigermaßen realistischen Eindruck vom Liebesleben unserer Vorfahren vermitteln, dann ist die Trennung von Sex und Fortpflanzung keine neue Entwicklung, sondern in der Natur des Menschen angelegt. Dann haben Verhütungsmittel und eine lockerere Sexualmoral zu einem moderaten Anstieg geführt, aber sie haben die menschliche Sexualität nicht revolutioniert. Dann war es nicht die Antibabypille, die «neue Formen der Liebe» entstehen ließ und «die Frau zur [Sex-]Bombe» machte, wie die Zeitschrift Konkret in ihrer Titelstory aus dem Jahr 1969 behauptete.[4] Was aber war es dann?

Die sexuelle Revolution – ein animalisches Erbe

Ist die Trennung von Sex und Fortpflanzung wenigstens etwas typisch Menschliches, eine Besonderheit, die uns von anderen Tieren unterscheidet? Auch hier ist die Antwort Nein. Bei Schimpansen werden einige hundert Kopulationen pro Geburt gezählt, bei Bonobos mit bis über tausend sogar noch wesentlich mehr. Ähnlich sieht es bei einigen Pavianarten aus (Anhang, Tabelle 1).

Häufigen Sex gibt es aber nicht bei allen Affen- und Menschenaffenarten. Gibbons, Orang-Utans und Gorillas beispielsweise begnügen sich mit wenigen Paarungen. Allgemein können im Tierreich zwei oder drei Kopulationen zur Befruchtung ausreichen. Alles, was darüber hinausgeht, ist von dieser Warte aus überflüssig, mit Gefahren und Anstrengungen verbunden und erfordert eine andere Erklärung.[5]

An dieser Stelle sei zunächst festgehalten, dass «Lust ohne Last», die Parole der 1960er Jahre, die Sex ohne Kinderwunsch propagierte, weder eine Laune unserer Zeit noch eine Besonderheit des Menschen ist. Auch einige Tierarten haben unter natürlichen Lebensbedingungen sehr viel häufiger Sex, als zur Fortpflanzung nötig wäre. Wenn es sich aber weder um eine Verhaltensstörung noch um eine Folge der modernen Lebensweise handelt, dann könnte man vermuten, dass häufiger Sex doch einen biologischen Nutzen hat. Aber welchen? Und vor allem – für wen?

Eine weibliche Erfindung

Betrachtet man die Zahlen zur Paarungshäufigkeit bei den verschiedenen Tierarten genauer, dann stellt man fest, dass die Zunahme zum einen auf eine erhöhte Häufigkeit pro Tag zurückgehen kann. Bei Schimpansen beispielsweise kopulieren die Weibchen an einem Tag zwanzigmal und öfter mit zehn und mehr Männchen.

Zum anderen kann es zu einer Verlängerung des Zeitraums kommen, in dem die Frauen bzw. Weibchen sexuell aktiv sind. Während das bei den Gorillas nur an zwei Tagen pro Zyklus der Fall ist, sind es bei den Schimpansen zehn, bei den Bonobos zwanzig Tage. Frauen schließlich sind während des gesamten Zyklus sexuell aktiv. Bei Menschen und Bonobos kommt noch hinzu, dass die sexuellen Aktivitäten während der Schwangerschaft und Stillzeit weitergeführt werden (Anhang, Tabelle 1).

Das Sexualverhalten der Männer bzw. Männchen hängt in dieser Hinsicht ganz wesentlich vom Verhalten der Frauen bzw. Weibchen ab. Das heißt, die Männchen paaren sich im Allgemeinen immer, wenn die Weibchen es zulassen. Verlängern diese die zeitliche Dauer und die Intensität der Signale, dann kommt es zu entsprechend mehr Kopulationen. Die Vermutung, dass es den häufigen nichtreproduktiven Sex vor allem deshalb gibt, weil er den Weibchen nützt, wird auch durch die Beobachtung bestätigt, dass sie die wiederholten Kopulationen nicht nur tolerieren. Bei den meisten sich häufig paarenden Arten geht die Initiative sogar überwiegend von den Weibchen aus.[6]

Und beim Menschen? Wie die !Kung-Frau Nisa erzählt, hat eine Frau «immer sexuelles Verlangen. Und selbst wenn sie keinen bestimmten Mann will, spürt sie doch das Verlangen. […] Das Verlangen kommt direkt aus dem Herzen einer Frau.»[7] Einen Unterschied allerdings gibt es: Während die weiblichen Schimpansen und Bonobos ihre Bereitschaft durch auffällige Farben und Schwellungen der Genitalien weithin signalisieren, sind die zyklusabhängigen Fruchtbarkeitsignale bei Frauen fast völlig verschwunden.

Der Effekt ist aber in beiden Fällen gleich: Die fruchtbaren Tage sind schwer erkennbar. Das gilt ebenso für die sich daraus ergebende Notwendigkeit, über einen längeren Zeitraum hinweg Sex haben zu müssen. Als Mann weiß man in der Regel nicht, ob die Frau, mit der man schläft, gerade schwanger werden kann oder nicht. Und die Frau selbst weiß es oft auch nicht.

Dazu passt, dass die Menschen die einzige Primatenart sind, bei der es zu einer Dauerschwellung der weiblichen Brust kommt. So prosaisch lässt sich der Busen in der Sprache der Wissenschaft beschreiben. Das Besondere ist nun, dass die weiblichen Brüste ihre charakteristische Form in der Pubertät erhalten, das heißt mit der sexuellen Reife, und nicht während des Stillens. Auch deshalb werden sie – kaum überraschend – als permanentes sexuelles Signal aufgefasst.

Da Frauen auf diese und andere Weise kontinuierlich mehr oder weniger subtile Signale der Fruchtbarkeit aussenden, können sie während des gesamten Zyklus, zu allen Jahreszeiten, während Schwangerschaft und Stillzeit und im Alter sexuell aktiv sein und sind es oft auch. Damit soll nicht gesagt werden, dass Frauen ständig sexuell bereit sind. Selbstverständlich nicht. Sie sind es ebenso wenig wie die Männer.

Aber da ihr sexuelles Begehren weder direkt von Hormonen gesteuert wird noch zeitlich eng begrenzt ist, können sie ihr Verhalten davon abhängig machen, ob die Situation und der Partner geeignet sind. Damit aber gewinnen sie einen entscheidenden Zuwachs an Handlungsfreiheit.[8]

Fazit

Die genannten Zahlen zur Häufigkeit, mit der Menschen und andere Tiere Sex haben, sind grobe Schätzungen, es gibt große individuelle Unterschiede, und eine rein quantitative Betrachtungsweise sagt wenig über die Qualität des sexuellen Erlebens und über die mit ihm verbundenen Gefühle aus. Nichtsdestoweniger kann man zwei Ergebnisse festhalten:

Der Wunsch, Sex zu haben, ohne dass es zur Schwangerschaft kommt, ist keine menschliche Erfindung, kein Ausdruck von Verantwortungslosigkeit und Sittenverfall, sondern Teil unseres evolutionären Erbes. Und er ist eine weibliche Erfindung: Das Missverhältnis zwischen der Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs und der Seltenheit der daraus resultierenden Schwangerschaften entsteht, weil die Weibchen bzw. Frauen auch in Zeiten, in denen sie nicht fruchtbar sind, sexuelles Interesse signalisieren.

Die Lockerung der Verbindung zwischen Sexualität und Fortpflanzung jedenfalls hatte weitreichende Folgen für unser emotionales Wohlergehen und Lebensglück, für die Partnerwahl, für die Art unserer Beziehungen, für das Familienleben und nicht zuletzt für das soziale Zusammenleben.