Cover

Hermann Kurzke

Was mein Vater nicht erzählte

Geschichte eines «Mitläufers»

Verlag C.H.Beck

Zum Buch

Von der NS-Zeit sprach Hermann Kurzkes Vater nie. Von Beruf war der Vater Physiker, ließ privat Modellflugzeuge steigen und bastelte Maschinchen aller Art. Ab 1952 war er Manager bei den Farbwerken Hoechst. Daß er von 1935 bis 1945 in der Wehrphysik tätig war, erfuhr der Sohn erst aus dem Schrank voller Akten, den der Vater ihm hinterließ. Wie konnte ein Mann, der nicht in der Partei und sehr katholisch war, viele Jahre lang Rüstungsforschung betreiben? Und warum hat er niemals über diese Zeit gesprochen? Warum hat der Sohn ihn nie gefragt?

Dieses Buch ist mehr als eine Spurensuche. Es will das Schweigen brechen. Der große Germanist und Thomas-Mann-Biograph arbeitet nicht nur mit Dokumenten, sondern auch mit inneren Monologen und mit fiktiven Gesprächen. Das Ziel ist, ins Innerste einzudringen – nicht zu verurteilen, sondern zu verstehen.

Über den Autor

Hermann Kurzke ist Professor em. Für Neuere deutsche Literatur an der Universität Mainz. Bei C. H.Beck sind von ihm zuletzt erschienen: «Thomas Mann. Ein Porträt für seine Leser» (2009), «Georg Büchner. Geschichte eines Genies» (2013) und – gemeinsam mit Christiane Schäfer – «Mythos Maria. Berühmte Marienlieder und ihre Geschichte» (2014).

Inhalt

PrologEs ist viel da

1. Der artilleristische Großvater – Glogau und Berlin 1881–1925

In unverbrüchlicher Treue. Satire aus Akten

Symbol Vater und Sohn. Meditation

Preußische Tugenden. Großvaters Dienstzeugnis

2. Unter Hitler – Berlin 1933–1939

Herbert Kurzke im Jahr 1933. Imagination

Das katholische Karlshorst. Episoden eines Milieus

Symbol Drei Bücher. Religionskritische Meditation

Kirchenchor. Romanze

Neben der Orgel. Memorabilie

Dissertation 1934. Faktengestützte Fiktion

Wehnelt und Schumann. Sachlicher Bericht

Die Abteilung G (Geheim). Sachlicher Bericht

Auf dem Weg zur Habilitation. Dokumentarspiel

Symbol Friedrich-Wilhelms-Universität. Meditation

Dr. Otto Stierstadt. Dokumentarische Fiktion

«Nein.» Zur Frage des Antisemitismus

Technische Nothilfe. Pflicht und Neigung

NS Volkswohlfahrt. Rechenschaft

NS Dozentenbund. Protokoll

NS Kraftfahr-Korps. Eintritt und Austritt

Musterung. Bericht

Unabkömmlich. Nachricht vom Arbeitsamt

Abwehrbeauftragter. Geständnis

Volkssturm. Bericht

Verdrängen und Verschweigen. Disput

3. Krieg – Berlin, Caputh, Harrasmühle 1939–1945

Im Namen der Opfer. Um ein Schweigen herum

Geheimpatente. Bericht

Die Quellenlage ist kompliziert. Projektlisten

Leitfaden. Vorschau

Piezoelektrizität. Forschungsbericht

Was nur erwünscht sein kann. Bombenplan

Memorial † Rührstück

Symbol  Lumineszenz. Meditation

Kriegsverdienstkreuz. Dokumentartheater

Herr Urian sitzt obenauf. Totengespräch

Immer anständig. Wie es gewesen sein könnte

Das Stierstadt-Institut. Rekonstruktion des Leitungspersonals

Dr. Helmut Sattler. Porträt

Bildwandler. Forschungsbericht

Blauschrift. Forschungsbericht

Drahtloser Zünder für Raketen. Forschungsbericht

Ein-Mann-Uboote. Forschungsbericht und Imagination

Der Torpedoreiter. Abgesang

Symbol Quadrant. Meditation

Zünderforschung. Forschungsbericht

Beobachtungsdrachen. Forschungsbericht

Steering of projectiles. Forschungsbericht

Akustische, optische und elektrische Zünder. Forschungsbericht

Caputh und Harrasmühle 1944–1945. Fortsetzung der Geschichte

Gebombte. Kriegsbericht mit vielen Fragen

Der Schutzengel oder: Dich kann es nicht treffen. Religionskritik

Dr. Percy Treite, Gynäkologe. Kontaktauskunft

Hermann wird geboren. Mitten im Krieg

Die Nummern 13–22 der Amerikanerliste. Forschungsbericht

Atomforschung? Fast ein Lustspiel

Die Amerikaner kommen. Reportage

Dr. Herbert Kurzke am 9. Juni 1945. Innerer Monolog

Wess’ Brot ich ess’, dess’ Lied ich sing. Innerer Monolog

Familienchronik 1944/45. Identitätsumbau

4. Nachkriegszeit: Fehlstart in Niederstotzingen (1945–1951) – Der Physiker auf dem Land

«We take the brain!» Die Entführung in den Westen

John Gimbel über die Wissenschaftler-Evakuierung. Lesefrucht

Was tun? Pläne und Träume

Bahnhof Niederstotzingen. Flüchtlingsunterkunft

Verdrängt 1: Spruchkammerurteil «Mitläufer». Der Fragebogen

CARE-Pakete. Unterstützungsempfänger 1 und 2

Verdrängt 2: 54.000 Reichsmark Entschädigung. Das erfahre ich erst jetzt, Jahrzehnte danach

Symbol Die lederne Aktentasche. Schmutz und Schund

Er haut uns, aber meine Kindheit war glücklich. Nicht selbstverständlich, aber wahr

Physica GmbH 1947–1952. Ein Fehlstart

Der Gesellschaftervertrag. Eine ehrenwerte Gesellschaft

Hundert Mitarbeiter täuschen große Fahrt vor. Eine Schwindelfirma

Symbol Der Bandgenerator. Reklame

Geigerzähler für Istanbul. Pläne mit Ali Nuri

Otto Stierstadt wird verhaftet. Untergang

Der Physica-Prozeß. Das Urteil und die Vernehmung meines Vaters

Symbol Betrachtet die Vögel des Himmels. Acht Monate arbeitslos

5. Neustart: Farbwerke Hoechst (1952–1975) – Alles wird normal

Karlshorst und Bobingen. Unerwartete Connections

Symbol Riesenrolle Perlondraht. Reicht noch 100 Jahre

Tod. In den ewigen Frieden eingegangen

Das Schweigen meines Vaters. Abgrund

EpilogVon Hitler wird nicht geredet, aber vom Papst

Anhang

Dank

Anmerkungen

1. Der artilleristische Großvater

2. Unter Hitler

3. Krieg

4. Nachkriegszeit: Fehlstart in Niederstotzingen (1945–1951)

5. Neustart: Farbwerke Hoechst (1952–1975)

Epilog. Von Hitler wird nicht geredet, aber vom Papst

Abkürzungsverzeichnis

Literatur- und Siglenverzeichnis

Prolog

Es ist viel da

In Süddeutschland aufgewachsen, wußte ich lange nicht, wie erzpreußisch meine Herkunft war.

Mein Vater, geboren 1910, erzählte nie aus seinem Leben. Dazu war er zu bescheiden. Er hielt das Höchstpersönliche nicht für wichtig. Ihm galt eine tiefe Diskretion. Aber vielleicht hatte er auch kein gutes Gewissen. Jedenfalls kam es dahin, daß wir Kinder (sechs Kinder, geboren 1941, 1943, 1946, 1952 und als letztes Zwillinge 1955) nichts Greifbares über Vater in der NS-Zeit erfuhren. Erst nach seinem Tod 1982 änderte sich das. Es fand sich ein Schrank voller Akten, darunter viel Aussagekräftiges über die Jahre 1933 bis 1945, auch Listen seiner wehrphysikalischen Projekte. Das Leben eines Physikers im Dritten Reich kam ans Tageslicht und ließ sich deutlich konturieren. Vielleicht war dieser verschwiegene und trotz zahlreicher Umzüge stets mitgeführte Aktenbestand seine Art, mit uns zu reden. Er wird gewollt haben, daß wir diese Akten nach seinem Tod finden. Das Material ließ sich ergänzen durch Briefwechsel, die gefunden wurden, ferner durch Dokumente aus dem Archiv des Physikerfreundes Dr. Helmut Sattler. Weiteres lieferte das im Internet zugängliche Archiv des deutschen Patentamts/Reichspatentamts – rund 70 Patente hatte mein Vater eintragen lassen, darunter etliche wehrphysikalische aus der Nazizeit.

Weiteres aussagekräftiges Material boten die Spruchkammerakten 1945/48 und diverse Stellenbewerbungen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Rolle und Tätigkeit eines begabten Physikers, der kein Nazi war, ließ sich aus all diesen Papieren entwickeln. Sie zeigt einen Mann, der sehr katholisch war und seinen inneren Widerspruch in die Religion verschob. Das Katholische half nach Kriegsende, die Nazizeit innerlich aushaltbar zu machen.

Zu dem Dokumentenmaterial kamen Erinnerungen an Gespräche während der Studentenbewegung (aus den Jahren 1968 bis 1975) über die NS-Zeit, die allerdings meistens unergiebig waren.

1. Der artilleristische Großvater

Glogau und Berlin 1881–1925

In unverbrüchlicher Treue. Satire aus Akten

Den Vater meines Vaters hat die Verdrängung verschluckt. Bis zum Tod meines Vaters wußte ich von ihm so gut wie nichts. Er sei Beamter gewesen, sagte die Familienüberlieferung. Auf hartnäckiges Nachfragen kam noch: in der Reichsschuldenverwaltung. Na, da hatte er ja einen schönen Job, als die gigantischen Staatsschulden aus dem Ersten Weltkrieg in der großen Inflation von 1923 zu Nichts umgemogelt wurden. Kurz vorher, am 18. Januar 1918, demselben Tag, an dem ein deutsches U-Boot einen vollbesetzten italienischen Truppentransporter im Mittelmeer versenkte,[1] hatte der König von Preußen, der zugleich deutscher Kaiser war, noch «Allergnädigst geruht», dem Vatersvater «den Charakter als Rechnungsrat zu verleihen», «in dem Vertrauen», «dass der nunmehrige Rechnungsrat Kurzke Uns und Unserem Königlichen Hause in unverbrüchlicher Treue ergeben bleiben und seine Amtspflichten mit stets regem Eifer erfüllen werde, wogegen er sich Unseres Allerhöchsten Schutzes bei den mit seinem gegenwärtigen Charakter verbundenen Rechten zu erfreuen haben soll».[2]

Der Treueschwur von Kaiser und Untertan galt nur noch wenige Monate. Er umschnörkelt das leichenreiche Kriegsjahr 1918 mit verlogenem Liebreiz. Er ist heute so tief versunken wie die U-Boot-Toten im Mittelmeer und wurde doch mit meinem leiblichen Großvater gewechselt, so nah und doch unendlich fern! Lange wußte ich nichts von ihm, aber jetzt rekonstruiere und reanimiere ich das Gerippe seines Lebens aus den Akten. Der Ernennung zum Rechnungsrat voraus lag die Ernennung zum Kassensekretär ab 1. April 1899 («mit einem etatsmäßigen Gehalt von jährlich 1800 M. und dem gesetzlichen Wohnungsgeldzuschuß von jährlich 540 M.»).[3] Davor war Paul Kurzke zum 1. Juni 1897 als Diätar (monatlich 125 Mark) eingestellt worden,[4] nach einer Probezeit als Bürodiener, die vom 1. Februar 1897 an datierte.[5] Von diesem Tag an stand er im Dienst der preußischen Hauptverwaltung der Staatsschulden zu Berlin, die auch die Schulden des Reiches betreute.

Er war damals immerhin schon 34 Jahre alt. Was hatte er mit diesen Jahren gemacht? Lückenlos liegen im Nachlaß meines Vaters die Papiere vor, von deren Existenz meine fünf Geschwister und ich von Vater nie etwas erfahren haben. Großvaters Leben verlief diesen Papieren zufolge nach einem genauen Plan. Ein Lebenslauf vom 16. Februar 1894 verrät ihn: «Um den Civilversorgungsschein zu erdienen, trat ich am 1. Oktober 1881 bei der 3. Batterie des 2. Garde-Feldartillerie-Regiments ein.»[6] Der Civilversorgungsschein berechtigte seinen Inhaber nach einer aktiven Militärdienstzeit von zwölf Jahren «zur Versorgung im Civildienste bei den Reichsbehörden, sowie den Staatsbehörden aller Bundesstaaten».[7] Um eines fernen Tages Rechnungsrat zu werden, hatte Paul Kurzke also die lange Kasernenzeit auf sich genommen.

Er hatte sich das begehrte Papier, den Zivilversorgungsschein, am 5. Oktober 1893 erdient, als seine zwölf Jahre um waren. Er war damals Vice-Wachtmeister. Aber er diente noch weiter, wurde am 16. Januar 1894 zum Wachtmeister befördert und schied erst am 31. März 1896 aus dem Militärdienst aus. Bis zur Einstellung in den zivilen Dienst am 1. Februar 1897 verging noch fast ein weiteres Jahr, aus dem der Militärpaß nur die zivilen Wohnungen angibt, die meldepflichtig waren. Sie liegen nicht mehr in Potsdam, wo das 2. Garde-Feldartillerie-Regiment stationiert war, sondern in Berlin, in einer guten Gegend (Prenzlauer Berg), wo Paul dann bis zu seiner Hochzeit blieb.

Sein Leben verlief unbedeutend, unauffällig und untadelig. Sein Stiefelmaß war stattlich, aber nicht außergewöhnlich (Länge 28 cm). Er war ein Kriegsmann im Frieden. Das Vaterland blühte. Er hinkte ein wenig. Sein Militärpaß vermeldet am 20. April 1886 den «Bruch des inneren Knöchels des rechten Beines». Der Kaiser war treu. Er entließ ihn «als dauernd Halbinvaliden» und gewährte ihm eine lebenslange Pension von 15,00 Mark monatlich. Das war, bis es die Inflation verdunsten ließ, ein gutes Taschengeld – grob gemittelt hatte die Mark des Deutschen Reiches vor dem Ersten Weltkrieg eine Kaufkraft zwischen fünf und fünfzehn Euro, je nachdem, worauf es ankam. Eine S-Bahn-Fahrt in Berlin kostete in der 3. Klasse 10 Pfennig, eine Kinokarte gab es ab 50 Pfennig. Für eine Mark konnte man dreißig Eier oder vier Liter Bier bekommen.

Paul Kurzke hatte sich nach Volksschule und Arbeit in der väterlichen Landwirtschaft als achtzehnjähriger Bauernjunge aus Niederschlesien (Jätschau bei Glogau, heute Głogów in Polen) nach Potsdam aufgemacht, war dort am 5. Oktober 1881 in das «2. Garde-Feldartillerie-Regiment» eingetreten, war 1882 zum Gefreiten, 1883 zum Obergefreiten, 1884 zum Unteroffizier, 1888 zum Sergeanten, 1892 zum Vice-Wachtmeister und 1894 «durch Allerhöchste Kabinets-Ordre»[8] zum Wachtmeister befördert worden.

Weitere bis 1833 zurückreichende Papiere, die mein Vater verwahrt hat, stammen nicht aus Großvaters Besitz, sondern sind Abschriften, die 1933/34 gefertigt wurden, als es galt, den sogenannten Ariernachweis zu erbringen. Das gelang glatt. Mein Urgroßvater Anton Kurzke und mein Ururgroßvater Joseph Kurzke waren demzufolge schlesische Bauern und alle mitsamt ihren Ehefrauen katholisch. So wollte es auch Paul Kurzke halten und suchte seine Braut nicht im protestantischen Berlin, sondern im katholischen Schlesien. Er heiratete 1903 in Breslau die vierzehn Jahre jüngere Maria Böhm aus Volpersdorf, Kreis Neurode (Grafschaft Glatz, heute in Polen). Auch sie hatte nur Volksschulbildung, obgleich sich unter ihren Vorfahren ein Wattefabrikant befand, nebst einem Fleischer und einem Gastwirt. Es waren alles keine Intellektuellen. Paul holte seine Maria nach Berlin und wohnte mit ihr in Rixdorf (heute eingemeindet nach Berlin-Neukölln). Ihr drittes Kind war ein Sohn, mein Vater Herbert Kurzke, er durfte als erster Abitur machen. Paul Kurzke verstarb 1925 mit 62 Jahren, Maria Kurzke (1877–1970) überlebte ihn um 45 Jahre und bezog noch einmal so lange, wie ihr Mann dem Staat gedient hatte, eine Witwenpension, die «in unverbrüchlicher Treue» nacheinander von der Weimarer Republik, vom Hitlerstaat, von der Sowjetzone, von der DDR und von der Bundesrepublik bezahlt wurde. Als Großmutter fast 90 war und ich 24, beklagte ich mich bei ihr, daß ich nicht einmal wüßte, was Großvater für einen Beruf hatte. Sie diktierte dann einen langen Schreibmaschinenbrief, den ich jetzt wiedergefunden habe. In ihm stand nicht viel über Paul:

Mein Mann war Beamter und ich bekomme seit seinem Tode eine Pension auf Lebenszeit, womit ich sehr gut auskomme und niemandem zur Last zu fallen brauche. Es ist eine wunderbare Einrichtung jeden Monat ohne zu bitten oder zu danken sein Geld abzuholen.[9]

Der Allerhöchste Schutz hatte das Kaiserreich überlebt. Sie war eine bescheidene Frau, aber sie lächelte, wenn sie dessen gedachte. Für sie hat sich Großvaters langes Dulden gelohnt. Kennengelernt hat sie ihn übrigens, auch das erwähnt der Brief, im schlesischen Bad Warmbrunn (Cieplice Śląskie-Zdrój, Polen) am Fuß des Riesengebirges, wo sie mit ihrer Mutter zur Kur war.[10] Es gab dort heiße Schwefelquellen und gute Gelegenheiten, sich einen Mann zu suchen. Das gehörte zum tieferen Sinn solcher Bäder.

Symbol Vater und Sohn. Meditation

Die in diesem Buch abgebildeten Symbole stellen eine wortlose und durch Worte kaum ersetzbare Kommunikationsform dar. In ihnen ist Vater stumm gegenwärtig und spricht gleichzeitig zu uns.

Das folgende Foto steckte in den alten Akten. Es zeigt meinen Vater und meinen Großvater. Es ist bei den kriegs- und karrierebedingt zahlreichen Umzügen stets mitgeführt worden. Es ist ein Symbol der Bewahrung in der Verdrängung.

Sohn und Vater (Herbert und Paul Kurzke) ca. 1920

Der König von Preußen, seine Garde, Potsdam, eine schnurgerade Laufbahn vom Gefreiten bis zum Rechnungsrat: preußischer geht es nicht. Dazu kommt noch die Feldartillerie, bei der Paul Kurzke diente. Er hatte mit Kanonen zu tun, war ausgebildet als «Bedienungsmann, Fahrer, Richtkanonier, Geschützführer, Futtermeister, Zugführer mit Revolver M79».[11] Auch Vater wird mit Kanonen zu tun bekommen, wird ein Artillerist im höheren Sinne sein. Er wird in Spuren gehen, ohne es zu wissen. Alles in allem eignete Großvater sich gut als Sinnbild des preußischen Militarismus und Etatismus. War es das, was ihn aus der Erinnerung unserer Familie vertrieben hat? Das Gedächtnis folgt Interessen, ist kein getreuer Spiegel des Gewesenen. Die neue Identität, die sich die junge Bundesrepublik mühsam aufbaute, mußte die NS-Zeit ausklammern und um alles Militärische einen Bogen machen. Man sprach besser nicht davon. Preußen gab es nicht mehr. Ein preußischer Soldat als Herkunft war nichts mehr, worauf man stolz sein konnte. Das Entnazifizierungsgesetz vom 5. März 1946 hieß mit seinem vollen Namen «Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus». «Potsdam» war das Symbol des Militarismus. Das galt nicht nur in der DDR, sondern auch in der frühen, amerikanisch dominierten Bundesrepublik, in der mein Vater, der amerikafreundlich war, das «kleine» Familiengedächtnis modellierte, wobei ihm das «große» Gedächtnis eines in seinen Grundfesten erschütterten Volkes den Rahmen vorgab. Um Feinheiten geht es dabei nicht. Die breitenwirksame Political Correctness differenziert nicht, sondern simplifiziert; sie ist hier maßgeblich gewesen, und ihr werden in den westdeutschen Gedächtnissen die Charaktere und ihre Geschichten angepaßt. Das Modellieren eines Gedächtnisses ist ein unbewußter Vorgang, kein bewußter Betrug. Es wird von sozialen Ängsten gesteuert und formt zu den geänderten Umständen passende Biographien und Bewertungen. Deshalb verschwand Großvater im Trauma, sank wie ein Stein in den Abgrund, den die Hitlerkatastrophe den Deutschen bereitet hat.

Preußische Tugenden. Großvaters Dienstzeugnis

Großvater persönlich ist keine besondere Schurkerei vorzuwerfen. Er war nur wie alle. Ob er privat ein Ekel, ein Trinker oder ein Spieler war (wofür es Belege gibt), ist ohne Belang. In seiner öffentlich gespielten Rolle als Beamter und Soldat gab es an ihm nichts zu tadeln. Sein «Dienstzeugniß» vom 26. September 1893[12] bescheinigt ihm, daß er sich «die vollste Zufriedenheit und das unbedingteste Vertrauen seiner Vorgesetzten zu erwerben und stets zu erhalten» gewußt habe, und fährt fort:

Er ist ein fleißiger, nüchterner und unbedingt zuverlässiger Unteroffizier, hat ein bescheidenes und gefälliges Wesen, und hat sich in und außer dem Dienst stets vorzüglich geführt, so daß er zu jeder Stellung empfohlen werden kann.

Zu jeder Stellung: Hier liegt das Problem. Großvater war nach diesem Zeugnis eine Allzweckwaffe. Er war ein mustergültiger Untertan. Er verfügte über die «Sekundärtugenden», als da sind Fleiß, Disziplin, Pflichtgefühl, Zuverlässigkeit und Ordnungsliebe. Er opponierte nicht. Ich habe Angst, daß ein Zeugnis über Herbert Kurzke in den zwölf Jahren der NS-Diktatur genauso hätte lauten können. Auch er war bescheiden und gefällig, fleißig, nüchtern und unbedingt zuverlässig. Hitler konnte solche Leute gut brauchen. Hitler konnte die preußischen Tugenden gut brauchen. Großvater hatte das Glück, seine Militärzeit in langen Friedensjahren zu verleben. Nie hat er Truppentransporter, voll mit jungen Soldaten, versenkt. Sein Sohn aber geriet in einen Krieg, den schrecklichsten der bisherigen Weltgeschichte, und seine wunderbaren Eigenschaften, für die wir ihn liebten, wurden Systembestandteile des Bösen. Er hat geschwiegen; er wird Gründe zum Schweigen gehabt haben, gute und schlechte.

Herbert Kurzke muß innere Bilder von seinem Vater mit sich herumgetragen haben. Er war ja immerhin fünfzehn, als dieser am 28. September 1925 starb. Es bedeutet viel, den Vater in diesem sensiblen Alter zu verlieren. Die Pubertät boxt dann ins Leere. Ödipus kann dann den Vater nicht mehr töten, er muß selbst wie der Vater werden: königstreu, preußisch, militaristisch, artilleristisch. Er war außerdem für Mutter und Schwester der einzige Mann im Haus. Herbert Kurzke wurde zwar nie Soldat, aber er war es doch. Er lebte, wie Thomas Manns Felix Krull von sich sagt, «soldatisch, aber nicht als Soldat»,[13] freilich bedeutete es in seinem Fall nicht die Freiheit des Künstlers, der nur symbolisch lebt, sondern den Verlust der Freiheit. Ob er seine Seele verkauft hat? Die Frage bleibt auf der Prüfliste.

Soldatisch – aber man stelle sich ihn nicht etwa stramm vor. Er war lang und dünn, seine Haltung nachlässig, seine Kleidung schlottrig, seine Taschen ausgebeult, denn er trug außer Schlüsselbund und Portemonnaie stets Pfeife, Tabak, Feuerzeug, Pfeifenstopfer, Zigaretten, Taschenmesser, Rechenschieber, Blöckchen, Stift und Lupe mit sich herum. Er wirkte mehr amerikanisch als preußisch und war in seiner lockeren Art ein attraktiver Typ.

Herbert Kurzke ca. 1938

Söhne wiederholen nicht das Leben der Väter, aber sie fühlen sich von ihren Vätern beobachtet, als säßen die auf ihren Schultern wie Käuzchen. Herbert war eine komplexere Erscheinung als Paul. Käuzchen Paul verlangte Militarismus und Obrigkeitstreue. Herbert aber war Akademiker geworden an einer weltstädtischen Universität während der Weimarer Republik. Er war vom Pfad des Käuzchens weit abgekommen. Sein Weg war krumm. Gott schreibe auch auf krummen Zeilen gerade, sagt ein Sprichwort, das ihn angeht,[14] mit dem sich aber auch viel Mißbrauch decken läßt.

Paul, der schlesische Bauernsohn, dessen öffentliches Leben aus Gehorchen bestand, hat ein einziges Mal eine lebenswendende Entscheidung getroffen: von Jätschau nach Potsdam zu gehen. Alle späteren Entscheidungen traf der Staat für ihn. Er hatte Glück, daß er damit durchkam. Als Beamter in der Reichsschuldenverwaltung überstand er sogar den Ersten Weltkrieg ohne Kratzer. Sein Sohn hatte nicht nur einmal, sondern mehrere Male Gelegenheit, seinem Leben eine bestimmte Richtung zu geben. Vor Ort sahen all diese Entscheidungen richtig und treugesinnt aus und führten doch ins Desaster. Sein Fall war: der gute Mensch im NS-Staat. Der anständige Mann unter Hitler. Er gab sich Mühe, aber gerade das war falsch. Er lebte in einer Art Blase, verbarg seine Kritik und machte heimlich mit. Er hat sich nicht so weit zum Fenster herausgelehnt wie «die Staatsräte» Gustav Gründgens, Wilhelm Furtwängler, Ferdinand Sauerbruch und Carl Schmitt,[15] aber eine entfernte Ähnlichkeit lag vor.

2. Unter Hitler

Berlin 1933–1939

Herbert Kurzke im Jahr 1933. Imagination

Du hättest dich noch aussprechen sollen vor deinem Tod. Ich hätte dich noch ausfragen sollen. Aber vielleicht hättest du gar kein Bedürfnis danach verspürt? Wie komme ich dazu, dir eine Beichte abzunötigen? Vielleicht ist die Aushorcherei eine Idee von mir und nicht von dir. Vielleicht bist du völlig mit dir im Reinen, geborgen hinter deinem Gehorsam und gebunden an die Verpflichtungserklärung, die du als Abwehrbeauftragter einmal unterschrieben hast. Strengstes Stillschweigen hast du darin versprochen und in die Fortdauer der Schweigepflicht auch nach dem Ausscheiden eingewilligt.[1] Ach was, wenn du nur überhaupt zu erzählen beginnst! Es wird schon irgendwie gehen, es wird schon zu irgend etwas gut sein. Ich glaube dir dein Schweigen nicht. Klar hast du ein Recht dazu, aber eine Lösung ist es nicht. Es gibt eine tiefe Schuld, davon bin ich überzeugt, aber sie ist mehr gesamthaft als individuell. Ob man ihr überhaupt entkommen konnte? Der Einzelne ist eine Laus, sagt General Schieffenzahn in Arnold Zweigs Roman Der Streit um den Sergeanten Grischa.[2] Aber warst du eine Laus? Nie kamst du mir wie eine Laus vor, immer wirktest du ruhig, sicher, überlegen und sehr verantwortungsvoll. Also mußt du dich stellen! Ich habe so viele Fragen. Du warst 72, als du starbst, und jetzt bin ich 72.[3] Über diese Brücke laß uns gehen. Wie hätten wir anfangen können? Was genau hast du gemacht am 30. Januar 1933? Das hätte ich dich fragen können, als du noch lebtest. Wie war deine Laune am Tag, als Hitler Reichskanzler wurde? Du seist ein Zentrumsmann gewesen, hättest du geantwortet. Bei der Novemberwahl von 1932 hättest du Zentrum gewählt. Ja, das wußte ich aus dem 131-Punkte-Fragebogen, den du 1946 für die Amerikaner ausfüllen mußtest zwecks Entnazifizierung. Der Fragebogen ist eine gute Quelle. Zentrum also. Du warst ein ehrlicher Mann. Zumindest kam mir das immer so vor. Aber wußtest du wirklich nicht mehr, was du am 5. März 1933 gewählt hast? Im Fragebogen schreibst du «vermutlich Zentrum». Für November 32 wußtest du das sicher, für März 33 kommt dann dieses «vermutlich». Ich interpretiere das als «NSDAP». Du hast in Wirklichkeit NSDAP gewählt und schämtest dich dessen später. Du warst ein Märzgefallener, vermute ich, das war der wahre Sinn deines «vermutlich», das war deine «Ehrlichkeit». Und am 1. April 1933 bist du in die SA eingetreten.

Aber die Stimmung wäre verdorben gewesen nach einem solchen Beginn. Ich will dich doch verstehen, hab dich lieb, bin dein Sohn. Also noch einmal von vorne, was hast du am 30. Januar 1933 gemacht?

— Ich hab für mein Staatsexamen gebüffelt, ich hatte am 13. und 14. Februar 1933 meine mündlichen Prüfungen (ich war noch nicht ganz 23 Jahre alt, da ich bereits mit 17 Abitur gemacht habe), bei Georg Feigl in Mathematik (Note: sehr gut) und bei Peter Pringsheim[4] in Physik (Note: gut).

– Bei Peter Pringsheim?

— Ich hatte bei ihm eine schriftliche Staatsexamensarbeit über die Hyperfeinstruktur von Atomlinien und die Kernmomente der Atome mit besonderer Berücksichtigung der Isotopen geschrieben.[5]

– Bei dem Peter Pringsheim, dem Bruder von Katia Pringsheim, einem Juden übrigens?

— Ja, warum? Er gab mir nur eine Zwei, während ich die Prüfung in Mathematik «mit Auszeichnung» bestanden habe.

Und du hättest vielleicht nicht gewußt, daß du beim Schwager Thomas Manns, des Literaturnobelpreisträgers von 1929, geprüft worden warst. Thomas Manns, der an jenem 13. Februar 1933 in Amsterdam seinen Vortrag Leiden und Größe Richard Wagners hielt, nicht ahnend, daß er sich bereits im Exil befand und sein Haus in München nie wieder betreten würde. Du hättest die amazing family nicht gekannt und nicht die Romanze zwischen der superreichen Katia Pringsheim und dem jungen Autor von Buddenbrooks. Aber daß Peter Pringsheims Vater ein schwerreicher jüdischer Mathematiker war, hätte sich vielleicht bis zu dir herumgesprochen. Nachdenklich hättest du gefragt: Was ist eigentlich aus Peter Pringsheim geworden? Er war dann weg, hätte ich gesagt, wurde im Mai 1933 «beurlaubt», ging nach Brüssel, wurde dort im Mai 1940 verhaftet, kam ins berüchtigte Lager Gurs, durfte von dort im Dezember 1940 nach USA ausreisen, weil Thomas Mann und andere Prominente ihm die nötigen Papiere und eine Stelle in Berkeley verschafft hatten.[6] In Berlin wurde so Platz für die «arischen» Deutschen. Auch Pringsheims Assistent Wolfgang Berg, den du sicher gekannt hast, war jüdischer Herkunft und mußte 1933 gehen. Ebenso Leó Szilárd, einer der Väter der Atombombe. Auch Albert Einstein war schon weg, der bis Ende 1932 in Berlin gelebt hatte. Er war Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik, hätte aber auch leicht Nachfolger von Max Planck auf dem Lehrstuhl für Theoretische Physik werden können.[7] Hast du Einstein eigentlich einmal gesehen oder gehört? Er eröffnete 1930 die Funkausstellung in Berlin mit einer glänzenden Rede, die im Rundfunk übertragen wurde. Leute wie Einstein, Pringsheim, Szilárd und Berg waren in deiner direkten Nähe. Juden oder Halbjuden. Sie verschwanden aus Berlin, und du hast dich nicht gewundert?

— Viele Leute verschwanden damals aus Berlin, auch Nichtjuden. Erwin Schrödinger zum Beispiel, der 1933 den Physiknobelpreis erhielt.

– Du hattest bei ihm für das Sommersemester 1933 eine vierstündige Vorlesung über Quantentheorie belegt, ferner «Übungen zur theoretischen Physik»[8].

— Vorlesung und Übungen fanden nicht mehr statt, weil Schrödinger inzwischen nach Oxford gegangen war. Freilich blieb er Mitglied des Lehrkörpers der Berliner Universität.[9] Wir wollten ihn eigentlich nicht verlieren.

– Aber das muß dich doch beunruhigt haben, daß so viele Prominente gegangen sind! Und das nicht gerade freiwillig!

— Das hätte mich beunruhigen sollen. Aber es sind ja noch viel mehr Spitzenleute geblieben, Max Planck, Max von Laue, Walther Nernst, Otto Hahn, alles Nobelpreisträger in Physik oder Chemie. Auch Lise Meitner ist geblieben.

– Die staatsrechtlich Österreicherin war und deshalb erst 1938 aus Berlin nach Schweden floh.

— Ja, eine Jüdin, Professorin für Physik, auch sie hätte den Nobelpreis verdient, ich kannte sie alle.[10] Es waren wirklich große Zeiten. Vor 1933 gab es in der Berliner Physik keinen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden.

– Zurück zur Frage, wie am 30. Januar 1933 deine Stimmung war.

— Ich … ich war abgelenkt.

– Was heißt das?

— Für mich persönlich war 1933 ein glänzendes Jahr. Normalerweise hätte ja nach dem Staatsexamen die Referendarzeit kommen müssen und danach wäre ich Pauker an irgendeinem Gymnasium geworden, aber es kam ganz anders. Arthur Wehnelt, bei dem ich schon lange Hörer war, bot mir eine Promotion an, schon im Sommersemester 1933. Da war ich 23 und überblickte die Folgen nicht. Ich freute mich nur. Eigentlich war ich ja Pringsheim-Schüler, aber man ließ mich nicht fallen.

– Wehnelt holte sich die besten von Pringsheims Waisenkindern. Wußtest du, daß Wehnelt in der NSDAP war?[11]

— Neinja … mich interessierte nur, daß er mir eine Chance gab und daß er ein bedeutender Physiker war. Er hat den Wehneltzylinder entwickelt, ein zylinderförmiges Regelungsinstrument, das die aus der Glühkathode austretenden Elektronen konzentrierte, so daß sie präziser auf die Anode (den Bildschirm) gelenkt werden konnten. Er ist einer der Pioniere des Fernsehens gewesen. Viele gute Physiker waren in der NSDAP, auch Wehnelts Lehrstuhlnachfolger Christian Gerthsen,[12] Nobelpreisträger wie Philipp Lenard[13] und Johannes Stark, auch der berühmte Raketentechniker Wernher von Braun. Der war sogar in der SS.[14]

Hättest du gesagt, ein wenig trotzig. Aber weil du in diesem Gespräch, wenn es stattgefunden hätte, das Schweigen hättest brechen wollen, hättest du stockend hinzugefügt: Ich … ich war dann in der SA.[15] Komisch, hätte ich gesagt, das kann ich mir gar nicht vorstellen. Das waren doch Schläger und Rabauken der übelsten Sorte. Da paßt du doch gar nicht hin. Du warst doch immer ruhig, anständig und vernünftig, kein Brüller, was wolltest du in der SA? Du hast doch nicht das Horst-Wessel-Lied gegrölt!

— Gegrölt nicht, gesungen schon. Du weißt doch, daß die Melodie eigentlich schön ist! Sentimental im Grunde. Sie paßt auch auf Wenn du mich liebst, kann mich der Tod nicht schrecken.

– Wann und warum bist du denn eingetreten?

— Das war im Juli 1933 und geschah wie von selbst. In diesem Juli wurde die Zentrumspartei aufgelöst, der Windthorstbund ebenso, und ich glaube, man wurde automatisch in die SA überführt, wenn man sich nicht deutlich wehrte. Ich habe mir nicht viel dabei gedacht.

– Automatisch? Das glaube ich nicht. Du wirst schon wirklich eingetreten sein. Du hattest ja inzwischen die allerhöchste Erlaubnis dazu. Der Papst hatte mit Hitler ein Konkordat geschlossen, und die deutschen Bischöfe hatten am 28. März 1933 ihre bis dahin ablehnende Haltung zum Nationalsozialismus aufgegeben.

— Das stimmt. Meine Mutter und meine Schwester haben sich darüber sehr geärgert. Aber wir waren gewöhnt, den Weisungen unserer Oberhirten gehorsam zu sein.

– Man mußte doch an Aufmärschen und Appellen teilnehmen. Kann ich mir bei dir gar nicht vorstellen.

— Ach, kurze Zeit war das sogar schön. Ich stand sozusagen neben mir, studierte mich und amüsierte mich. Massen im gleichen Schritt haben eine enorme Wucht – physikalisch ein interessantes Phänomen. Tausend Einzelmenschen sind kraftlos im Vergleich zu 250 Viererreihen. Ich staunte, über die Zeit und über mich. Viele Erlebnisse damals waren mitreißend, obwohl es heute keiner mehr zugeben will. Deine Mutter, die ich damals noch nicht kannte, sie war 18 zur Zeit der Machtergreifung, war im BdM,[16] das hättest du sicher auch nicht gedacht. Das ging wie von selbst. 1935, als sie volljährig war (mit 21), schied sie aus.

– Und du warst im Windthorstbund?

— Ja. Das war die Jugendorganisation der Zentrumspartei, etwas Ähnliches wie heute die Junge Union, nur halt rein katholisch. Ich war dort etwa ein Jahr lang, von 1932 bis 1933.[17] Bis er aufgelöst wurde.

– Du warst also gar nicht unpolitisch! Du warst ein politischer Katholik. Dein Weg führte politisch nicht von Null auf Hundert, sondern von einem antidemokratischen Verband in den anderen. Wobei das Zentrum damals wahrscheinlich autoritativer war als die CDU in der Bundesrepublik seit 1949. Ich habe außerdem versucht, archivalisch etwas über deine Zeit im Windthorstbund (der vielleicht demokratischer war, als man heute gern unterstellt – ach, ich weiß nicht recht) herauszubekommen, aber die Mitgliederakten sind vom Winde verweht.[18] Jedenfalls warst du dann in der SA. Hilf mir, das zu verstehen.

— Endlich passierte etwas. Ich wollte heraus aus dem Alten und schrak zugleich vor dem Neuen zurück. Ich war gleichzeitig nervös und neugierig.

– Angstlust eben.

— Aber bald überwog die Lust. Überall spürte man Aufwind. Ich wurde mitgerissen. Seit dem November 1933 lag ich meiner Mutter nicht mehr auf der Tasche, denn Wehnelt gab mir eine Hilfskraftstelle, die aus Mitteln des noch nicht wiederbesetzten Lehrstuhls Pringsheim bezahlt wurde.[19] Ab 1. April 1934 erhielt ich aus dieser Quelle sogar vorzeitig das Gehalt eines außerplanmäßigen Assistenten, 154 Reichsmark monatlich, das war gutes Geld, mein erstes regelmäßiges Einkommen.

– Du verdanktest es der Vertreibung von Peter Pringsheim, hat dich das nicht gestört?

— Mir war wichtiger, daß ich leben konnte, ohne die Witwenpension meiner Mutter zu schmälern.

– Von der ja auch deine Schwester noch ernährt werden mußte,

— die aber schon eigenes Geld verdiente,

– weil sie kein Abitur gemacht hatte und nicht studieren durfte.

— Davon redete man nicht. Außerdem heiratete sie bald.

Das katholische Karlshorst. Episoden eines Milieus

Sie arbeitete vorher eine Zeitlang als Sekretärin im Katholischen Pfarramt.[20] Ihr Chef war Erzpriester Johannes Surma. Er war Pfarrer von Karlshorst und außerdem Religionslehrer an der Kantschule, wo Vater im März 1928, mit noch nicht achtzehn Jahren, Abitur gemacht hat. «Surma, Erzpriester» gehörte zu den Unterzeichnern von Vaters Abiturzeugnis.[21] Surma war eine glaubensstarke und selbstbewußte Figur, wie sie heute nur noch selten zu gedeihen scheinen, ein Mann von Format, ein katholischer Hardliner und asketischer Querkopf. Eigenhändig entfernte er knieschonende Kniebankkissen und drohte Zuspätkommern bei der Sonntagsmesse vom Altar aus an, sie lüden den Unsegen Gottes auf sich und ihre Kinder.[22] Surma motivierte seine Schüler, übungshalber Fragestellungen kontrovers zu diskutieren. Einer sollte etwa Gründe dafür bringen, daß man durchaus auch mal stehlen dürfe, und die anderen sollten sich damit auseinandersetzen. Einmal hatte es Vater getroffen, in der Diskussion den Dieb zu machen, worauf seine erste Reaktion war: «Ich bin aber keiner».[23] Er war aus geradem Holz geschnitzt. Das besagte jedenfalls die Familienlegende, die solche Geschichten selektierte.

Surma machte 1935 den ersten Spatenstich zur Karlshorster Marienkirche, die schon Ende 1936 von Bischof Konrad Graf Preysing eingeweiht wurde, einem markanten, düster-ausdrucksstarken Bauwerk. Da amtierte bereits Pfarrer Bernhard Wittenbrink, weil Surma überraschend verstorben war. In einem Nachruf erzählte sein Mitbruder Bernhard Lichtenberg, wie sie beide 1911 den sogenannten Antimodernisteneid ablegen mußten und, wie Surma ihm versichert habe, «auch wenn ihm vorher der Wortlaut nicht bekannt gewesen wäre, hätte er ohne Bedenken beschworen, was der hl. Vater als oberster Hüter des katholischen Glaubens vom gesamten Klerus der ganzen Welt verlangte.»[24] Der Antimodernisteneid (1910) war ein schauerlich reaktionärer Text (mit ebensolcher Liturgie), der die kirchliche Lehre partiell gegen Vernunft und Wissenschaft vermauerte.

Mit einem solchen Klerus im Gefolge hätte Papst Pius XI. Hitler fordernder entgegentreten können. Aber Surma glaubte, in Hitlers ausgestreckte Hand einschlagen zu müssen, als die Reichsregierung ihm Fortsetzung und Abschluß der Konkordatsverhandlungen anbot. Die Deutsche Bischofskonferenz, die im August 1932 noch lauthals die Unvereinbarkeit einer NSDAP-Mitgliedschaft mit dem katholischen Glauben bekundet hatte, bekundete im März 1933 kleinlaut die Vereinbarkeit.[25] Teile des Kirchenvolks wechselten ihre Positionen nicht so rasch wie die Leitung. Nicht jeder paßte sich an, obgleich die Oberhirten ihre Schafe verlassen hatten. Karlshorst war, ähnlich wie Dahlem, ein katholisches Widerstandsnest. Joachim Fest wohnte als Jugendlicher dem Pfarrhaus benachbart und erzählt in seinen Erinnerungen, wie sein Vater am Gartenzaun mit Pfarrer Wittenbrink konversiert und konspiriert habe.[26] Der inzwischen seliggesprochene Bernhard Lichtenberg hatte dort sein Wirken begonnen, er predigte gegen Euthanasie und Judenverfolgung und starb 1943 in Haft, auf dem Weg ins KZ Dachau. Vater hat ihn persönlich gesehen und gehört. Er war ein regelmäßiger Kirchgänger und wird als Student und Assistent auch manchmal in St. Hedwig zur Messe gegangen sein, wo Lichtenberg Dompropst war. Bis heute gibt es am Pfarrhaus der Marienkirche eine Gedenktafel für Bernhard Lichtenberg, mit dem Text: «Bernhard Lichtenberg 3. 2. 1875–5. 11. 1943, 1905–1910 Seelsorger in Friedrichsfelde-Karlshorst, 1937–1943 Dompropst von St. Hedwig, 1941–1943 Häftling in Plötzensee, Alt Moabit, Tegel, verstorben auf dem Weg in das Konzentrationslager Dachau».

Das heißt nicht, daß Vater im Widerstand gewesen wäre. Aber eine gewisse Distanz hat er gehabt. Er hatte Stimmen im Ohr, die sich vom Nazi-Lärm unterschieden. Er hat beinahe regelmäßig die Vorlesungen von Romano Guardini gehört, im Sommersemester 1929 über Askese und Christentum, im Sommersemester 1930 über Gebet und Werk im Neuen Testament, im Winter 30/31 über die Kirche, im Winter 31/32 über die Bekenntnisse des heiligen Augustinus.[27] Übrigens verbindet mich das mit meinem Vater. Ich habe Guardini 1962 in München gehört, in meinem ersten und seinem letzten Semester. Er war damals 77 und starb wenig später. Aber ich habe ihn noch gehört. Er sprach leise und leidend, sanft und innig und hat mir imponiert. Weshalb eigentlich? Ich habe wenig verstanden, aber viel Verehrung mitgebracht.

Religion hilft leben. Im Gebet sich zu versammeln heißt sein Ich wiederherzustellen. Auch dem Schlimmsten läßt sich so begegnen.

Symbol Drei Bücher. Religionskritische Meditation

Mein Vater war Flüchtling, alles, was aus der Zeit vor Kriegsende noch da ist, hat darum eine gewisse Ausdrücklichkeit, eine gewisse Unwahrscheinlichkeit, es muß immer einen tieferen Grund geben, warum es noch da ist, es ist mitgenommen worden in Zeiten, wo man das allermeiste zurücklassen mußte. Es gibt ein paar Bücher, die Vaters katholische Distanz zum Nationalsozialismus bezeugen. Dazu gehört Las Casas vor Karl V. von Reinhold Schneider (vorhanden in der Erstausgabe Leipzig: Insel 1938). Dazu gehören auch drei seltene Schriften von Romano Guardini.

Guardini: Jesus Christus, Welt und Person, Die Offenbarung

Das Bild von Jesus dem Christus im Neuen TestamentWelt und Person. Versuche zur christlichen Lehre vom MenschenDie Offenbarung. Ihr Wesen und ihre Formen