
Jan Assmann
ACHSENZEIT
Eine Archäologie
der Moderne
C.H.BECK
Um das 6. Jahrhundert v. Chr. traten in verschiedenen Kulturräumen der Welt Philosophen und Propheten auf, die das bisherige mythische Denken überwanden: Konfuzius und Laotse in China, Buddha in Indien, Zarathustra in Persien, die Propheten des Alten Israel und die Philosophen in Griechenland. Diese Zeit wurde von Karl Jaspers «Achsenzeit» genannt.
Jan Assmann beschreibt, wie Historiker und Philosophen seit der Aufklärung die erstaunliche Gleichzeitigkeit der Achsenzeit-Kulturen erklärt und in der Achsenzeit die geistigen Grundlagen der Moderne gesucht haben. Dabei bietet er tiefe Einblicke in die antiken Kulturen von China bis Ägypten und erklärt, warum wir bis heute mit den klassischen Texten leben können. Ein brillantes Buch über das Altertum und die lange Suche nach den Fundamenten der Moderne.
Jan Assmann ist Professor em. für Ägyptologie an der Universität Heidelberg und Professor für allgemeine Kulturwissenschaft an der Universität Konstanz. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa (2016), Karl-Jaspers-Preis (mit Aleida Assmann, 2017), Balzan Preis (mit Aleida Assmann, 2017) und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (mit Aleida Assmann, 2018). Zu seinen bekanntesten und erfolgreichen Büchern, die teils in viele Sprachen übersetzt wurden, gehören «Das kulturelle Gedächtnis» (72013), «Ägypten. Eine Sinngeschichte» (42005), «Moses der Ägypter» (72011), «Tod und Jenseits im Alten Ägypten» (32010) sowie «Exodus. Die Revolution der Alten Welt» (32015).
VORWORT
EINFÜHRUNG
ERSTES KAPITEL: ABRAHAM-HYACINTHE ANQUETIL-DUPERRONUND DIE ENTDECKUNG DER GLEICHZEITIGKEIT (1771)
ZWEITES KAPITEL: JEAN-PIERRE ABEL RÉMUSATUND DAS I-CHI-WEI DES LAOTSE (1823)
DRITTES KAPITEL: HEGEL: DIE ZEIT WIRD ZUM RAUM (1827)
Exkurs: Geschichtsbewusstsein und Geschichtsbewusstheit
VIERTES KAPITEL: EDUARD MAXIMILIAN RÖTH UND DIE ÖSTLICHENURSPRÜNGE DER ABENDLÄNDISCHEN SPEKULATION (1846/58)
FÜNFTES KAPITEL: ERNST VON LASAULX UND DIE ALL-EINHEITVON GOTT, MENSCH UND GESCHICHTE (1856)
SECHSTES KAPITEL: VICTOR VON STRAUSS UND TORNEYUND DIE SUCHE NACH DER URRELIGION (1870)
Exkurs: Rudolf Otto – west-östliche Parallelenund Konvergenzen in der Religionsgeschichte
SIEBTES KAPITEL: JOHN STUART STUART-GLENNIE UNDDAS ULTIMATIVE GESETZ DER GESCHICHTE (1873)
ACHTES KAPITEL: ALFRED WEBER: DIE REITERVÖLKER UNDDAS «SYNCHRONISTISCHE WELTZEITALTER» (1935)
NEUNTES KAPITEL: KARL JASPERS: DIE ACHSENZEIT ALSGRÜNDUNGSMYTHOS DER MODERNE (1949)
1. Biografisches
2. Entstehungsgeschichte
3. Die Achsenzeit als (existenz-)philosophisches Projekt
4. Topoi des Axialen
5. Die Bedeutung der Achsenzeit als Ursprung der Moderne
6. Drei Stationen der Rezeptionsgeschichte:Lewis Mumford, Ian Morris und Jürgen Habermas
ZEHNTES KAPITEL: ERIC VOEGELIN: EIN ABTRÜNNIGER DES ACHSENZEIT-DISKURSES
ELFTES KAPITEL: SHMUEL NOAH EISENSTADT UND SEIN KREIS:DIE KULTURANALYTISCHE WENDE DER ACHSENZEIT-DEBATTE
ZWÖLFTES KAPITEL: ROBERT BELLAH ODER ACHSENZEIT UND EVOLUTION
SCHLUSS
1. Die Achsenzeit als normative Vergangenheiteiner globalisierten Menschheit
2. Die Theorie der Achsenzeit als kulturanalytische Heuristik
3. Die Achsenzeit-These und das kulturelle Gedächtnis
ANMERKUNGEN
EINFÜHRUNG
ERSTES KAPITEL: ABRAHAM-HYACINTHE ANQUETIL-DUPERRONUND DIE ENTDECKUNG DER GLEICHZEITIGKEIT (1771)
ZWEITES KAPITEL: JEAN-PIERRE ABEL RÉMUSATUND DAS I-CHI-WEI DES LAOTSE (1823)
DRITTES KAPITEL: HEGEL: DIE ZEIT WIRD ZUM RAUM(1827)
VIERTES KAPITEL: EDUARD MAXIMILIAN RÖTH UND DIE ÖSTLICHENURSPRÜNGE DER ABENDLÄNDISCHEN SPEKULATION (1846/58)
FÜNFTES KAPITEL: ERNST VON LASAULX UND DIE ALL-EINHEITVON GOTT, MENSCH UND GESCHICHTE (1856)
SECHSTES KAPITEL: VICTOR VON STRAUSS UND TORNEYUND DIE SUCHE NACH DER URRELIGION (1870)
SIEBTES KAPITEL: JOHN STUART STUART-GLENNIE UNDDAS ULTIMATIVE GESETZ DER GESCHICHTE (1873)
ACHTES KAPITEL: ALFRED WEBER: DIE REITERVÖLKER UNDDAS «SYNCHRONISTISCHE WELTZEITALTER» (1935)
NEUNTES KAPITEL: KARL JASPERS: DIE ACHSENZEIT ALSGRÜNDUNGSMYTHOS DER MODERNE (1949)
ZEHNTES KAPITEL: ERIC VOEGELIN: EIN ABTRÜNNIGER DES ACHSENZEIT-DISKURSES
ELFTES KAPITEL: SHMUEL NOAH EISENSTADT UND SEIN KREIS:DIE KULTURANALYTISCHE WENDE DER ACHSENZEIT-DEBATTE
ZWÖLFTES KAPITEL: ROBERT BELLAH ODER ACHSENZEIT UND EVOLUTION
SCHLUSS
LITERATUR
REGISTER
Shmuel Noah Eisenstadt
(1923–2010)
in memoriam

Zeichnung Corinna Assmann 2003

Das Thema «Achsenzeit» hat tiefe Wurzeln in meinem Leben; mehr oder weniger bewusst hat es mich mein ganzes wissenschaftliches Dasein hindurch begleitet und sogar meine Berufswahl maßgeblich bestimmt. Das wurde mir klar, als mir vor einiger Zeit die 1955 erschienene Taschenbuch-Ausgabe von Karl Jaspers’ Vom Ursprung und Ziel der Geschichte wieder in die Hände fiel, die ich mir bereits 1955 als Obersekundaner gekauft und – wie ich mit großem Erstaunen feststellte – gründlich durchgearbeitet und in der ich viele Stellen angestrichen hatte. Da ich bislang immer mit der Erstausgabe von 1949 gearbeitet hatte, war mir das Taschenbuch ganz aus dem Blick geraten. Jetzt kam mir mit seinem Fund die Erinnerung zurück an die letzten Schuljahre und mein Suchen nach dem richtigen Studienfach. Im Freundeskreis meiner Eltern, an dessen Gesprächen ich hin und wieder teilnehmen durfte, war Kulturphilosophie das große Thema. Diskutiert wurde vor allem das heute weitgehend vergessene mehrbändige Werk von Jean Gebser Ursprung und Gegenwart und in diesem Zusammenhang Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes, Karl Jaspers’ Vom Ursprung und Ziel der Geschichte und anderes mehr, an das ich mich nicht mehr genau erinnere. Was ich mir mit dem ganzen Hoch- und Übermut des Primaners zum Ziel setzte, war nichts Geringeres, als diese Spekulationen auf die Grundlage solider Kenntnisse der Sprachen und Kulturen der Alten Welt zu stellen, von denen Jaspers und die anderen Autoren – mit Ausnahme des Griechischen – kein genaueres Wissen zu haben schienen. Also mehr Archäologie und Philologie als Philosophie, das war die Devise, mit der ich mich nach dem Abitur auf das Studium der Hieroglyphen, der Keilschrift, der Gräzistik und Archäologie warf. Das hohe Ziel, um dessentwillen ich das mühsame Studium dieser Sprachen und Schriften auf mich nahm, habe ich in den ersten fünfundzwanzig Jahren meiner ägyptologischen Existenz vollkommen aus den Augen verloren. Erst im Laufe der Achtzigerjahre tauchten die kulturphilosophischen Perspektiven wieder auf. Ausschlaggebend dafür war das gemeinsam mit Aleida Assmann verfolgte Projekt einer «Archäologie der literarischen Kommunikation» und die daraus entwickelte Theorie des «kulturellen Gedächtnisses». Damit war ein Rahmen gefunden, in dessen Zusammenhang auch das Konzept der Achsenzeit in neuem Licht erschien, bedeutete es doch, dass unser kulturelles Gedächtnis – ebenso wie das indische und das chinesische – nicht weiter zurückreicht als bis ins 6. oder allenfalls 8. Jahrhundert v. Chr. – eine These, die für einen Ägyptologen, der sich um das Verständnis von Texten auch des 3. Jahrtausends v. Chr. bemüht, eine starke Herausforderung darstellt. Unsere «Archäologie der literarischen Kommunikation» war wohl auch der Grund dafür, dass der israelische Soziologe Shmuel N. Eisenstadt, der wie kein anderer Jaspers’ Achsenzeitkonzept aufgriff und zum Gegenstand weltweiter Debatten machte, uns beide 1985 zu einer jener berühmten Achsenzeit-Tagungen eingeladen hat, die er zwischen 1975 und 2008 (mit)veranstaltete. Damit wurde das ursprünglich kulturphilosophisch inspirierte Interesse an den Epochenschwellen der Alten Welt, allen voran der Achsenzeit, wieder lebendig und hat meine philologisch-archäologische Beschäftigung mit dem Alten Ägypten um eine kulturwissenschaftliche Dimension erweitert. Ohne die Begegnung mit Shmuel Eisenstadt wäre dieses Buch nie entstanden. Deshalb ist es seinem Andenken gewidmet. Seitdem war ich bei zahlreichen solchen Tagungen dabei, in Florenz, Konstanz, Erfurt, Oldenburg, Wien, Aarhus und Uppsala, und gewann fortschreitend den Eindruck, dass sich der Begriff der Achsenzeit, von Jaspers als eine philosophische Hypothese ins Gespräch gebracht, immer mehr zu einem kulturgeschichtlichen Apriori und einer wissenschaftlichen Selbstverständlichkeit verfestigte. Diesem Absinken der Jaspers’schen Hypothese will dieses Buch entgegenwirken, nicht um die These zu widerlegen, sondern um sie in ihrem Anregungsreichtum wieder freizulegen.
Die ersten Schritte zu dieser Studie unternahm ich im Frühjahr 2016 am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien und schloss sie im Frühjahr 2018 am Wissenschaftskolleg zu Berlin ab. Beiden Häusern möchte ich für ihre stimulierende Gastfreundschaft danken. Besonderen Dank schulde ich Aleida Assmann und Sebastian Conrad, die mich davor bewahrten, das Manuskript um drei ursprünglich geplante, aber in ihren Augen überflüssige Kapitel zu verlängern. Die Erkenntnis, dass ein Buch, bei dem man noch Monate intensiver Arbeit vor sich sieht, im Grunde schon fertig ist, ist eine beglückende Erfahrung. Ulrich Nolte danke ich für sein ebenso sorgfältiges wie kluges Lektorat des Manuskripts und meiner Tochter Corinna für ihre Skizze Shmuel Eisenstadts, als er im Jahre 2003 zu einer der berühmten, von Bernhard Giesen veranstalteten «Meisterklassen» nach Konstanz kam.
Berlin, im Juli 2018
Es gibt die Steinzeit, die Bronzezeit und die Eisenzeit. Die Epochen werden nach den Materialien unterschieden, die für die Herstellung von Waffen und Werkzeugen verwendet wurden. Sie treten nicht überall gleichzeitig ein, sondern hier früher – zum Beispiel in den Kulturen des fruchtbaren Halbmonds –, dort später, etwa in Nordeuropa. Im gleichen Sinne sprechen viele inzwischen von der «Achsenzeit». Diese Epoche, heißt es, habe ihren Ursprung in der Eisenzeit mit dem Schwerpunkt um 500 v. Chr. Sie unterscheide sich durch den Gebrauch geistiger Werkzeuge wie «moralischer Universalismus, Transzendenzbezug, höhere Reflexivität, Einsicht in die Symbolizität der Symbole, über das Mythische hinausgehende systematische und kritische Theoriebildung».[1]
Die Entdeckung dieser Epoche beruht auf einer Beobachtung, die auf das 18. Jahrhundert zurückgeht. Der junge Iranist Abraham-Hyacinthe Anquetil-Duperron hat in seiner Edition des Zend-Avesta, der heiligen Schrift des Zoroastrismus, festgestellt, dass Zarathustra, Konfuzius und Pherekydes Zeitgenossen waren und mit ihrem einflussreichen Wirken eine «Epoche» heraufführten, «die der Welt den Ton angeben sollte». Andere haben diese Beobachtung aufgegriffen und durch weitere Namen ergänzt: Laotse, Buddha, (Deutero-)Jesaja, Jeremia, Xenophanes, Parmenides – alles Zeitgenossen. So entwickelte sich eine Debatte, deren Teilnehmer zwar wenig Bezug aufeinander nahmen (die meisten rühmten sich selbst dieser Entdeckung), aber eine reiche Palette von Deutungen dieses merkwürdigen Tatbestands entwarfen. Standen die Zentralfiguren dieses Durchbruchs nicht doch miteinander in Verbindung? War eine «unsichtbare Hand», eine «List der Vernunft», die Vorsehung, ja, Gott am Werk? Zeigte sich hier die Einheit der Menschheit, deren Geschichte sich nach einem genetischen Programm entfaltet nach dem Modell der Entwicklung des Individuums?
Über gut zwanzig Stationen, die der Iranist Dieter Metzler und der Soziologe Hans Joas zusammengetragen haben,[2] kam diese Debatte zu Karl Jaspers, der den Begriff «Achsenzeit» prägte und nicht nur die bei Weitem differenzierteste Phänomenologie, sondern auch die kühnste, ja abenteuerlichste Deutung des von Anquetil und anderen erhobenen Sachverhalts vorlegte. Für Jaspers handelte es sich hier nicht um eine Periode wie die anderen auch, sondern um die «Achse» der Weltgeschichte, um die sich alles dreht und die deren Verlauf in vorher und nachher teilt. Die Metapher der Achse übernahm er von Hegel, der von Christus zwar nicht als «Achse», aber als «Angel» der Weltgeschichte spricht (der Begriff «Angelzeit» verbot sich natürlich). In der Tat zählen ja die Christen (und inzwischen die ganze Welt) die Jahre von Christi Geburt an zurück und voraus. Mit seinem Begriff der Achsenzeit wollte Jaspers die christliche Achse, die nur die Christen als solche anerkennen, durch eine Achse, eine Zeitenwende ersetzen, die rund fünfhundert Jahre früher liegt, weite Teile der damaligen Welt betrifft und globale Bedeutung beanspruchen kann, ohne eine bestimmte Religion oder Kultur zu privilegieren. Es ging ihm darum, einerseits nach dem Modell der christlichen Zeitrechnung eine Grenze einzuziehen, die die Weltgeschichte in vorher und nachher teilt, und andererseits die Grenzen des auf Athen und Jerusalem fokussierten abendländischen Kulturgedächtnisses – und damit die Grenze zwischen West und Ost, Christen und Heiden, Heilsgeschichte und Profangeschichte – einzureißen. In diesem offenen Horizont eines globalisierten Kulturgedächtnisses erscheint Europa dann nicht mehr als der eine Ursprung, sondern nur noch als lokale Ausprägung eines globalen geistigen Durchbruchs. Die Idee der alles entscheidenden Wende bzw. des Durchbruchs von universaler Bedeutung aber blieb die gleiche. Genau wie im christlichen Weltbild mit Christi Geburt «unsere Zeit», entsteht in Jaspers’ Weltbild in der Achsenzeit die Zeit, in der wir leben. Hier entstand unsere eigene geistige Welt, unsere Vorstellung von Gott und Welt, von Werten und Normen, Rechten und Pflichten, Sinn und Verantwortung, ja, in Jaspers’ Worten, «der Mensch, mit dem wir bis heute leben». Damals wurde geboren, «was bis heute der Mensch sein kann».[3] Die damals geschriebenen Texte lesen wir heute noch, in den damals bestimmten Kategorien denken wir heute noch, die damals gestifteten Religionen sind noch die unsrigen. Dieser Anspruch verleiht der Theorie den Charakter eines Gründungsmythos der Moderne.[4]
Aleida Assmann hat in ihrem Buch Ist die Zeit aus den Fugen? unter anderen zwei Motive als zentral für das «Zeitregime der Moderne» hervorgehoben, «das Brechen der Zeit» und «die Fiktion eines Anfangs». Das trifft genau die beiden Aspekte von Jaspers’ Achsenzeit-These: dass die Achsenzeit mit allem Vorhergehenden gebrochen und damit die Zeit in vorher und nachher geteilt hat und dass sie den Anfang der Moderne, ja den «Ursprung der Geschichte» darstellt.
Aber gerade in diesem Anspruch, die christliche Idee einer alles entscheidenden Zeitenwende zu globalisieren, zeigt sich, wie tief sein Projekt in der christlich-abendländischen Tradition verankert ist. Auf den Gedanken einer «Achsenzeit» konnte wohl nur jemand kommen, der aus einer seit Jahrtausenden christlich gesprägten Kultursphäre stammt. Seit Jahrtausenden lebt Europa im Zeichen der Zeitachse, des Vorher und Nachher, der großen, alles verändernden Wende: vom Polytheismus zum Monotheismus, vom Heidentum zum Christentum, vom Mythos zum Logos, im Zeichen einer nie vollständig vollziehbaren Abkehr von etwas Überwundenem und immer neu zu Überwindendem, im Zeichen der Abgrenzung und Exklusion. Die christliche Geschichte schöpft ihren Sinn aus einem Ursprung – der Offenbarung – und einem Ziel – der Erlösung –, und diese Struktur hält sich (wie Karl Löwith 1949 gezeigt hat) auch durch alle Säkularisierungen hindurch. «Dass wir aber überhaupt die Geschichte auf Sinn und Unsinn befragen, ist selbst schon geschichtlich bedingt: jüdisches und christliches Denken haben diese maßlose Frage ins Leben gerufen.»[5]
Inhaltlich hat dieser Bruch zwei Aspekte, die allerdings beide mehr auf die westliche als auf die östliche Seite der Epoche zutreffen: die Wende vom Polytheismus zum Monotheismus, die in der biblischen Überlieferung mit allen Zeichen eines gewaltsamen Bruchs dargestellt wird, und die Wende vom Mythos zum Logos, die bei den Griechen durchaus polemische Züge annehmen konnte, etwa bei Xenophanes, der den Volksglauben verspottet, oder bei Platon, der die Dichter verbannen will. Monotheismus und Metaphysik bilden seit Jaspers die beiden Brennpunkte des Achsenzeit-Diskurses.
Vom Mythos zum Logos: Diese Formel prägte der klassische Philologe Wilhelm Nestle in seinem berühmten, 1940 erschienenen Buch, um «die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates» – so der Untertitel – zu charakterisieren.[6] 1944 folgte in gleicher Tendenz seine Griechische Geistesgeschichte von Homer bis Lukian in ihrer Entfaltung vom mythischen zum rationalen Denken dargestellt. Darin geht es also von Haus aus um den Weg speziell des griechischen Denkens. Die Achsenzeit-Theorie hat diese Formel auf den Weg des menschlichen Denkens überhaupt ausgedehnt. In der Tradition Max Webers mit seiner These der Entzauberung und unabwendbar fortschreitenden Rationalisierung der Welt erweist sich die Achsenzeit-Theorie als eine Form der Modernisierungstheorie, die besagt, dass die Menschheit in ihrem geistigen Entwicklungsgang mehr oder weniger unaufhaltsam von niedrigeren, defizienten Stufen ihres Welt- und Selbstbewusstseins zu immer vollständigeren und klareren Stufen fortschreitet bzw. fortschreiten sollte. Max Weber verstand diese Entwicklung als spezifisch westlich, auch wenn letzten Endes die ganze Welt einbezogen werden würde. Die Achsenzeit-Theorie versteht diesen Weg jedoch von allem Anfang an als global, jedenfalls als transkulturell, weil China, Indien, Persien, Israel und Griechenland ihn gleichzeitig beschritten und auf lange Sicht alle anderen Kulturen nachgezogen haben.
Mit der in den letzten Jahrzehnten viel diskutierten «Wiederkehr der Religion»[7] bzw. im «postsäkularen Zeitalter» (Jürgen Habermas) hat Webers Rationalisierungs- und Weltentzauberungstheorie viel von ihrer Überzeugungskraft eingebüßt.[8] Ähnliches gilt für die noch bis vor dreißig Jahren unbestritten gültige Modernisierungstheorie.[9] Der Rede «vom Mythos zum Logos» lässt sich entgegenhalten, dass auch im Mythos sehr viel Logos steckt und umgekehrt, dass das «logische Denken» nach wie vor auf bestimmte Bereiche wie Technik und Wissenschaft beschränkt ist und dass die Konzeption dieser Wende nach wie vor eine «westliche» Idee bleibt, auch wenn die Achsenzeit-Theorie sie auf die ganze Welt ausdehnen und den eurozentrischen Standpunkt überwinden will.
Auch die Wende vom Polytheismus zum Monotheismus wird dem achsenzeitlichen Durchbruch zugerechnet, hat sie sich doch in Israel genau im einschlägigen Zeitraum, zwischen 750 (den frühen Propheten) und 450 (der Durchsetzung der Torah im Perserreich), ereignet. Es liegt auf der Hand, «Polytheismus» mit Mythos und «Monotheismus» mit Logos in Verbindung zu bringen. So schrieb etwa der Philosoph Jürgen Habermas: «Philosophisch gesehen, ist im Ersten Gebot der folgenreiche kognitive Schub der Achsenzeit festgehalten, nämlich die Emanzipation von der Kette der Geschlechter und von der Willkür der mythischen Mächte.»[10] Das Gebot «Du sollst keine Götter haben neben mir» bedeutet die «Emanzipation» vom mythischen Denken. Mythos im Sinne von Göttergeschichte (historia divina) kann es nur im Polytheismus geben. Der biblische Monotheismus setzt an deren Stelle die Geschichte Gottes mit seinem Volk, historia sacra oder «Heilsgeschichte». Deren Verständnis als «Logos» – Monotheismus also als ein Schritt der Aufklärung und Rationalisierung – lässt sich allerdings nicht ganz so leicht nachvollziehen. Warum sollte die historia sacra nicht einen anderen Mythos darstellen anstatt das Gegenteil von Mythos? So hat Thomas Mann diese Wende in seinen Josephsromanen gedeutet.[11] In dieser Sicht «verzaubert» die Heilsgeschichte genauso die Welt, wie es die Göttergeschichten des Mythos getan haben.
Anders – und durchaus im Sinne der Achsenzeit-These – stellt sich die Wende dar, wenn man den Begriff «Polytheismus» durch «Kosmotheismus» ersetzt. Dann zeigt sich, dass es hier nicht nur um die Ersetzung der Vielen durch den Einen geht, sondern vor allem um die kategorische Unterscheidung zwischen Gott und Welt. Die vielen Götter der archaischen oder «heidnischen» Polytheismen sind zwar transzendent, aber innerweltlich. Das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz wird im Sinne der Kontinuität und nicht des Bruchs gedacht und durch Kulturtechniken wie Opferkult, Divination, sakramentale Magie und Sakralkönigtum ausgestaltet. Mit dieser Tradition wird im biblischen Monotheismus radikal gebrochen (auch wenn der Opferkult – eigentlich längst überflüssig geworden – bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 beibehalten wurde).[12] Die Vorstellung von einem außerweltlichen, im strengen Sinne transzendenten Schöpfer und die Ausbürgerung des Göttlichen aus der Welt stellen in der Tat einen klaren Akt von Aufklärung, Rationalisierung und Weltentzauberung dar. Auch hier lässt sich aber genau wie im Fall des Mythos zeigen, dass die Unterscheidung zwischen Gott und Welt – bzw. Metaphysik und Physik – sich auf die Länge der Geschichte keineswegs so radikal hat durchhalten lassen, wie sie im revolutionären Impuls der Bücher Exodus und Deuteronomium greifbar wird. Dafür genügt der Hinweis auf die «politische Theologie» im Abendland und im Islam sowie die Konjunktur der Alchemie in beiden Bereichen. Vor allem ist zu fragen, ob sich diese Wende wirklich in gleicher Radikalität im Westen wie im Osten (man denke nur an den Daoismus) zugetragen hat.
Trotz aller Einwände hat aber die Beobachtung einer Achsenzeit etwas Bestechendes. Niemand kann bestreiten, dass Konfuzius, Buddha, (Deutero-)Jesaja und die Vorsokratiker grosso modo Zeitgenossen waren und in ihren jeweiligen Kulturkreisen große geistige Veränderungen angestoßen haben. Das Problem, das mit dieser Beobachtung verbunden ist, betrifft die in diesem Phänomen wirksame Dynamik, die von Anfang an dazu eingeladen hat, über das Beobachtbare hinauszugehen in Richtung geschichtsphilosophischer, genauer geschichtsmetaphysischer Spekulationen. Jaspers ging in dieser Hinsicht am weitesten und gab dem Phänomen seine mythische Qualität.
Es handelt sich hier um eine «Große Erzählung» der Art, wie sie Jean-François Lyotard beschrieben hat, als er 1989 das Ende der großen Erzählungen verkündete.[13] In meinen Augen gehört Karl Jaspers’ Achsenzeit-Theorie neben Sigmund Freuds Ödipus-Komplex und Max Webers Weltentzauberungsthese zu den wirkmächtigsten wissenschaftlichen Mythen der Moderne. Diese Wirkmächtigkeit ist auch der Grund, hier von «Mythen» zu sprechen. Ein Mythos ist in allererster Linie ebendies: ein ungemein suggestives, erklärungs- und wirkmächtiges fundierendes Narrativ, eine Weltsicht und Handeln fundierende Geschichte von normativer und formativer Geltung. Daneben aber hat unser Begriff «Mythos» auch eine kritische Bedeutung, die auf die problematische Fundierung der Erzählung im Gegebenen und Nachweisbaren verweist.
Einer Erklärung für die Gleichzeitigkeit dieser geistigen Durchbrüche in Weltregionen, die offenbar nicht miteinander in Verbindung stehen, hat sich Jaspers verweigert. Er spricht wie viele andere in diesem Zusammenhang von «Geheimnis» oder «Mysterium» und beharrt auf der «Reinheit des Nichtwissens». Andere suchten Erklärungen in schon damals bestehenden Kontakten oder Überlagerungen durch ost-westliche Wanderungswellen. Einer, John Stuart Stuart-Glennie, glaubte gar, vom Phänomen der Achsenzeit ausgehend ein «Ultimatives Gesetz der Geschichte» zu entdecken. Diese Fragen sind heute zwar nicht geklärt, aber suspendiert. Der Begriff der Achsenzeit hat sich von einer These zur Bezeichnung einer Epoche verfestigt. Das hat der Achsenzeit ihre mythischen Qualitäten verschafft.
«Mythisch» wird eine Theorie, wenn die Grundannahmen, auf denen sie beruht, nicht weiter überprüft und hinterfragt, sondern vorausgesetzt und zur Grundlage von Denken, Forschen und Handeln gemacht werden. Im zweiten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen, der dem «mythischen Denken» gewidmet ist, hat Ernst Cassirer den Gegensatz von Mythos und Geschichte beschrieben:
Wenn die Geschichte das Sein in die stetige Reihe des Werdens auflöst, innerhalb dessen es keinen ausgezeichneten Punkt gibt, in dem vielmehr jeder Punkt auf einen weiter zurückliegenden hinweist, so daß der Regreß in die Vergangenheit zu einem regressus in infinitum wird – so vollzieht der Mythos zwar den Schnitt zwischen Sein und Gewordensein, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, aber er ruht in der letzteren, sobald sie einmal erreicht ist, als einem in sich Beharrenden und Fraglosen aus.[14]
So verwandelt sich auch Geschichte in Mythos, nicht im Sinne von Fiktion, sondern im Sinne einer narrativen Grundlegung von Selbstverständnis und Orientierung, sobald in der Erforschung der Vergangenheit ein «ausgezeichneter Punkt», ein «fragloser und sich beharrender» Anfang erreicht ist. In seinem «Vorspiel» zu den Josephsromanen hat Thomas Mann diesen Gegensatz von forschender Historie, die immer tiefer in den «Brunnen der Vergangenheit» hinabsteigt und für die sich alle ausgezeichneten Haltepunkte als bloße «Dünenkulissen» erweisen, und der mythischen Erinnerung, die sich an «Ursprüngen» und «Erstmaligkeiten» festmacht, auf künstlerische Weise inszeniert. Etwas von diesem Gegensatz empfindet auch der Ägyptologe, wenn er sich mit Karl Jaspers und seiner Achsenzeit-Theorie auseinandersetzt.
Auf Jaspers’ bahnbrechendes und grundlegendes Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte aus dem Jahr 1949 folgte eine mehr als fünfundzwanzig Jahre währende Latenzphase. Seit 1975 jedoch wurde die Achsenzeit zum Thema einer nicht abreißenden, ständig anwachsenden Reihe von Konferenzen und Publikationen. Hier gewann nun die Debatte endlich jene Kohärenz, die ihr bis einschließlich Jaspers abging: Die Beiträge setzen sich von nun an mit Jaspers und miteinander auseinander. Anquetils Beobachtung wurde nun endlich im Rahmen der betroffenen Spezialdisziplinen auf ihre historischen Grundlagen und Folgen hin untersucht. In den zahlreichen Tagungen, Sammelbänden, Monographien und Artikeln, die seit der Wiederentdeckung von Jaspers’ Achsenzeit-These die Debatte fortsetzen, hat sich das Achsenzeit-Theorem vor allem als ein transdisziplinärer Forschungsrahmen bewährt, weil diese Fragestellung wie kaum eine andere geeignet ist, die verschiedensten kulturwissenschaftlichen und theoretischen Fächer zusammenzubringen. Dabei wird aber dieser Begriff oder Befund nicht weiter infrage gestellt, sondern so verwendet, als ginge es hier um einen objektiven Tatbestand. Der Althistoriker Arnaldo Momigliano sah in der Achsenzeit eine selbstverständliche und nicht weiter hinterfragbare Tatsache:
Seit Karl Jaspers’ Vom Ursprung und Ziel der Geschichte – dem ersten originellen Buch über Geschichte, das in Nachkriegsdeutschland erschien – ist die Rede von der Achsenzeit eine Binsenweisheit geworden, die Zeit, die das China von Konfuzius und Laotse, das Indien Buddhas, Zarathustras Persien, das Palästina der Propheten und das Griechenland der Philosophen, Tragiker und Historiker umfasste. Diese Formulierung enthält viel Wahrheit. Alle diese Kulturen verfügen über Schrift, eine komplexe politische Organisation mit der Verbindung von Zentralherrschaft und lokalen Autoritäten, entwickelter Urbanistik und avancierter Metallurgie sowie die Praxis internationaler Diplomatie.
Bis hierhin trifft das auf alle archaischen Hochkulturen der späten Bronzezeit (ab 1500 v. Chr.) zu: Ägypten, Assyrien, Babylonien, das Reich von Mitanni, das Hethiterreich und die levantinischen Stadtkönigtümer.[15] Die folgenden Sätze aber lassen sich dann in Momiglianos Augen nur noch auf die Epoche um 550 v. Chr. beziehen, die er als «the age of criticism» bezeichnet.
In all diesen Kulturen gibt es eine tiefe Spannung zwischen politischer Macht und intellektuellen Bewegungen. Überall bemerkt man ein Streben nach größerer Reinheit, größerer Gerechtigkeit, größerer Vollkommenheit und einer allgemeingültigeren Deutung der Dinge. Neue Modelle der Wirklichkeit, ob auf mystische, prophetische oder rationale Weise wahrgenommen, werden vorgetragen als Kritik oder Alternativen der herrschenden Anschauungen. Wir sind im Zeitalter der Kritik.[16]
In der letzten Phase des Achsenzeit-Diskurses, die maßgeblich von dem Jerusalemer Soziologen Shmuel Eisenstadt bestimmt wurde, sind alle geschichtsphilosophischen Spekulationen in den Hintergrund getreten zugunsten kulturanalytischer und kultursoziologischer Fragestellungen. Darüber ist die zum Mythos gewordene und als historische Epoche vorausgesetzte Achsenzeit-These paradoxerweise immer fraglicher geworden. Bis heute steht aber die sich ständig ausweitende Achsenzeit-Debatte ganz im Banne der Großen Erzählung, die sie empirisch zu unterfüttern, aber nicht eigentlich kritisch zu hinterfragen sucht.
In diesem Buch möchte ich den Versuch unternehmen, den von Momigliano treffend charakterisierten Begriff der Achsenzeit in gewissem Umfang zu entmystifizieren, indem ich seine Entstehungsgeschichte beleuchte. Aus der von Dieter Metzler und Hans Joas zusammengestellten Liste der über zwanzig Namen habe ich zwölf Protagonisten ausgewählt, die ich als besonders wichtige Stationen des Achsenzeit-Diskurses betrachte. Darunter sind auch Namen, die, jedenfalls im engeren Sinne, nicht in diese Diskursgeschichte gehören. Hegel bezieht in seiner Philosophie der Geschichte eine evolutionistische Position, die dem auf Gleichzeitigkeit basierenden Achsenzeit-Theorem entgegengesetzt ist, dies allerdings so genau, dass er das Achsenzeit-Theorem von seinem Gegenteil her, einem chronologischen und geographischen Nacheinander, beleuchtet. Eric Voegelin, der mit seinen Großprojekten einer Geschichte der politischen Ideen und dem daraus hervorgegangenen Werk Order and History zunächst ganz auf dem Boden der Jaspers’schen Globalperspektive gestartet ist, hat seinen Blickwinkel im Laufe der über fünfunddreißigjährigen Ausarbeitung immer stärker verengt und endete mit einer auf den monotheistisch-metaphysisch geprägten Westen beschränkten Perspektive. Doch gehört er schon aufgrund seines großen schulbildenden Einflusses auch als ein «Abtrünniger» in die Geschichte des Achsenzeit-Diskurses.
So wie die Weltgeschichte lässt sich auch die Geschichte des Achsenzeit-Diskurses in drei Phasen unterteilen: die vor-Jaspers’sche Phase von 1771 bis 1945, die Jahre von Jaspers’ epochemachender und klassisch gewordener Beschäftigung mit dem Thema von 1945 bis 1949[17] und die nach fünfundzwanzigjähriger Latenzzeit einsetzende kulturwissenschaftliche, soziologische und religionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Jaspers’ klassischer Position, die in dieser Diskursgeschichte selbst eine epochemachende Wende, eine Achsenzeit, darstellt.
In der ersten Phase von 1771 bis 1945 nehmen die einzelnen Beiträge noch kaum Bezug aufeinander. Ihr fehlt eine diskursive oder «hypoleptische» Struktur. Mit «Hypolepse» bezeichneten die Griechen die Kunst des Rhapsoden, den Gesang dort fortzusetzen, wo der Vorgänger aufgehört hatte. Die Rhetorik bezog den Ausdruck auf das Prinzip des Redners, auf seine Vorredner Bezug zu nehmen, deren Argumente zu widerlegen oder zu verstärken. In der griechischen Philosophie und Wissenschaft entwickelte sich dieses Prinzip zur Ordnung des Diskurses, durch die sich im Medium der Schrift ein Gespräch über Jahrhunderte hinweg entfalten kann. Diese Kohärenz und den dadurch möglichen Erkenntnisgewinn sucht man bis zu Jaspers vergeblich in den einzelnen Beiträgen zur Achsenzeit-Debatte. Daher handelt es sich hier nicht um eine Debatte im eigentlichen Sinne. Die Beobachtung Anquetils wird in den einzelnen Schriften lediglich wie ein Mantra wiederholt – «in A lebte B, in C wirkte D» usw. – und durch weitere Namen ergänzt, ohne dass die einzelnen Autoren im Allgemeinen aufeinander Bezug nehmen und aufeinander aufbauen.
Dennoch entfaltet sich schon in dieser Phase die Achsenzeit-These in zwei Dimensionen. Die empirische Dimension des Achsenzeit-Mythos besteht zunächst in nichts anderem als der erwähnten, zweifellos faszinierenden Beobachtung, dass in drei der maßgeblichen Kulturkreise der damaligen Welt, China, Indien/Persien und Vorderer Orient/östliche Mittelmeerwelt, gleichzeitig und unabhängig voneinander Männer auftraten, deren Ideen/Schriften die Welt veränderten. Die geschichtsphilosophische Dimension kommt mit dem Versuch ins Spiel, die Gemeinsamkeiten dieser Gründerfiguren herauszuarbeiten und die Gleichzeitigkeit ihres Auftretens zu erklären. Hier ist Ernst von Lasaulx die dominierende Figur. In beiden Dimensionen, vor allem der geschichtsphilosophischen, geht es um vier Hauptthemen: Kultur, Bewusstseinsgeschichte, Religionswissenschaft und humanistische Ethik. Jeder Teilnehmer setzt andere Schwerpunkte innerhalb dieses thematischen Vierecks.
Jaspers hat mit seinem Buch, das die zweite, «klassische» Phase bildet, eine dritte Dimension ins Spiel gebracht. Ich möchte sie die «hermeneutische Dimension» nennen, denn hier geht es um jene «Horizontverschmelzung» (Gadamer), die den alten Text und den neuen Leser, das «Damals» des Autors und das «Jetzt» des Lesers, im Akt des Verstehens vereint. Dafür genügt es, die Sätze zu betrachten, mit denen Jaspers sein Buch eröffnet:
Durch die Tiefe und den Umfang der Verwandlung allen menschlichen Lebens hat unser Zeitalter die einschneidendste Bedeutung. Nur die gesamte Menschheitsgeschichte vermag die Maßstäbe für den Sinn des gegenwärtigen Geschehens zu geben. (15)
Wenn es je eine Zeit vergleichbarer «Verwandlung» gab, dann war dies die Epoche, in der Anquetil-Duperron mit seiner bahnbrechenden Beobachtung hervortrat und die der Historiker Reinhart Koselleck 1972 auf den Namen der «Sattelzeit» taufte[18] – in unverkennbarer Anlehnung an Jaspers’ Begriff der Achsenzeit.[19] Auch Anquetil lebte und schrieb im Bewusstsein, in einer Zeit tiefgreifender Umbrüche zu leben, und reagierte darauf mit einem ausgeprägten kosmopolitischen Humanismus und Egalitarismus, der viel von Jaspers’ «Totalanschauung» vorwegnahm. Anquetil schrieb am Anfang jener eigentlichen Moderne, nach deren Katastrophe Jaspers seine These der Achsenzeit entwickelte.
Jaspers fragt nach der Bedeutung der gegenwärtigen «Verwandlung», das heißt der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs mit dem unfassbaren Verbrechen des Holocaust und dem Einsatz von unvorstellbarer Vernichtungskraft, und gewinnt neue Deutungskriterien aus dem «Schema einer Totalanschauung», «dass die Menschheit einen einzigen Ursprung und ein Ziel habe». Den Ursprung sieht er in der Achsenzeit, aber auch das Ziel, denn wenn «damals entstand, was seitdem der Mensch sein kann», geht es nach wie vor darum, dieses Ziel zu verwirklichen.
In der dritten Phase ist dieser hermeneutische Impuls, die heutige Zeit aus der Achsenzeit zu begreifen und umgekehrt, wieder in den Hintergrund getreten. Jetzt geht es um die Erforschung der als gegeben unterstellten Achsenzeit, aber nicht um die geistige Situation der Gegenwart.
Was dem Ägyptologen bei der Achsenzeit-Forschung als Erstes ins Auge springt, ist die Ausblendung der ältesten kulturellen Sphäre, der ägyptisch-orientalischen Hochkulturen, die zur Zeit der achsenzeitlichen Wende oder «Verwandlung» schon mehr als zweitausend Jahre schriftlich bezeugter Geschichte hinter sich hatten, bevor sie in die Abhängigkeit des persischen Großreichs gerieten, dessen Ausdehnung von Indien bis Ionien und Ägypten in die Achsenzeit fiel. Mit dieser Ausblendung der altorientalischen Wurzeln schreibt sich die Achsenzeit-Debatte in die große kulturphilosophische Wende ein, die sich im späten 18. Jahrhundert in Europa vollzog. Sah man bis dahin die Ursprünge der eigenen geistigen, religiösen und kulturellen Welt in Ägypten und Mesopotamien, auf die ja auch Athen und Jerusalem als ein ihnen vorausliegendes Altertum zurückblickten, so kam es mit der Erschließung der indischen (William Jones) und persischen Quellen (Anquetil-Duperron) zu einer grundlegenden Umorientierung der europäischen Genealogie und Ursprungssuche, die sich von Ägypten und Mesopotamien abkoppelte und ihre Wurzeln in Indien entdeckte. In Deutschland kam dazu die beispiellose Begeisterung für die griechische Kunst, die Winckelmann ausgelöst hatte und die sich bald auf alles Griechische ausdehnte. Mit der Entdeckung neuer Ursprünge und Zusammenhänge ging die Ausblendung und Aufkündigung alter Genealogien einher. Jetzt bildeten sich die neuen kulturellen Fronten und Dichotomien heraus, die das Selbstbild Europas im 19. und weit ins 20. Jahrhundert hinein bestimmten: das Indogermanische versus das Semitische, Mythos versus Monotheismus, Demokratie versus Despotie, Freiheit versus Unterdrückung usw. Die unheilvollen Aspekte dieses eurozentrischen Reduktionismus liegen auf der Hand. Die Unterscheidung der beiden Sprachfamilien, der indoeuropäischen und der semitischen, wurde zum «rassischen», kulturellen und religiösen Gegensatz von «Ariern» und «Semiten» hochgespielt.[20] Der Arier-Mythos ist ein anderes Beispiel für einen wirkmächtigen Wissenschaftsmythos. Er entsteht aus der Aufladung einer empirischen Beobachtung, in diesem Fall der Sprachverwandtschaft der indoeuropäischen Sprachen einerseits und der semitischen Sprachen andererseits, mit ideologischen Projektionen und Verallgemeinerungen, die zu verhängnisvollsten Einstellungen und Handlungsweisen führen können. Hier muss man allerdings unterscheiden. Mit diesen problematischen Aspekten der Wende im kulturellen Gedächtnis Europas, von Ägypten und Mesopotamien weg zu Indien und Persien, hat die Achsenzeit-Theorie nichts zu tun. Ihre Agenda war jedem eurozentrischen Reduktionismus und Exzeptionalismus diametral entgegengesetzt. Hier ging es von Anfang an um die Gewinnung einer transkontinentalen Universalperspektive, in der alle von der geistigen Wende des 6. Jahrhunderts erfassten Kulturen prinzipiell gleichberechtigt waren.
Als Ägyptologe werfe ich also auf die Achsenzeit, anders als die Beiträger des Achsenzeit-Diskurses, einen Blick von außen. Ich halte sie nicht für eine unhinterfragbare historische Tatsache, sondern für eine interessante These. In diesem Buch geht es mir nicht darum, den blinden Fleck der Achsenzeit-Forschung aufzuhellen und die allzu scharf gezogene Grenze zwischen Archaik und Klassik einzureißen, sondern darum, im Durchgang durch die wichtigsten Stationen des Achsenzeit-Diskurses viele offengebliebene Fragen aufzuzeigen, die Möglichkeiten der Theorie auch für eine Analyse der außerachsenzeitlichen Welt zu unterstreichen und vor allem die schon von Anquetil herausgestellten und von Jaspers auf den Trümmern der europäischen Katastrophe breit und eindrucksvoll entfalteten normativen Impulse eines universalen, über die biblischen und klassischen Wurzeln hinaus global erweiterten Humanismus zu unterstreichen. Worauf es heute ankommt, ist erstens, den Begriff der Achsenzeit im Sinne von Jaspers als eine These und eine regulative Idee wieder freizusetzen und vor seiner Verfestigung als positivem Epochenbegriff zu bewahren, zweitens die normativen Impulse, die das Thema bei Jaspers hat, zu bewahren: Überwindung von Eurozentrismus, Suprematismus, Exzeptionalismus zugunsten globaler Perspektiven und Verantwortungen, und drittens die Debatte in den größeren Zusammenhang des Übergangs einzubringen, den wir heute erleben: von der Universalgeschichte mit ihren metaphysischen Implikationen zu einer Globalgeschichte, die sich den interkulturellen Kontakten, Verstrickungen («entangled histories») und konvergenten Bewegungen mit Methoden widmet, die das genaue Gegenteil einer Geschichtsmetaphysik darstellen, ohne doch die Idee großer übergreifender Zusammenhänge aufzugeben.[21]
ERSTES KAPITEL
Abraham-Hyacinthe Anquetil (1731–1805) wurde als viertes von sieben Kindern in die Familie eines Pariser Gewürzkaufmanns geboren.[1] Da der Handel mit Gewürzen enge Handelsbeziehungen mit dem Orient, insbesondere Indien, voraussetzte, darf man annehmen, dass die Wurzeln von Anquetils orientalistischer Leidenschaft in die Kindheit zurückreichen. Die Familie muss von einigem Wohlstand gewesen sein, denn der Vater verfügte über zwei Landgüter, deren Namen seine beiden Söhne zu ihrer Unterscheidung ihrem Familiennamen beifügten, wie es damals nicht unüblich war. So kam es zu dem Namen Anquetil-Duperron beim jüngeren und Anquetil de Briancourt beim älteren Bruder. Auch dieser erbte das Interesse an Indien und wurde Kontorchef der französischen Indien-Kompanie und französischer Konsul in Surat. Abraham-Hyacinthe begann zunächst eine Ausbildung zum Priester an der Sorbonne, wo er Hebräisch und klassische Sprachen studierte, wurde aber bald, als sich seine orientalistische Begabung zeigte, nach Holland geschickt, wo er seine Ausbildung bei den exilierten Jansenisten in Amersfoort fortsetzte. Der Jansenismus mag bei Anquetil seine Neigung zur Selbstthematisierung und zum Asketismus begründet haben. Jansenistisch ist auch sein protestantisch anmutender Individualismus, seine Unabhängigkeit von gesellschaftlichem Status, seine Betonung des inneren Werts eines Menschen gegenüber äußeren Faktoren wie Ruhm und Reichtum und seine in jeder Hinsicht postkonventionelle Ethik.[2]
1754, mit dreiundzwanzig Jahren, kehrte Anquetil nach Paris zurück, erhielt eine Anstellung an der königlichen Bibliothek und bekam etwas vorgelegt, das auf den ersten Blick über sein künftiges Leben entschied: die Kopie der ersten Seiten einer Oxforder Handschrift, die als Werk Zarathustras galt und von der noch niemand auch nur ein Wort hatte entziffern können. Anquetil beschloss sofort, nach Indien zu reisen und sich bei den dortigen Parsen in die Religion und die Schriften Zarathustras einführen zu lassen. Diesen Plan setzte er mit einer an Besessenheit grenzenden Entschlossenheit um. Er wartete gar nicht erst einen entsprechenden Auftrag und finanzielle Unterstützung ab, sondern ließ sich als Soldat anmustern, um mit dem nächsten Militärtransport nach Indien aufzubrechen. Gerade noch rechtzeitig erreichte ihn im Hafen von Lorient der offizielle wissenschaftliche Auftrag mit Freistellung vom Militär, bescheidenem Stipendium und Passage auf einem Schiff der Indien-Kompanie. Am 10. August 1755 landete er in Pondicherry und schlug sich drei Jahre lang auf abenteuerlichen Reisen quer durch den indischen Subkontinent von Südosten nach Nordwesten durch, wo er am 1. Mai 1758 in Surat bei seinem Bruder ankam. Surat war ein Zentrum der vor den Arabern aus Persien geflohenen Parsen. Anquetil gelang es, sich von dem Destūr Darab in Sprache und Inhalt des Vendidad Sade und anderer zentraler zoroastrischer Schriften unterweisen zu lassen, und konnte am 16. Juni 1759 seine Übersetzung des Zend-Avesta abschließen. Über England – wo er die Oxforder Handschrift besichtigte (nicht ohne die dortigen orientalistischen Koryphäen, die an ihr gescheitert waren, seine Überlegenheit fühlen zu lassen) – kehrte er am 15. März 1762 nach Paris zurück, um die königliche Bibliothek mit 180 indischen und persischen Manuskripten zu bereichern.
Anquetil war aber bei seiner Indienreise noch von einem tieferen und weiterreichenden Interesse getrieben. Der Schweizer Philosoph und Buddhologe Urs App hat in der Pariser Bibliothèque Nationale einen langen Text des jugendlichen Anquetil mit dem Titel Le parfait théologue34