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Wolfgang Huber

Von der Freiheit

 

Perspektiven für

 eine solidarische Welt

 

 Herausgegeben von

Helga Kuhlmann

 und Tobias Reitmeier

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Freiheit wird gerne mit Verantwortungslosigkeit und Bindungslosigkeit verwechselt. Wolfgang Huber zeigt demgegenüber, dass sich Freiheit in christlicher Perspektive gerade in der Solidarität entfaltet. Sie ist keine reine Privatsache und kein Freizeitvergnügen, sondern wird vor allem im sozialen, öffentlichen und politischen Leben wirksam. Solidarität mit den Schwachen, Rücksicht auf künftige Generationen und Verantwortung für das Ganze sind keine Beschränkungen, sondern Folgen einer kommunikativ und solidarisch verstandenen Freiheit.

Über den Autor

Wolfgang Huber, geb. 1942, Professor für Theologie in Berlin und Heidelberg, ist Fellow des Stellenbosch Institute for Advanced Study in Südafrika, Mitglied des Deutschen Ethikrats und war von 1994 bis 2009 Bischof in Berlin sowie von 2003 bis 2009 Vorsitzender des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland. Er wurde vielfach ausgezeichnet und geehrt, u.a. mit dem Max-Friedländer-Preis.

Inhalt

Was ist kommunikative Freiheit?

 

I. Das Erbe der Reformation

Theologie der Befreiung – ein Anstoß Martin Luthers

Die Bedeutung der Reformation – 500 Jahre danach

Evangelisch im 21. Jahrhundert

 

II. Verantwortete Freiheit

Sozialethik und kommunikative Freiheit

Eine Ethik der Verantwortung

Freiheit als Lebensform

Gerechte Teilhabe: Ein Auftrag für Christen

 

III. Die Stimme der Christen in der Demokratie

Protestantismus und Demokratie

Die Kirche als Anwalt der Freiheit

Öffentliche Kirche in pluralen Öffentlichkeiten

Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität

Der christliche Glaube und die politische Kultur in Europa

Eine ökumenische Vision für Europa

 

Anmerkungen

Textnachweise

Die Herausgeber

Personenregister

Was ist kommunikative Freiheit?

Welche Freiheit – Eros der Freiheit – Die Freiheitsfalle: Bei der Freiheit handelt es sich, wie solche Buchtitel zeigen, um ein aktuelles und beziehungsreiches Thema. Die Verheißung der Freiheit zieht die Aufmerksamkeit auf sich; doch die Gefährdung der Freiheit steht genauso dringlich auf der Tagesordnung.

Wissenschaft und Technik dehnen die Reichweite des Gebrauchs menschlicher Freiheit aus. Eine den Globus umspannende Mobilität und eine dem Anschein nach grenzenlose digitale Kommunikation schaffen Verbindungen, die für frühere Generationen unvorstellbar waren. Wirtschaftlicher Austausch und finanzielle Transaktionen sind zu den entscheidenden Triebkräften der Globalisierung geworden.

Die reproduktionsmedizinische Verfügung über die Anfänge des menschlichen Lebens bezieht die reproduktive Selbstbestimmung in den Bereich individueller Freiheit ein. Die institutionellen Vorgaben für die Gestaltung des persönlichen Lebens schrumpfen: Partnerschaften auf Zeit treten neben die Verpflichtung zu lebenslanger Gemeinschaft; die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft wird zum Thema persönlicher Entscheidung; der Erwerb einer neuen Staatsangehörigkeit wird leichter. Die lebensverlängernden Möglichkeiten der Medizin führen zu dem Postulat, dass die Freiheit des Menschen auch die Bestimmung über den eigenen Todeszeitpunkt einschließt.

Doch mit den Spielräumen menschlichen Freiheitsgebrauchs wachsen auch die Gefahren, die der Freiheit drohen. Der Einzelne fühlt sich von der Vielfalt der Optionen überfordert. Und er stößt sich darüber hinaus an der ungleichen Verteilung der Freiheitschancen. Der Gegensatz zwischen Reichtum und Armut verschärft sich im eigenen Land wie weltweit; zugleich dämmert es, dass der heutige Freiheitsgebrauch zugleich ein Freiheitsverbrauch zu Lasten künftiger Generationen ist. Der Klimawandel, der durch den heutigen Lebensstil verursacht wird, und die Schulden, die heutige Politik künftigen Generationen aufbürdet, sind die beiden deutlichsten Beispiele dafür.

Sosehr Menschen die Freiheit preisen, so sehr rufen sie zugleich nach Sicherheit. In der Gegenwehr gegen den global agierenden Terrorismus hat sich erneut die Gefahr gezeigt, dass die Verteidigung der Freiheit in ihre Gefährdung umschlagen kann. Die Ausbreitung demokratischer Verhältnisse ist kein Naturgesetz; sie ergibt sich keineswegs zwingend aus der Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien. Nur eine Minderheit der heute Lebenden erfreut sich politischer Handlungsspielräume, die als «frei» bezeichnet werden können. Oft wird die Religion zur Begründung von Freiheitsbeschränkungen herangezogen; Beobachter entnehmen diesem Befund eine Gleichsetzung von «autoritär» und «religiös» auf der einen, von «freiheitlich» und «säkular» auf der anderen Seite. Nicht nur Freiheit als solche, sondern das Verhältnis von Freiheit und Religion wird zu einem Schlüsselthema des 21. Jahrhunderts.

Doch was ist mit Freiheit gemeint? Dieses ebenso hohe wie gefährdete Gut ist schwer zu bestimmen. Es ist leichter, die Unfreiheit zu beschreiben als die Freiheit. Manche meinen, es sei sogar ein Verstoß gegen die Freiheit, wenn man über ihre negative Definition als Abwesenheit von Fremdbestimmung und Zwang hinausgeht. Aber Freiheit ist mehr; definitorische Vorsicht ändert daran nichts. Sie ist, wie der Philosoph Peter Bieri sagt, «das Gefühl, Urheber unseres Willens und Subjekt unseres Lebens zu sein». Die Sehnsucht nach Freiheit ist so stark, weil wir als Menschen nicht nur in einer Beziehung zu anderen, sondern auch zu uns selbst stehen. Uns bestimmt die Sehnsucht, dem eigenen Leben eine klare Richtung zu geben; wenn uns das gelingt, erfüllt uns das Glücksgefühl der Freiheit. Ein solches Gefühl lässt sich mit anderen teilen; aus ihm ergibt sich eher der Wunsch, Lebenssphären miteinander zu verknüpfen, als sie voneinander abzugrenzen.

Doch so wird die Freiheit nur selten betrachtet. Beherrscht wird die Diskussion von dem Gedanken, dass Freiheit ein Recht ist. Deshalb wird sie mit den Kategorien von Abgrenzung und Anspruch verbunden. Wie die Freiheit des einen von der Freiheit des anderen abgegrenzt wird, ist die eine Frage, die immer wieder gestellt wird. Die andere Frage bezieht sich darauf, welche Ansprüche sich aus dem Freiheitsrecht des Einzelnen gegenüber der Rechtsgemeinschaft, also gegenüber dem Staat, ergeben. Schon lange beschränken sich diese Ansprüche nicht mehr darauf, dass der Staat sich von der Sphäre individueller Freiheit fernzuhalten hat; vielmehr werden auch staatliche Leistungen zugunsten der individuellen Freiheit in Anspruch genommen.

Je mehr diese Denkweise den Freiheitsdiskurs bestimmt, desto stärker konzentriert er sich auf die individuelle Freiheit des Einzelnen. Nun haben die Fragen nach Abgrenzung und Anspruch ihr gutes Recht. Doch fraglich ist, ob Freiheit auf diese Weise in ihrer Fülle wahrgenommen wird. Denn konkret wird sie nicht einfach durch Anspruch und Abgrenzung; konkret wird sie vielmehr nur durch ihren Gebrauch. Die Antworten auf die Frage, wofür Freiheit gebraucht wird, sind vielfältig; aber das macht das Gespräch darüber weder unmöglich noch unnötig. Gestalt gewinnt die Freiheit unter den jeweiligen Bedingungen von Zeit und Ort; diese Gestalt ist abhängig von den Gelegenheiten, die sich bieten, und den Fähigkeiten, über die wir verfügen. Im konkreten Gebrauch haben wir es mit einer bedingten und endlichen Freiheit zu tun; gerade das macht sie kostbar.

Wenn es um Verwirklichungsfragen geht, treten Freiheit und Gerechtigkeit in ein unlösliches Wechselverhältnis miteinander. Wir können von den Kämpfen derer, denen die Freiheit vorenthalten und verweigert wird, nicht absehen. Wenn wir ihre Sehnsucht nach Freiheit ignorieren, beschädigen wir die Freiheit selbst. Freiheit ist also kein individueller Besitz; sie verwirklicht sich in einer Ordnung, die allen den Zugang zur Freiheit ermöglicht. Die Einzelnen müssen dazu befähigt werden, ihre Gaben zu nutzen; die Teilhabe an der Gesellschaft muss ihnen offenstehen. Eine solche Sichtweise schmälert die individuelle Freiheit nicht. Es kommt ihr vielmehr zugute, wenn man in Kommunikation und Solidarität genuine Ausdrucksformen der Freiheit erkennt.

Auf den Begriff der «kommunikativen Freiheit» hat mich der Philosoph Michael Theunissen im Jahr 1978 aufmerksam gemacht. Er hat ihn damals im Rahmen seiner Interpretation von Hegels Logik entwickelt. Mir ging auf, dass mit «kommunikativer Freiheit» ein Charakteristikum des christlichen Glaubens gut umschrieben ist. Denn zu dessen Merkmalen gehört, dass er Freiheit und Nächstenliebe miteinander verbindet. Jeder Auslegung des christlichen Glaubens muss daran gelegen sein, diese Verbindung weder als Einschränkung der Freiheit noch als Schwächung der Liebe zu verstehen.

Durch diesen Anstoß wurde «kommunikative Freiheit» zu einem Leitbegriff meiner Theologie. Immer deutlicher trat mir vor Augen, dass die reformatorische Theologie, an die paulinischen Briefe anknüpfend, sich von diesem Begriff aus erschließt. Seit dem Ende der siebziger Jahre habe ich mein Konzept der Sozialethik von hier aus entwickelt und mein Verständnis der Kirche als «Raum und Anwalt der Freiheit» daran ausgerichtet. Mein Versuch, eine «öffentliche Theologie» zu entwickeln, hat sich maßgeblich an diesem Leitbegriff orientiert. Aber auch in kirchenleitender Verantwortung habe ich mich von solchen Überlegungen bestimmen lassen; deshalb war es für mich folgerichtig, dass der Reformprozess der Evangelischen Kirche in Deutschland unter das Motto «Kirche der Freiheit» gestellt wurde.

Ich habe deshalb keinen Einwand dagegen, dass der südafrikanische Theologe Willem Fourie meine theologische Arbeit insgesamt vom Begriff «Communicative Freedom» aus darstellt. Und ich bin dankbar dafür, dass das Konzept von anderen aufgenommen wurde. Zu nennen ist insbesondere die Weiterführung durch Heinrich Bedford-Strohm in seinem sozialethischen Konzept einer Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit. Vor zehn Jahren haben Autoren aus unterschiedlichen Fachgebieten in dem von Hans-Richard Reuter gemeinsam mit Heinrich Bedford-Strohm, Helga Kuhlmann und Karl-Heinrich Lütcke herausgegebenen Buch Freiheit verantworten als Antwort auf die Herausforderungen der Moderne interpretiert. Darin wird insbesondere die These entfaltet, dass die Freiheit des Glaubens, die Freiheit des Gewissens und die verfasste Gestalt der Freiheit in Staat, Gesellschaft und Kirche in einem klaren Zusammenhang stehen.

An diesem Beispiel zeigt sich, dass meine Theologie sich insgesamt im Austausch mit anderen entwickelt hat. Den Kolleginnen und Kollegen sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den verschiedenen Phasen meiner beruflichen Tätigkeit verdanke ich nicht nur Unterstützung, sondern auch entscheidende Anregungen. Das kommt auch in diesem Buch zum Ausdruck, das aus einer Initiative von Helga Kuhlmann entstanden ist. Ihr und Tobias Reitmeier danke ich für die Idee und ihre Ausführung. Ebenso herzlich auch Ulrich Nolte, der das Buch verlegerisch betreut hat.

Wer «öffentliche Theologie» betreibt, lässt sich bewusst auf die Herausforderungen als Zeitgenosse ein. Das wird auch an diesem Buch erkennbar, in das Arbeiten aus unterschiedlichen Entstehungsjahren Eingang gefunden haben. Der früheste Text geht auf einen Vortrag aus dem Jahr 1978 zurück; der jüngste Text wurde im Jahr 2011 veröffentlicht. Doch die von Helga Kuhlmann und Tobias Reitmeier aus einem weit umfangreicheren Material ausgewählten Abschnitte dieses Buches werden trotz mancher Weiterentwicklungen durch einen Bogen zusammengehalten. Angesichts der Vielfalt heutiger Optionen will ich verdeutlichen: Verantwortete Freiheit aus dem Geist des christlichen Glaubens ist eine plausible Lebensform für das 21. Jahrhundert.

Wolfgang Huber

I.
Das Erbe der Reformation

Theologie der Befreiung – ein Anstoß Martin Luthers

Worin liegt der Ausgangspunkt der politischen Ethik in der Reformation? Ist sie für uns heute nur noch anstoßerregend oder kann sie Anstöße geben, die weiterwirken? Am Beispiel Luthers und der Tradition, die sich auf ihn beruft, will ich diesen Fragen nachgehen. Die Schweizer Reformation Zwinglis und Calvins, gerade für die Fragen der politischen Ethik von nicht geringerem Gewicht, bleibt außer Betracht.

Der Streit um die politischen Folgen der Reformation

Ein verbreitetes Urteil sieht die wichtigste politische Folge der Reformation in der Erziehung der Deutschen zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, im Untertanengeist. Der Begriff der Obrigkeit ist durch Luther in der deutschen Sprache heimisch geworden; der berühmte Satz des Paulus, mit dem das 13. Kapitel des Römerbriefs beginnt, wurde nicht zufällig in Luthers Übersetzung zum geflügelten Wort: «Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott. Wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet.»

Welche Gestalt auch immer die Obrigkeit haben mag, was auch immer sie befiehlt, sie ist von Gott verordnet und kann auf Unterwerfung Anspruch erheben. Der Untertanengeist, so scheint es, ist bei Luther und in Luthers Rückgriff auf Paulus angelegt. Am deutlichsten zeigt er sich in den flammenden Worten, mit denen der Reformator den aufrührerischen Bauern entgegentritt, als er sie auffordert, ihren Widerstand gegen die Obrigkeit aufzugeben, alle Gewaltsamkeit einzustellen und zum schlichten Gehorsam zurückzukehren. Die Fürsten aber ermuntert und ermächtigt er, mit allen verfügbaren Gewaltmitteln den Widerstand der Bauern gegen die rechtmäßige Obrigkeit zu brechen. Ja: denen, die den Ungehorsam gewaltsam niederringen, verspricht der Reformator, der Wiederentdecker der Rechtfertigung allein aus Glauben, himmlischen Lohn: «Solch wunderliche Zeiten sind jetzt, dass ein Fürst den Himmel mit Blutvergießen verdienen kann, besser denn andere mit Beten.»

Was hat Luther zu einer derart schroffen Apologie des Untertanengeistes veranlasst – oder soll ich sagen: verführt? Zwei Momente spielen zusammen.

Zunächst: Luther war darin ein zutiefst mittelalterlicher Mensch, dass er von der realen Wirksamkeit des Teufels überzeugt war. Die Welt – das ist für ihn der Schauplatz des Kampfes zwischen Gott und dem Teufel. Dieser Kampf dauert an bis zum Jüngsten Tag. Aufgabe des Menschen ist es, sich an diesem Kampf auf Gottes Seite zu beteiligen und im Ringen mit den Mächten des Bösen die Erde zu erhalten. Eine christliche Obrigkeit hat die Aufgabe, dem Bösen entgegenzutreten und im weltlichen Regiment am Kampf Gottes mit dem Teufel teilzunehmen. Im Aufstand der Bauern sah Luther einen Ausbruch des Teuflischen im Menschen; ihre Gewalttaten hatten für ihn dämonische Gestalt. Deshalb sein Appell an die Fürsten zum rücksichtslosen Einschreiten.

Das andere trat hinzu: Luther trennte sich darin vom Mittelalter, dass er der Vermischung von religiösen Hoffnungen und politischen Zielen den Abschied gab. Die mittelalterliche Kirche, die geistliche und weltliche Herrschaft zugleich ausüben wollte, hatte ihn die Notwendigkeit gelehrt, zwischen beidem deutlich zu unterscheiden, wenn auch keineswegs zu trennen. Das geistliche Regiment Gottes wirkt nur durch das Wort, nicht durch Gewalt. Darin unterscheidet es sich vom weltlichen Regiment, in welchem dem Bösen auch mit den Mitteln der Gewalt gewehrt werden muss. Bei den Bauern aber sah Luther eine heillose Vermischung von politischen Forderungen und religiösen Vorstellungen am Werk. Sie wollten ihrem Widerstand dadurch ein unbezweifelbares Recht geben, dass sie die Gerechtigkeit, die sie einklagten, mit dem Reich Gottes gleichsetzten.

Gegen diese Vermischung richtete sich Luthers Protest. Und weil er von dem Gedanken, die Welt sei durch den Kampf zwischen Gott und dem Teufel bestimmt, nahezu besessen war, verstieg er sich bis zur Verteufelung der Bauern – wie er übrigens aus demselben Grund auch die Papisten und die Juden mit maßlosen und erschreckenden Worten verteufelte. Darüber ging ihm schließlich sogar der Sinn für die Forderungen der Bauern, die auch er als durchaus berechtigt anerkannt hatte, verloren. So versperrte er Teilen des Protestantismus bis zum heutigen Tag den Zugang zu der Frage, ob der Glaube politische Konsequenzen hat, ja wann er äußerstenfalls in den zivilen Ungehorsam gegen einzelne staatliche Entscheidungen oder in den politischen Widerstand gegen eine ungerechte Staatsordnung als solche fahren kann.

Ich will noch ein weiteres Motiv in Luthers Denken erwähnen, aus dem sich erklärt, warum wir mit der Frage nach den politischen Folgen der Reformation zunächst Obrigkeitsgehorsam und Untertanengeist verbinden. Luther hat die Gehorsamspflicht gegenüber der Obrigkeit mit den Pflichten der Kinder gegenüber den Eltern in Parallele gesetzt und beides aus dem Vierten Gebot abgeleitet, das dazu anhält, Vater und Mutter zu ehren. Daraus ergibt sich die Vorstellung, der Fürst als Landesvater und alle Amtspersonen seien mit väterlicher Gewalt ausgestattet; sie hat sich den Deutschen tief ins Gemüt gegraben. Kaum ein Gedanke der Reformation war so erfolgreich wie dieser. Er wurde noch dadurch unterstützt und bestärkt, dass auch die Kirche selbst sich unter die Obhut der Landesväter begab. Die Fürsten – und mochten sie in Einzelfällen wie in Sachsen oder Bayern auch katholisch sein – erhielten die Würde eines obersten Bischofs ihrer jeweiligen evangelischen Landeskirche; bis zur Novemberrevolution des Jahres 1918 hatte diese Regelung Bestand. Das Staatskirchentum dieses landesherrlichen Kirchenregiments stützte noch wirksamer als alle theologischen Überlegungen und Katechismusformeln den Untertanengeist, der deshalb noch heute als die wichtigste politische Folge der Reformation erscheint.

Wusste die Reformation über das Verhältnis von Glauben und Politik nichts anderes zu sagen, als zum Gehorsam aufzufordern? Es gibt in Luthers Werk eine unübersehbare, wenn auch häufig verdrängte andere Linie, die aus der Einsicht in die Befreiung der Gewissen Konsequenzen für das Handeln der politischen Obrigkeit wie der Gewaltunterworfenen zieht. Luther hat, darin seiner Zeit weit voraus, die Glaubens- und Gewissensfreiheit als Grenze der staatlichen Gewalt und von hier aus die Sicherung menschlicher Grundrechte als Maßstab zur Beurteilung staatlichen Handelns betrachtet. Dieser ungewohnte Schritt ergibt sich aus der Entschiedenheit, mit der Luther das Evangelium als Freiheitsbotschaft und den christlichen Glauben als Weg der Freiheit begriff. Was ich seine politische Theorie der Gewissensfreiheit nennen will, wurde häufig vergessen und verdrängt; doch den Kern der reformatorischen Entdeckung hielt er ohne Zweifel höher als Obrigkeitsgehorsam und Untertanengeist.

Von der Freiheit eines Christenmenschen

Trotz der fatalen Geschichte lutherischer Staatsfrömmigkeit bleibt richtig: Die weltgeschichtliche Bedeutung der Reformation hängt an der Radikalität, mit der die Reformatoren ein einziges Thema ins Zentrum der christlichen Existenz wie des theologischen Nachdenkens rückten. Reformation heißt insgesamt nichts anderes als die Wiederentdeckung der christlichen Freiheit. Dass es sich dabei um eine überraschende Entdeckung handelt, hat Luther durch den provozierenden Widerspruch deutlich gemacht, mit dem er die christliche Freiheit beschrieb. Von der Freiheit eines Christenmenschen heißt der Titel der entscheidenden reformatorischen Schrift, mit der er im Jahr 1520 die in der päpstlichen Bannbulle gegen ihn gerichteten Vorwürfe zurückweisen wollte. Den Inhalt dieser Schrift bündelte Luther in zwei Thesen: «Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.»

Die paradox klingende Verknüpfung von Freiheit und Dienst findet man ebenso bei einem anderen großen Theologen der Reformation, bei Johannes Calvin: «Gott zu dienen ist die höchste Freiheit.»

Inwiefern handelt es sich bei diesem Hinweis auf die christliche Freiheit um eine neue Entdeckung, an die anzuknüpfen heute noch lohnt? Dieser Frage will ich etwas genauer nachgehen. Ich will zunächst klären, worin sich denn die christliche Freiheit zeigt. Ich will dann die Behauptung verfechten, dass man das Erbe der Reformation heute als eine «Theologie der Befreiung» entfalten muss. Und ich will schließlich einige Schritte der Befreiung erwägen.

Reformation heißt nichts anderes als die Wiederentdeckung der christlichen Freiheit. An die Reformation anzuknüpfen heißt, Anschluss an diese gefährliche Entdeckung zu suchen. Die Entdeckung der christlichen Freiheit ist deshalb gefährlich, weil sie jeden, der sie für sich in Anspruch nehmen will, dazu nötigt, sie auch kritisch gegen sich selbst gelten zu lassen. Christliche Freiheit im reformatorischen Verständnis hat einen selbstkritischen Sinn.

Darin unterscheidet sie sich von einer verbreiteten Form des Redens von Freiheit und ihres Gebrauchs. Verbreitet ist es, dass man von anderen die Gewährleistung von Freiheiten fordert, um selbst von den Folgen der Freiheit entlastet zu sein. Verbreitet ist etwa das Verständnis des freiheitlichen Rechtsstaats als eines Gemeinwesens, das individuelle Freiheiten schützt – unabhängig davon, ob die Bürger mit ihnen verantwortlich umgehen oder nicht. Freiheit bedeutet in einer solchen Denkweise den Schutz vor der Macht des anderen, mehr nicht.

So über die Freiheit zu denken ist keine moderne Erfindung. Schon lange vor der Reformation waren derartige Denkweisen geläufig. Insbesondere die Freiheit der Kirche selbst war ein vertrautes Thema. Gefordert wurde die Freiheit der Kirche von fremder Macht, nämlich der Macht des Staates. Die Macht- und Prachtentfaltung der Kirche selbst galt dagegen geradezu als Ausdruck ihrer Freiheit.

Doch die Reformation fordert nicht nur die Freiheit der Kirche, sondern versteht die Kirche als Ort der Freiheit. Der Grund ist einfach: Freiheit ist nicht das Resultat menschlichen Handelns. Die Machtentfaltung der Kirche kann so wenig Freiheit verbürgen, wie dies staatlicher Macht möglich ist. Es gibt keine andere Freiheit als die, die aus der freisprechenden Gnade Gottes kommt. Alles andere ist Selbstbetrug oder Heuchelei: die aberwitzige Vorstellung nämlich, der Mensch könne aus eigener Kraft den breiten Graben überspringen, der ihn von Gott trennt. Nur der «fröhliche Wechsel», in dem Gott von sich aus ein Bündnis mit dem sündigen Menschen eingeht, die «fröhliche Wirtschaft», in der Christus als sündloser Bräutigam das «arme, verachtete, böse Hürlein» der menschlichen Seele zur Ehe nimmt – nur dieser dramatische Übergang von der Perspektive des Menschen zur Perspektive Gottes erschließt eine Freiheit, die mehr ist als Selbstbetrug oder Heuchelei.

Für die Reformation ist es kennzeichnend, dass sich in ihr die äußerste Konzentration des Glaubens mit einer so vorher nicht bekannten Weite verband. Die Konzentration vollzog sich darin, dass der christliche Glaube insgesamt ganz streng am gekreuzigten und auferweckten Christus allein und damit an der Rechtfertigung des Menschen vor Gott orientiert wurde. Die Weite zeigt sich darin, dass sowohl der Glaube des Einzelnen als auch das Leben der christlichen Gemeinde, nicht zuletzt aber auch der Bereich des Politischen dem Vorrang der Freiheit unterstellt wurden.

Der «fröhliche Wechsel» bleibt also nicht – wie die Tradition des Obrigkeitsgehorsams nahelegt – auf die Seele des Menschen beschränkt. Der Übergang von der Perspektive des Menschen auf die Perspektive Gottes hat vielmehr weitreichende Folgen. Diese Konsequenzen lassen sich schon bei Luther selbst erkennen.

Im Jahr 1523 veröffentlicht er eine Schrift unter dem Titel Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei. Liest man diese Schrift mit unseren heutigen Augen und versucht man, ihren Inhalt mit unseren Worten zu wiederholen, so sagt sie: Was den Menschen zum Menschen macht, ist unabhängig davon, was er zu leisten vermag; die Würde der menschlichen Person ist jeder Manipulation durch eigenes Handeln wie jedem Zugriff durch staatliche Instanzen entzogen. An der Personwürde hat alle Machtausübung ihre Grenze – oder in Luthers Sprache: «Über die Seele kann und will Gott niemand lassen regieren, denn sich selbst alleine.» Deshalb ist es dem Staat verboten, für den Bereich des Glaubens Gesetze aufzustellen. Die staatlichen Autoritäten verstoßen gegen ihr Amt, wenn sie die Staatsangehörigen mit Gewalt auf einen bestimmten Glauben verpflichten wollen. Die Freiheit des Menschen ist eine ihm von Gott gegebene und geschenkte Freiheit. Daraus ergibt sich die Forderung, dass der Staat, aber auch alle anderen gesellschaftlichen Kräfte die Freiheit des Glaubens und des Gewissens zu achten und zu schützen haben. Überschreitet der Staat diese Grenze, so ist für Luther das Recht zu gewaltfreiem Widerstand, ja die Pflicht zu passivem Ungehorsam gegeben.

Nicht die Freiheit, die man durch eigene Leistung erringt, sondern die geschenkte Freiheit, die aller Menschenwürde zugrunde liegt, bildet den Inhalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Historisch betrachtet wie auch in der Sache haben die Menschenrechte in der Glaubens- und Gewissensfreiheit ihren Grund.

Der entscheidende Beitrag Europas zur politischen Kultur der Neuzeit ist also unlöslich mit dem reformatorischen Freiheitsverständnis verknüpft. Diese Erinnerung hebt die andere Einsicht nicht auf, dass weit weniger Grund zum Stolz auf die politische Kultur der europäischen Neuzeit besteht, als oft behauptet wird. Beispiellos sind die Grausamkeit und der Erfindungsreichtum bei Gewalt und Gewaltmitteln, die von Europa ausgingen; die europäischen Überlegenheitsgefühle sind weithin haltlos und von überheblicher Arroganz. Doch der neuzeitliche Gedanke der Menschenrechte, von christlichen Gruppen auf dem Weg von Europa nach Amerika formuliert, ist ein wichtiger Beitrag Europas zur politischen Kultur einer gefährdeten Weltgemeinschaft. Ein entscheidender Anstoß dafür liegt in der reformatorischen Entdeckung der christlichen Freiheit.

Die Reformatoren haben diese Entdeckung nicht nur nach außen geltend gemacht, sondern zugleich kritisch gegen die Kirche selbst gewandt. «Es ist unter den Christen kein Oberster, denn nur Christus selber und allein», sagt Luther 1523.

«Und was kann da für Obrigkeit sein, da sie alle gleich sind und einerlei Recht, Macht, Gut und Ehre haben, dazu keiner begehrt, des anderen Oberster zu sein, sondern jeder will des anderen Unterster sein.» Das ist ein umstürzlerischer Gedanke: die christliche Gemeinde als eine Gemeinschaft von Menschen, in der jeder des anderen Unterster sein will, die christliche Gemeinde als ein Ort herrschaftsfreien, geschwisterlichen Umgangs miteinander. Wer diese Vorstellung ernst nimmt, sieht sich zu radikaler Kirchenkritik genötigt: zur Kritik an einer Kirche, die immer wieder Freiheit durch Herrschaftsmechanismen sichern, die Freiheit verwalten will. Und diese Kritik ist umso nötiger, als die Kirche durch die Missachtung der Freiheit im Inneren zugleich ihren entscheidenden politischen Beitrag schuldig bleibt. Denn nach der Vorstellung der Reformation entfaltet die christliche Gemeinde durch ihr eigenes herrschaftsfreies Leben zugleich eine ansteckende und ausstrahlende Wirkung für die Bereiche von Staat und Gesellschaft, von denen sie zugleich sorgfältig unterschieden bleibt.

Diese Behauptung klingt zunächst verwirrend. Denn Luther ist in den letzten Jahrzehnten ja vor allem deshalb immer wieder bemüht worden und wird von Politikern mit Vorliebe deshalb zitiert, weil er angeblich die Unterscheidung der zwei Reiche, des geistlichen und des weltlichen Regiments, erfunden haben soll. Tatsächlich ist ihm diese Unterscheidung, wie schon gezeigt, wichtig. Er begreift eben staatliches Handeln vor allem als strafendes Gewalthandeln gegenüber denen, die die Rechtsgemeinschaft gefährden. Weltliche Obrigkeit – so denkt er – ist vor allem deshalb nötig, weil es in jedem Gemeinwesen «Unchristen» – und sei es auch getaufte – gibt, die nur durch Gewalt von bösen Taten abgehalten werden können. Gewalt aber ist ein Mittel des weltlichen und nicht des geistlichen Regiments. Dort herrscht das Wort, nicht die Gewalt.

Der Gewaltcharakter ist es also, in dem das weltliche Regiment und der Bereich staatlicher Herrschaft deutlich und schroff vom geistlichen Regiment unterschieden sind. Doch neben diese Unterscheidung tritt die Verbindung. Sie zeigt sich zunächst in dem Hinweis auf die Grenzen des Staats: Jedes Eingreifen in die Freiheit des Gewissens und des Glaubens ist ihm untersagt. Sie zeigt sich aber auch in der konstruktiven Beziehung zwischen beiden. Christen werden durch das Wort Gottes dazu beauftragt und herausgefordert, ihre Aufgaben in Staat und Gesellschaft im Dienst des Nächsten wahrzunehmen. Christliche Freiheit zeigt sich in der konstruktiven Phantasie, mit der ein Christ ein «Knecht aller Dinge und jedermann untertan» wird.

Das ist die Grundlage lutherischer Ethik im Ganzen: Im praktischen Handeln fallen die Orientierung am Willen Gottes und die vorbehaltlose Zuwendung zum Mitmenschen zusammen. Auch für die politische Ethik steht keine andere Basis zur Verfügung; der Gedanke, die Politik folge eigenen Gesetzen, deren normativer Anspruch sich gegen jene Basis durchsetzen konnte, ist ausgeschlossen. Vertrauen zum Willen Gottes und Liebe zum Mitmenschen zeigen sich indes gerade in der Freiheit der Vernunft. Deshalb sieht Luther eine entscheidende Voraussetzung für verantwortliche politische Entscheidungen in der Bereitschaft, auf den Rat anderer «mit freier Vernunft und unbefangenem Verstand» zu hören. An solchen Beratungsvorgängen beteiligt er sich selbst mit unermüdlicher Ausdauer. Er hält es für seine Aufgabe als «Doktor der Heiligen Schrift», zu politischen Problemen Stellung zu nehmen und entsprechende Anfragen seiner Landesherren und anderer Fürsten pünktlich zu beantworten. Daraus spricht mehr als bloßes Pflichtbewusstsein. Luther will die Folgen der christlichen Freiheit für die politischen Konflikte seiner Zeit deutlich machen.

Freiheit und Befreiung

Wäre man diesem Ansatz treu geblieben, hätten sich manche politischen Irrwege des deutschen Protestantismus vermeiden lassen. Ausgeschlossen wäre es zumindest gewesen, dass man Glauben und praktisches Handeln einfach auseinanderreißt oder beziehungslos nebeneinanderstellt.

In diesem Sinn hat man freilich den reformatorischen Ansatz häufig missverstanden. Als der Protestantismus sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts der rasanten Dynamik der modernen Wissenschaft und Technik sowie der Entfaltung des imperialen Machtstaats ausgesetzt sah, reagierte er darauf mit dem Rückzug in die Innerlichkeit der Gesinnung. Angesichts der Eigengesetzlichkeit einer Politik, die den Imperativen der Macht gehorcht, und angesichts der Eigendynamik einer Wirtschaft, die den Imperativen von Konkurrenz und technischer Entwicklung folgt, fand der Glaube nur noch im Herzen und Gewissen der Einzelperson einen Ort. Die christliche Freiheit wurde als Innerlichkeit, als Herzensbildung, als Verhältnis des Einzelnen zu seinem Gott verstanden. Die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders wurde nun individualistisch ausgelegt. Die Unterscheidung der beiden Reiche gewann dadurch einen ganz neuen, von Luther selbst weit entfernten Sinn. Die politische Bedeutung der christlichen Freiheit wurde vergessen; damit aber wurde ihr Sinn halbiert.

Für den Protestantismus mussten schon die Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Regime und der eigenen Anfälligkeit für die völkische Ideologie ein Grund sein, diese Verkürzung der christlichen Freiheit auf reine Innerlichkeit zu überprüfen. Dem entspricht eine verbreitete Kritik aus Kirchen der Dritten Welt. Dort wird gesagt: Die christliche Freiheit muss politische Konsequenzen haben; sonst wird sie zum egoistischen Trost des Einzelnen. Diese Anfrage nehme ich auf, wenn ich die reformatorische Theologie in bewusster Konzentration als Theologie der Befreiung verstehe. Der Anklang an die lateinamerikanische Theologie der Befreiung ist dabei durchaus beabsichtigt.

Erläutern will ich meine Behauptung genau an dem Thema, das man für den Individualismus des evangelischen Freiheitsverständnisses immer in Anspruch genommen hat, nämlich am Gedanken der Gewissensfreiheit.

In jedem einschlägigen Schulbuch begegnet das Ereignis, mit dem Luthers Vorstellung von der Freiheit des Gewissens identifiziert wird. Als der Wittenberger Mönch im Jahr 1521 vor Kaiser und Reichsständen in Worms alle seine bisherigen Schriften widerrufen sollte, antwortete er in der Öffentlichkeit des Reichs mit jenen berühmten Sätzen, die bis heute als Grundaussage der protestantischen Gewissensfreiheit gelten:

Wenn ich nicht durch das Zeugnis der Heiligen Schrift oder Gründe der Vernunft überwunden werde, denn weder dem Papst noch den Konzilien allein vermag ich zu glauben, da es feststeht, dass sie wiederholt geirrt und sich selbst widersprochen haben, so halte ich mich überwunden durch die Schrift, auf die ich mich gestützt habe, so ist mein Gewissen in Gottes Wort gefangen, und darum kann und will ich nichts widerrufen, weil gegen das Gewissen zu handeln weder sicher noch lauter ist. Gott helfe mir!

Hier hat die Freiheit des Gewissens eine unmittelbar öffentliche Wirkung. Weil er sich im Gewissen unmittelbar angesprochen weiß, folgt Luther dem Grundsatz, in einem solchen Konflikt Gott mehr zu gehorchen als den Menschen. Das Gewissen begegnet uns hier als die Instanz, die zur Auflehnung gegen herrschende Autoritäten berechtigt. Wenn man den Protestantismus als die Religion der Gewissensfreiheit versteht, dann beruft man sich auf sein kritisches Potential, auf die in ihm aufbewahrte Bereitschaft zu Auflehnung und Protest. Zum Protestantismus gehört der Widerspruch gegen alle Anmaßungen in Kirche und Staat, stellvertretend für den Einzelnen zu entscheiden und ihn von seiner unvertretbaren Verantwortung zu entbinden. Deshalb ist die Erinnerung an das reformatorische Verständnis christlicher Freiheit gefährlich. Verpflichtet sie doch jeden, sich seiner freien Vernunft und seines unbefangenen Verstandes zu bedienen.

Was geht uns der Kurfürst in Fragen des Glaubens an, kann Luther ganz respektlos fragen. Das Gewissen ist für ihn nicht ein Instrument der Anpassung, sondern der Kritik. Es ist nicht nur – wie heute viele Psychologen oder Soziologen erklären – eine Instanz, mit deren Hilfe der heranwachsende Mensch an die herrschenden Normen einer Gesellschaft angepasst und zum funktionierenden Glied dieser Gesellschaft sozialisiert wird. Vielmehr beruft Luther sich auf das Gewissen, wo er alle Anpassung verweigern muss. Um des Gewissens willen kann er sich weder dem Papst noch dem Kaiser unterwerfen, sondern muss seine scharfe Kritik an der kirchlichen Lehre und den kirchlichen Zuständen seiner Zeit aufrechterhalten.

Luther hat sich also in seiner Zeit durch die Übermacht der Institution nicht davon abbringen lassen, seinem Gewissen zu folgen. Denn er sah darin nicht nur eine persönliche Regung, sondern eine Verpflichtung gegenüber der Anrede durch das Wort Gottes. In dieser Tatsache als solcher begegnet uns die Revolution, die die reformatorische Wende noch heute für das Verständnis der Freiheit darstellt. Freiheit des Gewissens kann ihr zufolge nämlich nicht verstanden werden als eine Rückzugsposition, in die man vor öffentlicher Inanspruchnahme fliehen kann, als eine Fluchtburg des Individuums, in der es vor staatlichen Eingriffen sicher ist, als ein Bereich persönlicher Entscheidung, über deren Gründe keine Rechenschaft abzugeben ist. Bei Luther hat die Gewissensfreiheit öffentliche Relevanz; über die Gründe der im Gewissen getroffenen Entscheidungen kann und muss Rechenschaft gegeben werden. Gewissensentscheidungen bilden sich nicht einfach in der Einsamkeit des Individuums, sondern in der Kommunikation mit anderen. Sehr viel realistischer erscheint mir Luthers Gewissensbegriff als seine modern-individualistische Variante – und theologisch sehr viel ernsthafter dazu. Für Luther bedeutet Gewissensfreiheit nämlich vor allem: Man kann den Konsequenzen nicht ausweichen, die sich aus dem Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes ergeben. Die Einheit von Freiheit und Bindung begegnet auch hier wieder als charakteristischer Grundzug reformatorischen Christentums.

Woher aber speist sich bei Luther die Entschiedenheit, in der er vom Gewissen spricht und seinem Gewissen folgt? Dazu noch einmal ein Satz des Reformators: «Die Gewissen aufzurichten und zu ermuntern, ist nichts anderes als Tote auferwecken.» Der alte Mensch stirbt, der neue ersteht zum Leben. Dieser Umschwung ist das Thema des reformatorischen Bekenntnisses. Der Mensch ist nach Luthers Vorstellung hin- und hergeschleudert in den Strudeln des Kampfs zwischen Gott und dem Bösen. Er ist wie ein Reittier, das immer den Befehlen desjenigen folgt, der auf ihm sitzt. So hat auch das Gewissen eine ganz gegensätzliche Funktion – je nachdem, welcher Reiter es mit Beschlag belegt. Ist es vom Bösen, vom Satan, bestimmt, so wird es zu einer bösen Bestie, die den Menschen zwingt, gegen sich selbst zu stehen. Nur wenn Christus in ihm regiert, kann von einem guten Gewissen die Rede sein.

Das ist eine überraschende Auswirkung von Luthers Ansatz: Das gute Gewissen ist nicht der Zustand, in den ich gerate, wennich selbst etwas Gutes getan habe, dessentwegen ich beruhigt schlafen kann. Das gute Gewissen ist das von Gott freigesprochene Gewissen, das durch die Anrede Gottes in die Freiheit versetzte Gewissen. Freiheit erlangt der Mensch nicht durch eigenes Handeln; sie ist nicht das Ergebnis seiner Leistungen. Von Freiheit zu reden heißt vielmehr: von erfahrener Befreiung zu sprechen. Diese Befreiung ist «nichts anderes als Tote auferwecken». In diesem genauen Sinn ist reformatorische Theologie immer Theologie der Befreiung. Die Freiheit von Gesetz, Sünde und Tod, von der Macht des Teufels, vom Zorn Gottes, vom Jüngsten Gericht erfährt der Christ im Gewissen, weil Christus ihm als Befreier begegnet.

Jede Generation macht ihre eigenen Erfahrungen mit der Aktualität der Einsicht, dass Befreiung den Grund aller Freiheit bildet. Für viele ist das Reaktorunglück in Tschernobyl zum Symbol dafür geworden, wie schrecklich der Versuch scheitern kann, das menschliche Leben auf die eigenen Taten, auf die eigenen Leistungen aufzubauen und umfassend durch eigenes Tun abzusichern. Die Bedeutung des Symbols reicht aber über das jeweils aktuelle Ereignis weit hinaus, so einschneidend es war. Es verweist auf den neuzeitlichen Streit um den Sinn menschlicher Freiheit.

In der Neuzeit streitet die reformatorische Theologie der Befreiung mit einem anderen Freiheitsprojekt, das die menschliche Freiheit als selbstgemachte, selbst hergestellte Freiheit begreift. Die Technik wird zum entscheidenden Mittel dieser Freiheit; deshalb erfährt jeder technische Fortschritt eine positive Wertung. Das gigantische Experiment, die Natur mit technischen Mitteln der Herrschaft des Menschen zu unterjochen, ist von der Sehnsucht angetrieben, in dieser Herrschaft über die Erde den Sinn des menschlichen Lebens insgesamt zu verwirklichen.

Einem Freiheitsverständnis, das an Selbstverwirklichung und Selbstdurchsetzung gebunden ist, tritt im christlichen Glauben die Erinnerung an eine Befreiung entgegen, kraft deren Menschen sich als begrenzt wahrnehmen und auf Allmachtsphantasien verzichten können. Diese Erinnerung ist den verschiedenen konfessionellen Traditionen gemeinsam. In Assisi ist sie ebenso präsent wie in Wittenberg; der heilige Franz ist ebenso ihr Zeuge wie Martin Luther.

Luther hat die christliche Freiheit nicht individualisiert. Zu seinen Grundüberzeugungen gehörte vielmehr die Einsicht, dass keiner seine Freiheit für sich behalten kann. Sie ist kein persönlicher Besitz, sondern drängt auf Auswirkungen im Verhältnis zu anderen. In der Zuwendung zum Fremden, im Mitleiden, in praktischer Solidarität gewinnt die Freiheit konkrete Gestalt. Der erfahrenen Befreiung folgen Taten der Befreiung. An diese reformatorische Einsicht müssen sich Christen und Theologen im alt gewordenen Europa immer wieder von Christen und Theologen, katholischen zumal, aus der Dritten Welt erinnern lassen. Sie müssen sich daran erinnern lassen, dass auch für Luther die guten Werke zwar keine Bedingung des Heils, wohl aber eine notwendige Folge des Glaubens waren. Unter ihnen aber steht vornan, für die Freiheit des anderen einzutreten. Die Befreiung der Gewissen kann man also nicht dafür in Anspruch nehmen, dass man sich vom anderen absondert, ihn seinem Schicksal überlässt oder ihn gar im eigenen Interesse übervorteilt. Es gibt eine breite Tradition des protestantischen Individualismus, die durch Luthers Freiheitsvorstellung gerade nicht gedeckt ist. Denn für ihn hingen christliche Freiheit und Solidarität unlöslich zusammen.

Schritte der Befreiung

Deshalb gehört zu einer Theologie der Befreiung die Suche nach Schritten der Befreiung. Wer von der christlichen Freiheit herkommt, kommt um Schritte der Befreiung nicht herum. Worin können sie bestehen? In aller Zuspitzung gebe ich drei Hinweise.

Zunächst: Christliche Freiheit ist Befreiung vom Zwang zur Selbstrechtfertigung. Was ist deren praktischer Sinn? Welche Folgen hat es, wenn wir uns von der zwanghaften Vorstellung lösen, dass wir den Sinn unseres Lebens durch unser Handeln und durch unser Haben selbst herstellen? Was verändert sich, wenn wir uns von der zwanghaften Vorstellung lossagen, dass wir durch unsere Vorkehrungen absolute Sicherheit erreichen könnten? Schritte der Befreiung gehen von dem Vorrang eines geschenkten Seins vor einem hervorgebrachten Haben aus. Eine Theologie der Befreiung schließt deshalb heute eine Ethik der Selbstbegrenzung ein. Deren dringlichste Themen liegen auf der Hand: die Bewahrung der Umwelt, die Beendigung jenes Umgangs mit den Ressourcen der Erde, in dem die Industrie- und Schwellenländer sie auf Kosten der Zweidrittelwelt und der künftigen Generationen verschleudern. Zur Theologie der Befreiung gehört der Abschied vom Imperativ des technischen Zeitalters, nach dem der Mensch alles tun soll, was er tun kann. Zu ihr gehört auch der Abschied von der Vorstellung, man könne absolute Sicherheit errüsten – und wenn nicht auf der Erde, so doch wenigstens im Weltraum. Die evangelischen Kirchen in der DDR haben diesen Abschied einst als die Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung bezeichnet.

Eine zweite Perspektive schließt sich an. Für reformatorisches Verständnis sind Freiheit und Unterdrückung unvereinbar. Luther hat das für das Zusammenleben in den christlichen Gemeinden selbst durch die einprägsame Forderung verdeutlicht, in ihnen solle jeder Christ dem anderen der Unterste sein. Heute hat der kirchliche wie politische Sinn dieser Forderung globale Ausmaße angenommen. Die Frage, ob die christliche Kirche eine Gemeinschaft radikaler Gleichheit zwischen Schwestern und Brüdern bildet, stellt sich heute im weltweiten Maßstab: im Verhältnis nämlich zwischen reichen und armen Kirchen in der einen ökumenischen Christenheit.

Doch vielleicht verstellen uns eigene, sicher wohlerwogene politische und wirtschaftliche Interessen den Blick für die Unterdrückung im Namen der Freiheit. Dadurch aber gewinnt eine Theologie der Befreiung für Christen in einer reichen Industrienation ein neues, ein besonders heikles und dramatisches Thema: die Aufklärung über diejenigen Interessen bei uns selbst, die der Erkenntnis im Weg stehen, wie unsere besondere Form der Freiheit durch die Armut und Unterdrückung anderer erkauft wird.

Das führt mich zu einer letzten Perspektive. Für den christlichen Glauben gehören Freiheit und Liebe zusammen. Freiheit verwirklicht sich am reinsten in selbstloser Solidarität. Schärfer als durch diesen Hinweis lässt sich freilich der Widerspruch zwischen christlichem Freiheitsverständnis und der Freiheitsauffassung des neuzeitlichen Besitzindividualismus gar nicht fassen. Nach der besitzindividualistischen Konzeption nämlich realisiert sich Freiheit in der Konkurrenz, in der Selbstdurchsetzung, im eigenen Fortkommen. Der Satz «Leistung soll sich wieder lohnen» ist ein unverstandener und unverständiger Nachklang dieser besitzindividualistischen Konzeption. Dem tritt eine andere Vision entgegen, nach der Freiheit und Liebe zusammengehören. Freiheit verwirklicht sich im Miteinander mit dem anderen Menschen, nicht im Gegeneinander. Freiheit verwirklicht sich in der Solidarität, nicht in der Konkurrenz.

Die Spannung zwischen diesen beiden Visionen der Freiheit wurde lange verdrängt – besonders gründlich in der Bundesrepublik, die auf die Frage nach dem Sinn der Freiheit mit wirtschaftlichen Wachstumsraten antwortete. Diese Spannung wieder ernst zu nehmen, ist an der Zeit. Dann freilich muss man auch die Bewegungen in unserem Land ernster nehmen, die in einer Welt der Konkurrenz die Freiheit der Solidarität in kleinen Schritten auszubreiten suchen.

Solche Entwicklungen und Bewegungen fordern eine Vorordnung der Solidarität vor die Konkurrenz, der Würde des anderen vor die eigenen Rechte, des gemeinsamen Friedens vor die rücksichtslose Selbstdurchsetzung. Es könnte an der Zeit sein, in solchen Versuchen Folgen christlicher Freiheit zu sehen, Schritte der Befreiung, auch: Anstöße der Reformation.

Die Bedeutung der Reformation – 500 Jahre danach

«Wittenberg, ruhmreiche Stadt Gottes, Sitz und Burg der wahren katholischen Lehre, Hauptstadt des sächsischen Kurfürstentums, die berühmteste Universität in Europa und der bei weitem heiligste Ort des letzten Jahrtausends», so lautet die Überschrift über einer Wittenberger Stadtansicht um 1560. Es ist ein kolorierter Holzschnitt Lucas Cranachs des Jüngeren und seiner Werkstatt.

Nur etwa fünfzig Jahre früher sprach man über Wittenberg noch nicht in so hohen Tönen. Man befürchtete vielmehr, es liege «in termino civilitatis», am Rande der Zivilisation. Dennoch folgte der Erfurter Augustinermönch Martin Luther 1508 dem Ruf Friedrich des Weisen, an der jungen Wittenberger Universität Philosophie zu lehren.

Heute trägt diese Stadt den Namen «Lutherstadt Wittenberg». Den Namen des Mannes, der ihr zu weltweitem Ruf verholfen hat, hat sie sich zu eigen gemacht. In der Schlosskirche fanden Martin Luther und Philipp Melanchthon ihre letzte Ruhe; das preußische Herrscherhaus ließ sie zu einer Reformationsgedächtniskirche umbauen.

Der Erfurter Augustinermönch Martin Luther war bei seinen Freunden und Kommilitonen als Musikliebhaber und geselliger Student bekannt. Doch in seinem Innern durchgrübelte er zugleich Tag und Nacht die Frage nach dem gnädigen Gott. Ihn beschäftigte die Frage: «Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?»

Heute heißt die Frage: Wofür bin ich da? Was ist meine Aufgabe im Leben? Wie finde ich zu einem sinnerfüllten Leben? Wenn es denn Gott gibt – kann ich etwas tun, was bei ihm Anerkennung findet?

Luther entdeckte damals in der Bibel eine Antwort, die trägt. Er lernte durch sein Studium der Heiligen Schrift Neues über Gott. Im Römerbrief des Apostels Paulus, den er in den frühen Wittenberger Jahren unermüdlich studierte, stieß er auf Gerechtigkeit, die vor Gott gilt – nämlich eine Gerechtigkeit, die Gott selbst schafft. Welche andere sollte denn vor Gott gelten können? Klar trat ihm vor Augen, was es bedeutet, wenn es im Römerbrief heißt: «Der Gerechte wird aus Glauben leben» (Röm 1,16f.).

Die existentielle Kraft, die nach Luthers eigenem Zeugnis dieser Glaubenseinsicht zukam, lässt sich auch heute erschließen. Niemand muss sich einen gnädigen und barmherzigen Gott verdienen, weil Gott immer schon gnädig und barmherzig ist. Niemand muss sich einen Lebenssinn erarbeiten, es gilt ihn im Glauben zu finden. Kein Mensch muss Gott gütig stimmen, sondern Gott bestimmt uns durch seine Güte. Gott erweist sich als gnädig, deshalb brauchen wir ihm nichts zu beweisen. Wer das glaubt, der ist gerettet. «Der Gerechte wird aus Glauben leben.»

Diese Erkenntnis brachte einen Wind der Freiheit in die fest gefügte mittelalterliche Welt. Die Angst vor einem richtenden, strafenden Gott, die Sorge um das zukünftige Seelenheil, der Zweifel im Blick auf die eigene Würdigkeit und Rechtschaffenheit – die Sorgen einer ganzen Weltsicht fielen in sich zusammen. Die Entdeckung der Gnade Gottes weckte eine neue Lust an der Freiheit. Frei von den Albträumen der Sorge. Frei für die Liebe zu Gott. Frei für den Dienst am Nächsten. Eine solche Erfahrung änderte alles, sogar den Namen: Aus Martin Luder wird Martin Luther, damit das griechische Wort für Freiheit, eleutheria, im Namen des Reformators anklingt.