Cover

Jochen Schmidt

Ein Auftrag
für Otto Kwant

Roman

C.H.Beck

ÜBER DAS BUCH

Otto Kwant, aus einer Dynastie von Baumeistern stammend, studiert Architektur und findet sich zu seiner großen Überraschung an der Seite des Stararchitekten Holm Löb in Urfustan wieder, einem postsowjetischen, zentralasiatischen Staat mit seltsamen Gebräuchen, merkwürdigen Regeln und dem autoritären Staatschef Zültan Tantal an der Spitze.

Löb scheint verschwunden zu sein, und Otto Kwant soll plötzlich selbst das neue Gebäude der Deutschen Botschaft und sogar, von Zültan Tantal persönlich beauftragt, den «Palast der Demokratie» bauen. Aber bizarre Begegnungen, kuriose Attacken und verwirrende Sanktionen häufen sich, und Otto Kwant möchte bald nur noch eins: weg aus Urfustan. Doch so einfach ist das nicht. Auf seiner Flucht stößt Otto Kwant auf Dörfer der deutschen Minderheit in Urfustan, kapert einen Reisebus mit deutschen Rentnern und gerät immer wieder in fast ausweglose Situationen. Jochen Schmidts neuer Roman erzählt die komisch-melancholische und abenteuerliche Flucht Otto Kwants, der die Welt mit seinen Bauten eigentlich nur ein wenig schöner machen will und dabei in einer ihrer undurchschaubarsten Ecken landet.

ÜBER DEN AUTOR

Jochen Schmidt wurde 1970 in Ostberlin geboren und lebt dort. Er ist Journalist, Autor und Übersetzer.

INHALT

I

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

II

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

III

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

I

KAPITEL 1

Otto Kwant lag auf seinem ausklappbaren Schlafsofa, dem am wenigsten häßlichen Modell, das für ihn bei IKEA bezahlbar gewesen war, und starrte gelangweilt auf den Bildschirm des auf seinem Schoß thronenden Laptops mit der geöffneten Datei des Vorworts von «Laube – Kolonie – Heterotopie», das Daniel Le Bihan seinem Bildband voranstellen wollte, denn, obwohl der Text kaum länger war als die Liste der Literatur, die angeblich darin eingeflossen war, schaffte Otto es seit Tagen nicht, sich auf die Ausführungen des Photographiephilosophen und architektonischen Quereinsteigers zu konzentrieren, geschweige denn, sie mit Korrekturanmerkungen zu versehen, obwohl er mit nichts anderem beschäftigt war und sich nur jede volle Stunde einen kurzen Ausflug auf seine bevorzugten Architektur-Websites gestattete, um die herrlichen Häuser zu bewundern, die ständig auf der ganzen Welt gebaut wurden, von denen man aber in der Realität seltsamerweise kaum je etwas zu Gesicht bekam. Eine Obstfliege setzte sich auf den Bildschirm, Otto stach mit dem Cursorpfeil nach ihr, ohne sie zu beeindrucken, und bemerkte dabei zum ersten Mal, daß der Pfeil, sobald er die Grenze der weißen, einem Blatt Papier nachempfundenen Hintergrundfläche des Texts erreichte, die Form eines Schienenprofils annahm. Otto zog den Ärmel seines Hemds über den Daumen der rechten Hand und wischte damit den Staub vom Bildschirm. Das Frühlingswetter war nur dafür gut, sein Zimmer schäbig und verdreckt aussehen zu lassen, so daß sich die Vorstellung, er hause in der kreativen Unordnung eines Ateliers, mit der er sich selbst in besseren Momenten schmeichelte, als traurige Illusion entpuppte. Durch das Drücken einer mit einem verwachsenen π versehenen Schaltfläche auf der Symbolleiste, blendete Otto die Formatierungszeichen im Text ein, zwischen den Wörtern erschienen Pünktchen, die durch nochmaliges Drücken der Schaltfläche wieder verschwanden. Wenn er das schnell genug wiederholte, mutete das Punktraster wie eine nächtlich pulsierende Leuchtschrift an. Otto entdeckte ein überflüssiges Leerzeichen zwischen «disruptive» und «Design» und löschte es. Danach hatte er das Bedürfnis, den Text ein weiteres Mal auszudrucken, um mit neuem Schwung eine frische und nun wirklich fehlerfreie Version lesen zu können. Aber er würde wohl trotzdem wieder auf halbem Weg die Lust verlieren. Wen interessierte überhaupt das Vorwort von «Laube – Kolonie – Heterotopie»? Es klang so gestelzt, aufgeblasen und gewollt hermetisch wie die Vernissage-Laudatio eines mit dem Künstler befreundeten Kunstkritikers. Seit einer Woche quälte Otto sich mit diesem Auftrag herum, tagsüber ließ er sich von anderen Dingen ablenken, und nachts lag er lange wach, wenn er an die fragile Konstruktion seiner ökonomischen Existenz dachte, seine fatale Abhängigkeit vom Job als Korrekturleser beim «Augenschmaus»-Verlag, mit dem er sich eine Auszeit finanzieren wollte, die er brauchte, um in aller Ruhe seine Entwurfsaufgabe im Fach Freiraumplanung fertigzustellen, eine Voraussetzung, um das Architekturstudium zu beenden, was allerdings seit deutlich mehr als einer Woche überfällig war. (Bei seinem Vorhaben, einen Spielplatz für ein Flüchtlingsheim zu gestalten, sowie ein Modell davon zu bauen, das er im Plenum präsentieren konnte, hatte sich Otto in so umfangreichen Recherchen verloren, daß er sich eine Auszeit von wenigstens einem halben Jahr wünschte, um sich ohne Ablenkung diesem Projekt widmen zu können. Die Gestaltung eines idealen Spielplatzes entpuppte sich als Aufgabe, die über ästhetische Fragen weit hinausging und theoretische Vorarbeiten nötig machte. Material aus verschiedenen Kulturkreisen, das schwer zu beschaffen war, mußte verglichen, Erkenntnisse aus Entwicklungspsychologie, Kognitionswissenschaften und Stadtökologie mußten berücksichtigt, Erfahrungen aus partizipativen Bauprojekten ausgewertet werden.) Er tröstete sich damit, daß viele der größten Architekten, die er bewunderte, nie Architektur studiert oder zumindest ihr Studium nie abgeschlossen hatten; Le Corbusier, Mies van der Rohe, Walter Gropius, Peter Behrens, Friedrich Kiesler, wer hätte sie nach einem Diplom gefragt? Es war geradezu ein Ausweis ihrer Exzellenz, daß sie sich mit so etwas nicht aufgehalten hatten, nachdem sie der Hochschule abgetrotzt hatten, was ihnen dieser Ort bieten konnte. Bauen lernte man nicht im Hörsaal. Für Anfänger war es natürlich schwer, an Aufträge zu kommen. Viele Architekten hatten deshalb mit einem Gebäude für ihre Eltern debütiert. Robert Venturi hatte ein Haus für seine Mutter gebaut (der das Nachbarhaus im traditionellen Stil des 19. Jahrhunderts dann allerdings besser gefiel), es war eine Kampfansage gegen den Purismus der Moderne gewesen, ein einziges Gebäude hatte die Postmoderne eingeleitet. (Otto bewunderte die Intelligenz, die Angriffslust und den Sinn für Humor, mit denen Venturi in seinen Büchern für seine scheußliche Ästhetik warb.) Statt sich regelmäßig nach den Fortschritten seines Studiums zu erkundigen und ihn damit kognitiv zu blockieren, hätten Ottos Eltern ihm lieber den Auftrag geben sollen, ein neues Haus für sie zu bauen. Vielleicht würde es auch einmal eine Architektur-Ikone werden, die man eines Tages als Residenz für Studenten stiften könnte, damit sie darin Ruhe zum Arbeiten fänden, wie es im Fall von Richard Rogers’ für seine Eltern errichteten Londoner Hauses geschehen war? Ideen hatte Otto genug, nur müßte man zuerst ihr altes Haus abreißen, um den nötigen Platz zu schaffen (auch geistig), und dazu waren seine Eltern zu zögerlich, sie vertrauten ihm einfach nicht. (Otto war wohlbehütet in einem weitgehend fensterlosen Egon-Eiermann-Plagiat aufgewachsen, gegen dessen Wände man wegen der Betonformsteinwaben nicht Tennis spielen konnte. Zu den größten Umbrüchen in seinem Leben hatte der Übergang von QUADRO zu DUPLO und anschließend zu LEGO gehört. Seine Kindheit war davon überschattet gewesen, daß er in seinem Zimmer keine Poster aufhängen durfte und daß seine Filzstifte in ihrer Klarsichtverpackung stets ein korrektes Farbspektrum ergeben mußten. Auf Spaziergängen nahm Ottos Vater immer einen Müllbeutel mit, um vor Gebäuden, die er bewunderte, Unrat einzusammeln.)

Otto legte den Laptop beiseite und blätterte im opulenten «Augenschmaus»-Frühjahrskatalog, der ihm wieder einmal ungefragt zugesandt worden war, was immer einen Gang zur Post und stundenlanges Schlangestehen bedeutete. Als Spitzentitel wurde ein großformatiger Bildband über den Burj Khalifa angepriesen, die Buchgestalter hatten sich selbst übertroffen und ein Leporello geschaffen, auf dessen 828 Seiten jeder Meter des Turms komplett abgebildet war. Der Verlagschef Dr. Rainhold Fagner hatte sich mit diesem Titel gegen die neue Art-Direktorin Brigitte Baran durchgesetzt, die das Programm von «Augenschmaus», wie sie in einer Strategiesitzung angekündigt hatte, «aufrauhen» wollte. «Laube – Kolonie – Heterotopie» war ihr Lieblingsprojekt, sie hielt Daniel Le Bihan für einen der brillantesten Köpfe seiner Generation. Lauben, diese «Architektur ohne Architekt», holten das kollektive Unterbewußte ans Licht, dieser Gebäudetyp stehe mit Kiosken, Garagen oder Toilettenhäuschen ganz unten in der Hierarchie der Stadtlandschaft, dabei sei es eigentlich an der Zeit, daß sich der Denkmalschutz für ihn interessiere. Es ginge hier einmal nicht darum, wie Architekten zeitgemäßes Bauen definierten, sondern um das, was architektonische Laien in einem widersprüchlichen und lustvollen Prozeß von Nachahmung, Überbietung, Aneignung von Versatzstücken und Improvisation an Variationen von Heimat konstruierten (woran viele Architekten bekanntlich scheiterten), diese Gebäude seien gebauter Jazz, führte sie aus, wobei sie sich dafür entschuldigte, daß es ihr manchmal schwerfiel, im Deutschen die richtigen Worte zu finden, Brigitte war auf Betreiben von Dr. Fagners einflußreicher Tochter und designierter Nachfolgerin vom Pariser «Augenschmaus»-Stammhaus nach Köln gewechselt. Dr. Fagner gab zu bedenken, daß viele Besucher aus der Dritten Welt die Laubenkolonien an den Rändern deutscher Großstädte für Slums hielten, wie sie ihnen von zu Hause vertraut waren. Brigitte Baran dankte für die Bemerkung, denn das sei ja der Punkt, das Neue entstehe an den Rändern, dem optischen Reiz einer Favela-Siedlung könne man sich nur schwer entziehen, nicht umsonst habe die Lauben-Architektur in ihrer russischen Version bekanntlich als Inspiration für «Wischnjowy sad» gedient, eine Luxus-Siedlung, die Le Bihan in einer Top-Lage von Moskau gebaut hatte. Das hatte ihm den Condé Nast Traveller Innovation & Design Award (Reader’s Choice) eingebracht, was allerdings nicht viel bedeutete, da es ungefähr drei Dutzend Architekturpreise gab, deren Namen sich niemand merken konnte und die nur dazu dienten, den Neid der Kollegen am Leben zu erhalten. Die wenigen Menschen, die wußten, womit sich Architekten befaßten, hielten diese für einen unnötigen Kostenfaktor, während dem Rest des Publikums als Merkmal eines gut entworfenen Hauses schon ein Spitzdach und eine geräumige Garage genügte. Dr. Fagner hatte sich trotzdem für den Burj Khalifa als Spitzentitel entschieden, man müsse auch «die Zahlen» im Blick haben, und ein Buch, in dem das höchste Gebäude der Welt komplett abgebildet war, habe es noch nicht gegeben, mit so einer Neuheit könne man punkten, vor allem auf dem bisher kaum erschlossenen arabischen Markt. Außerdem waren die Vertreter von diesem Titel auf Anhieb begeistert gewesen (vielleicht hatte es sie aber auch nur zum Buffet gezogen, das draußen schon aufgebaut war).

Otto wollte den Computer runterfahren, aber es erschien eine Meldung mit der Frage, ob die Änderungen gespeichert werden sollten, er hatte ja ein Leerzeichen entfernt. Er probierte aus, ob es den Computer schon zufriedenstellte, wenn er das Leerzeichen wieder einfügte, aber es funktionierte nicht, der Computer erkannte nicht, daß die Datei sich nicht verändert hatte. Oberflächlich betrachtet hatte die Maschine ja recht, in ihrer äußeren Gestalt hatte die Datei sich nicht verändert, denn sie war Zeichen für Zeichen dieselbe wie vorher, aber in einem höheren Sinne hatte sie eine Entwicklung durchgemacht, Erfahrungen gesammelt und war zudem etwas älter geworden. Otto speicherte den Text und änderte den Namen des Verzeichnisses, in dem er seine Word-Dateien aufbewahrte, von «Taxte» in «Texte», das hatte er schon lange vor sich hergeschoben. Er fuhr den Rechner runter, stellte ihn neben sich auf dem Boden ab, schloß die Augen und versuchte, an Gebäude zu denken, die er entwerfen wollte, wenn er den Abschluß endlich in der Tasche hätte und nach zwei Jahren Sklavenarbeit in irgendeinem Architekturbüro in die Architektenkammer aufgenommen würde und bauvorlageberechtigt wäre. Die Bilder, die er sah, waren unscharf, die Formen ließen sich nicht fixieren, aber gerade dadurch überkam ihn beim Träumen manchmal eine brennende Lust, endlich zu bauen. Das war es doch, was er wollte, warum verlor er das immer wieder aus dem Blick? Aber er mußte ja sein Studium beenden und vorher durch Korrekturlesen das Geld zusammenbekommen, mit dem er sich die für seine Entwurfsaufgabe nötige Auszeit finanzieren konnte. (Otto hatte das Bedürfnis, bevor er eigene Ideen entwickelte, mit ganzer Kraft die Wesensforschung zu betreiben, die Gropius als einzigen Weg für die Suche nach der zeitgemäßen, praktischen, haltbaren, billigen und damit auch schönen Form gesehen hatte. Es ging schließlich um nicht weniger als einen Gegenentwurf zu unserer Gesellschaft in Gestalt eines Spielplatzes. Der Spielplatz war kein marginaler Ort im Stadtraum, sondern sein Herzstück.) Es müßte einen Weg geben, seine Traumbilder ohne den Umweg über Skizzen oder teure Software in die Realität zu überführen, denn bei der konkreten Arbeit an einem Entwurf verflüchtigte sich das Lustgefühl allzuleicht. Und das Kribbeln, das er beim Träumen empfand, war doch manchmal das einzige, was ihn noch daran erinnerte, daß er dabei war, einer Leidenschaft zu folgen.

Wie so oft war er beim Träumen von der Zukunft eingeschlafen und wachte vom Klingeln seines Telefons auf. Er schaffte es nicht rechtzeitig, das Gerät aus der engen Hosentasche zu ziehen und abzuheben. Brigitte Barans Sekretariat hatte ihn angerufen, und wenig später traf eine Meldung ein, daß man ihm auf die Mailbox gesprochen hatte. Dort waren schon mehrere Nachrichten von Ottos Mutter gespeichert, die er sich nicht abzuhören traute, weil er immer fürchtete, sie wolle ihn über die neuesten Todesfälle in der Familie informieren. Er atmete tief durch, tippte auf das Display und wartete, daß eine von Brigitte Barans beiden Sekretärinnen abnahm. Zu seiner Überraschung nahm sie aber selbst ab. Sie klang wie immer streng, ihre Stimme ließ keinen Zweifel daran, welche Eigenschaften nötig gewesen waren, um es als Frau in ihrem Beruf so weit zu bringen. Otto sollte sich morgen Vormittag bei ihr im Büro einfinden. Was hatte das zu bedeuten? Sollte er entlassen werden? Aber vielleicht wäre das ja die Rettung? Vielleicht würde eine weitere Verschlechterung seiner ökonomischen Lage ihn zwingen, seinen Weg mit noch größerer Konsequenz zu gehen, sich nicht auf die Sicherheit eines Diploms zu verlassen, wie Le Corbusier, Mies, Gropius, Behrens und Kiesler es vorgemacht hatten? Wenn er so wenig mit seiner Zeit anfing wie in den letzten Tagen, dann sah es zwar so aus, als tue er nichts, aber im Grunde tat er gar nicht nichts, sondern er wehrte sich nur standhaft gegen Kompromisse. Es kostete ihn seine ganze Kraft, lieber reglos auszuharren, als sich zu prostituieren.

Otto erhob sich mühsam vom Sofa und ging in die Küche, um sich eine Handvoll Rosinen in den Mund zu werfen wie Tabletten. Daß diese Früchte so lange haltbar waren, rechnete er ihnen hoch an. Er kontrollierte die Obstfliegenfalle, die er auf ein Regalbrett gestellt hatte. Sie bestand aus einem Fläschchen mit einer braunen Lockflüssigkeit, das unter einem Tonnendach aus Pappe stand, dessen Innenfläche mit Leim präpariert war. Die Obstfliegen, die sich, vom Geruch betört, dem Fläschchen näherten, klebten, sobald sie das Pappdach berührten, daran fest. Otto hatte im Laden lange gezögert, ob er auf sein Gewissen hören und sich für die etwas teurere Version der Falle entscheiden sollte, die über das INSECT RESPECT®-Gütesiegel verfügte, weil ca. 50 Cent des Kaufpreises darin investiert wurden, den mit diesem Produkt verbundenen Insektenverlust andernorts durch die Schaffung insektenfreundlichen Lebensraums zu kompensieren, so daß der fatalen Entwicklung entgegengewirkt werden konnte, daß es durch den Flächenfraß immer weniger Insekten auf der Welt gab: der Donut-Effekt, die Verödung von Ortskernen durch die Streuung der städtischen Bevölkerung auf suburbane Einfamilienhausgebiete, von wo sie über das Auto an die Konsumgüterindustrie gekoppelt war, was eine zunehmende Versiegelung von Flächen für Straßen, Einkaufscenter und Parkplätze vor Einkaufscentern, für Logistikcenter und Parkplätze vor Logistikcentern nötig machte. Schließlich hatte Otto seufzend die 50 Cent geopfert. Jetzt betrachtete er das Fläschchen, auf dem sich wieder eine Anzahl von Obstfliegen niedergelassen hatte, die aber noch zu geschickt oder zu glücklich gewesen waren, um mit dem klebrigen Dach in Berührung zu kommen. Otto klopfte vorsichtig gegen die gewölbte Pappe, die Fliegen erhoben sich alle gleichzeitig, um vor der Gefahr zu flüchten, ein Teil von ihnen flog direkt in den Tod, während andere durch Zufall den Ausgang fanden, sich aber nicht sehr weit von der Falle entfernten. Es würde nicht lange dauern, dann würden sie umkehren und ihren Fehler wiederholen, es war ihnen nicht gegeben, aus dem, was ihnen widerfahren war, für die Zukunft die richtigen Schlüsse zu ziehen.

KAPITEL 2

Otto klopfte an die gläserne Tür von Brigitte Barans Büro. Obwohl sie ihn durch die Scheibe sehen konnte, schien es ihm angebracht zu klopfen. Er zögerte kurz, ob er sein Zeigefingergelenk lieber eine andere als die fettige Stelle berühren lassen sollte, die entstanden war, weil anscheinend schon andere vor ihm an diese Tür geklopft hatten, oder ob es höflicher war, seinen Ekel zu überwinden und gerade dort zu klopfen, um sich nicht an der Ausbreitung der Verschmutzung zu beteiligen? Brigitte winkte ihn herein, ohne den Blick von den Kontaktabzügen zu heben, über die sie sich gerade beugte. Er betrat das Büro, in dem in bis zur Decke reichenden Regalen sämtliche «Augenschmaus»-Titel standen, immer mehrere Exemplare nebeneinander, die den Autoren, um Platz zu schaffen, gegenseitig zu Weihnachten geschenkt wurden, während in den Lücken zwischen den Regalen Stapel von Hochglanzzeitschriften aus den schwer voneinander abzugrenzenden Gebieten Architektur, Mode, Familie, Garten und «Living», in die natürlich nicht einmal Brigitte selbst je einen Blick warf, um die Wette wuchsen. Zu seinem letzten Geburtstag hatte Otto sich drei Titel aus dem Programm aussuchen dürfen und einen ganzen Nachmittag damit verbracht, wenigstens ein Buch zu finden, das ihn interessierte oder das sich zum Verschenken geeignet hätte, und sei es nur als Scherz (halb aus Mitleid, halb aus dem opportunistischen Drang, sich im Verlag beliebt zu machen, hatte er sich für «Auf Platte – Die schräge Fashion der Obdachlosen» entschieden, einen der bisher erfolglosesten «Augenschmaus»-Titel). Es war ihm unbegreiflich, wie das Geschäftskonzept dieses Verlags funktionieren konnte. Wer kaufte ein Popup-Buch der berühmtesten Fußballstadien der Welt? Ein Kochbuch mit Rezepten für «Bauhaus-Schnittchen»? Einen Bildband mit den Uniformen sämtlicher Fluggesellschaften? Es war im Grunde egal, worum es in den Büchern ging, Hauptsache, sie nahmen in den Buchhandlungen so viel Raum ein, daß sie möglichst viele andere Bücher verdrängten. Wenn 90% der Titel des Verlags nach spätestens einem halben Jahr remittiert und makuliert wurden, hatten sie ihre Aufgabe, als Bodyguards für die 10% halbwegs verkäuflichen zu dienen, schon erfüllt. Otto freute sich insgeheim bei dem Gedanken, daß in naher Zukunft, wenn die letzten Vorfahren der Digital Natives gestorben wären, niemand mehr bunt bedrucktes Papier kaufen würde, um dafür den Rest seines Lebens Miete zu zahlen, und daß das Verlagsimperium, zu dem «Augenschmaus» gehörte, zusammenbrechen würde. Aber wahrscheinlich würde man das Portfolio rechtzeitig auf Versandkataloge von Waffenproduzenten erweitern.

Brigitte Baran trug heute einen Hello-Kitty-Wollpullover, weiße Adidas-Trainingshosen und goldene Pumps. Ihre Kleidung wirkte wie der verzweifelte Versuch, die Frist in vollen Zügen zu genießen, die ihr bis zu einem Stilwechsel zum Charity-Lady-Outfit noch blieb. Hinter Brigitte Baran stand auf einem Hocker ein muskulöser Kleinwüchsiger, der ihr die Schultern massierte. Otto nahm auf einem Wassily-Sessel von Marcel Breuer Platz, deren Armlehnen für die Ellbogen immer etwas Trampolinhaftes hatten, und überlegte, wie er seine Verspätung mit «Laube – Kolonie – Heterotopie» erklären konnte, ohne die Wahrheit zu verraten, nämlich daß das Vorwort zu diesem Buch peinlich prätentiös und vollkommen überflüssig war.

«Herr Kwant, was halten Sie von Berlin?»

«Das Berlin?»

«Ja, die Hauptstadt.»

«Architektonisch?»

«Architektonisch, atmosphärisch, perspektivisch, das Gesamtpaket.»

«Ein bißchen weit im Osten, aber natürlich trotzdem immer eine Reise wert. Warum?»

«Weil wir Sie dort brauchen, vorausgesetzt, Sie sind einverstanden. Ahh … etwas höher, bitte … ja, genau da, das tut so weh … au!»

«Brauchen? Zum Korrekturlesen?»

«Nein, als Projektbetreuer. Sie sind ja nicht auf den Kopf gefallen.»

«Was denn für ein Projekt?»

Otto empfand gleichzeitig Freude, weil sich ihm möglicherweise eine Chance auftat, Geld zu verdienen, mit dem er sich Freiheit erkaufen konnte, und Panik, weil er instinktiv spürte, daß er in diesem Milieu auf eine Depression zusteuerte.

«Hätten Sie denn Zeit?»

«Vielleicht in den Semesterferien.»

«Wann sind die?»

«Da müßte ich mal gucken.»

«Ich glaube, Sie sollten nicht lange zögern, der Job ist eine einmalige Gelegenheit für Sie, den nächsten Schritt zu tun. Wir sprechen von ‹Himmels)s(turm› …»

«Das Microsoft der Architektur?»

«Ist das abwertend gemeint?»

«Ich weiß nicht, die würden es wahrscheinlich als Kompliment auffassen.»

Brigitte Baran stand auf und ging hinter ihrem Schreibtisch hin und her, ihr Physiotherapeut saß nun huckepack auf ihrem Rücken und machte weiter mit seiner Arbeit.

«‹Himmels)s(turm› hat uns eine dreibändige Monographie angeboten, die zum Anlaß des zehnjährigen Firmenjubiläums erscheinen soll, und man kommt, nebenbei gesagt, für die Herstellungskosten selbst auf. Wir brauchen einen Projektbetreuer. Die Arbeit wird ein halbes Jahr dauern. Vielleicht können Sie Dr. Löb beeindrucken. Weiter oben, au!»

«Kann ich mir das bis morgen überlegen?»

«Ein Samurai trifft seine Entscheidungen in sieben Atemzügen.»

«Ich muß aber erst die Durchsicht von ‹Laube – Kolonie – Heterotopie› beenden.»

«Keine Sorge, das habe ich vorhin schon für Sie erledigt.»

«Und wann soll ich nach Berlin fahren?»

«Das können Sie entscheiden, Hauptsache, Sie sind pünktlich, Holm Löb erwartet Sie morgen früh um 8 Uhr in seinem Büro.»

«Ich habe doch noch gar nicht zugesagt.»

«Aber ich. Und ich hoffe, Sie zwingen mich nicht, meine Entscheidung zu revidieren? Sie sind jetzt auf der Überholspur. Nutzen Sie die Chance, Sie wollen doch nach oben? Oder haben Sie andere Pläne für Ihr Leben?»

«Nicht, daß ich Zweifel an meiner Kompetenz hätte, aber warum schicken Sie gerade mich?»

«Sie haben einflußreiche Fürsprecher.»

«Doch nicht etwa mein Vater?»

«Es gibt hier im Haus ein paar Nostalgiker, die etwas auf seine Meinung geben.»

Zu seinem Leidwesen stammte Otto aus einer Dynastie von Architekten. Sein Großvater Otto hatte in der Kaiserzeit einige monumentale Postämter und Bahnhöfe entworfen, war in der Weimarer Republik aus der Mode gekommen, hatte sich beleidigt zurückgezogen, sich später bei den Nazis angebiedert und an Wohnsiedlungen gebaut (also hauptsächlich die «semitischen» Flachdächer durch Spitzdächer ersetzt), die von SPD-Stadtbaumeistern oder jüdischen Bauherren begonnen worden waren und die den unausrottbaren Ruf der Nazis gefestigt hatten, etwas für die kleinen Leute getan zu haben. Ottos Vater, Nepomuk Kwant, war in der Bundesrepublik zu einem der wichtigsten Kirchenbaumeister geworden, ein Erfolg, dem er seinen Spitznamen «Kirchen-Kwant» verdankte. Er hatte zahlreiche brutalistische Betonkirchen entworfen, von denen bereits einige entwidmet worden waren, woraufhin sie sofort ins Visier der Lokalpresse gerieten, die Waschbetonfassaden und Flachdach zu Schandflecken erklärte und nicht selten den Abriß provozieren konnte. An der Stelle wurden dann Einkaufscenter gebaut, oder man nutzte die Flächen als Parkplatz. Seine puristische und gleichzeitig monumentale Beton-Ästhetik wurde von Teilen der Kritik als Versuch gedeutet, die deutsche Schuld zu sühnen, andere Kritiker sahen darin den Wunsch, sich von der Vergangenheit zu distanzieren und in die Abstraktion zu flüchten, wieder andere wollten eine unheilvolle stilistische Verwandtschaft mit der Bunkerarchitektur der Organisation Todt erkennen. Otto hatte schon mit dem Gedanken gespielt, einen anderen Namen anzunehmen, aber ihm hatte der Mut dazu gefehlt und er hatte seine Mutter nicht enttäuschen wollen, die ihren Beruf als Bühnenbildnerin aufgegeben hatte, um mit ganzer Kraft ihren Mann zu unterstützen und ihm den Rücken freizuhalten. Sicher war sie es gewesen, die seinen Vater überredet hatte, sich für Otto einzusetzen.

Der kleinwüchsige Physiotherapeut verließ gemeinsam mit Otto das Büro. Er zog eine riesige, mit Rollen versehene Wilson-Sporttasche hinter sich her.

«Sie überpronieren.»

«Sie meinen, ich habe Plattfüße?»

«Knick-Senkfüße. Ich sehe so etwas.»

«Ist das gefährlich?»

«Lassen Sie sich Einlagen machen. Ich trage seit meiner Kindheit Einlagen. Das macht einen auch größer.»

«Zahlt das die Kasse?»

«Sogar zwei Paar pro Jahr, wenn Sie sich aufs Rezept schreiben lassen: ‹aus hygienischen Gründen›. Und machen Sie ab und zu einen Tag lang alles rückwärts, das trainiert die neuromuskuläre Ansteuerung.»

«Ich habe eigentlich gar keine Beschwerden.»

«Das merken Sie nur nicht, ab zwanzig hat jeder Arthrose. Die wartungsfreie Zeit ist vorbei.»

«Danke für den Tip.»

«Ich schick Ihnen die Rechnung.»

«Die Rechnung?»

«Für das Beratungsgespräch.»

«Ich wollte doch gar nicht beraten werden!»

«Das war ein Scherz.»

«Verstehe.»

«Was ist eigentlich so schlimm an diesem ‹Himmels)s(turm›?»

«Warum?»

«Weil alle anderen sich so standhaft geweigert haben, den Job anzunehmen.»

«Alle anderen?»

«Das ging jetzt den ganzen Vormittag. Was meinen Sie, wie sich Brigittes Musculus splenius capitis anfühlt?»

KAPITEL 3

Niemand war in der Szene so verhaßt, wurde so verspottet, gleichzeitig aber so heftig beneidet wie «Himmels)s(turm», und niemand hatte bei Bauherren, Politikern und Publikum, das bei dieser Kategorie von Gebäuden ja vorwiegend aus Touristen besteht, einen vergleichbaren Nimbus, auch wenn man lediglich virtuos darin war, sich fremde Ideen anzuverwandeln, und sei es nur, um zu verhindern, daß jemand anders sie umsetzte. Durch den Erfolg war «Himmels)s(turm» so einflußreich geworden, daß sich kaum jemand mit ihnen anzulegen wagte. Offenbar hatte kein erfahrenerer «Augenschmaus»-Autor so einen stupiden und dabei für den Ruf riskanten Auftrag übernehmen wollen, sonst hätte Brigitte Baran nicht Otto gefragt. Aber Otto sah die Chance, sich seine Auszeit zu finanzieren. Er könnte dann zwar nicht mehr sagen, daß er alle Kraft darangesetzt hatte, nicht das Falsche zu tun, aber es war vielleicht nur konsequenter, ehrlicher und letztlich auch mutiger, es wie die Mehrheit der Menschen zu tun und seine Ideale über Bord zu werfen. Bei einem Bad in der Banalität lernte man vielleicht eher schwimmen als beim Betrachten der Wellen aus sicherer Distanz.

Als Otto am nächsten Morgen pünktlich um 8:00 Uhr vor der Berliner Zentrale von «Himmels)s(turm» stand (er hatte den Nachtzug genommen, sich noch nicht umziehen können und bei Dunkin’ Donuts gefrühstückt), suchte er vergeblich nach einem Klingelknopf. Das Gebäude war ein umgebauter Hochbunker aus dem Zweiten Weltkrieg, die schwere Eingangstür aus COR-TEN-Stahl mit Edelrostoptik hatte weder eine Klinke noch eine Luke, dafür einen massiven Türklopfer, der eine wohl leider nicht nur unfreiwillige Ähnlichkeit mit einem männlichen Glied hatte. Otto scheute sich, dieses Objekt in die Hand zu nehmen und damit gegen die Stahltür zu schlagen. Aber bevor er sich überwinden konnte, öffnete sich die Tür von selbst. Eine Frau von Anfang dreißig, die ein knielanges, schwarzes Kleid mit langen Ärmeln, weißen Manschetten und Choker-Kragen trug, musterte ihn spöttisch und fuhr sich mit der Hand durch ihren schwarzen Undercut, als lese sie aus seinem Blick, daß etwas damit nicht stimmte. Sie griff nach Ottos Kinn, drehte seinen Kopf zur Seite und sagte: «Sie sollten sich die Haare abrasieren, das sieht besser aus bei Haarausfall. Lassen Sie mal sehen, Sie haben doch einen schönen Hinterkopf.»

Branka Lazar, die überhaupt nur Bauingenieurwesen studiert hatte, weil sich an dieses Studium kaum Frauen wagten, war die Beste ihres Abschlußjahrgangs an der Weimarer Bauhaus-Universität gewesen und hatte anschließend an der ETH Zürich über Margarete Schütte-Lihotzkys Frankfurter Küche promoviert. Otto erinnerte sich dunkel an ihren Namen, weil sie neben dem Studium schon ein Ingenieurbüro gegründet hatte, mit dem sie einen Preis für ein nachhaltiges, klimaneutrales, auf den Fahrradverkehr setzendes Mobilitätskonzept gewonnen hatte, das u.a. die temporäre Sperrung von Straßen für den Autoverkehr vorsah (um eine Art Asphaltstrand zu schaffen, auf dem flaniert, gespielt und gepicknickt werden konnte), wodurch in von Gewalt heimgesuchten Stadtvierteln der Dritten Welt öffentlicher Raum geschaffen und nachweislich die Mordrate gesenkt wurde. Nachhaltigkeit war heute ein universelles Verkaufsargument, sogar ein Land wie Katar hatte sich auf der EXPO in der kasachischen Hauptstadt Astana, die dem Thema zukünftiger Energien gewidmet war, mit diesem Begriff auf die eigene Tradition berufen, da schon der Prophet gefordert habe, kein Wasser zu verschwenden, selbst wenn man sich an den Ufern eines großen Flusses wasche.

Branka Lazar forderte Otto auf, ihr zu folgen, links und rechts des Gangs befanden sich Entwurfsbüros, in denen junge Männer mit Le-Corbusier-Brillen und bedrückend attraktive Frauen, eng beieinander wie eine Schulklasse vor der Abschaffung des Frontalunterrichts, vor riesigen Bildschirmen saßen und Otto keines Blickes würdigten. Es gab keine Fenster, weil die meterdicken Stahlbetonwände des Bunkers aus Denkmalschutzgründen nicht durchbrochen werden durften. Außer durch ein paar Schießscharten drang kein Licht herein.

Branka lieferte Otto vor der Glastür zu Holm Löbs Büro ab, prüfte noch einmal mit der Hand die Form seines Hinterkopfs und verschwand wortlos. Innen war niemand zu sehen, weshalb Otto schon wieder nicht wußte, ob er klopfen sollte. Es war jedenfalls zu spät, heimlich zu gehen, er würde den Rückweg gar nicht mehr finden. Löbs Schreibtisch war leer, es befand sich nicht einmal ein iPad darauf, nur eine Tasse mit goldenem Schlagring als Griff, auf der «I ♡ Russia» stand. Der Schreibtisch hatte keine Beine, sondern war über vier dünne, elegant geschwungene Stahlrohre an der Decke befestigt. Es war entweder eine Replik, oder, was Otto eigentlich nicht glauben konnte, das verschollene Original von Friedrich Kieslers «Flying Desk», 1930 von diesem kleinen, umtriebigen Architekten entworfen, der seine späten Jahre dem Traum von einem uterusähnlichen «Endless House» gewidmet hatte, einem Haus ohne rechten Winkel, das wie ein vergrößerter Hefeteigklumpen aussah, mit zahlreichen, blasenförmigen Kammern. An der Wand hinter dem Schreibtisch hing ein breitformatiges Neo-Rauch-Bild, auf dem eine Jagdgesellschaft um eine Baugrube stand, in der ein Bauarbeiter mit freiem Oberkörper damit beschäftigt war, mit einer Schaufel eine Raumkapsel freizulegen. Einziges Möbelstück neben Schreibtisch und Stühlen war eine Jurte. Aus dieser kam Holm Löb gekrochen, streckte sich und winkte Otto herein. Er gab ihm die Hand und sagte: «Herr Kwant? Brigitte hat mir Wunderdinge von Ihnen erzählt. Ich hoffe, Sie sind nicht überqualifiziert für uns.»

«Das hoffe ich auch.»

Otto betrachtete immer noch interessiert die Jurte.

«Da kann ich mich zentrieren», sagte Löb. «Ein Originalstück. Geniale Konstruktion. Die können Sie ganz allein in zwei, drei Stunden auf- oder abbauen. Wissen Sie, wie man da Möbel reinbekommt?»

Otto überlegte, aber er kam nicht darauf, die Öffnung war auf jeden Fall zu klein.

«Indem man die Jurte um die Möbel errichtet. Wenn das nicht philosophisch ist? Und riechen Sie das?»

Es roch nach Dorf und Ziegenmist.

«Das ist Benzin für die Neuronen», er tippte sich an die Stirn.

«Es riecht betörend, irgendwie nach Urlaub auf dem Land», sagte Otto.

«Urlaub? Wollen Sie mich umbringen? Das überlassen wir mal den endverbrauchenden Verhaltenseinheiten da draußen. Sie wissen, warum Sie hier sind? Ein Buch. Als ob es nicht schon genug davon gäbe, nicht wahr? Aber was soll man machen, wir feiern unser zehnjähriges Jubiläum, da ist man der Öffentlichkeit etwas schuldig. Wir haben drei Teams auf das Projekt angesetzt, um eine anregende Konkurrenzsituation zu schaffen. Das ist unsere Philosophie, wir kreieren Freiräume für Inspiration. Sie werden die Arbeit ein bißchen koordinieren, damit am Ende auch erfahrbar wird, wofür wir stehen. Frau Dr. Lazar wird Ihnen helfen, sobald sie die Zeit findet.» («Und wofür stehen sie?», hätte Otto gerne gefragt.)

Löb setzte sich auf den Schreibtisch, seine Füße hingen in der Luft, so daß es aussah, als schwebe er. «Es geht hier nicht darum, mit unseren Erfolgen zu protzen, das können wir dem ‹Taschen-Verlag› überlassen, sondern um unser Credo: ‹Neuland in den Köpfen›.»

Otto tat so, als mache er sich Notizen, aber er war noch zu müde, um sich zu konzentrieren. Er kritzelte nur endlose Säulen von Constantin Brâncuşi aufs Papier. Wie hielt Löb es in diesem fensterlosen Raum aus? Löb runzelte die Stirn: «Das sehen wir nicht gern. Wir wollen das erste papierlose Architekturbüro Europas sein. Also gewöhnen Sie sich diese Umweltsünde ab. Wir sind schließlich Pioniere des parametrischen Designs. Wir bauen keine Modelle mehr, wir lassen uns vom Computer Vorschläge machen, Visionen, die ein Mensch nie haben könnte. Unser Buch wird der Gedenkstein für eine abgeschlossene Epoche.»

Otto litt, seit er das Studium begonnen hatte, unter Verdauungsproblemen, vor allem, wenn er aufgeregt war. Sein Bauch krampfte sich zusammen, es fühlte sich an wie die Schläge eines Boxers, der genau den Moment abwartete, daß Otto sich etwas erholt hatte, um erneut zuzuschlagen. Er hatte keinen anderen Gedanken, als auf die Toilette zu gehen.

«Sie wundern sich vielleicht, warum ich mir die Zeit für Sie nehme? Ich bin ein unverbesserlicher Romantiker, ich möchte alle meine Mitarbeiter persönlich kennenlernen, auch wenn sich das nicht rechnet. Schauen Sie mal.»

Löb zeigte Otto das Display seines iPhones mit einem Newsletter, bei dem man in der Premium-Version verschiedene personalisierte Relevanzstufen einstellen konnte. Stolz führte Löb Otto vor, daß es heute keine einzige Neuigkeit zu lesen gab, die wichtig genug für ihn gewesen wäre. Der Newsletter war sein Geld wert.

«Und was ist das?» fragte Otto und zeigte auf eine in Glas gerahmte Zielscheibe, die an der rückseitigen Wand hing, gegenüber von Neo Rauchs Gemälde, sie hatte die Form einer menschlichen Silhouette, Stirn und Herz waren vollkommen durchlöchert.

«Das ist ein Geschenk von Zültan Tantal, die hat er mir signiert. Wir waren zusammen schießen, meine sah hinterher allerdings noch aus wie neu.»

«Und wer ist Zültan Tantal?»

«Der Präsident von Urfustan. Sehen Sie keine Nachrichten?»

Es kam Otto sehr gelegen, daß Branka Lazar erschien, um Löb abzuholen, der sich bei ihm dafür entschuldigte, daß er ihr Treffen für ein Meeting unterbrechen mußte. Ein Vertreter der Königsfamilie von Saudi-Arabien wartete, um mit ihm über das Projekt eines Wassermuseums mitten in der Wüste zu sprechen. Holm Löb hielt sich etwas darauf zugute, daß er von jedem ihrer zahlreichen Gebäude, die weltweit gleichzeitig entstanden – man unterhielt Büros in London, New York, Peking, Abu Dhabi, Kuala Lumpur und São Paulo –, zumindest einen Entwurf gesehen hatte. Er reiste deshalb jede Woche in mindestens drei Städte auf drei Erdteilen.

Holm bat Branka, Otto die Herrentoilette zu zeigen, ging dann aber gleich selbst mit. Otto verschwand wegen seiner schüchternen Blase sofort in der Kabine, wo es zu seinem Schrecken keine Kloschüssel, sondern nur eine original japanische Hocktoilette gab. Otto fühlte sich elend, ein bißchen fiebrig, und sein gequälter Darm schien sich zu winden wie ein mit Säure traktierter Regenwurm. Vielleicht sollte er sich auf glutenfreie Ernährung umstellen? Oder auf Lactose verzichten? Auf Fructose? Nach 17:00 Uhr kein Brot mehr essen? Oder vor 14 Uhr keinen Salat? Löb, der womöglich gerade das Original des Türklopfers in der Hand hielt, räusperte sich lautstark und spuckte ins Urinal, eine männliche Vertraulichkeitsgeste, während Otto sich bemühte, kein Geräusch zu machen. Beide warteten sie, daß Löbs Prostata den Weg für seinen Urinstrahl freigab. Ottos Oberschenkelmuskulatur übersäuerte schon. Endlich wusch sich Löb gründlich die Hände, betrachtete sich danach anscheinend ausgiebig im Spiegel und sagte im Gehen: «Etwas extravagant, aber Hocktoiletten sind gesund, weil in dieser Position beim Stuhlgang der letzte Dickdarmabschnitt gestreckt wird.»

Otto antwortete: «Alles klar.»

Die Tür fiel ins Schloß, wurde aber gleich wieder geöffnet, und Löb rief in den Raum: «Sie dürfen nur nicht den Fehler machen, übermäßig zu pressen!»

«Mach ich!»

Otto fand kein Toilettenpapier, es gab nur eine ganze Batterie von Knöpfen, die er ausprobierte, woraufhin eine Geräuschfee verschiedene Spültöne machte, ein Gebläse in Gang gesetzt wurde, das ihn von unten trocknete, ein pulsierender Wasserstrahl ihm den Anus massierte und aus einer Düse Raumspray strömte. Schließlich zog er sich einen Strumpf aus und tunkte ihn ins Wasser, um sich zu reinigen. Den Strumpf warf er anschließend in den Papierkorb. Er zog den anderen Strumpf aus, um ihn auch wegzuwerfen, überlegte es sich dann aber anders und steckte ihn in die Hosentasche, als Reserve.