Rudolf Simek
2. Auflage
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,
Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in
und Verarbeitung durch elektronische Systeme.
Der Konrad Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG.
2., bibliographisch aktualisierte und überarbeitete Auflage 2014
© 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch
die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.
Satz: Janß GmbH
Einbandabbildung: Runenstein, Århus 3, Dänemark © Rudolf Simek
Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-8062-2938-7
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-8062-2954-7
eBook (epub): 978-3-8062-2955-4
Abkürzungsverzeichnis
Vorwort
I. Der lebende Mythos der germanischen Vorfahren: Drei Fallbeispiele
1. Dreitausend Jahre lang verehrt und keiner kennt sie. Die vergessenen Göttinnen des Rheinlandes
2. Odin sei bei uns! Junge Heiden und ihre alten Götter
3. Wagner oder: Warum wanken Walküren nicht?
II. Vorspiel: Die Megalithkultur in West- und Nordeuropa und die skandinavische Bronzezeit
1. Das Geheimnis der Megalithen
a) Dolmen, Ganggräber und Hünengräber
b) Steinkreise, Alleen und Menhire
2. Bronzezeitliche Felszeichnungen als religiöse Urkunden
III. Das Opfer
1. Das öffentliche Opfer
a) Der öffentliche Opferkult der Eisenzeit
Kriegsbeuteopfer
Öffentliche Opferfeiern
Wagenopfer
Menschenopfer
Weitere Formen kollektiven Opfers
b) Die goldene Zeit Dänemarks: Goldopfer der Völkerwanderungszeit
Die Männerdarstellungen
Die Darstellung von Paaren
Tänzergruppe
Die Frauendarstellungen
c) Die Opfertätigkeit der Wikingerzeit
d) Heilige Haine, Festhallen, Altäre
2. Das private Opfer
IV. Die Götterwelt des heidnischen Polytheismus
1. Idole, anthropomorphe Kultpfähle und Götterbilder
2. Göttertriaden und Götter des germanischen Altertums
3. Die Vielzahl der weiblichen Gottheiten (Matronen, Disen, Nornen, Walküren)
4. Das wikingerzeitliche nordische Pantheon
a) Die Götter
b) Die Göttinnen
5. Die persönliche Bindung an Götter
V. Die niedere Mythologie
VI. Vorchristliche germanische Kosmogonie, Kosmologie und Eschatologie
1. Kosmogonie
2. Kosmologie
3. Eschatologie
4. Die Rolle des unpersönlichen Schicksals
5. Jenseits der Mythologie: die Heiligkeit des Landes
VII. Tod und Jenseits: Die Fragen nach den letzten Dingen
1. Begräbnis und Grabbrauch
2. Jenseitsvorstellungen der heidnischen Spätzeit
a) Seelenglauben
b) Totenreiche
VIII. Magie und Zauber
1. Weiße Magie
2. Schwarze Magie
3. Zaubersprüche
4. Runenzauber
5. Seherinnen und Weissagungen
IX. Síðaskipti: Der Glaubenswechsel und seine Phasen
1. Die Christianisierung der germanischen Stämme auf dem europäischen Festland
2. Die Bekehrung Britanniens
3. Die Bekehrung Skandinaviens
4. Die Phasen der Bekehrungsgeschichte
5. Síðaskipti: Sitten und Gebräuche
6. Inhaltliche Elemente der Bekehrung vom Heidentum zum Christentum
7. Einflüsse der Germanenmission auf das Christentum
X. Nachspiel: Das germanische Heidentum in der christlichen Zeit: antiquarisch-historische und dichterische Beschäftigung im Mittelalter
Anmerkungen
Quellen
Literatur
Megalithkultur und Bronzezeit
Germanische Religion und Mythologie
Register
Abbildungsverzeichnis
adän. |
altdänisch |
afries. |
altfriesisch |
ags. |
angelsächsisch |
ahd. |
althochdeutsch |
air. |
altirisch |
altengl. |
altenglisch |
altnord. |
altnordisch |
altsächs. |
altsächsisch |
dän. |
dänisch |
dt. |
deutsch |
engl. |
englisch |
f. |
und eine folgende Seite |
fem. |
feminin |
ff. |
und folgende Seiten |
franz. |
französisch |
fries. |
friesisch |
germ. |
germanisch |
got. |
gotisch |
griech. |
griechisch |
hl. |
heilige/-r |
holl. |
holländisch |
Hs. |
Handschrift |
idg. |
indogermanisch |
isl. |
isländisch |
Jh. |
Jahrhundert |
Kap. |
Kapitel |
lat. |
lateinisch |
lett. |
lettisch |
lit. |
litauisch |
mask. |
maskulin |
mhd. |
mittelhochdeutsch |
mnd. |
mittelniederdeutsch |
mnl. |
mittelniederländisch |
nhd. |
neuhochdeutsch |
nl. |
niederländisch |
norweg. |
norwegisch |
pl. |
Plural |
röm. |
römisch |
run. |
runisch |
schwed. |
schwedisch |
S. |
Seite |
sg. |
Singular |
Str. |
Strophe |
∗ |
erschlossene Form |
> |
geworden zu |
< |
entstanden aus |
Zahlen hinter Werktiteln beziehen sich, soweit nicht anders angegeben, auf Kapitel bzw. Strophen.
Seit der 1. Auflage 2003 hat sich nicht nur das öffentliche und wissenschaftliche Interesse an der germanischen Religion und Mythologie weiter intensiviert, wie etliche filmische Dokumentationen und populäre Publikationen belegen, sondern es wurde auch eine ganze Reihe von aufschlussreichen Neufunden und Interpretationen durch wissenschaftliche Veröffentlichungen bekannt. Diesem wachsenden Interesse an einem Gebiet, das nach dem Ende der Nazi-Diktatur mehrere Jahrzehnte nicht ganz unverständlicherweise tabuisiert worden war, rechtfertigt es, die kritische Bestandsaufnahme unseres Wissens – und Unwissens! – um die vorchristliche germanische Religion erneut aufzulegen. Dafür war es aber notwendig, den vorliegenden Band an vielen Stellen zu ergänzen und zu überarbeiten, auch das Literaturverzeichnis musste um zahlreiche Titel erweitert werden.
Bonn, im Januar 2014 |
R. Simek |
Gleichgültig, zu welcher Jahreszeit man sich in die nördlichen Ausläufer der Eifel aufmacht, des vulkanischen Hügellandes westlich des Rheins zwischen Koblenz und Bonn gelegen, kann man auch noch heute auf eine stille, fast heimliche Verehrung von Muttergottheiten stoßen. Die Verehrung, um die es hier geht, manifestiert sich im Anzünden von Kerzen, dem Niederlegen von Blumen und vielerlei kleinen Gaben an den Altären, die archäologisch korrekt ausgegraben und konservatorisch auf einen beschränkten Besucherkreis eingerichtet frei in der Landschaft auf Hügelkuppen nahe den Ortschaften Pesch und Nettersheim zu finden sind. Neben Kerzen, Blumen und Münzen, im Herbst auch oft Früchten, finden sich vereinzelt persönliche Gaben, ein billiges Armband etwa oder die Halskette eines Kindes, als Votivgaben auf den Altären der Göttinnen, deren Gedenksteine seit rund 1700 bis 1800 Jahren an denselben Stellen stehen (Abb. 1). Diese Verehrung steht in ihrer Form der volkstümlichen katholischen Heiligenverehrung und, wenn auch weniger deutlich ausgeprägt, dem ebenfalls vorwiegend katholischen Totengedenken nahe, was sich schon rein äußerlich an den in beiden Kultformen verwendeten Grabkerzen zeigt. Vielleicht nicht ganz zufällig hat der Kult der Matronen hier in einer durch und durch katholischen Gegend überlebt, während in anderen Zentren ihrer ursprünglichen Verehrung, etwa im römischen Britannien, davon nichts geblieben ist. Die Tafeln des Amtes für Rheinische Landeskunde berichten über die Ausgrabungsgeschichte, das Alter und die relative Lage dieser „römischen“ Matronentempel zu den römerzeitlichen Siedlungen und Straßen der Umgebung und geben auch die Inschriften korrekt und mit deutscher Übersetzung wieder; sie verraten aber nicht, wofür diese fast immer in Dreiergruppen dargestellten Göttinnen verehrt wurden. Die Spender der Votivgaben wissen es wohl, und nicht umsonst erzählt man sich in der Gegend, dass ihre Anhänger nicht nur hierher pilgern, um ihre kleinen Gaben mit einem Wunsch niederzulegen, sondern dass auch kinderlose Ehepaare bisweilen den nächtlich-ruhigen Rasen in den Tempelruinen in warmen Nächten zum Beischlaf nutzen, um durch die Anwesenheit der Göttinnen ihrem Kinderwunsch Nachdruck zu verleihen. In der Tat war eine der ursprünglichen Funktionen dieser Göttinnen die ganz konkrete Fruchtbarkeit in der Familie, so wie andere private und familiäre Anliegen auch.
Die Tempelanlagen der Muttergottheiten in der Eifel wurden angelegt, als die römische Großstadt Colonia Agrippina, das heutige Köln, für ihre Versorgung eine 90 km lange Wasserleitung aus der Eifel zu bauen begann. Der Bau dieses Aquädukts mit der unerhörten Tagesleistung von 30 Millionen Liter Wasser verwandelte die bislang nur vereinzelt von Gutshöfen bewirtschaftete Eifel zu einer Großbaustelle mit Steinbrüchen, Kalkgruben und Ziegelwerken, die mit der Anlage von Manufakturen und Straßen auch eine entsprechende Administration nach sich zog. Viele Beamte dieser Administration waren einheimische Ubier, ein urspünglich rechtsrheinischer germanisch-keltischer Mischstamm, der sich unter dem Druck der Sueben 38 v. Chr. unter Augustus auf die linke Rheinseite umsiedeln ließ und sich eng mit den Römern verbündete, aber auch mit einheimischen Kelten aus Siedlungen zwischen Köln, Eifel und Remagen verschmolz. Die Ubier und andere Germanen in römischen Diensten im 50 n. Chr. gegründeten Veteranenlager Colonia Agrippinensis gaben sich betont römisch, verwendeten Latein und partizipierten zu ihrem Vorteil an der römischen Kultur. Was sie aber offenbar nicht aufgaben, waren Teile ihrer Religion. Für die diesbezüglich tolerante römische Administration stellte das kein Problem dar, und so entstanden vielerorts, zuerst wohl in den Städten, dann an etwas abgelegeneren Orten wie den Hügelchen der Eifel, Tempel in römischem Stil, die aber einheimischen, vorrömischen und germanischen (sowie auch keltischen) Göttinnen geweiht waren. In diesen Tempeln wurden die verehrten Muttergottheiten, die so genannten Matronen, auf kleinen Votivaltären dargestellt und mit einer Inschrift versehen, wobei preisgünstigere Ausführungen für kleinere Beamte auch hin und wieder nur die Inschrift trugen und auf die Darstellung verzichteten. Die Darstellung auf den in römischem Stil gehaltenen Altärchen zeigt üblicherweise drei sitzende Frauengestalten, von denen die beiden äußeren durch ihre (ubische) Haartracht mit großen runden gestärkten Hauben als verheiratete Frauen, die mittlere durch ihr offenes Haar als Jungfrau, d.h. als unverheiratet, gekennzeichnet waren. Auf dem Schoß halten die Frauengestalten Fruchtkörbchen, Früchte, aber auch Windeln, und dies allein ist schon ein Hinweis auf die Funktion wenigstens mancher der Matronen. Die Inschriften, in denen sich die Stifter mit Namen und Berufsbezeichnung bei den jeweils eingangs genannten Matronen bedanken, und zwar „freiwillig und gerne bedanken“, wie oft ausdrücklich erwähnt wird, nennen die Wünsche für das erfüllte Gelübde nur selten direkt, aber oft erwähnt einer der Stifter, dass er das Gelübde „für sich und die Seinen“ abgelegt habe, dass es sich also um eine Familienangelegenheit handele. Wir kennen aus diesen Inschriften über 100 verschiedene germanische Namen solcher Göttinnen-Dreiheiten, aber die wenigsten können wir deuten, nur manchmal können wir die Funktion aus der Etymologie des Namens erahnen. Dabei erweisen sich etliche der Göttinnen als Lokalgottheiten, andere stellen sich trotz ihres friedlichen Auftretens als Kriegsgöttinnen heraus, wie sie uns sonst erst wieder als die Walküren der mittelalterlichen Literatur entgegentreten.
Die Matronen sind kein rein germanisches Phänomen, denn die Matronenverehrung kennen wir aus weiten Bereichen des römischen Imperiums, aus Gallien und Britannien, sie hat aber in der germanisch-keltischen Mischbevölkerung am Niederrhein einen Schwerpunkt, und aus dieser Gegend kennen wir auch viele Stifternamen germanischer Herkunft ebenso wie auch Matronennamen selbst, die germanisch sind.
Die Mode der Matronensteine begann wohl durch Römer am Unterrhein – der älteste Votivstein stammt aus der Zeit zwischen 70 und 89 n. Chr. von einem Matrosen der römischen Rheinflotte – und endete im späten 5. Jh., etwa um die Zeit, als 462 Köln endgültig unter fränkische Herrschaft kam, und kam schon in der nachfolgenden Zeit römischchristlicher und fränkisch-heidnischer Koexistenz völlig außer Gebrauch, noch bevor die Gegend ab den 20er- und 30er-Jahren des 6. Jh.s durch den heiligen Gallus systematisch missioniert wurde.
Nicht überall wurden aber heidnische Heiligtümer – wozu die Matronentempel natürlich gehören – wie die in Köln durch diesen Heiligen zerstört. Anderswo begann man offenbar, die alten Kultstätten gemäß einem Brief des Papstes Gregor des Großen an Augustinus in Britannien vom Ende des 6. Jh.s nicht zu vernichten, sondern für den christlichen Glauben umzuwidmen. Daher kommt es wohl, dass der Chor des Bonner Münsters fast genau an der Stelle eines Matronentempels steht, der wohl in ihm aufgegangen ist. Auch damit war für die Amtskirche ebenso wie für die Gläubigen der Übergang zur Christianisierung dieser Vielzahl von kleinen, aber im täglichen Leben wichtigen Göttinnen erleichtert, deren Funktionen dann im Mittelalter von den christlichen Heiligen beiderlei Geschlechts übernommen werden konnten.
Recht verschieden von dieser stillen Manifestation des Glaubens an Fruchtbarkeitsgöttinnen am Niederrhein sind ganz andere Äußerungen eines scheinbaren Glaubens an heidnische germanische Götter. Denn wenn sich junge Menschen in Deutschland, Dänemark, Schweden oder anderswo einen kleineren silbernen Thorshammer um den Hals hängen, könnte dies auf den ersten Blick auch als nostalgische Erinnerung an den ehemaligen, germanischen Glauben verstanden werden, dessen fortdauernde Wirkung man sich entweder wünscht oder an ihn glaubt. Natürlich soll hier nicht jedem oder jeder, der oder die einen Thorshammer aus den Museumsläden der großen skandinavischen Museen als Schmuckstück um den Hals trägt, unterschoben werden, er oder sie würden sich damit automatisch zu einer Religion des Gottes Thor bekennen. Als dessen Symbol gilt allerdings der Thorshammer Mjöllnir seit den letzten Jahrhunderten des germanischen Heidentums – also spätestens seit dem 9. Jh. – immer noch, aber damit auch als Symbol einer Religion, welche seit 1000 oder 1200 Jahren tot und vom Christentum überholt ist. Viele benützen demnach den ursprünglich als heidnisches Zeichen des Gottes Thor dem christlichen Kreuz entgegengesetzten Thorshammer als Ausweis ihrer Zugehörigkeit zu Kreisen, die sich bewusst vom Christentum ab- und der Religion einer recht fernen Vergangenheit zuwenden.
Ein wesentlicher Unterschied zum stillen, fast heimlichen Glauben an die Matronen ist der aktuelle politische Hintergrund der „Asengläubigen“, also derjenigen, die an die Götter des altskandinavischen Pantheons glauben wollen. Es geht hier nicht (nur) um eine Religion, sondern auch um den Versuch, einer gesellschaftspolitischen Unzufriedenheit eine gewisse geistige Struktur zu geben. Derartige Missstimmungen werden in Veröffentlichungen von solchen „Neuheiden“ durchaus verbalisiert, so etwa in dem Buch Midgards Morgen des Neugermanen-Gläubigen H. W. Hammerbacher:
„Heute ist Wolfszeit wie damals. Untergang, Wirrsal, Gemeinheit, Falschheit, Hinterlist, Landraub, Wucherung der Großstädte wie Krebsgeschwüre, Aussaugen des Landes und Ausverkauf der Heimat wie eine Ware, der Bruder steht gegen den Bruder, Trümmer, Siechtum und Verrat sind weithin die Wahrzeichen der Zeit.“1
Es sind aber nicht (nur) die Ewiggestrigen, die ihre eigene Zeit so sehen oder sehen wollen, es sind vielfach auch die Unterprivilegierten, die kaum eine andere Wahl haben, als unsere Zeit so zu sehen. Ihnen geben Werke wie das genannte ein Sinnangebot oder, besser gesagt, den Traum an eine heile, andere Welt, den ihnen das Christentum oder andere zeitgenössische Ideologien nicht mehr geben zu können scheinen:
„Wir aber wollen, dass die reine Welt unserer Vorväter wieder erstehe, nicht durch die Rückkehr in die damalige Zeit, sondern geläutert durch die Erkenntnis unserer eigenen Schwächen, aber auch im Wissen um die unvergänglichen Quellen unserer Kraft.
Wir rufen alle Gutwilligen auf, die noch den göttlichen Grund in sich spüren, die das Erbe ihrer lebendigen Abstammung von Midgards Söhnen und Töchtern nicht verraten und verschwendet haben.
Wir rufen alle hoch gewachsenen, hellen, geraden Menschen mit reiner Seele und freiem Geist auf, in den Ländern, die uns stammverwandt sind. Midgard hört nicht auf und fängt nicht dort an, es umfasst alle Deutschen und germanischen Verwandten, ganz gleich, wo sie sich heute befinden. […] einig, einig, einig im Glauben, in der Gesinnung, in der Tat für Deutschland, für Midgards heiliges Reich, jetzt und immerdar! Midgards Morgen naht!“2
Dies dürften in der Tat optimistische Worte für jene sein, denen Deutschlands untilgbare Schuld an den Gräueln der Vergangenheit eine möglichst rasch zu vergessende Schmach ist, die an das anknüpfen wollen, was sie für die große Zeit des deutschen Volkes halten. Da dies in der jüngeren Geschichte ohne Geschichtsfälschung nicht gut möglich ist, machen sie einen großen Sprung zurück zu einer alten, vermeintlich noch unverdorbenen, unschuldigen Ideologie, nämlich dem archaischen und zweifellos primitiveren Heidentum der Germanen. Aber diese Einstellung allein reicht noch nicht als Erklärung für eine Zuwendung zu den heidnisch-germanischen Göttern aus, denn nicht alle rechtsradikalen Kreise verschreiben sich einer Wotansreligion, und nicht alle Asengläubige sind notwendigerweise rechtsradikal.
Selbstverständlich sind es nicht nur frustrierte deutsch-nationale Kreise, die sich der neuheidnischen Bewegung anschließen, denn sonst könnte man ihren Zulauf in Skandinavien oder den USA kaum erklären. Es sind eine ganze Reihe von nicht immer in Verbindung stehenden Gründen, warum und welche Menschen sich noch an der Wende vom 20. zum 21. Jh. einer neugermanischen Religion zuwenden. Dazu zählen Rassismus und Fremdenhass, die eine sog. „arteigene“ Religion als Antwort auf die internationalisierten Hochreligionen erscheinen lässt; auch zählt dazu die Unzufriedenheit mit einem besonders heute scheinbar „schwachen“, durch Massenaustritte geschwächten, von Skandalen geschüttelten und oft kaum mehr für die Gesellschaft repräsentativen Christentum; ferner gehören dazu Kulturpessimismus und Fortschrittsfeindlichkeit wie in dem eingangs erwähnten Zitat, wie berechtigt er nun sein mag oder nicht; und letztlich gehört dazu auch – vielleicht überraschenderweise – ein ökologischer Fundamentalismus, der in der Kombination von „Blut und Boden“ das zweite Element favorisiert und in einer Vereinigung von völkischem, esoterischem und ökologischem Gedankengut mit der Rückkehr zu einer vorindustriellen, agrarischen Religion eine Lösung der umweltpolitischen Fragen anstrebt. Zu diesen Ursachen kommt noch der Druck eines politischen Systems am Ende der Periode der Sozialstaatlichkeit, das von vielen Jugendlichen in Form des überzogenen Bürokratismus und den einseitigen Kriterien einer nur mehr auf Leistung orientierten Gesellschaft ausschließlich als Zwangsjacke empfunden wird, ohne ihnen eine festen ökonomischen, geschweige denn ethischen Boden unter den Füßen zu verschaffen.3 Das Christentum als Staatsreligion in den mittel- und nordeuropäischen Staaten wird damit leicht zu einem verlängerten Arm der Staatsgewalt, wie viele Jugendliche schon in der Schule beobachten können. Mit der Abkehr vom Staat geht damit die Abkehr vom Christentum einher. Da nach dem Ende des real existierenden Sozialismus auch der politische Atheismus marxistischer Prägung seine Grundlagen weitgehend verloren hat, sind es häufig genug esoterische Bewegungen, die ein Sinnangebot vermitteln wollen, und die „Religion der alten Germanen“ ist nur eine aus einem breiten Spektrum von Pseudoreligionen, aber eine, die besonders an völkisch-nationale Kreise appelliert.
Glaubt heute tatsächlich jemand an Odin und Thor als Götter in ihrer numinosen Mächtigkeit? Dies ist zwar eine Frage, die angesichts der politischen Seite der Neugermanen-Gruppen als nebensächlich erscheinen mag, ist aber nicht unwesentlich, was eine etwaige potente religiöse Bindung der „Gläubigen“ an ihre Religion angeht, die für das längerfristige Überleben der neuheidnischen Gruppierungen relevant sein wird.
Der beste Kenner der Szene, der inzwischen verstorbene Friedrich-Wilhelm Haack, hat 1981 versucht, dieser Frage auf den Grund zu gehen:
„Für die alten Germanen waren ihre Götter ohne Zweifel richtige Götter. Donar meldete sich im Donnerhall ebenso persönlich und wollte persönlich beschwichtigt sein, wie Wotan, dessen wilde Jagd in Sturmnächten über das Land und die Wälder fegte.
Diese Götter waren nicht Symbol-Gestalten, Sinn-Gespenster ohne Fleisch, Blut und Wirklichkeit. Sie lebten, kämpften, zechten, und sie konnten dereinst in der Götterdämmerung sogar sterben. Für die Neugermanen-Gläubigen ist eine solche unmittelbare Göttergläubigkeit nicht möglich. Für sie bleiben eigentlich nur zwei Wege: Eine Art aufgelockerter Eingott-Glaube (‘Allvater’), bei dem die Götter nur Erscheinungswesen des einen Ur- und Zentral-Gottes sind, oder ein Glaube an eine ‘göttliche Kraft’, die in allem Leben vorhanden, am stärksten aber im Menschen selbst vorfindlich ist. (Pantheismus)
In den Schriften des Armanen-Ordens-Gründers Guido (von) List findet sich diese letztere Gottesvorstellung.“4
Sollte diese Einschätzung richtig sein, so besteht wohl kein Grund, auf religiösem Gebiet die Wiederkehr einer echten Odins- oder Thorsreligion zu befürchten. Selbst im Dritten Reich hat man sich von offizieller Seite ausgesprochen davor gescheut, eine Rückkehr zu einer Religion der heidnisch-germanischen Götter zu propagieren, sondern hat im Gegenteil ein „deutsches Christentum“ gefördert, auch wenn man seit Oktober 1933 einen Zusammenschluss einer ganzen Reihe von deutschgläubigen Gruppen als Religionsgemeinschaft duldete, vor allem deshalb, weil diese es nie über wenige 100.000 Mitglieder brachte. Nur ein geringer Prozentsatz davon gehörte allerdings zu den sog. „Nordischen“, also Asen-Gläubigen. Der Ausdruck deutschgläubig ist aber schon beträchtlich älter, stammt aus der Zeit vor der Jahrhundertwende und zwar vom österreichischen Antisemiten Georg Ritter von Schönerer (1842–1921), aus dessen Umfeld auch der später weithin verwendete Spruch stammte:
„Ohne Juda, ohne Rom, wird erbaut Germaniens Dom! Heil!“5
Aber selbst dieser Spruch ließ Raum sowohl für Deutsch-Christen als auch für die Asen-Gläubigen. In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg entstanden dann eine ganze Reihe von neuheidnischen Vereinigungen, darunter der neu gegründete Armanenorden mit seiner Zeitschrift Irminsul, die Gylfiliten mit ihrer Zeitschrift Odrörir, der Treuekreis Artglaube Irminsul oder der Godenorden. Aber selbst die Anhänger einer „harten“ Organisation wie der Ludendorffianer verwehren sich ausdrücklich dagegen, heidnische Götter anzubeten, sie seien „keine Wotansanbeter“.6
Eine kleine Gruppe aber, die eher nicht am äußersten rechten Rand der Szene angesiedelt ist, sucht dennoch die alte Religion wiederaufleben zu lassen:
„Wenn hier von Neuheiden gesprochen wird, so ist das ein wissenschaftlicher Begriff, der betont, dass es keine nachweisbare lebendige alteuropäisch-heidnische Tradition gibt. Praktizierende ‘Neuheiden’ lehnen diese Bezeichnung oft ab, da sie – wie z.B. die verschiedenen Schulen des international aktiven Wiccakults – darauf beharren, archaisches rituelles Erbe weiter zu pflegen. Als Neuheide wird ein spirituell orientierter Mensch bezeichnet, dessen Religiosität von alten Mythen und Göttern inspiriert wird. Heute glaubt nur eine Minderheit unter ihnen an die reale Existenz heidnischer Götter wie z.B. Wodan, Freyja oder Balder. Vielmehr werden diese als unzerstörbare seelische Archetypen gedeutet.“7
Hier zeichnet sich auch eine Entwicklung ab: Hat z.B. der Armanenorden anfangs unter dem Stichwort Wotanismus noch den Glauben an konkrete heidnische Götter propagiert, so wendet er sich neuerdings eher diffus-esoterischem Gedankengut zu.8
Insgesamt schätzte Haack die Zahl der Mitglieder all dieser Vereinigungen in der alten BRD auf immerhin 44000,9 dennoch ist heute in der Öffentlichkeit in Deutschland so gut wie keine Tendenz zu neugermanischem Heidentum zu spüren. Dagegen sind in Schweden und Dänemark unter Skinheads Manifestationen des Neuheidentums zu finden, hier allerdings als zwar öffentlichkeitswirksame, aber periphere Gruppierung, in Island sind die Asatrúarmenn („Angehörige des Asenglaubens“) sozial durchaus akzeptabel,10 und in den USA haben sich Anhänger einer „Odinic Religion“ in einer ganzen Reihe von hearths („Herden, Feuerstellen“) vereinigt.
So bleibt heute nur ein stilles und, wie ich meine, weitgehend ungefährliches Neuheidentum, das zu anderen esoterischen Sekten zu stellen ist und selbst innerhalb des Rechtsradikalismus keine politische Relevanz hat, sondern sich vielleicht auch hier nicht zu Hause fühlt; zu dieser Situation passt das Stimmungsbild in einem Zeitschriftenartikel von 1991:
„Die Gruppe bekennt sich in aller Stille zum Neuheidentum. Sie feiert hier ihre Wintersonnwendzeremonie. Das Feuer ist ein Lichtsignal für die Sonne, die nun allmählich die Erde mit längeren Tagen beglückt und in der Zeit der anschließenden Raunächte – so erzählen es alte Mythen – die tief im Erdboden schlummernden Samen erweckt. Gleichzeitig soll das flackernde Feuer die Sonne magisch anziehen und näher zu den Menschen bringen. Der Gruppenleiter opfert etwas Salbei, Johanniskraut und Brot. Die Gaben sollen den Dank an die Geistwesen der Natur ausdrücken, mit denen sich die Gruppe verbunden fühlt. So wie Tausende von Neuheidenzirkeln in aller Welt, versucht auch diese Gmeinschaft, das uralte, heute noch von vielen Ureinwohnernationen gepflegte Ritual der Wintersonnenwende neu zu beleben.“11
Wie auch dieses Beispiel zeigt, so haben selbst die religiösesten der Neuheiden äußerst wenig mit der eigentlichen germanischen Religion zu tun – und die Kenntnisse darüber sind meist mehr als bescheiden. Ein Wiederaufflackern der wikingerzeitlichen Religion Thors, Odins und Freyrs und damit eine Wiederbelebung der germanischen Mythologie ist also im Neuheidentum nicht zu sehen.
Dank des Leipziger Komponisten Richard Wagner (1813–1883) und ungezählter Inszenierungen seiner Ring-Tetralogie weiß auch heute jedermann, wie man sich eine Walküre vorzustellen hat – nur wozu sie gut sein soll, weiß keiner.
Wagners Beschäftigung mit der germanischen Mythologie reicht bis in in die 40er-Jahre des 19. Jh.s zurück, schon 1843 hatte er Jacob Grimms Deutsche Mythologie (1. Aufl. 1835) gelesen. Er selbst verfasste 1848 den Essay Wibelungen: Weltgeschichte aus der Sage, ein eher politisches Werk, in dem er die Nibelungensage mit zeitgenössischer Politik verbindet. Zwischen 1848, als er offenbar mit Vorarbeiten zu Siegfrieds Tod die ersten Ideen für eine Nibelungenoper sammelte, und 1851 erwarb er sich auch Kenntnisse des Altnordischen, las Freiherr Friedrich Heinrich von der Hagens Übersetzung der Völsunga saga12 und verwendete auch eine Originalausgabe der Edda. Schon 1852 war die Ringdichtung fertig, die er 1853 drucken ließ, die Musik dazu beschäftigte ihn weitere zwei Jahrzehnte. Erst 1874 lag sein Nibelungenzyklus fertig vor, der aus dem Vorspiel Das Rheingold und den Opern Die Walküre, Siegfried (ursprünglich: Der junge Siegfried) und Götterdämmerung besteht.
Trotz seiner Quellenstudien ging jedoch Wagner mit dem Nibelungenstoff und noch mehr mit der nordischen Mythologie recht freizügig um: Odin bekommt eine Rolle in der Nibelungensage, der Gott Loki wird mit dem Feuerriesen (?) Logi zu einer Figur verschmolzen, und nicht zuletzt werden die Walküren völlig vermenschlicht. Wagners Verzerrung der Mythologie und Sagenwelt, sein Nationalismus – den es natürlich in den Quellentexten nicht geben kann – und seine eigenwillige Übertragung der Stabreimtechnik ins Deutsche hat zu vielen populären, aber durchaus falschen Vorstellungen über die germanische Mythologie geführt, die heute allerdings das öffentliche Bewusstsein stärker prägen als wissenschaftliche Erkenntnisse.
Dennoch hat Wagner der germanischen Mythologie zu einem Durchbruch in der Öffentlichkeit verholfen, wie sie ihn ohne Wagner und seine Musik wohl niemals geschafft hätte. Dabei helfen nicht zuletzt zwei wesentliche Faktoren, die ausschließlich mit Wagner, nichts aber mit der Mythologie zu tun haben:
1. Wagner polarisiert wie nur selten andere Komponisten; kaum jemand ist in der Lage, seine Musik ausschließlich zu tolerieren, sie zwingt zur Stellungnahme. Der Querdenker Wagner hat auch schon zu seinen Lebzeiten provoziert und polarisiert, und er tat dies nicht nur in seiner Musik, sondern auch in seiner durchaus politischen Behandlung der germanischen Mythologie: Er nutzt sie nicht nur als Opernstoff, sondern er gebraucht sie – oder: missbraucht sie? – als Vehikel für seine politischen Ansichten.
2. Wagner sensualisiert durch seine Musik, „eine Musik, welche die Hörerschaft unmittelbar anzusprechen vermag und die tieferen Schichten des kollektiven Unbewussten über die ganze Welt hin erreicht. Die zentrale Idee, der Gehalt des Textes wird sogar durch seine Musik unmittelbarer erlebt. Mancher Zuhörer erliegt den Zauberkünsten dieses Magiers und übernimmt unbesehen, was ihm an Ideen geboten wird. Diese Musik ist, wie Nietzsche zeigte, die Alleinherrschaft des Gefühls, losgelöst von allem andern.“13 Damit macht sich Wagner – aus wissenschaftlicher Sicht – derselben Verfremdung schuldig wie die Neuheiden, indem er die ihm brauchbar erscheinenden Elemente der heidnischen Mythologie in eklektischer Manier herausnimmt, verformt, und für seine Zwecke verarbeitet.
Wagner hatte, um am Beispiel der in der Überschrift genannten Walküren zu bleiben, die wohl jeweils jüngsten, schon am meisten durch mittelalterliche Formen geprägten Quellen herangezogen, statt – wie üblicherweise der Wissenschaftler – die jeweils ältesten, noch die heidnische Zeit am ehesten reflektierenden Quellen zu verwenden. Das führt dazu, dass das Bild der germanischen Mythologie, mit dem Wagner in den letzten eineinviertel Jahrhunderten die Welt unterhalten und fasziniert hat, ein Bild ist, das mehr mit Wagners Ideologie und Phantasie als mit der alten heidnischen Religion zu tun hat.
In den von ihm benutzten Sigrdrífomál sind es schon vermenschlichte Mädchen, „Schildmaiden“ nach dem Vorbild des altnordischen Motivs des meykongr, also des männlich handelnden und kämpfenden Mädchenkönigs, welche die alten Seelenführerinnen der wikingerzeitlichen Dichtung abgelöst haben, wobei auch das christliche Engelsbild schon für die Ausgestaltung des Walkürenkonzepts wirksam geworden sein kann. Der Name weist ursprünglich auf Totendämonen hin, welche die Gefallenen vom Schlachtfeld ins Jenseits führen (altengl. wœlcyrge, altnord. valkyrja von valr „die auf dem Schlachtfeld liegenden Leichen“ und kjósa „wählen“, also „die die Gefallenen Auswählenden“). Schon in der Völkerwanderungszeit wurden daraus jedoch weibliche Gestalten, die den ruhmreich Gefallenen – und nur diesen – einen ehrenden Empfang in Walhall bereiteten. Sie taten dies wohl nicht in der Weise wie die Houris des islamischen Paradieses, sondern wurden seit der Wikingerzeit gedacht als Gesandte Odins, die den Kriegern bei ihrem Einzug in Walhall feierlich ein Horn mit einem Trunk reichten. An dieser zweifellos sehr feierlich gedachten religiösen Szene – immerhin erreicht der Tote gerade seinen zukünftigen Wohnort – ist nichts zu spüren von der wüsten Martialität der Wagner’schen Walküren, nichts vom dramatischlautstarken Walkürenritt, und nichts von den lauten, geharnischten, allzu kräftigen und „brunhildenhaften“ Walküren der Wagnerikonographie, sei es auf dem Theater oder in den vielfachen Abbildungen der Folgezeit. Den „Walkürenritt“ amerikanischer Kampfhubschrauber in Vietnam in Francis Ford Coppolas Apocalypse Now hat jedenfalls Wagner ebenso auf dem Gewissen wie die spätbürgerlichen Walkürengemälde der Jahrhundertwende.
Dennoch, wie andere Mythen der Neuzeit werden Wagners Walküren weiterreiten, unabhängig von historisch korrekteren Interpretationen, und werden im öffentlichen Bewusstsein das bleiben, was sie sind, auch wenn sie es erst seit etwas mehr als 100 Jahren sind: groß gewachsene, übergewichtige, martialische, meist negativ konnotierte Frauen, und nicht die ersehnten eleganten Empfangsdamen der Paradiesesvorstellungen wikingerzeitlicher Krieger.
Niemand würde heute ernstlich von „Germanen“ vor der älteren Eisenzeit, also etwa vor 400 v. Chr., sprechen und dennoch kann man schwerlich über die heidnische Religion Nordeuropas sprechen, die wir als germanisch bezeichnen, ohne auch auf die Religionen vor diesem Zeitpunkt einzugehen, da sie die Grundlagen späterer Entwicklungen bilden. Es sind in erster Linie die Denkmäler der Megalithkultur, die großen Steinsetzungen, Ganggräber und Menhire, die uns in Nord- und Westeuropa überall ins Auge fallen und uns nur allzu deutlich die Bedeutung dieser massiven Monumente aus tonnenschweren Steinen für das Glaubensleben und den Totenkult einer prähistorischen Bevölkerung vor Augen führen. In zweiter Linie sind es die gerade für Südskandinavien typischen bronzezeitlichen Felszeichnungen, die man in der Vergangenheit gerne als Zeugen früher „germanischer Religion“ betrachtet hat und die zweifellos religiöse Relevanz besitzen, auch wenn sie einer älteren vorgermanischen Periode angehören. Diese zwei Perioden – die megalithische des Neolithikums und die Bronzezeit – seien daher, nicht ganz willkürlich, als Beispiele der vorgermanischen nordwesteuropäischen Kulturen herausgegriffen, da u.a. sie den Boden für die Glaubensvorstellungen der eisenzeitlichen und völkerwanderungszeitlichen Bevölkerung, und damit unserer nordwesteuropäischen Vorfahren im weitesten Sinn, bereiteten.
Der Begriff Megalith bedeutet nichts anderes als „Großer Stein“, und die Kulturen, die man mit diesem Namen belegt, haben als gemeinsamen Nenner in erster Linie tatsächlich Grabanlagen, die aus derartigen Großsteinen errichtet sind. Es sind aber nicht nur die monumentalen Grabanlagen, die das Interesse an der Megalithkultur hervorrufen, sondern auch die zum Teil riesigen Steinkreise, von denen Stonehenge der bekannteste ist, die zahlreichen allein stehenden Menhire oder auch die weitläufigen Steinsetzungen der Bretagne aus hunderten von tonnenschweren Felsen.
Man kann schwerlich von nur einer Trägerkultur der Megalithkultur sprechen, denn der Brauch der Großsteingräber erstreckt sich von Südschweden und Dänemark über die deutsche und niederländische Tiefebene zu den nordatlantischen Inseln, den Orkneys, Hebriden, Schottland, England und Irland, über Frankreich und die Iberische Halbinsel zu den Balearen, Sardinien, Sizilien und Malta. (Abb. 2; nur die west- und nordwesteuropäischen Denkmäler sind im Folgenden Gegenstand dieser Darstellung). Die regionalen Ausformungen von Großsteinanlagen weichen stark voneinander ab, aber die meisten dieser Bauten fallen in das 3. und 2. (seltener das 5., 4. und 1.) Jahrtausend v. Chr. und damit in die jüngere Steinzeit (Neolithikum) und die beginnende Bronzezeit.
In den letzten Jahrzehnten haben sich einige konstante Formen des spätsteinzeitlichen religiösen Kultlebens herauskristallisiert, Formen, die nicht leicht anders als im religiösen Kontext zu erklären sind. Es sind dies der Cursus – der durch parallele Gräben oder Steinreihen markierte gerade Prozessionsweg –, die Henges – durch Wälle und Gräben mit einem (selten einem zweiten) Zugang über einen Damm versehene kreisrunde Grabenwerke –, die Steinkreise, einzelstehende Menhire sowie die sog. Alignements, Anlagen aus (annähernd) parallelen Steinreihen. Dazu kommen an Grabanlagen noch die verschiedenen Formen der Großsteingräber, in erster Linie Dolmen, Ganggräber (engl. passage graves; frz. tombes à couloir) und Langhügel (engl. longbarrows, frz. allées couvertes).
Zwar hat man die Megalithkultur auf Grund der Artefakte immer schon in das späte Neolithikum gestellt, aber erst durch die C14-Datierungen (Radiocarbonmethode) seit den 50er-Jahren des 20. Jh.s hat man genauere Datierungen einzelner Anlagen erhalten, welche gegen Ende des 20. Jh.s durch die Fortschritte in der Dendrochronologie (der Datierung durch Vergleiche der Jahresringe von Bäumen) zusätzlich kalibriert werden konnten.1 Die Datierungen der für die Megalithzeit so typischen Ganggräber und Dolmen reichen fast überall über mehrere tausend Jahre, wobei man in der Bretagne Datierungen zwischen 5500 und 3100 v. Chr. geb., in Portugal zwischen 5000 und 4590, im spanischen Galicien 3490 und 2100, auf den Orkneys 3700 und 2100, in Schottland 3000 und 1500, in Irland etwa 3000 und 2000 und in Schweden zwischen 3000 und 2800 v. Chr. erhalten hat. Alle derartigen Angaben sind nur sehr ungefähr, nicht nur wegen den Unwägbarkeiten der C14-Methode, sondern auch wegen der statistisch nur recht geringen Auswahl. Sicher scheint dabei allerdings, dass die Ganggräber in der Bretagne und in Portugal zur ältesten Schicht der Megalithgräber gehören.
Die große Frage ist heute, ob sich die Ganggräber zwischen dem 5. und dem 3. Jahrtausend v. Chr. langsam, vielleicht vom Mittelmeerraum oder der Bretagne aus in den Küstengebieten Westeuropas verbreitet haben oder ob sich der Brauch der Großsteingräber unabhängig voneinander in mehreren Zentren, darunter wohl Portugal, die Bretagne, Dänemark und Irland entwickelt hat. Die Frage ist dabei auch, wie man sich die Diffusion eines so aufwendigen Grabstils über ganz West- und Nordwesteuropa vorzustellen hat.
Ganggräber bestehen aus einer mit Großsteinen errichteten und mit solchen gedeckten Grabkammer, die Nebenkammern aufweisen kann, und einem von außerhalb des Hügels meist relativ eben in diese Grabkammer führenden steinernen Gang, dessen Länge je nach Größe des über diesem eigentlichen Grab aufgeschütteten Schotter- und Erdhügels von wenigen Metern Länge bis zu 25 m variiert. Der äußere Fuß des Grabhügels ist vor allem bei den westeuropäischen Gräbern durch hoch gestellte Großsteine abgegrenzt und um den Eingang oft auch zu einer Fassade ausgearbeitet.
Dolmen (die Bezeichnung stammt aus bretonisch tad, „Tisch“, und maen, „Stein“) dagegen sind megalithische Grabkammern, üblicherweise ohne Gang, aber jedenfalls ohne bedeckenden Hügel, sodass die meist nur wenigen das Grab konstituierenden Monolithen mit ihrem bedeckenden „Dachstein“ in der Landschaft tatsächlich wie Riesentische wirken.
Die dritte verbreitete Form der Großsteingräber sind die Langhügel (in Norddeutschland oft auch als Hünengräber bezeichnet), welche im Gegensatz zu den erwähnten beiden Formen in die existierende Erdoberfläche eingetieft sind und eine lang gestreckte Grabkammer, aber oft keinen Gang als permanenten Zugang umfassen; auch sie sind mit langen, aber üblicherweise sehr flachen Erdhügeln bedeckt.
Jede dieser Formen hat in Größe, Material und Grundplan eine enorme Vielfalt an Realisationen erfahren, aber einige Elemente sind dabei doch erstaunlich konstant.
Zum Ersten ist es der schiere Umfang der Bauwerke, der eine recht straffe soziale Struktur zur Voraussetzung hat. Beim Bau der meisten Ganggräber benötigte man zum Transport und zur Aufrichtung der Megalithen sowie zur Aufschüttung des Hügels darüber zehntausende bis hunderttausende Arbeitsstunden, und so eine Arbeitsleistung ist, auch über eine wohl jahrelange Bauzeit hinweg nur durch straffe Organisation, Bevorratung von Lebensmitteln und einen dezidierten Bauplan möglich. Die zu diesem Zeitpunkt schon agrarische Bevölkerung besaß also im Neolithikum offenbar Machtstrukturen, durch die eine solche Organisation über längere Zeiträume hinweg geplant und auch durchgesetzt werden konnte, also nicht nur eine primitive Stammes- oder Großfamilienorganisation, sondern regionale Häuptlinge oder Fürsten, die in einem delikaten Gleichgewicht mit ihren Nachbarn – und wohl auch in Zusammenarbeit mit ihnen – Bauwerke errichten wollten und konnten, die mehrere Tausend Jahre überstanden. Dazu tritt die Notwendigkeit einer ausreichenden Zahl von Arbeitskräften für ein solches Unternehmen, was wohl nur in wenigstens regionalen, aber jedenfalls nicht nur lokalen Machträumen denkbar ist; ein französisches Experiment hat gezeigt, dass für den Transport eines 32 Tonnen schweren Steins 200 bis 400 Arbeitskräfte notwendig sind, was eine regionale Gesamtbevölkerung von 1000 bis 2000 als Minimum zur Konstruktion eines größeren Dolmens oder Ganggrabs voraussetzt.2
Zum Zweiten ist es die Kenntnis von Materialien und Techniken, die solche Bauwerke von der technischen Seite her ermöglichten. Die Steinbrucharbeit und die Bearbeitung von Steinen ausschließlich mit Steinwerkzeugen erscheint uns heute als fast übermenschliche Leistung, aber im Neolithikum war die Technik bereits so weit ausgereift, dass bei entsprechendem Arbeitseinsatz die Bearbeitung der Großsteine selbst kein Problem mehr darstellte. Anders sieht es dagegen etwa bei der Konstruktion der Großsteingräber aus: Die Anlage und interne Konstruktion ist bei manchen Gräbern derartig komplex, dass wohl nur komplizierte Berechnungen und lange Erfahrung den Bau möglich machten.
Ein dritter Aspekt ist der Zugang zu den notwendigen natürlichen Ressourcen, der aber eine nur relativ kleine Rolle gespielt haben dürfte, da man bei der Konstruktion der Ganggräber sich den lokalen Umständen anzupassen wusste. Wo Monolithen fehlen, arbeitet man eher mit Trockensteinmauern, wo der zur Einhügelung notwendige Schotter und Humus fehlte, waren Dolmen wohl auch ohne Hügel möglich, indem man die Lücken zwischen den Orthostaten – den senkrechten Steinblöcken – mit Trockensteinmauerwerk füllte.
Ein vierter, bislang etwas vernachlässigter Aspekt ist die Notwendigkeit einer ausreichenden Motivation von Bauten, die die technischen und ökonomischen Möglichkeiten einer neolithischen Gesellschaft bis zur Grenze des Überlebens belastet haben mag. Die unmittelbare Motivation lag zweifellos in den genannten Machtstrukturen, aber die mittelbare muss darüber hinaus in Glaubensvorstellungen gesucht werden, welche die Errichtung solch aufwendiger Bauten als unbedingt notwendig für das Weiterleben der Toten in der jenseitigen Welt oder aber für die Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten ansah. Dass man diese Bauten zweifellos als Wohnorte der Toten ansah und nicht nur als Grüfte oder Beinhäuser, erhellt sich aus dem teils enormen Aufwand, der, wie in Newgrange (Irland), getrieben wurde, um die Grabkammern völlig trocken zu halten.
Dass die Toten für die Lebenden in religiöser Hinsicht von Bedeutung waren, geht aus den zahlreichen Funden von Überresten geopferter Tongefäße hervor, welche wohl Gaben an die Toten enthielten und die nicht mit Keramikgefäßen als Grabbeigaben verwechselt werden dürfen, sondern sich sowohl in den Grabkammern als auch im Gang sowie, in größter Zahl, vor den Ganggräbern finden. Eine noch immer offene Frage ist jedoch, wer eigentlich in den großen Ganggräbern beigesetzt wurde. Die Zahl der Skelette in den – allerdings oft durch spätere Grabräuber geplünderten – Gräbern reicht von einigen wenigen bis zu 200, worunter sich Männer, Frauen und Kinder befanden. Allerdings ist diese Zahl zu gering, um die Leichen aller Toten einer Gemeinschaft in einem längeren Zeitraum umfassen zu können; im größten erhaltenen Ganggrab überhaupt, im irischen Newgrange, müssen hunderte und tausende von Menschen an dem 80 m im Durchmesser ausmachenden Hügel gearbeitet haben, aber nur fünf Individuen wurden schließlich darin beigesetzt, zwei als Leichen und drei verbrannte. Waren es also vielleicht nur die Toten einer bestimmten Klasse, die hier beigesetzt werden durften, oder etwa nur die Angehörigen einer bestimmten, von den Göttern abstammenden Familie? Jedenfalls ist sicher, dass die großen Ganggräber wie in der Bretagne oder in Irland nicht nur Begräbnisstätten, sondern auch zentrale Kultstätten waren; das geht einerseits aus ihrer Verbindung mit anderen megalithischen Bauwerken, wie Steinkreisen oder Steinreihen (s. unten) hervor, andererseits aus den schon erwähnten Opfergaben, aber auch aus der baulichen Anlage einzelner Ganggräber, bei denen der Vorplatz vor Fassade und Eingang zu einem regelrechten erhöhten ovalen Festpodium ausgestaltet ist, dessen Form in der Anlage des Grabhügels selbst berücksichtigt ist (sog. „gehörnte Hügel“, da das Oval von zwei vorspringenden „Hörnern“ des Hügels teilweise umgriffen wird).
Eine weitere Konstante in der Anlage von megalithischen Grabhügeln in Westeuropa ist die Tatsache, dass die Ganggräber und Dolmen in der überwiegenden Zahl der Fälle in Küstennähe und möglichst auch mit direktem Blick aufs Meer angelegt wurden. Ein extremes Beispiel dafür ist das kleine Grab (inmitten einer Henge) von Cairnpapple in West Lothian in Schottland, das, obwohl auf einer nur recht unscheinbaren Anhöhe gelegen, die Aussicht sowohl auf den Firth of Forth im Osten als auch den Firth of Clyde im Westen freigibt und somit gerne auf das medio nemeton („mittlere/zentrale Heiligtum“) bezogen wird, welches der Geograph von Ravenna für Südschottland anführt. Selbst der einzig bekannte Dolmen in Sizilien, in der Nähe von Syrakus, liegt zwar versteckt in einer flachen Talsenke, aber mit einem überraschenden Blick auf das Meer. Diese Anlage in Küstennähe hat man in der Vergangenheit mit der maritimen Vertrautheit der neolithischen Bevölkerung erklärt, welche für die Verbreitung der Megalithkultur verantwortlich gewesen sei. Allerdings stießen die ersten neolithischen Ackerbauern in Westeuropa aus dem Donaubecken ins Seinebecken und andere Gebiete Westeuropas vor, und diese frühesten europäischen Bauern waren sicherlich nicht ursprünglich Seefahrer. Wahrscheinlicher ist es noch, dass die Anlage der Megalithbauten die Reaktion der einheimischen Küstenbevölkerung auf die Ankunft der Ackerbauern war3, aber selbst diese Deutung könnte den externen Anstoß überbewerten; vielleicht hat auch nur der Import der Ackerbautechniken, ein gleichzeitiger Bevölkerungsanstieg auf Grund günstiger Bedingungen und die damit verbundene Veränderung sozialer Strukturen der älteren Jäger-Sammler-Gesellschaft4 sowohl die Entwicklung des Ackerbaus als auch überregionaler Mobilität gefördert.
Es ist aber nur schwer vorstellbar, dass die Küstennähe reiner Zufall ist, sodass letztendlich doch mit einem maritimen Interesse der neolithischen Trägerkultur gerechnet werden muss. Bestätigt wird die nautische Kompetenz durch die in den Abfallhügeln der Siedlung von Skara Brae auf den Orkneys gefundenen Reste von Meerestieren, die zeigen, dass man sich u.a. auch von der Hochseefischerei ernährte. Selbst die Verbreitungskarte der europäischen Ganggräber zeigt, wie sehr sich die Megalithkultur auf die Küstengegenden beschränkt, und dies spricht gegen die Annahme5, dass die Entstehungen der Ganggräber an verschiedenen Orten im Neolithikum unabhängig voneinander stattgefunden haben, denn dass dies nur in Küstengebieten passiert sein soll, ist ganz unwahrscheinlich.
Wer aber waren dann die Baumeister der Megalithdenkmäler? Wir wissen, dass sie meist schon Landwirtschaft trieben, in Schottland oder Schweden aber auch Viehzüchter waren. Wir kennen die hoch entwickelten Steinbearbeitungstechniken und die Bergwerke, aus denen sie das Rohmaterial für ihre Feuersteinwerkzeuge bezogen. Wir kennen ihre Keramik – üblicherweise als grooved ware bezeichnet – und ihre wichtigsten Symbole, u.a. die Steinaxt und die Doppelspirale (s. unten). Wir wissen inzwischen schon einiges über ihre normalen Wohnstätten, wenigstens in England, und durch einen besonderen Glücksfall kennen wir auch eine ganz besondere Art der Behausung vom Anfang des 3. Millenniums vor Christus auf den Orkneys, nämlich im Dorf von Skara Brae.