Cover

Ben Rhodes

Im Weißen Haus

Die Jahre mit Barack Obama

Aus dem Englischen von
Enrico Heinemann, Thomas Pfeiffer, Jörn Pinnow und Martin Richter

C.H.Beck

Zum Buch

Acht Jahre lang sah Ben Rhodes fast alles, was im Herzen von Barack Obamas Präsidentschaft passierte. In seinem rasant geschriebenen, aufrichtigen, klugen Buch schildert er die Dramen dieser Präsidentschaft, die Ideale, von denen Obama sich leiten ließ, und die Grenzen des Machbaren, auf die er traf. Selten hat man einen so intimen, luziden Einblick in die inneren Gesetze der Politik im Zentrum der amerikanischen Weltmacht erhalten.

«Näher werden wir Obama nicht kommen können, bevor er seine eigenen Memoiren veröffentlicht.»

George Packer, The New Yorker

«Ben Rhodes (…) hat ein Buch geschrieben, das ein Spiegel des Präsidenten ist, dem er gedient hat – intelligent, gewinnend, unwiderstehlich und prinzipientreu. (…) Ben Rhodes verliert seinen Idealismus nie vollständig. In unserer krassen politischen Ära imponiert er uns, indem er vermeidet, zum Zyniker zu werden.»

Joe Klein, The New York Times Book Review

«Das Buch beginnt und endet mit Obamas Reaktion auf die Wahl von Donald Trump. Dazwischen erzählt es von Weltereignissen aus unmittelbarer Nähe und mit einer Fülle von neuen Details.»

Karl Vick, Time

«Kaum ein anderer kann die Welt so gut mit meinen Augen sehen wie Ben. Er gehört zu den wenigen, die mich seit jenem ersten Präsidentschaftswahlkampf begleitet haben. Sein Memoir ist (…) eine der überzeugendsten Geschichten darüber, was es wirklich bedeutet, dem amerikanischen Volk acht Jahre im Weißen Haus zu dienen.»

Barack Obama

Über den Autor

Ben Rhodes stieß 2007 als Redenschreiber zu Barack Obamas Wahlkampfteam. Später wurde er stellvertretender Nationaler Sicherheitsberater und einer der engsten Mitarbeiter und Vertrauten von Obama. Mit einer Ausnahme hat er den Präsidenten auf sämtlichen Auslandsreisen begleitet. Heute ist er Co-Chair der Organisation National Security Action in Washington und arbeitet weiterhin als Berater von Barack Obama.

Inhalt

Prolog

Teil Eins: HOFFNUNG 2007–2010

Kapitel 1: Am Anfang

Kapitel 2: Mit dem Iran reden, bin Laden fassen

Kapitel 3: Eine Schicksalsgemeinschaft

Kapitel 4: Der Präsident ist an Bord der Maschine

Kapitel 5: Kairo

Kapitel 6: Obamas Krieg

Kapitel 7: Krieg und ein Friedenspreis

Kapitel 8: Das Ende vom Anfang

Teil Zwei: FRÜHLING 2011–2012

Kapitel 9: Ägypten: Der Übergang muss jetzt beginnen

Kapitel 10: Libyen

Kapitel 11: Bin Laden: Das Leben im Geheimen

Kapitel 12: Wolken ziehen sich zusammen

Kapitel 13: Reaktion und Aktion

Kapitel 14: Leben, Tod und Bengasi

Kapitel 15: Eine zweite Amtszeit

Kapitel 16: Junge Männer führen Krieg, alte Männer schließen Frieden

Teil Drei:VERÄNDERUNG 2013–2014

Kapitel 17: Geballte Fäuste

Kapitel 18: Rote Linie

Kapitel 19: Ein Prügelknabe der Rechten

Kapitel 20: Rasse, Mandela und Castro

Kapitel 21: Russen und Intervention

Kapitel 22: Intervention aus dem Vatikan

Kapitel 23: Permanenter Krieg

Kapitel 24: Neuanfänge

Teil Vier: WAS AMERIKA GROSS MACHT 2015–2017

Kapitel 25: Die Bremsen antippen

Kapitel 26: Der Antiwar-Room

Kapitel 27: Bomben und Kinder

Kapitel 28: Havanna

Kapitel 29: Die Geschichten, die sie über dich erzählen

Kapitel 30: Die Geschichten, die wir erzählen

Kapitel 31: Informationskriege

Kapitel 32: Das Ende

Dank

Nachweise

Personenregister

Orts- und Sachregister

Für meine Eltern

«Die Wolken fanden sich für den Passat zusammen, und
weit voraus sah er einen Schwarm Wildenten, die sich über dem Wasser scharf vom Himmel abhoben, dann verschwammen, dann wieder scharf wurden, und er wusste,
dass ein Mann auf See niemals allein war.»

Ernest Hemingway

Prolog

Zum letzten Mal als Präsident der Vereinigten Staaten in einem fremden Land, sank Barack Hussein Obama in seinen Sitz, während ein Agent des Secret Service die schwere Tür schloss. «Fahren wir nach Hause», sagte er.

In der Präsidentenlimousine – «the Beast», wie sie genannt wird – verstummt die Außenwelt. Zentimeterdickes kugelsicheres Glas und gepanzertes Metall halten sie auf Abstand. Eine unheimliche Vertraulichkeit herrscht auf der Fahrt in der Fahrzeugkolonne, sei es in der weiten saudischen Wüste oder auf einer belebten Straße in Hanoi. Die beiden Vordersitze nehmen stets zwei Leibwächter des Präsidenten ein, die niemals ein Wort sprechen. Während sie das Geschehen auf der Straße vor sich beobachten, lernt man mit der Zeit zu reden, als ob sie nicht da wären.

Obama warf mir einen flüchtigen Blick zu. Ein spöttisches Funkeln trat in seine Augen. «Haben Sie gesehen, dass Ben ohne Socken unterwegs ist?», fragte er Susan Rice, schälte ein Nikotinkaugummi aus dem Papier und schob es sich in den Mund. Er lachte über die eigenen Worte: «Ich bitte Sie, Mann. Ihre Socken!»

Auf Auslandsreisen mit dem Präsidenten stellt man sein Gepäck jeden Tag vor die Tür seines Hotelzimmers, damit es zur vereinbarten Zeit abgeholt wird, Teil einer bequemen Reiseroutine, die nun bald ein Ende haben würde. Ich setzte zu einer Erklärung an: Ich hätte meine Reisetasche um drei Uhr morgens vor die Tür geschoben und sei der Meinung gewesen, dass ich ein Paar beiseitegelegt hätte …

Er machte eine wegwischende Handbewegung: «Schon verstanden. Es ist spät geworden. Freut mich, dass Sie eine gute Zeit hatten, während ich meine Briefing-Unterlagen zum APEC-Gipfel gelesen habe.»

Ich schaute aus dem Fenster auf die letzten Menschenmengen. Vor aufstrebenden modernen Türmen und leicht heruntergekommenen älteren Bauten säumten Schaulustige die Straßen von Lima, beobachteten uns, winkten und hielten Smartphones hoch – ein weiterer Funken von Menschlichkeit unter den Millionen Gesichtern, die ich über die Jahre durch das Wagenfenster gesehen hatte, Leuten vor einem vorüberrollenden Fahrzeugkonvoi, die einen Blick auf Barack Obama zu erhaschen versuchten. Obama schaute auf diesen Fahrten immer wieder durch die Scheibe hinaus und grüßte mit einem lässigen Winken, während ich hier und da ein Gesicht im Schreck des Wiedererkennens erstarren sah. Manchmal hob ich mein Smartphone hoch und fotografierte die Massen, die uns fotografierten, als einzige Möglichkeit, mich Menschen verbunden zu fühlen, die ich nie wirklich kennenlernen würde.

Obama zog normalerweise sein iPad heraus, scrollte durch die Nachrichten oder machte bei einer endlosen Partie Scrabble weiter und fragte uns, wie er sich in der soeben zu Ende gegangenen Pressekonferenz geschlagen habe. Aber jetzt, nach dem Gelächter wegen meiner Socken, saß er nur schweigend da, kaute Kaugummi und starrte aus dem Fenster. Ich saß ihm gegenüber wie auf den Reisen durch Dutzende Länder in den letzten acht Jahren. Es war die letzte Reise. Trotz der vertrauten Abläufe wirkte nichts mehr normal. Die ganze Welt ging irgendwie an uns vorbei.

Ich blickte flüchtig auf das Präsidentensiegel an der Holzvertäfelung neben Obama: Auf diesem Sitz würde in ein paar Monaten Donald J. Trump Platz nehmen.

Für unsere erste Station, Athen, hatten wir eine Rede geplant, um vor der Akropolis die Stabilität der Demokratie an ihrem Geburtsort zu feiern. Unser Entwurf sah eine trotzige Kampfansage an Russland und seinen revanchistischen Präsidenten, Wladimir Putin, vor. Aber angesichts der Lage in Amerika wirkte die Kulisse jetzt eher unpassend. Zwei Wochen zuvor war Donald Trump zum Präsidenten gewählt worden. Wir verlegten die Rede nach drinnen in einen Veranstaltungsraum, der an jedem beliebigen Ort hätte sein können.

Die Akropolis würdigten wir stattdessen mit einem Besuch an einem warmen, makellosen Morgen. Von diesem Aussichtspunkt aus erschien die Welt schön und ruhig: Nichts unter dem strahlendblauen Himmel und in dem Panorama von Athen deutete auf die Finanzkrise hin, die Griechenland im Griff hielt, auf die Flüchtlinge, die über die Grenzen hereingeströmt kamen, oder die Ungewissheit, in die diese Kräfte die Welt gestürzt hatten. Ich blieb hinter Obama zurück, als er durch die Ansammlung von antiken Säulen, Gerüsten und Kultstätten für die Götter bummelte – ein Denkmal für die Ursprünge der Demokratie, Ruinen, die von untergegangenen Reichen und erloschenen Glaubensformen hinterlassen worden waren. Als ich ihn später wiedersah, wiederholte er einen Leitspruch, den er in den frühen Morgenstunden nach Trumps Wahl zu mir gesagt hatte, einen Refrain, der nach einer Perspektive suchte: «Am Himmel gibt es mehr Sterne als Sandkörnchen auf der Erde.»

In Berlin, unserer zweiten Station, bat Angela Merkel Obama für den ersten Abend zum Essen. Merkel verfügt über eine Art umgekehrtes Charisma: stoisch, selbstbeherrscht und mit einem leichten, gewinnenden Lächeln, eine Frau, die entspannt an der Spitze der Macht steht und sich wohl in ihrer Haut fühlt. Bei der Begrüßung umfasste sie mit beiden Händen Obamas Arme. Sie war seine engste Partnerin in einer Welt mit wenig Freunden, und sie hatte ihre politische Zukunft aufs Spiel gesetzt, um eine Million syrische Flüchtlinge in Deutschland willkommen zu heißen. Obama bewunderte ihren Pragmatismus, ihre Unerschütterlichkeit und ihre hartnäckige Ader. Im Laufe des Vorjahrs hatte er mit seinem Beamtenapparat gerungen, um zu erreichen, dass Amerika mehr Flüchtlinge aufnähme, und uns immer wieder gesagt: «Wir dürfen Angela nicht hängen lassen.»

Sie saßen nur zu zweit in der Mitte eines Hotel-Konferenzraums an einem kleinen, schlichten Tisch. Drei Stunden redeten sie beim Essen miteinander, die längste Zeit in acht Jahren, die Obama mit einem ausländischen Regierungschef allein zugebracht hatte. Einige von uns aßen in einem Nachbarraum mit Mitarbeitern von ihr zu Abend. Sichtlich betroffen, sprachen sie mit Unbehagen über den neuen politischen Wind und die Bürden, die auf Merkel zukommen würden. «Auf die Anführerin der freien Welt», sagte ich beim Anstoßen mit Bedauern. Ein Referent erzählte mir, dass es Steve Bannons Ernennung als Stabsmitglied des Weißen Hauses auf die Titelseiten der deutschen Presse geschafft hatte. «Wir kennen Bannon», sagte er und beugte sich vor, als wolle er mir ein Geheimnis verraten. Durch das Fenster sah man in goldenem Licht das Brandenburger Tor und das umgebaute Reichstagsgebäude, das knapp einen Monat nach Hitlers «Machtergreifung» in Brand gesteckt worden war.

Später teilte uns Obama mit, dass Merkel mit ihm über ihre anstehende Entscheidung für oder gegen eine weitere Kandidatur geredet habe, zu der sie sich wegen des Brexit und Trump jetzt stärker verpflichtet fühle. Als sich Obama am Ende unseres Besuchs in Deutschland an der Tür von «the Beast» von ihr verabschiedete, stand ihr eine einzelne Träne in den Augen – was noch keiner von uns je gesehen hatte. «Angela», sagte er kopfschüttelnd, «ist jetzt ganz allein.»

Auf der dritten und letzten Station, dem Gipfel pazifischer Nationen in Lima, nahm ein Regierungschef nach dem anderen Obama beiseite und fragte, was von Donald Trump zu erwarten sei. Sich der Regeln seines Amtes stets bewusst, bat Obama seine Gesprächspartner, der neuen Regierung eine Chance zu geben. «Warten wir’s ab», teilte er ihnen mit. Am ersten Tag traf er mit den Führern elf anderer Länder zusammen, die mühselig das Handelsabkommen der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) ausgehandelt hatten. Sie hatten einschneidende politische Entscheidungen getroffen, um ihre wirtschaftliche Zukunft an die Vereinigten Staaten zu binden. Sollten sie wütend gewesen sein, weil der frisch gewählte Präsident einen Rückzieher angekündigt hatte, wussten sie es zu verbergen. Fast entschuldigend deuteten sie stattdessen an, dass sie wohl auch ohne die Vereinigten Staaten mit einem modifizierten Abkommen weitermachen würden.

Zum ersten Mal seit acht Jahren schienen die Geschicke der Welt nicht mehr in unseren Händen zu liegen.

Japans Premierminister Shinzo Abe entschuldigte sich für den Verstoß gegen das Protokoll, da er sich, ohne Obama zu informieren, mit Donald Trump im Trump Tower getroffen hatte. Seine Regierung habe keine andere Möglichkeit gesehen, als auf den Mann zuzugehen, der gedroht hatte, Japan die Kosten für die US-Truppen in Rechnung zu stellen, die in dem Land stationiert waren. Abe bestätigte seine Pläne eines Besuchs in Pearl Harbor, wenn Obama im Dezember in Hawaii sein würde. Diese Geste der Aussöhnung, mit der er Obamas Visite in Hiroshima erwidern wollte, wirkte jetzt wie aus der Zeit gefallen.

Mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping traf sich Obama in einem sterilen Hotel-Konferenzraum, in dem Becher für Erfrischungstee und Eiswasser unberührt vor uns standen. Nach einem langen Rückblick auf sämtliche Fortschritte der letzten sieben Jahre versicherte Xi Obama unaufgefordert, dass er das Pariser Klimaabkommen auch dann umsetzen werde, wenn Trump sich zum Ausstieg entschlösse. «Das ist sehr klug von Ihnen», entgegnete Obama. «Ich denke, Sie werden in den Vereinigten Staaten auch weiterhin Anstrengungen für das Pariser Abkommen sehen, zumindest von Bundesstaaten, Städten und vom Privatsektor.» Ganze zwei Jahre war es her, dass Obama in Peking eine Übereinkunft geschlossen hatte, um mit China den Klimawandel zu bekämpfen – der Schritt, der das Pariser Abkommen erst möglich gemacht hatte. Jetzt würde maßgeblich China die Anstrengungen weiter vorantreiben.

Gegen Ende des Treffens erkundigte sich Xi nach Trump. Wieder empfahl Obama abzuwarten, welche Entscheidungen die neue Administration treffen würde, merkte aber an, dass der designierte Präsident reale Besorgnisse unter den Amerikanern aufgegriffen habe, ob die Wirtschaftsbeziehungen zu China fair gestaltet seien. Xi, ein stattlicher Mann, bewegt sich stets langsam und bedächtig, als wolle er sich mit jeder seiner Bewegungen Geltung verschaffen. Am Tisch Obama gegenübersitzend, schob er die Mappe mit den Gesprächspunkten beiseite, die einem chinesischen Führer üblicherweise die Worte vorgeben. «Wir pflegen lieber gute Beziehungen zu den Vereinigten Staaten», sagte er und faltete die Hände vor sich. «Das ist gut für die Welt. Aber jede Aktion löst eine Reaktion aus. Und wenn ein unreifer Führer die Welt ins Chaos stürzt, wird die Welt wissen, wem sie die Schuld zu geben hat.»

An diesem abschließenden Tag kam Obama zu seinem letzten bilateralen Treffen mit dem kanadischen Premierminister Justin Trudeau zusammen. In einem Hinterzimmer des Konferenzzentrums, in dem der Gipfel stattfand, saßen die zwei nebeneinander in Sesseln, beiderseits flankiert von einigen wenigen von uns. Wegen der fehlenden Socken vermied ich es, die Beine übereinanderzuschlagen, und verbarg die Füße unter meinem Rucksack. Obama, der sich gewöhnlich nicht sentimental zeigt, versuchte, eine Fackel weiterzureichen. «Deine Stimme wird jetzt mehr denn je gebraucht, Justin», sagte er, beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf die Knie. «Du wirst Stellung beziehen müssen, wenn bestimmte Werte in Gefahr geraten.»

Trudeau sagte, er sehe dies als seine Verpflichtung an, dem Beispiel seines Vaters folgend, der über die Rolle des kanadischen Regierungschefs hinausgewachsen und zu einem Staatsmann von Weltformat geworden war. «Ich habe meinen Wahlkampf an deinem Vorbild ausgerichtet», fügte er hinzu und meinte eine Form der Politik, die jetzt bedroht erschien.

Mit seinem guten Aussehen wirkt Trudeau jünger, als er ist. Als ich ihn beobachtete, dachte ich daran, wie sehr ich in meinem Job gealtert war. Trudeau erschien als der Frischere. «Ich werde sie bekämpfen», sagte er mit Blick auf die autoritären Trends in der Welt, «mit einem Lächeln im Gesicht. Das ist der einzige Weg zu gewinnen.»

Nach Ende der Beratungen schlenderten wir durch die hinteren Flure des Konferenzzentrums. Mit einem Styroporbecher in der Hand winkte Obama dem Wartungspersonal zu, während er zu einer letzten Pressekonferenz für ausländische Medien ging. Mir war nicht danach zuzuschauen. Stattdessen setzte ich mich im fahlen Licht der Abenddämmerung allein auf eine Bank und daddelte auf meinem BlackBerry herum, im Schutz der Absperrungen, die von Männern in Anzügen, mit Knopf im Ohr und mit vor dem Bauch gefalteten Händen gesichert wurden. Nach Ende der Pressekonferenz stieß ich wieder zur Gruppe um Obama, die an Trudeau und seinem Team vorbei den Saal verließ, die ihrerseits in die andere Richtung entschwanden.

Entlang den Straßen von Lima winkten noch immer Ansammlungen von Menschen dem vorüberfahrenden Präsidenten der Vereinigten Staaten zu.

«Und was, wenn wir uns geirrt haben?», fragte Obama, der mir in «the Beast» gegenübersaß.

«Worin geirrt?», fragte ich.

Vier Tage lang hatten wir zu analysieren versucht, was beim jüngsten Urnengang schiefgelaufen war. Obama hatte geklagt, er könne nicht glauben, dass die Wahl verloren war, und die Indikatoren aufgezählt: «Fünf Prozent Arbeitslosigkeit. 20 Millionen versichert. Der Benzinpreis bei zwei Dollar die Gallone. Wir hatten den Ball doch in bester Position!» Jetzt berichtete er mir von einer Kolumne, die er in der New York Times gelesen hatte: Die Liberalen hätten vergessen, wie wichtig den Menschen Identität sei. Wir hätten uns auf eine Botschaft verlegt, die von John Lennons Imagine nicht zu unterscheiden sei – auf Stimmenfang mit einem hohlen, kosmopolitischen Globalismus, mit dem die Leute nicht mehr zu erreichen seien: «Imagine all the people, sharing all the world.»

«Vielleicht sind wir zu weit gegangen», sagte er. «Vielleicht wollen die Leute einfach in ihr Stammesdenken zurückfallen.»

Sein Kommentar lastete schwer im Raum, als Susan und ich uns anblickten. In den letzten paar Wochen hatte doch er die tapferste Miene aufgesetzt. Nachdem er mich am Wahlabend daran erinnert hatte, dass es mehr Sterne am Himmel als Sandkörner auf der Erde gebe, schickte ich ihm zur Aufmunterung eine schlichte Mitteilung: «Fortschritt bewegt sich nicht auf gerader Bahn.» In privaten Unterhaltungen mit Mitarbeitern und in öffentlichen Interviews wiederholte er sie in Abwandlung immer wieder: «Die Geschichte bewegt sich nicht geradlinig voran», sagte er, «sie verläuft im Zickzack.»

Was, wenn wir uns geirrt haben?

Seitdem ich 2007 in Obamas Dienste getreten war, hatte ich nie den Glauben daran verloren, an etwas mitzuarbeiten, das auf unangreifbare Weise richtig war. Sicher hatten wir, das Weiße Haus unter Obama, auch Fehler gemacht. Aber das größere Projekt – das war richtig. Der Glaube, dass Amerika ein besserer Ort werden kann. Die Hoffnung, dass die Welt aus der eigenen Vielfalt Stärke ziehen kann, wenn wir es vermögen.

In Obamas Worten schwang ein wenig Verbitterung mit, eine Ahnung, dass die Sache, für die er stand, im gegenwärtigen Augenblick verloren war. «Aber Sie hätten gewonnen, wenn Sie nochmal hätten antreten dürfen», sagte ich. Um ein weiteres Argument vorzubringen, redete ich von den jungen Leuten, zu denen er tags zuvor in Lima auf einer Bürgerversammlung gesprochen hatte, wie schon in so vielen Ländern rund um die Welt. «Die kapieren es», sagte ich. «Sie sind toleranter. Sie haben mit den Jungen in den Vereinigten Staaten mehr gemein als Trump. Junge Menschen haben Trump nicht gewählt, sowenig wie die Jungen in Großbritannien für den Brexit gestimmt haben.»

Er schaute nicht auf. «Ich weiß nicht», sagte er. «Manchmal frage ich mich, ob ich zehn oder zwanzig Jahre zu früh gekommen bin.»

Die Stille hielt an. Die letzten acht Jahre über hatten wir tausend Gespräche geführt, die alle wie ein fortlaufender roter Faden erschienen, hatten über Bücher, die wir gelesen, und ausländische Politiker, die uns frustriert hatten, geredet, über Hautfarben und Sätze aus alten Kinofilmen, Sport und alle möglichen Theorien. Meine Rolle in diesen Gesprächen und wohl auch in seiner Präsidentschaft sah ich inzwischen darin zu antworten, wenn er etwas sagte, und Gesprächspausen zu überbrücken – seine Gedanken auf ihre Logik hin zu überprüfen oder Zerstreuung zu bieten –, während er auf seinem iPad scrollte oder aufgewühlt aus dem Fenster blickte.

Der Fahrzeugkonvoi erreichte den Flughafen und fuhr auf die Rollbahn, wo die Air Force One bereitstand. Wir hielten vor einem «Empfangskomitee» aus Peruanern und Amerikanern, die sich zum Abschied in gerader Linie aufgestellt hatten.

Als wir warteten, bis der Leibwächter die Tür öffnen würde, beugte sich Obama mit auf die Knie gestützten Ellenbogen zu mir vor. «Vielleicht haben Sie recht», kommentierte er meine Äußerung über die jungen Leute. «Aber wir werden sehen, wie widerstandsfähig unsere Institutionen sind, bei uns zu Hause und auf der ganzen Welt.»

Er stieg aus der Präsidentenlimousine und arbeitete sich händeschüttelnd an der Schlange zu seiner Verabschiedung entlang vor. Mit Füßen, die ohne Socken am abgewetzten Leder meiner Schuhe rieben, machte ich mich auf den Weg zu einer Stelle unter der Tragfläche, wo Trauben von Menschen standen, Journalisten, die den Moment für die Nachwelt festhielten, und Mitarbeiter, die miteinander für Fotos posierten – eine vollkommen vertraute Szene nach den weit über eine Million Meilen, die ich in diesem Flugzeug rund um die Welt zurückgelegt hatte. Aber gleich würde sie sich für immer auflösen.

Barack Obama schüttelte die letzte Hand und stieg die Gangway hoch. Er bewegte sich stets leichtfüßig wie ein Basketballer, der während einer Partie etwas unter seiner Topleistung spielt, um in den entscheidenden Augenblicken Energiereserven mobilisieren zu können. Ein Mann, der ständig im Licht der Öffentlichkeit stand und wichtige Seiten von sich verbarg. In den letzten beiden Jahren hatte ich miterlebt, wie er es immer besser zusammenbrachte, er selbst und der Präsident zu sein – in einzelnen Augenblicken, etwa als er in einer Kirche von Schwarzen in Charleston, die von einem weißen Rassisten angegriffen worden war, Amazing Grace anstimmte, oder bei politischen Schritten, als er mit einer Kubapolitik brach, von der er mir schon lange gesagt hatte, dass er sie nicht unterstützen konnte. Diese Entwicklung hatte ihn erfolgreicher, interessanter gemacht und trug ihm in diesen letzten Tagen im Amt größere Wertschätzung ein. Es war eine mögliche und schmerzliche Antwort auf die Frage, die er in der Präsidentenlimousine gestellt hatte: Wir hatten recht gehabt, aber all diese Fortschritte hingen an ihm, und seine Zeit lief nun ab.

Erstmals seit acht Jahren gab es keine Reise mehr zu planen. Obama würde ins Flugzeug steigen als erfolgreicher afroamerikanischer Präsident mit zwei Amtszeiten und als Hoffnungsträger für Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt. Aber er stand vor der Machtübergabe an einen Mann, der alle politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte repräsentierte, die im Widerspruch zu dem standen, was Obama ausmachte. Ein Witz, den er in den Tagen nach der Wahl erzählte, drückte seine Frustration darüber aus, dass dies den Rest seines Lebens prägen würde: «Ich fühle mich wie Michael Corleone», sagte er. «Fast hätte ich den Ausstieg geschafft.»

Ich war mit 29 Jahren in Obamas Wahlkampfteam eingetreten. Auf der Rollbahn in Lima erkannte ich mich selbst nicht wieder, der ich einst nach Chicago gezogen war, um Reden zu schreiben, und dafür in einer Einzimmerwohnung mit ein paar Ikea-Möbeln und einer Matratze auf dem Boden gehaust hatte. Die Katastrophen des 11. September und des Irakkriegs hatten mich dorthin geführt, auf der Suche nach einer besseren Vision von Amerika und mir selbst. Ich hatte sie acht Jahre lang in einem fensterlosen Büro im West Wing des Weißen Hauses verfolgt, wo ich über mir die Ratten durch die Decke huschen hörte und in Sitzungen hineinspazieren konnte, in denen die Geschicke von Nationen besprochen wurden. Ich hatte Höhepunkte erlebt, wie ich sie mir nie hätte vorstellen können, etwa einen Gang zum Vatikan, um einem Kardinal mitzuteilen, dass wir die Beziehungen zu Kuba normalisieren würden. Ich hatte Tiefs durchlitten, die ich damals noch nicht durchschaute, als mich dieselben Kräfte dämonisierten, die Donald Trump an die Macht spülen sollten. Vor allem hatte ich meinen eigenen Werdegang dem Barack Obamas untergeordnet – seinem Wahlkampf, seiner Präsidentschaft, dem Platz, an den er uns führte.

Und hier stand ich nun und versuchte, in mir ein Gefühl zu entdecken, das den Augenblick auf den Punkt brachte: Ein letztes Mal sahen wir diesen Mann, wie er unser Land im Ausland vertrat – zurückhaltend und entschlossen, bald wortkarg, bald mutiger als sämtliche anderen Politiker, die ich je erlebt hatte. Aber der Anblick, als er die Stufen zum Flugzeug erklomm, beschwor in mir nur eine Flut zusammenhangloser Bilder von zurückliegenden Reisen herauf: ein Meer von Menschen, die in Berlin darauf warteten, ihn reden zu hören, eine Gruppe von Trommlern, die uns mitten in der Nacht in Ghana willkommen hießen, Millionen lächelnder Menschen, die in Vietnam die Straßen unserer Fahrzeugkolonne säumten, oder den unwirklichen Blick auf Havanna aus dem Fenster der Air Force One. Dieses gespannte Gefühl der Leute, all diese Menschen an all diesen Orten, all diese Gesichter, die uns voller Hoffnung anblickten: Sie hatte ich gesucht, als ich zehn Jahre zuvor nach Chicago übergesiedelt war. Und sie, so war mir klar, würden nun keinen amerikanischen Präsidenten mehr im Ausland willkommen heißen. Also brachte ich kaum andere Gefühle auf als Müdigkeit und Trauer. Ich erinnerte mich nicht, was ich zu Beginn dieser Geschichte empfunden hatte, und hatte keine Ahnung, was ich – oder die Welt – nach ihrem Ende fühlen würde.

Es gibt mehr Sterne am Himmel als Sandkörnchen auf der Erde.

Obama langte auf der obersten Stufe an. Ich dachte, vielleicht hält er noch einen kurzen Augenblick inne, um alles in sich aufzunehmen, sich selbst Gelegenheit zu geben, Gedanken zutage zu fördern, wie sie mir augenblicklich durch den Kopf jagten. Aber welche Erinnerungen ihm auch kamen, was er auch dachte über die Hunderte von Orten, die er als Präsident besucht, und die Millionen Menschen, die er gesehen hatte: Trotz der heraufziehenden Ungewissheit verabschiedete er sich nur mit einem routinierten Winken. Dann verschwand er in der Flugzeugtür, um die Heimreise anzutreten.

Was, wenn wir uns geirrt haben?

Teil Eins

HOFFNUNG 2007–2010

Kapitel 1

Am Anfang

Als ich Barack Obama zum ersten Mal begegnete, wollte ich bloß nichts sagen müssen.

Es war ein verschlafener Nachmittag im Mai 2007. Ich saß in meinem fensterlosen Büro im Woodrow Wilson International Center for Scholars, einer Washingtoner Denkfabrik wie Dutzende andere. So unausgelastet wie ich war, debattierte ich gerade, ob ich nicht in meine Heimatstadt New York zurückkehren sollte, als ich einen Anruf von Mark Lippert erhielt, Obamas außenpolitischem Topberater im Senat. Inzwischen war ich darauf geeicht, dass mich Lippert, der so jung war wie ich, alle paar Tage anrief und mir irgendwelche Aufgaben zuschanzte: Er arbeitete für den aufregendsten Politiker, der seit Jahren aufgetaucht war, und genoss es spürbar, dass jeder seine Anrufe jederzeit entgegennahm.

«Ben», sagte er, «ich habe mich gefragt, ob es dir allzu große Umstände bereiten würde, vorbeizukommen und an einer Debattenvorbereitung mit Obama teilzunehmen?»

Ich umfasste den Hörer etwas fester. Die letzten Monate hatte ich alles Mögliche unternommen, um im Wahlkampf für Obama arbeiten zu können: Erklärungen zum Irak fürs Plenum verfasst, einen Meinungsartikel zu Irland («O’Bama») entworfen, Reden und Memoranden für Debatten überarbeitet. Ich war nie in die Nähe des Mannes gekommen und fragte mich allmählich, ob meine ehrenamtliche Tätigkeit jemals zu etwas anderem führen würde.

«Wann soll das sein?»

«Jetzt sofort.»

Die Sitzung fand in einer Kanzlei einige Blocks entfernt statt. Ich ließ mir beim Gehen Zeit, um meine Gedanken zu ordnen. Wie meine ganze Arbeit für den Wahlkampf bisher kam mir die Sache wie eine Prüfung vor, wenn auch ohne Abschluss am Ende und ohne dass mir jemand sagen würde, ob ich bestanden hätte. Nach der Ankunft wurde ich zu einer Reihe von Glastüren gelotst, hinter denen ein großer Konferenzraum lag. Mindestens fünfzehn Leute saßen um einen langen Tisch herum, übersät mit Aktenmappen, Stapeln von Papier und Getränkedosen. Obama hatte am Kopfende Platz genommen und die Füße hochgelegt. Lippert fing mich an der Tür ab, zog mich hinaus und informierte mich über den Gegenstand der Diskussion: Sollte Obama im Kongress für eine Vorlage stimmen, um eine Truppenaufstockung im Irak zu finanzieren? «Ich dachte mir, warum rufen wir nicht den Irak-Typen an?», sagte er.

Einige Monate zuvor hatte ich meine Arbeit für die Irak- oder Baker-Kommission beendet, eine Zusammenstellung von ehemaligen Amtsträgern und Außenexperten, die um eine Strategie für den Irakkrieg gebeten worden waren. Co-Vorsitzender mit James Baker war mein damaliger Chef Lee Hamilton gewesen. Hamilton, ein Urgestein mit Bürstenschnitt und Demokrat aus dem südlichen Indiana, hatte 36 Jahre im Kongress gedient. Er war nicht einfach ein Gemäßigter, sondern ein Pragmatiker, der an Regierungsgeschäfte ohne eine Spur Ideologie heranging. Baker war das, wofür die Republikanische Partei einst stand: ein wirtschaftsfreundlicher Administrator, der das Regieren so ernst nahm wie das Geldverdienen. Mit seinen Bemühungen bei der Neuauszählung der Stimmen in Florida 2000 hatte er der Bush-Administration mit zur Macht verholfen. Im Verlauf unserer Arbeit, in Sitzungen mit Mitgliedern ebendieser Regierung, schien sich Bakers Einsicht in die Größenordnung des Chaos, das im Irak angerichtet worden war, in eine Art väterliche Enttäuschung zu verwandeln: Er hatte seinen Kindern den Schlüssel gegeben, und sie hatten den Wagen zu Schrott gefahren.

Mir gab das Projekt Einblick in einen Krieg, dessen Verlauf ich mit wachsendem Zorn beobachtet hatte. Als Teil unserer Arbeit waren wir im Sommer 2006 in den Irak gereist. Mit einer Gruppe von Militärangehörigen, die gerade ihren Dienst antraten, flogen wir in einer Transportmaschine nach Bagdad. Wir saßen schweigend in unseren Sitzen, weil das Gedröhne der Triebwerke jede Verständigung zu schwierig machte. Ich blickte diesen Männern und Frauen in die Gesichter. Obwohl ihnen bald Autobomben und improvisierte Sprengsätze drohten, verrieten sie keinerlei Regung und blickten nur ausdruckslos vor sich hin. Um dem Flugabwehr-Feuer zu entgehen, setzte die Maschine in engen Schleifen zu einem steilen Landeanflug auf den Internationalen Flughafen von Bagdad an. In Hubschraubern flogen wir zur Grünen Zone. Ich roch Abwässer mit brennendem Müll unter mir und sah Kindergesichter, die mit leerem Ausdruck zu uns hochschauten.

Mehrere Tage hausten wir in kleinen Wohnwagen auf dem Botschaftsgelände. Abends gingen wir in die Camel’s Bar, in der sich Vertragsarbeiter besoffen und auf Tischen tanzten. Jeder Wohnwagen verfügte über zwei Betten und ein Gemeinschaftsbad. Eine Splitterschutzweste neben jedem Bett sollte gegen Granaten- oder Raketenfeuer wappnen. Ich hatte einen Wohnwagen für mich allein. Nur in einer Nacht traf ich nach meiner Rückkehr auf einen durchtrainierten bärtigen Kerl, der splitternackt in meinem Bad stand. Neben seinem Bett lagen säuberlich aufgestapelt Ausrüstungsteile der Special Forces. Wir redeten kein Wort miteinander. Als ich im Morgengrauen erwachte, war er verschwunden. Jahre später, Tausende Kilometer entfernt im Keller des Weißen Hauses, sollte ich eingehend mit der Art von Arbeit vertraut werden, die Leute wie er zu erledigen hatten.

Während unseres Aufenthalts wurden wir in Panzerwagen zu prunkvollen Anwesen gefahren, vollgestopft mit vergoldeten Möbeln und behangen mit schweren Vorhängen, die Saddam Hussein hinterlassen hatte. Wir trafen führende Politiker des Irak, amerikanische Offiziere und einen Mix aus Diplomaten, Journalisten und Geistlichen. Wir erfuhren von gewalttätigen Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten, die direkt vor den Mauern der Grünen Zone Iraker das Leben kosteten: von Leichen in Abwasserkanälen, ermordeten Familienmitgliedern, alptraumhaften Geschichten von Gruppenhinrichtungen. Abends rekapitulierten wir die Lage im Wohnwagen von James Baker, der im Trainingsanzug Wodka pur trank und dem Chaos mit Kopfschütteln begegnete. Die Vereinigten Staaten unterstützten die irakischen Sicherheitskräfte mit fast 150.000 Soldaten, aber alle redeten von einer Reihe von Milizen, die maßgeblich die Politik bestimmten. Ein amerikanischer General sagte uns, dass «alle Truppen der Welt dem Irak keine Sicherheit bringen» könnten, solange sich die verschiedenen Glaubensgemeinschaften nicht aussöhnen würden.

Jede Nacht flogen Hubschrauber verwundete Amerikaner in ein provisorisches Krankenhaus. Als wir es besuchten, redete Hamilton mit einem Sanitäter, der uns einen Überblick über die Arbeit dort gab. «Meine Aufgabe», sagte er, «besteht darin, die Leute so lange am Leben zu halten, bis wir sie zur Operation ausfliegen können.» Er erklärte, dass unsere Soldaten Panzerwesten trügen, die gut den Oberkörper, nicht aber die unteren Extremitäten schützten. Und sie wappneten auch nicht gegen die Gewalt der Explosionen, die Gehirntraumata auslösen könnten. Ohne diese Panzerungen, sagte er, läge die Zahl der getöteten Amerikaner dichter an jener der Gefallenen in Vietnam. Aber für manche, die diese Verwundungen überstehen, wird das Leben auf Dauer zu einem schmerzvollen Kampf.

Die wenigen Tage vor Ort führten mir vor Augen, dass der einschneidendste Moment in meinem Leben zum moralischen Schiffbruch und zu einem strategischen Desaster geführt hatte. Im Frühjahr 2002, als die Kriegstrommeln zum Einmarsch in den Irak lauter tönten, war ich nach Washington übergesiedelt, weil die Anschläge vom 11. September für mich als New Yorker alles auf den Kopf gestellt hatten, was ich mit meinem Leben anstellen wollte. Bis dahin hatte ich tagsüber an einem öffentlichen College unterrichtet, abends für einen Master in fiktionalem Schreiben studiert und mich ansonsten im kommunalen Wahlkampf engagiert. Als ich am 11. September 2001 vor einem Wahllokal in einer Straße im Norden Brooklyns Flyer verteilte, bekam ich den Einschlag des zweiten Flugzeugs mit, starrte auf die aufsteigenden schwarzen Rauchwolken am Himmel und sah schließlich den ersten Turm in sich zusammenstürzen. Die Mobilverbindungen waren zusammengebrochen, und ich wusste nicht, ob Lower Manhattan zerstört war. Ein Mann mit einem europäischen Akzent packte mich am Arm und sagte immer wieder: «Das ist Sabotage.» Noch Tage danach lag der säuerliche Geruch von geschmolzenem Metall, verschmorten Kabeln und Tod in der Luft.

Ich wollte Teil dessen sein, was als Nächstes geschah, und fühlte mich abgestoßen von den liberalen Reflexen meiner Umgebung an der New York University – von dem Professor, der vorschlug, «God Bless Afghanistan» zur Melodie von God Bless America zu singen, von den prophylaktischen Protesten gegen eine amerikanische Militärintervention und dem reflexartigen Misstrauen gegenüber Bush. Unter der Queensboro Bridge besuchte ich einen Anwerber der Armee. Nachdem ich mit einem Stapel Informationsmaterial gegangen war und nachbereitende Telefonate geführt hatte, kam ich zu dem Schluss, dass ich mir mich selbst in Uniform nicht vorstellen konnte. Stattdessen würde ich nach Washington ziehen, um über die Ereignisse zu schreiben, die meiner Welt eine neue Gestalt gaben. Redenschreiber zu werden hatte ich bislang nicht auf dem Schirm gehabt, und von Lee Hamilton hatte ich nie gehört, landete aber nach einigen Hinweisen schließlich im Wilson Center als kleines Rädchen in dem riesigen Getriebe, in dem Leute über amerikanische Außenpolitik nachdenken, reden und schreiben. Als Liberalem, der die militärischen Abenteuer in unserer Geschichte mit Skepsis betrachtete, kam es mir seltsam vor, Saddam Hussein wegen einer Tat stürzen zu wollen, die Osama bin Laden begangen hatte. Aber ich band mir eine Krawatte um, fuhr allmorgendlich mit einer Gruppe anderer Mittzwanziger in der Washingtoner Metro zu einer Denkfabrik, die wenige Blocks vom Weißen Haus entfernt lag, war wütend über die Terroranschläge des 11. September und wollte unbedingt ernst genommen werden. Unter diesen Umständen hört man auf das, was die Älteren und Erfahreneren zu sagen haben. Als Colin Powell vor den Vereinten Nationen sein Plädoyer für den Krieg hielt, war ich augenblicklich mit an Bord.

Und jetzt, ein paar Jahre später, sah ich vor Ort, was dieser Krieg angerichtet hatte. Wir begannen gemeinsam, den Abschlussbericht der Irak-Kommission zu schreiben, doch nach ein paar Entwürfen rief mich Bakers Mitarbeiter an und bat mich, die Leitung zu übernehmen. Ich brütete die ganze Nacht über Satzstrukturen und fragte mich, ob die Kommission ein Ende des Krieges deutlich genug forderte. Der erste Satz des Berichts lautete: «Die Lage im Irak ist ernst und verschlechtert sich.» Gefordert wurde ein schrittweiser Abzug von US-Truppen. Bush schickte stattdessen noch mehr Soldaten ins Land. Mir machte diese Erfahrung zweierlei klar: Erstens hatten uns die Leute, die es angeblich besser gewusst hatten, in eine moralische und strategische Katastrophe geführt. Zweitens lassen sich Dinge so lange nicht verändern, wie man die Leute nicht austauscht, die die Entscheidungen treffen. Ich hatte einen passablen Job in der Politikberatung, wollte aber in der aktiven Politik etwas bewirken. Und ich wollte für Barack Obama arbeiten.

Mit Lippert ging ich in den Konferenzsaal und setzte mich fast ans Ende des Tisches in größtmöglicher Entfernung zu Obama. Seit dem Moment, in dem ich seine Rede auf dem Parteitag der Demokraten 2004 gesehen hatte, wünschte ich mir, dass er für die Präsidentschaft antreten würde. Er hatte sich gegen den Krieg gewandt, als ihn fast alle befürwortet hatten. Seine Sprache klang authentisch und zugleich moralisch in einer Zeit, da die US-Politik alles andere war. Und da war noch etwas, das sich nicht so recht fassen ließ. Die Ereignisse, die sich in meinen Zwanzigern abspielten, erschienen historisch, nicht aber die Figuren, die sie gestalteten. Ich wollte einen Helden – jemanden, der das, was um mich herum geschah, durchschaute und in gewisser Weise Erlösung bringen konnte.

Ich wurde neben Tony Lake gesetzt, der mit Susan Rice für den Wahlkampf ein Beraternetzwerk für Außenpolitik leitete. Lake war ein Mann der leisen Töne in fortgeschrittenem Alter, mit dem klugen, aber leicht zerstreuten Auftreten eines Professors an einem kleinen College der freien Künste, als der er viele Jahre gearbeitet hatte. Er war zudem Bill Clintons erster Nationaler Sicherheitsberater gewesen. Rice hatte ebenfalls für Clinton gearbeitet und war im Außenministerium Unterabteilungsleiterin für afrikanische Angelegenheiten geworden. Seither trat sie als eine führende Stimme der Demokraten in außenpolitischen Fragen auf – unverhohlen ehrgeizig, wortgewandt und ideenreich – und setzte ihre guten Beziehungen zu den Clintons aufs Spiel, um sich für Obama zu engagieren. In den letzten Monaten hatte ich allerdings den Eindruck gewonnen, dass es bei dem Netzwerk, das sie und Lake führten, hauptsächlich um Möglichkeiten ging, den Menschen einen Kandidaten nahezubringen, den sie wohl nie persönlich kennenlernen würden. Das meiste meiner bisherigen Arbeit, die Obama tatsächlich erreichte, wurde von Lippert und Denis McDonough als einem weiteren Mitglied des Wahlkampfteams koordiniert. Und wegen Lippert saß ich nun auch in diesem Raum.

Chefstratege war David Axelrod. Als ich meinen Platz einnahm, beschrieb er gerade ausführlich das politische Dilemma: In den Vorwahlen würden demokratische Wähler zu jedem Antrag zum Irakkrieg ein ablehnendes Votum verlangen, doch wenn Obama entsprechend stimmte, würde ein künftiger republikanischer Präsidentschaftskandidat ins Feld führen können, dass er unsere Truppen im Kampf ohne Mittel habe dastehen lassen. Im Raum gingen die Gespenster der Wahl von 2004 um, als die Republikaner John Kerry angesichts des Terrorismus als Weichling hingestellt hatten. «Ich bin sicher, dass Clintons Wahlkampfteam dieselbe Diskussion führt», sagte Axelrod.