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Lisa Herzog

Freiheit gehört nicht
nur den Reichen –

Plädoyer für einen
zeitgemäßen Liberalismus

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

Freiheit ist mehr als die Freiheit zu wirtschaften. Dieses Buch stellt dar, wie Liberalismus heute gedacht werden muss, damit er nicht im Widerspruch zu Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und einem gelingenden Leben steht. Freiheit, so das Plädoyer, muss vielschichtiger verstanden werden, um zu sehen, welche Rolle Märkte für eine gute Gesellschaft spielen können. Jenseits des politischen Schubladendenkens wird das Bild einer Gesellschaft entworfen, die allen Mitgliedern ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht und dabei mit den begrenzten Ressourcen der natürlichen Welt vereinbar ist.

Das Buch führt in zentrale Themen der Ideengeschichte, Wirtschaftstheorie und Sozialphilosophie ein und legt die Denkmuster offen, die viele heutige Debatten prägen. Unter anderem geht es um die Frage nach einem realistischen Menschenbild jenseits des homo oeconomicus, um das Verhältnis negativer, positiver und republikanischer Freiheit und um die Frage, wie eine Politik aussehen kann, die sich auch jenseits des Wachstumszwangs an einem selbstbestimmten Leben für alle Menschen orientiert. Nicht zuletzt zeigt das Buch auf, wie mit einem zeitgemäßen Freiheits- und Menschenbild Märkte wieder in den Dienst einer gerechten Gesellschaft gestellt werden können.

Über die Autorin

Lisa Herzog hat Philosophie, Volkswirtschaftslehre, Politologie und Neuere Geschichte in München und Oxford studiert und in Oxford über Märkte und politische Theorie promoviert. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU München und der Universität St. Gallen und ist jetzt Postdoc am Institut für Sozialforschung und am Exzellenz Cluster «Normative Ordnungen» der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Inhalt

I. Einleitung: Kann man heute noch liberal sein wollen?

Was hat «Liberalismus» mit «Freiheit» zu tun?

Die soziale Dimension der Freiheit

Das Bild vom guten Markt

Ausblick

Dank

II. Liberalismus ohne Psychologie – Wie ein einseitiges Menschenbild den Liberalismus unfreiwillig herzlos machte

Einleitung

Die Herren des Vertrags

Ein «realistisches» Menschenbild?

Echte Menschen – Was die Verhaltensökonomie uns lehrt

Die Befähigung zur Freiheit

III. Liberalismus ohne Gerechtigkeit – Wie «soziale Gerechtigkeit» zum Unwort wurde, und was sie heute bedeuten könnte

Einleitung

Die Facetten von Freiheit

«Verdienst» im Markt

«Verdienst» im Staat

Eine neuer Sinn von sozialer Gerechtigkeit

IV. Liberalismus ohne Komplexität – Wie der Liberalismus soziale Strukturen vernachlässigte

Einleitung

Die Rolle sozialer Normen

Freiheit und Komplexität

Formelle und informelle Machtstrukturen

Umbau auf hoher See

V. Liberalismus ohne Endlichkeit – Wie der Liberalismus die Umwelt vergaß, und warum ein Umsteuern uns zufriedener machen könnte

Einleitung

Wirtschaften in einer endlichen Welt

Wozu das Ganze – die Frage nach dem Sinn

Und der Rest der Welt?

VI. Schluss: Unterwegs zu einem zeitgemäßen Liberalismus

Anmerkungen

I.
Einleitung: Kann man heute noch liberal sein wollen?

Was hat «Liberalismus» mit «Freiheit» zu tun?

«Free at last!» Damit endet die berühmte Rede von Martin Luther King «I have a dream». Zahlreiche Songs wurden seitdem so genannt, und die Zahl der Gedichte, Lieder und Bilder, die allgemein von der Freiheit handeln, ist noch viel größer. Der Traum von einem freien Leben, ohne Zwang und Knechtschaft, ist so alt wie die Menschheit selbst. Was aber bedeutet es, im Deutschland des 21. Jahrhunderts ein freies Leben zu führen? «Frei» zu sein darin, was man tun oder lassen will? «Frei» von existenziellen Sorgen um die Zukunft zu sein? Genügend «freie» Zeit zu haben, um sich eigenen Interessen widmen zu können? «Frei» zu sein, sich politisch zu engagieren, oder auch, es bleiben zu lassen? Ein freies Leben hat viele Dimensionen, und ein wichtiger Aspekt von Freiheit ist gerade, dass jeder und jede Einzelne selbst entscheiden kann, wie er oder sie von diesen Dimensionen Gebrauch machen möchte.

In politischen Kontexten werden Ideen oder Maßnahmen, die sich auf Freiheit beziehen, mit dem Begriff «liberal» beschrieben – zumindest ist dies die ursprüngliche Bedeutung des Wortes. Was «liberale» Politik aber heute bedeuten kann und was sie mit einem «freien» Leben zu tun hat, ist alles andere als klar. In einem kulturellen Sinn meint «liberal» oft ganz allgemein eine gewisse Toleranz gegenüber den Weltanschauungen anderer Menschen. Vor allem aber galten in den letzten Jahren Positionen in der Wirtschaftspolitik als «liberal» – Märkte wurden «liberalisiert», Handelshemmnisse abgeschafft oder Steuern gesenkt. Fast alles, was dem Zurückfahren der Staatsquote diente, wurde in die Schublade «liberal» gesteckt. Insgesamt aber hat sich der Begriff verwässert. Befragt, was der Begriff «liberal» bedeutet, nennen Menschen in Deutschland eine ganze Reihe von Punkten: nicht nur die Verwirklichung von Freiheit, sondern zum Beispiel auch den Abbau von Einkommensunterschieden, die Einführung von Mindestlöhnen oder die Förderung junger Familien.[1] Was hat all dies damit zu tun, dass die Mitglieder einer Gesellschaft ein Leben führen können, das man als «frei» beschreiben würde?

Dieses Buch – ein «Essay» im ursprünglichen Sinne des «Versuchs» – ist ein Plädoyer dafür, «Liberalismus» wieder so zu verstehen, dass er sich an der Idee eines freien Lebens orientiert und diese als Grundlage der Politik sieht. Dabei möchte ich ein Verständnis des Liberalismus entwickeln, das der heutigen Welt gerecht wird. Den Vorschlag dazu nenne ich «komplexen Liberalismus». Er ist ein Plädoyer dafür, die Freiheit aller Menschen, ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, als zentralen Wert der Moderne ernst zu nehmen, trotz all des Missbrauchs, der mit diesem Begriff getrieben wurde. Und er ist ein Plädoyer dafür, sich von alten Denkmustern zu verabschieden und beim Nachdenken über Freiheit neue Wege zu gehen. Denn sowohl das, was unter Freiheit verstanden wird, als auch die Wege zu einer freiheitlichen Gesellschaft müssen mehrdimensionaler gedacht werden, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Die zentralen Ideen des Liberalismus haben eine lange Geschichte, doch nicht alles, was im 18. oder 19. Jahrhundert dazu gedient hat, ein freies Leben zu ermöglichen, tut dies auch heute noch.

Im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht die Frage danach, was ein zeitgemäßer Liberalismus für die wirtschaftliche Ordnung einer Gesellschaft bedeuten kann. Über diesen Aspekt des Liberalismus hat es vielleicht in den letzten Jahrzehnten die meisten Missverständnisse gegeben. Und weil wirtschaftliche Fragen eng mit politischen, sozialen und kulturellen Fragen verknüpft sind, hat er weitreichende Auswirkungen auf das Verständnis des Liberalismus insgesamt. Karl Marx mag in vielem falsch gelegen haben, aber eine seiner zentralen Einsichten gilt bis heute: Wenn man die ökonomischen Strukturen, die sozialen Phänomenen zugrunde liegen, nicht berücksichtigt, läuft man Gefahr, in naiven Utopismus abzugleiten.

Ich will einige der zentralen Stränge vorwegnehmen, um die es im Folgenden gehen soll: Ich werde diskutieren, was es bedeutet, ein realistisches Menschenbild – aber gerade nicht den berüchtigten «Homo oeconomicus» – als Grundlage einer liberalen Theorie zu verwenden. Anschließend soll es darum gehen, welche Facetten von Freiheit ein zeitgemäßer Liberalismus beachten muss. Dabei ist es jedoch wichtig, nicht von vereinfachten Denkmodellen auszugehen, die der Komplexität heutiger Gesellschaften nicht gerecht würden; deshalb muss ein zeitgemäßer Liberalismus die Einsichten der Psychologie und der Soziologie ebenso ernst nehmen wie die der Ökonomie. Und schließlich muss sich ein Liberalismus, der im 21. Jahrhundert zukunftsfähig sein will, davon verabschieden, dass «mehr Freiheit» auch ein «Immer-mehr» an materiellen Gütern bedeutet. Das Bild, gegen das ich anschreibe, ist das einer Frontstellung von Markt und Staat, in der der Markt ausschließlich als Reich der Freiheit und der Staat ausschließlich als Reich von Zwang und Unterwerfung gesehen wird. So wichtig dieses Bild in bestimmten historischen Epochen gewesen sein mag – heute läuft es Gefahr, uns den Blick zu verstellen. Auch im Namen von Freiheit und des Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben können Einschränkungen des Marktes gefordert werden, nicht nur im Namen anderer Werte wie Gleichheit oder Solidarität. Gleichzeitig ist eine Verdammung «des» Marktes oder «der» Wirtschaft weder sinnvoll noch hilfreich – und das nicht nur, weil der Fall des Ostblocks gezeigt hat, dass Planwirtschaft im sowjetischen Stil keine Alternative ist. «Der Staat» ist nicht per se besser als «der Markt»; beide können in zahlreichen Spielarten auftreten, die von perfekten Idealtypen bis hin zu traurigen Schreckensbildern reichen. Es gibt nicht nur «den Staat» und «den Markt», sondern ganz unterschiedliche Varianten von beiden, die jeweils auf ihre Stärken und Schwächen hin abgeklopft werden müssen – und darauf, wie sie zur Verwirklichung von Freiheit beitragen können.

Obwohl ich studierte Ökonomin bin, schreibe ich als Philosophin. Was aber kann die Philosophie leisten, wenn es um wirtschaftliche Fragestellungen geht? Sie kann sicher keine Patentrezepte dafür anbieten, die Probleme der deutschen, europäischen und globalen Wirtschaft zu lösen. Aber sie kann helfen, einen kritischen Blick auf die Begriffe und Bilder zu werfen, mit denen wir uns der Wirklichkeit annähern. Dabei geht es um eine Reflexion über die Modelle, mit denen wirtschaftliche Phänomene betrachtet werden – zum Beispiel, wie schon erwähnt, um die Frage, welches Menschenbild ihnen zugrunde liegt und ob dieses mit dem, was wir aus anderen Disziplinen über menschliches Verhalten wissen, kompatibel ist. Was passiert, wenn man die idealisierten Annahmen der Theorien lockert? Sind die Modelle dann immer noch als gute Annäherungen an die Wirklichkeit verwendbar oder passen sie möglicherweise überhaupt nicht mehr?

Von Friedrich August von Hayek (1899–1992), selbst Träger des Ökonomie-Nobelpreises,[2] stammt der Ausspruch: «Ein Physiker, der nur Physiker ist, kann durchaus ein erstklassiger Physiker und ein hochgeschätztes Mitglied der Gesellschaft sein. Aber gewiss kann niemand ein großer Ökonom sein, der nur Ökonom ist – und ich bin sogar versucht hinzuzufügen, daß der Ökonom, der nur Ökonom ist, leicht zum Ärgernis, wenn nicht gar zu einer regelrechten Gefahr wird.»[3] Die Gefährlichkeit rührt daher, dass ökonomisches Denken es nicht mit lebloser Materie zu tun hat, sondern mit Menschen, ihrem Verhalten und den Beziehungen zwischen ihnen. Deswegen bleiben ökonomische Ansätze keine abstrakten Theorien, sondern können zu Lösungsansätzen für praktische Fragen werden, unter Umständen auch in der Form, dass das Verhalten der Menschen gemäß der Theorie diese selbsterfüllend oder -zerstörend macht. Dabei lassen sich normative Fragen – Fragen danach, was man tun soll – nie völlig von der Frage nach der Beschreibung der sozialen Wirklichkeit trennen. Ob sie es will oder nicht: Die Ökonomie ist eine Sozialwissenschaft, und als solche muss sie sich fragen lassen, welche moralischen Werte sie implizit oder explizit transportiert. Deswegen braucht ökonomisches Denken den Dialog mit anderen Formen der Reflexion. Die Philosophie ist dafür besonders geeignet, nicht nur, weil die Beschäftigung mit normativen Fragen zu ihrem Kerngeschäft gehört, sondern auch, weil sie im Idealfall ein feines Gespür für die Zusammenhänge zwischen Begriffen und Argumenten besitzt. Umgekehrt gilt: Wenn Philosophie «die eigene Zeit in Gedanken fassen» will, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) ihre Aufgabe formuliert hat,[4] darf sie keine Scheu davor haben, sich mit wirtschaftlichen Fragen zu beschäftigen und sich weg von abstrakten Begriffen hin zu den «schmutzigen Details» von Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik zu begeben.

Eine wichtige Ressource ist dabei die Geschichte philosophischen und ökonomischen Denkens. Der historische Ursprung von Ideen, Begriffen und Bildern sagt, für sich alleine genommen, noch nichts über ihre Gültigkeit aus. Aber die Beschäftigung mit ihrer Geschichte kann helfen, diese Ideen, Begriffe und Bilder besser einzuordnen und die zugrunde liegenden Weltbilder sowie die Perspektive zu verstehen, die sich aus ihnen ergibt. Denn vieles, was wir aus der Tradition übernommen haben, ist nur noch bedingt geeignet, um die heutigen Probleme zu verstehen und nach Lösungen zu suchen. Dieser begriffliche Werkzeugkasten ist für bestimmte Fragen systematisch «farbenblind». Aber wie John Maynard Keynes sagte: «Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines längst verstorbenen Ökonomen.»[5] Sich mit den Ideen dieser toten Denker zu beschäftigen, ist hilfreich, um besser zu verstehen, was Liberalismus damals und heute bedeutet: Auf diese Weise kann die Ideengeschichte eine befreiende Wirkung entfalten, weil sie hilft, sich von problematisch gewordenen Vorstellungen zu verabschieden.

Aus dem Gesagten sollte klar geworden sein, dass ich den Begriff «Liberalismus» nicht parteipolitisch verstehe. Allein schon die Tatsache, dass der Begriff im englischsprachigen Raum ganz anders verwendet wird, zeigt, dass dies verkürzt wäre. Mein Vorschlag eines «komplexen» Liberalismus enthält verschiedene Elemente, die man traditionellerweise als eher «links» oder eher «rechts» einordnen würde – doch die Verhärtung zwischen «linken» und «rechten» Positionen ist eher Teil des Problems als Teil der Lösung. Um Liberalismus neu zu denken und als Maßstab für heutige Politik zu verstehen, müssen diese alten Grabenkämpfe überwunden werden. Ebenso muss die Trennung zwischen ökonomischen, politischen und sozialen Fragen überwunden werden, die so oft praktiziert wird, nicht zuletzt aufgrund der disziplinären Trennungen an den Universitäten. In der Praxis lassen sich die Fragen nicht trennen, und viele Probleme und Ungerechtigkeiten werden übersehen, weil sie an den Rändern der Disziplinen liegen. Aber wie zentral eine Frage für eine akademische Disziplin ist, sagt nichts darüber aus, wie wichtig sie im echten Leben ist.

Die soziale Dimension der Freiheit

Ich werde im Folgenden einen Freiheitsbegriff zugrunde legen, der vom Recht jedes Menschen auf ein selbstbestimmtes Leben ausgeht. Dieses Verständnis von Freiheit entstand schon in der Antike und ist tief in der westlichen Tradition verankert. Der englische Sozialphilosoph John Stuart Mill (1806–1873) schreibt zum Beispiel: «Die sozialen Einrichtungen sowie die praktische Moral würden […] ihre Vollkommenheit erreicht haben, wenn allen Personen völlige Unabhängigkeit und Freiheit des Handelns gesichert wäre, ohne alle Beschränkung als nur die, andere nicht zu beeinträchtigen.»[6]

Ein derartiger Begriff von Freiheit enthält sowohl Elemente, die das Individuum selbst betreffen, als auch solche, die seine Umgebung betreffen. Das Individuum soll selbst wählen können (also nicht fremdbestimmt sein, sondern autonom den eigenen Ideen folgen können[7]), und es soll wählen können (also nicht nur getrieben sein von unreflektierten Wünschen oder Trieben). Die Umgebung des Individuums muss ihm einerseits Freiräume und Optionen geben (also von Zwang und Manipulation absehen), andererseits aber auch Ressourcen bereitstellen, die das Individuum zu einem selbstbestimmten Leben befähigen, wenn es dazu andernfalls nicht in der Lage wäre (also das Individuum nicht sich selbst überlassen, wenn dies Unfreiheit bedeuten würde). Diese Bedingungen sind bei verschiedenen Individuen unterschiedlich gut erfüllt, sodass sich unterschiedliche Antworten auf die Frage ergeben, wie ihre Freiheit unterstützt werden kann und soll. Wesentlich ist aber, dass dieser Freiheitsbegriff nur dann seine Kraft entfalten kann, wenn mitgedacht wird, dass es um die Freiheit aller geht. Wie sich zeigen wird, ist eines der größten Probleme eines verkürzten Freiheitsbegriffs, wie er in der Rede vom «freien Markt» verwendet wird, dass er verdeckt, dass diese Freiheit für verschiedene Individuen sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Den berühmten Ausspruch Rosa Luxemburgs (1871–1919), dass Freiheit immer die Freiheit der Andersdenkenden ist,[8] müssen alle Theorien der Freiheit ernst nehmen.

Menschen sind soziale Wesen. Wir leben in Gemeinschaften, nicht nur, weil alles andere kaum praktikabel wäre, sondern auch, weil dies eine der wichtigsten Quellen von Glück und Sinnstiftung im menschlichen Leben ist. Ein Mensch zu sein, wäre ohne die Gemeinschaft anderer Menschen kaum vorstellbar, jedenfalls nicht im vollen Sinne dessen, was wir mit «Mensch» meinen. Wer von der Freiheit des Individuums spricht, setzt sich leicht dem Verdacht aus, diese soziale Dimension des Menschen nicht mitzudenken. Aber es geht hier gerade nicht um die Freiheit eines Robinson Crusoe auf einer einsamen Insel. Wir brauchen Freiheit als die sozialen Tiere, die wir sind, nicht als imaginäre Wesen, die alleine ihr volles Potential entfalten können.[9] Vielleicht träumt jede und jeder von uns zuweilen davon, «frei» zu sein im Sinne einer vollständigen Unabhängigkeit von anderen Menschen. Aber was wären die konkrete Optionen, die einem dafür zu Verfügung stünden – die Hütte im nordischen Wald, das unbewohnte Südseeatoll? «Freier» wäre ein solches Leben nur, wenn man Freiheit strikt als die Abwesenheit von gesetzlichen Regelungen oder anderen zwischenmenschlichen Zwängen verstünde. Es wäre kaum freier in dem Sinne, dass man eine Vielzahl von Optionen hat und über die Gestaltung des eigenen Lebens in höherem Maße selbst entscheiden kann.

Weil menschliche Freiheit Freiheit für soziale Wesen ist, reicht es nicht, sie als Freiheit gegenüber einer nicht-menschlichen Umwelt zu verstehen. Es geht immer um Freiheitsansprüche, die Menschen aneinander richten. Wer von Freiheit spricht, dem geht es darum, wie zwischenmenschliche Verhältnisse gestaltet werden sollen. Die Freiheit des einen muss von anderen gewährt werden. Es geht nicht darum, dass man in einer Wüstenlandschaft frei ist, nach rechts oder nach links zu laufen. Es geht darum, wie unsere Gesellschaft organisiert ist und wer wann das Recht hat, jemand anderes an etwas zu hindern, das er oder sie tun möchte. Und es geht darum, wer über welche Freiräume und Ressourcen verfügt und wie Menschen ihr Leben gestalten, einzeln und in der Gemeinschaft.

Somit scheint der Dreiklang der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – in dem hier verwendeten Verständnis von Freiheit auf: Es geht um Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung, die für alle Individuen gleichermaßen gefordert wird, und es geht um Freiheit für Menschen als soziale Wesen, für die sich die Frage stellt, wie sie ihre Brüderlichkeit ausgestalten. Allerdings sind die Werte der Französischen Revolution nicht gerade die jüngsten – manchmal könnte es scheinen, sie hätten den Charme abgegriffener Klassiker, ohne für die Gegenwart noch von Bedeutung zu sein. Besonders wird ihre Gültigkeit aus bestimmten «postmodernen» Diskursen heraus hinterfragt, die immer wieder daran erinnern, dass es die Werte weißer, westlicher Männer waren, die zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Wirkung entfaltet haben – und keine ewigen Werte aus einem platonischen Ideenhimmel. Es wäre naiv und gefährlich, so das Credo dieser Kritiker, die sofortige Durchsetzung dieser Werte in allen Ländern der Welt einzufordern. Wer dies tue, versuche im Zweifelsfall, damit Interessens- oder Machtansprüche zu vertuschen, denn alle Werte seien letztlich relativ.

Man kann diese Kritik ernst nehmen, ohne sich jedoch Sand in die Augen streuen zu lassen. Ein vollständiger Werterelativismus verrennt sich schnell in Paradoxien: Er kann die Thesen über die Relativität aller Werte und Wahrheiten, die er in den Raum stellt, selbst nicht als allgemeingültig behaupten. Außerdem laufen solche Positionen Gefahr, letztlich ebenfalls als ideologischer Vorwand für ökonomische Interessen oder Machtspiele zu dienen, zum Beispiel, wenn die Menschenrechte der Bevölkerung eines nichtwestlichen Landes mit der Begründung abgestritten werden, dies sei westlicher Kulturimperialismus – um dann zur Enteignung ihrer Länder zum Zweck des Ressourcenanbaus fortzuschreiten. Ich gehe daher im Folgenden davon aus, dass jeder einzelne Mensch, egal wo er oder sie lebt, grundlegende Rechte hat – das Recht auf die Dinge, die rein biologisch zum Leben nötig sind, und darüber hinaus auf die Möglichkeit, ein zumindest in Ansätzen selbstbestimmtes Leben führen zu können.[10] Legitime Begrenzungen dieser Freiheit entstehen nicht dadurch, dass dieses Recht an manchen Orten nicht gültig wäre, sondern dadurch, dass auch andere Menschen Rechte haben, die mit ihnen in Konflikt geraten können, und dass die Welt, in der wir leben, uns bestimmte Grenzen der Machbarkeit auferlegt. Diese Beschränkungen und die Frage, wer welche Lasten trägt, sind genau die Punkte, an denen die politische Diskussion ansetzen muss.

Die Frage nach einem zeitgemäßen Liberalismus dreht sich darum, was es bedeutet, diese Rechte der Menschen durch konkrete Institutionen und Praktiken zu verwirklichen. Auch darüber gibt es naturgemäß zahlreiche Kontroversen, aber sie drehen sich nicht darum, ob diese Rechte überhaupt fundamental begründbar sind. Vielmehr geht es darum, welche Rechte welcher Individuen oder Gruppen begründbar und praktisch umsetzbar sind. Dabei geht es oft um schmerzhafte Kompromisse und Abwägungen. Wesentlich ist jedoch, dass die Freiheit aller Individuen als grundsätzlich gleichberechtigt in Betracht gezogen wird. Dies mag nach einer schwachen normative Grundlage aussehen. Doch in einer Welt, die von massiven Ungleichheiten geprägt ist, trägt sie sehr weit. Wie sich zeigen wird, erfordert sie in einigen Bereichen ein grundsätzliches Umdenken.

Das Bild vom guten Markt

Es gibt ein Bild der politischen Landschaft, das tief im politischen Denken des Westens verankert ist. Demnach lassen sich Fragen nach der wirtschaftlichen Ordnung einer Gesellschaft auf drei Ebenen verteilen. 1) Der Staat ist dafür zuständig, die grundlegenden Rechte aller Bürger zu schützen. 2) Der Markt ist das, was die Individuen innerhalb dieses Rechtsrahmens tun: Er ist ein Ort der Freiheit, an dem jeder tun und lassen kann, was er oder sie will. Dies führt zum «freien» Spiel von Angebot und Nachfrage. Ärgerlicherweise bringt der «freie» Markt ein gewisses Maß an Ungleichheit mit sich – das dann wiederum 3) durch staatliche Maßnahmen eingedämmt werden muss, indem von den Reichen genommen und an die Armen verteilt wird.

Dieses Dreierschema lässt sich – mit einigen Zugeständnissen an die historischen Umstände – bis zurück zu Adam Smith (1723–1790) verfolgen, der gemeinhin als Begründer der Ökonomie als eigenständiger Wissenschaft gilt.[11] Es schien wunderbar geeignet, um die bundesrepublikanische Wirklichkeit der «sozialen Marktwirtschaft» zu erfassen – ein Begriff allerdings, der inzwischen von den verschiedensten Gruppen mit den unterschiedlichsten Schwerpunktsetzungen verwendet wird. Es schien die beste aller möglichen Welten zu beschreiben: die optimale Mischung aus einer leistungsfähigen Wirtschaft und sozialem Ausgleich. Sicherlich, ein paar Details müsste man hinzufügen, etwa die Rolle der Kartellbehörden, der Tarifparteien oder öffentlicher Schulen. Doch im Wesentlichen schien sich das Dreierschema von Staat (für Grundrechte) – Markt (als «Motor» der Wirtschaft) – Staat (für Umverteilung) durch die meisten Debatten hindurch zu ziehen. Über Ebene eins herrschte weitgehender Konsens, während sich politische Kämpfe auf das Verhältnis der Ebenen zwei und drei bezogen: Mal wurde mehr «soziale Gerechtigkeit» eingefordert, mal «mehr Markt». Auch das Parteienspektrum schien sich anhand dieser Linien wunderbar aufreihen lassen. Nach dem Fall der Mauer wurde das «Ende der Geschichte»[12] ausgerufen; das kapitalistische System hatte sich gegen das kommunistische durchgesetzt. Das schien das Gütesiegel für besagtes Dreierschema zu sein, und auch «linke» Parteien bewegten sich hin zu einer stärkeren Befürwortung des Marktes.

Aus dem Kontext des Kalten Krieges heraus lässt sich allerdings auch verstehen, wieso sich, insbesondere seit den 1980er Jahren, die Gewichte zwischen Markt und Staat verschoben haben. Der «freie» Markt wurde, insbesondere von den Ökonomen der «Chicago School», nicht nur als Instrument der wirtschaftlichen Ordnung, sondern als Grundprinzip von Gesellschaft überhaupt gesehen. Jegliches politisches Handeln wurde als Ausdruck von Zwang betrachtet, während Marktprozesse als grundsätzlich positiv galten, weil sie auf individuellen anstatt kollektiven Entscheidungsprozessen beruhen würden. Die «Liberalisierung» von Märkten, insbesondere im Finanzsektor, wurde als Ausdruck von Freiheit gesehen. Die Möglichkeit, dass der Triumph des Kapitalismus allzu überschwänglich werden könnte, wurde nicht in Betracht gezogen.

Dabei schien die Kraft bestimmter Metaphern viele Fragestellungen völlig überflüssig zu machen. Ludwig Wittgensteins (1889–1951) Bemerkung aus den Philosophischen Untersuchungen scheint selten passender gewesen zu sein als für die Beschreibung dieser Jahre: «Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.»[13] Das Bild war jenes vom «freien» Markt, von seiner wohlwollenden «unsichtbaren Hand», von den «selbststeuernden Kräften» und der «spontanen Ordnung». Dabei wurde «der Markt» als ein einheitliches Phänomen betrachtet. Die Unterschiede zwischen Märkten, je nachdem, welche Güter in ihnen gehandelt werden, was die Struktur der in ihnen aktiven Unternehmen ist, welcher gesetzliche Rahmen gilt und welche kulturellen Muster in ihnen herrschen, wurden weitgehend übersehen; wohl auch deswegen fragte kaum jemand danach, was genau hinter den immer komplexeren Finanzprodukten steckte, die den Händlern an den Börsen von London und New York Gewinne in schwindelerregender Höhe ermöglichten. «Reaganomics» und «Thatcherism», die wirtschaftsfreundliche Politik der 1980er Jahre in den USA und Großbritannien, wollte man auf dem europäischen Festland vielleicht nicht eins zu eins übernehmen. Trotzdem war man auch hier davon überzeugt, dass grundlegende Annahmen dieses Denkens stimmten, vor allem, dass «mehr Markt» gut für die Freiheit der Individuen sei. Schließlich, so die Vorstellung, wäre das Wachstum an der Spitze eine «Flut, die alle Boote anhebt».[14] Der Reichtum würde zu denjenigen am unteren Rand der Gesellschaft «hinunter sickern».[15] Dies wurde als Begründung dafür gesehen, dass man sich über wachsende Ungleichheit, besonders in Bezug auf die obersten ein Prozent der Gesellschaft, kaum Gedanken machte.

Auch in der wissenschaftlichen Ökonomie wurde dieses Verständnis des Marktes weitgehend geteilt. Vor 2008 hatte man sich mit der Rede von der «great moderation»[16] der Illusion hingegeben, dass die Auf- und Abschwünge der Wirtschaft der Vergangenheit angehörten. Führende Theoretiker gingen davon aus, dass die Teilnehmer in Märkten rational und Blasen deshalb unmöglich seien.[17] Die ökonomische Zunft als Ganze hatte durch den Fokus auf ökonomische Modelle, in denen alle Akteure gleich sind, die Probleme, die durch ungleiche Macht entstehen können, weitgehend aus dem Blick verloren. Es schien der Eindruck vorzuherrschen, dass man die wirtschaftliche Welt verstanden hatte und durch das Drehen an bestimmten «Schrauben» im Rahmenwerk der Ökonomie deren Dynamik gesteuert werden könnte wie bei einer gut geölten Maschine.

Spätestens seit der Finanzkrise von 2008 geriet der Glaube an dieses Modell ins Wanken – vor allem auch deswegen, weil die meisten Beobachter vom Einbruch des amerikanischen Immobilienmarktes, der folgenden Pleitewelle von Finanzinstitutionen und der Notwendigkeit massiver staatlicher Eingriffe völlig überrollt wurden. Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass die Modelle der Ökonomen, die dem Lob des freien Marktes zugrunde lagen, Schwächen haben. Viele Marktbefürworter geben zähneknirschend zu, dass die Eingriffe durch Regierungen und Notenbanken nötig waren, um Schlimmeres zu verhindern. Der Fokus der Krise hat sich seitdem verschoben: Vor allem die überschuldeten Staaten haben derzeit Probleme, besonders wenn sie keine Möglichkeit haben, durch Währungspolitik ihre Position zu verbessern. Betrachtet man die Politik seit 2008, könnte der Eindruck entstehen, dass seitdem nur noch planloses «Durchwurschteln» herrscht, dass hektisch «gerettet» wird, wo es gerade am meisten brennt, und dass kaum noch jemand nach Prinzipien handelt, anstatt den jeweils drängendsten «Sachzwängen» zu folgen.

Es lässt sich nicht bestreiten, dass dringend Handlungsbedarf bezüglich der wirtschaftlichen Grundstrukturen unserer Gesellschaft besteht. Aber wer nur auf die gegenwärtigen Krisenphänomene schaut, läuft Gefahr, Symptome zu bekämpfen, ohne die tieferliegenden Probleme zu verstehen. Was es bedeuten könnte, die Freiheit der Einzelnen und ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben als Maßstab der Politik zu sehen, kann man nicht beantworten, wenn man wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange auf das Tagesgeschehen starrt. Ich möchte daher den Versuch unternehmen, einen Schritt zurückzutreten und gewissermaßen eine Vogelperspektive einzunehmen. Es soll darum gehen, wo die Ideen herkommen, die den Blick auf den Markt derart einseitig machten. Die Beschäftigung mit den «Klassikern» des politischen und ökonomischen Denkens ermöglicht eine Distanzierung, mit deren Hilfe sich die heutigen Phänomene besser verstehen lassen.

Allerdings ist die heutige Welt in vieler Hinsicht komplexer als die Welt, aus der die Ideen des klassischen Liberalismus stammen. Dies hat in erster Linie mit den technischen Möglichkeiten zu tun, die auf zahlreichen Ebenen – von Kommunikation über Handel bis hin zu Tourismus – eine stärkere globale Vernetzung gebracht haben, als dies für die Gründerväter liberalen Denkens vorstellbar war. Um dies zu illustrieren: Adam Smith diskutiert in seiner Theorie der ethischen Gefühle die begrenzte Fähigkeit des Menschen, mit anderen zu fühlen, die weit weg sind. Ein Erdbeben in China, so sein Beispiel, sei für die Menschen nur abstrakt vorstellbar und würde sie kaum um ihren gesunden Schlaf bringen.[18] Aber das sei auch kein Problem, so Smith: Die Menschen sollten ihr Mitgefühl und ihre Hilfe für andere lieber auf diejenigen konzentrieren, die in ihrer unmittelbaren Umgebung lebten und auf deren Schicksal sie direkten Einfluss hätten. Smiths Vorstellung war, dass Gott die Welt so eingerichtet hat, dass jeder Mensch nur einen begrenzten Einflussbereich hat, der aber praktischerweise mit dem Bereich zusammenfällt, den er überschauen kann und innerhalb dessen sein Mitgefühl gut funktioniert.[19]

Heute dagegen sind wir über zahlreiche Kausalketten mit den Menschen in anderen Erdteilen verbunden, zum Beispiel, wenn wir elektrische Geräte kaufen, die in anderen Ländern gefertigt wurden, aus Rohstoffen, die wiederum an anderen Orten abgebaut wurden. Außerdem ist die Art von Konsum, bei der dies stattfindet, eine ganz andere, als der Kauf lebensnotwendiger Güter, den Smith vor Augen hatte. Auch die psychischen Mechanismen, die dabei eine Rolle spielen, sind komplexer, als viele ökonomische Theorien aus dem klassischen Liberalismus dies annahmen. Ob wir dabei immer so handeln, wie es unserem wohlüberlegten Interesse entspricht, ist gar nicht so klar.

Die Lösungen, die Smith und seine Zeitgenossen vor Augen hatten, taugen daher nur bedingt für die heutige Welt – auch wenn sie sich in vielen Köpfen hartnäckig halten. In Zeiten, in denen die Möglichkeiten der Menschen enorm eingeschränkt waren, konnten die Einzelnen längst nicht so viel tun – oder auch nur so viel erfahren –, wie wir dies heute können. Begrenztes Wissen und begrenzte Handlungsmöglichkeiten bedeuteten, dass sich viele Fragen bezüglich dessen, was Menschen in einer liberalen Gesellschaft tun dürfen oder sollen, einfach nicht stellten. Heute sind die Optionen für Einzelne und für Gesellschaften zahlreicher und vielfältiger – und damit stellen sich neue Fragen, was die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens für alle betrifft.

Die Notwendigkeit, ein neues Verständnis des Liberalismus zu entwickeln, hat aber auch damit zu tun, dass manche der Ideen, über die im 18. Jahrhundert nachgedacht wurde, Wirklichkeit geworden sind. Dies führt einerseits dazu, dass sich so manche Nebenwirkung zeigt, die vorher nicht absehbar war. Andererseits bedeutet es, dass manche Schlachten geschlagen sind und man sich neuen Fragen zuwenden kann. Zum Beispiel ist in vielen westlichen Ländern die Versorgung mit Grundgütern wie Lebensmitteln, rein quantitativ betrachtet, kein Problem mehr. Es gibt keine Hungerwinter oder Versorgungskrisen. Wir haben uns an die ständige Verfügbarkeit einer breiten Palette von Gütern so sehr gewöhnt, dass es uns schon schlechte Laune bereitet, wenn ein bestimmtes Produkt im nächstgelegenen Supermarkt nicht vorrätig ist. Dies aber bedeutet, dass wir uns verstärkt anderen Fragen zuwenden können: zum Beispiel bezüglich der Verteilung von Gütern und der Auswirkungen, die unser Konsum auf andere Teile der Weltbevölkerung hat. Wir können verstärkt darüber nachdenken, ob unser Verhältnis von Arbeit und Freizeit dem entspricht, was wir wirklich wollen – und generell darüber, ob unser Wirtschaftssystem uns ermöglicht, ein Leben zu führen, das wir als sinnvoll erleben.

Es ist daher an der Zeit, wieder grundsätzliche Fragen über den Sinn und Zweck unserer Wirtschaftsordnung zu stellen. Denn es ist keineswegs so, dass wir den «Gesetzen» des Marktes hilflos ausgeliefert wären. Natürlich gibt es Eigendynamiken des wirtschaftlichen Systems – wenn der Preis eines Gutes erhöht wird, wird dies in der Regel (keineswegs immer!) zu einer Verringerung der Nachfrage führen –, und natürlich sind auch und gerade bei Fragen der Wirtschaftsordnung schmerzhafte Kompromisse zwischen den Anliegen verschiedener Gruppen unvermeidbar. Trotzdem wäre es falsch, «den Markt» wie ein Naturphänomen zu behandeln, das nur als Ganzes akzeptiert oder abgelehnt werden kann. Märkte – im Plural, denn «den» Markt an sich gibt es nicht – sind soziale Phänomene, und als solche sind sie geprägt von dem sozialen Umfeld, in dem sie stattfinden. Gesetzliche Regelungen, technische Möglichkeiten und auch kulturelle Prägungen bestimmen darüber, welche konkrete Gestalt Märkte annehmen und welche Freiheiten welcher Gruppen sie befördern oder untergraben. Das Ziel einer «liberalen» Wirtschaftspolitik muss sein, Märkte so zu gestalten, dass sie wirkliche Freiheit, und zwar für alle Mitglieder einer Gesellschaft, unterstützen. Was dies bedeuten kann und wo es Änderungen an derzeit vorherrschenden Vorstellungen und Institutionen verlangt, dazu möchte dieses Buch einige Impulse geben.

Dabei möchte ich den Weg zwischen der Skylla eines bloßen «Weiter-so» und der Charybdis eines naiven «Alles-muss-sich-ändern» finden. Ersteres scheint mir keine vertretbare Position, nicht nur, weil in der heutigen Welt die Möglichkeiten, ein freies Leben zu führen, sehr ungleich verteilt sind, sondern auch, weil durch Ressourcenverknappung und Klimawandel Handlungsdruck besteht. Letzteres würde das Kind mit dem Bade ausschütten. Denn eine der großen Stärken eines liberalen Systems ist die Möglichkeit seiner Weiterentwicklung, und diese Möglichkeit gilt es voranzutreiben. Wir brauchen dringend eine Evolution des Systems, die dessen Schieflagen korrigiert und verhindert, dass Liberalismus zu einer leeren Floskel und der Begriff der Freiheit zu einer zynischen Maske für den Erhalt bestehender Machtverhältnisse wird.

Ausblick

Im nächsten Kapitel geht es um das Problem, dass das Individuum anders ist, als der klassische Liberalismus es sich vorstellt. Vor dem Hintergrund einer feudalen Vergangenheit betonten liberale Denker besonders das Recht des Menschen auf ein selbstbestimmtes Leben. Gleichzeitig legten sie viel Wert darauf, ein realistisches Menschenbild zur Grundlage ihrer Theorien zu machen. Nimmt man diesen Gedanken heute ernst und berücksichtigt man Ergebnisse aus der empirischen Forschung, ergibt sich eine neue Perspektive für den Liberalismus: Menschen sind um einiges sozialer, aber auch um einiges anfälliger dafür, Fehler zu machen, als der berühmt-berüchtigte «Homo oeconomicus». Diese Faktoren müssen berücksichtigt werden, damit aus einer Gesellschaft, der es um Freiheit für alle Individuen geht, nicht unter der Hand ein gnadenloses «survival of the fittest» wird. Wer es ernst meint mit Freiheit, muss auch erwägen, inwieweit Menschen manchmal vor sich selbst geschützt werden müssen.

In Kapitel III geht es darum, dass Freiheit etwas anderes ist, als manche Strömungen des Liberalismus in den letzten Jahrzehnten vertreten haben. Sie haben die Vielschichtigkeit dessen übersehen, was ein selbstbestimmtes Leben bedeutet, die in der liberalen Tradition von verschiedenen Denkern beschrieben wurde: Freiheit bedeutet sowohl, Handlungsfreiräume für das Ausleben einer eigenen Lebensvorstellung zu haben, als auch, über die nötigen Ressourcen zu verfügen, damit ein selbstbestimmtes Leben wirklich möglich ist. Und nicht zuletzt hat Freiheit auch mit dem Status freier Bürger zu tun, die keine Untertanen sind, sondern an politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen mitwirken können.

Um diese Position stark zu machen, muss man sich allerdings mit einer Denkkategorie auseinandersetzen, die selten offen diskutiert wird und doch tief in unserem Denken verwurzelt ist: der Kategorie des «Verdiensts», die sowohl in Bezug auf den Markt als auch in Bezug auf den Staat problematische Züge annehmen kann. Wenn man sich klarmacht, dass die Voraussetzungen dafür, etwas zu «verdienen», nicht nur in den Individuen, sondern vor allem auch in den sozialen Strukturen liegen, ergibt sich ein neues Verständnis von sozialer Gerechtigkeit: als einer möglichst weiten Verteilung aller Dimensionen von Freiheit für alle Mitglieder einer Gesellschaft.

In Kapitel IV geht es darum, dass die Sozialstrukturen moderner Gesellschaften anders sind, als der klassische Liberalismus es sich vorstellte. Menschen sind keine einzelnen, unabhängigen Atome, sondern soziale Wesen, und die formellen und informellen Beziehungen zwischen ihnen spielen eine wichtige Rolle dafür, wie Gesellschaften gestaltet werden. Die erhöhte Komplexität freiheitlicher Gesellschaften bedeutet, dass bei der Frage nach der Steuerung gesellschaftlicher Prozesse neue Wege beschritten werden müssen und wir uns von allzu einfachen Denkmodellen aus der Vergangenheit lösen müssen. Besonders wichtig ist dies, um zu sehen, wie nicht nur formelle, sondern auch informelle Strukturen von Problemen ungleicher Macht und ungleicher Chancen geprägt sind, die in einer liberalen Gesellschaft nicht gleichgültig sein dürfen.

In Kapitel V schließlich geht es darum, wie ein Liberalismus aussehen kann, der sich von dem simplen Dogma eines «Immer-mehr» verabschieden will. Dies betrifft einerseits die Frage nach der Vereinbarkeit unseres Wirtschaftsmodells mit der nachhaltigen Sicherung menschlichen und anderen Lebens auf einem endlichen Planeten. Andererseits betrifft es das Thema, wie Menschen ihr Leben jenseits des «Gewinnmaximierungsprinzips» so gestalten können, wie dies ihren eigenen Vorstellungen entspricht – und welche Auswirkungen dies auf die Arbeitswelt hat. Zum Dritten geht es darum, was die Freiheit von «uns im Westen» für die Freiheit der Menschen in anderen Ländern bedeuten kann und soll: Wie könnte die globalisierte Wirtschaft so umgestaltet werden, dass für alle Seiten Freiheitsgewinne möglich sind? Bei all diesen Themen sind Veränderungen am bestehenden System unvermeidlich, um das Versprechen auf Selbstbestimmung auch in Bezug auf die Wirtschaft einzulösen, individuell und kollektiv.

Dank

Ich möchte an dieser Stelle denjenigen danken, die dazu beigetragen haben, dass dieses Buch entstehen konnte. Auch und gerade Theoretiker sind soziale Wesen, und ein Text wie dieser ist nie das Werk einer einzigen Person, sondern verdankt sich dem Dialog mit zahlreichen anderen, durch den man in die Lage versetzt wird, eigene Positionen zu formulieren. Ich möchte all denen danken, von deren Einsichten ich während meiner Dissertation und den folgenden Jahren als Postdoc profitiert habe, insbesondere meinen Kollegen an den Universitäten St. Gallen und Frankfurt sowie den Interviewpartnern, mit denen ich für mein laufendes Projekt faszinierende Gespräche über Ethik und Kapitalismus führen durfte. Der wichtigste Gesprächspartner war, wie seit sieben glücklichen Jahren, mein Partner, der der erste Leser dieses Textes war und mir bei der Schlussüberarbeitung zur Seite stand.

Ganz konkreten Dank schulde ich Elisabeth von Thadden und Rainer Hank, die mir die ersten Schritte hin zum publizistischen Schreiben ermöglicht haben, sowie Florian Grosser, der den Kontakt zum Verlag C.H.Beck hergestellt hat. Raimund Bezold war ein wunderbarer Gesprächspartner und Lektor, und Jan Dreßler hat mir als externer Lektor ebenfalls wertvolle Hilfe geleistet. Catherine Davies und Rosemarie Mayr danke ich für die Unterstützung bei den letzten Schritten vom Manuskript zum Buch.

II.
Liberalismus ohne Psychologie – Wie ein einseitiges Menschenbild den Liberalismus unfreiwillig herzlos machte

Einleitung

In den Feuilletons wurde in den vergangenen Jahren viel auf den «Homo oeconomicus» eingeprügelt, jene Vorstellung von einem völlig rationalen, nur auf sein Eigeninteresse bedachten Wesen, die durch Wirtschaftslehrbücher geistert. Er maximiert seinen Nutzen ohne Wenn und Aber, kühl kalkulierend und ohne Rücksicht auf andere. Aber auch wenn er gelegentlich zum Zerrbild wurde: Der «Homo oeconomicus» ist kein Menschenbild, sondern lediglich ein Denkmodell. Wenn man in die Geschichte liberalen Denkens zurückgeht, zeigt sich, dass das Menschenbild des Liberalismus immer schon vielschichtiger, aber auch spannungsreicher war als der eindimensionale «Homo oeconomicus». Einerseits wurde in vielen liberalen Strömungen Wert darauf gelegt, ein möglichst realistisches Menschenbild als Grundlage der Theorie zu verwenden: Nur nicht utopisch werden und auf Altruismus und andere edle Triebe im Menschen setzen, die am Ende nur edle Hirngespinste sind! Andererseits wird dem Menschen im Liberalismus in einer Hinsicht eine Menge zugetraut: dann nämlich, wenn es darum geht, für sich selbst zu sorgen. Während der Altruismus der Menschen unterschätzt wurde, wurden diese Fähigkeiten eher überschätzt. Aus diesen Faktoren ergibt sich eine Gemengelage, die manche Formen liberalen Denkens zu einer ziemlich kaltherzigen Angelegenheit werden ließ: Da jeder für sein Schicksal selbst verantwortlich sei, müsse auch jeder selbst schauen, wo er bleibt.

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