Die Archive des Vatikan
und das Dritte Reich
Verlag C.H.Beck
Der Umgang des Heiligen Stuhls mit Weimarer Republik und «Drittem Reich» ist von Spekulationen und Mythen umrankt. Im Jahr 2006 wurden endlich die entscheidenden Akten für die Zeit bis 1939 freigegeben. Damit werden erstmals die harten Kämpfe hinter den hohen Mauern des Vatikans sichtbar. Philosemiten und Antisemiten, geschmeidige Diplomaten und dogmatische Fundamentalisten, selbstbewußte Bischöfe vor Ort und mächtige Kardinäle in Rom rangen um den richtigen Umgang mit den Mächten der Moderne: Liberalismus, Kommunismus und Nationalsozialismus. Hubert Wolf erklärt, warum eine philosemitische Vereinigung aufgelöst, gleichzeitig aber der Antisemitismus verurteilt wurde, wie es 1933 zum Konkordat mit dem «Dritten Reich» kam, warum Hitlers «Mein Kampf» nicht verboten wurde und wie es sich mit dem päpstlichen «Schweigen» zur Judenverfolgung verhält. Wer sich ernsthaft mit dem Verhältnis des Vatikans zum Nationalsozialismus beschäftigen will, wird an diesem Maßstäbe setzenden Buch nicht vorbeikommen.
Hubert Wolf, geb. 1959, ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Münster. Er wurde 2003 mit dem Leibnizpreis der DFG und 2004 mit dem Communicator-Preis ausgezeichnet. Sein Buch über den Index der verbotenen Bücher liegt bei C.H.Beck inzwischen in mehreren Auflagen und Ausgaben vor (Beck’sche Reihe, 2007). Bei C.H.Beck erschien von ihm außerdem «Erinnerungsorte des Christentums» (Hg. mit Christoph Markschies, 2010). Darüber hinaus ist Hubert Wolf durch zahlreiche Artikel, Interviews und Vorträge bekannt.
PAPST UND TEUFEL?
Rom und die Herausforderungen des 20. Jahrhunderts
In den geheimen Archiven des Vatikans
1. DAS BÖSE NEUTRALISIEREN? VATIKANISCHE DIAGNOSEN UND REZEPTE FÜR DEUTSCHLAND (1917–1929)
Instruktionen für einen Nuntius
Ein Römer in Deutschland: Eugenio Pacelli
Einmischung oder Neutralität: Die päpstliche Friedensinitiative
Papstknechte oder Staatsknechte: Die deutschen Oberhirten
Vertrauensmann Pacellis: Die Karriere Bischof Preysings
Brave Schäfchen und aufmüpfige Intellektuelle: Die katholischen Laien
Zwischen Skylla und Charybdis: Die katholische Zentrumspartei
Als «Deutscher» zurück nach Rom: Prägungen und Handlungsmuster
2. PERFIDE JUDEN? STREIT IM VATIKAN ÜBER DEN ANTISEMITISMUS (1928)
«Laßt uns beten für die perfiden Juden»
Das Votum der Ritenkongregation
Vor dem Tribunal des Heiligen Offiziums
Antisemitismus auf katholisch?
Laßt uns beten für das auserwählte Volk Gottes
3. DER PAKT MIT DEM TEUFEL? DAS REICHSKONKORDAT UND SEINE VORGESCHICHTE (1930–1933)
Geheime Aufzeichnungen des Kardinalstaatssekretärs …
Bischöfe, Zentrum und NSDAP vor der «Machtergreifung»
Tausche Reichskonkordat gegen Ermächtigungsgesetz? Eine Forschungskontroverse
Marionetten Roms oder eigenständige Akteure? Zentrumspartei und Bischöfe
Das Reichskonkordat. Oder: Von der Pistole am Kopf des Kardinalstaatssekretärs
4. MOLTO DELICATO? DIE RÖMISCHE KURIE UND DIE JUDENVERFOLGUNG (1933–1939)
«Wenn das Schweigen noch länger anhält …» Edith Steins Brief an Pius XI
Von Rabbinern und Lufthansapiloten: Bitten um päpstlichen Protest
Pius XI. auf dem Weg in die Öffentlichkeit
Bischöfe können reden, der Papst muß schweigen: Pius XII. und Bischof Galen
5. DOGMA ODER DIPLOMATIE? KATHOLISCHE WELTANSCHAUUNG UND NS-IDEOLOGIE (1933–1939)
Katholischer Totalitarismus gegen weltanschauliche Totalitarismen
Reine Lehre oder politischer Opportunismus? Pacelli und die Ökumene in Deutschland
Alfred Rosenberg auf dem «Index der verbotenen Bücher»
Hitlers «Mein Kampf» im Visier der römischen Glaubenswächter
Ein typisch römischer Kompromiß?
DANK
ANHANG
Zeittafel
Anmerkungen
Literaturhinweise
Bildnachweis
Personenregister
«Wenn es sich darum handeln würde, auch nur eine einzige Seele zu retten, einen größeren Schaden von den Seelen abzuwenden, so würden Wir den Mut aufbringen, sogar mit dem Teufel in Person zu verhandeln.»[1] Pius XI., von dem diese Aussage stammt, hat während seiner Amtszeit als Papst in den Jahren von 1922 bis 1939 in der Tat mehrfach den Mut gehabt, mit Personen zu verhandeln, die oftmals für Inkarnationen des Bösen gehalten wurden: Benito Mussolini, Adolf Hitler und Josef Stalin. Dabei ging es dem «Stellvertreter Jesu Christi auf Erden» stets primär um das Seelenheil der Gläubigen und um Garantien für eine ungehinderte Seelsorge der katholischen Kirche. Für die Sicherung des ewigen Lebens der ihm anvertrauten «Schäfchen» war der oberste Hirte der Kirche auf dem Feld der irdischen Existenz sogar bereit, dem Teufel in Gestalt totalitärer Ideologien und ihrer Anführer diplomatisch bis an die Grenzen des Möglichen entgegenzukommen. Im Austausch für die Gewährung geistlicher Freiheit sollte die Kirche zur Not auf alle weltlichen Aktivitäten verzichten und sich aus Politik und Öffentlichkeit im wahrsten Sinn des Wortes in die Sakristeien zurückziehen.
Pius XI. hielt diese Rede am 16. Mai 1929. Auf den ersten Blick scheinen sich seine Worte ausschließlich auf die ein Vierteljahr zuvor, am 11. Februar 1929, zwischen dem faschistischen Italien und dem Heiligen Stuhl abgeschlossenen Lateranverträge zu beziehen. Dieses Abkommen hatte nach über einem halben Jahrhundert heftiger Konflikte zwischen dem Königreich Italien und dem Heiligen Stuhl endlich eine Lösung der «Römischen Frage» gebracht. Seit der Besetzung des Kirchenstaates und der Stadt Rom durch italienische Truppen im Jahr 1870 im Zuge des Risorgimento, der Entstehung des italienischen Nationalstaats, hatten sich die Päpste als Gefangene im Vatikan gesehen. Der traditionelle päpstliche Segen «Urbi et Orbi», für die Stadt Rom und den ganzen Erdkreis, wurde an den kirchlichen Hochfesten wie Weihnachten und Ostern nicht mehr von der äußeren Loggia der Peterskirche gespendet, sondern nur noch von der inneren Loggia in die Basilika hinein, damit die italienischen «Räuber des Kirchenstaates» davon nur ja nichts abbekämen. Für die maßgeblichen Vertreter der Römischen Kurie und den Papst selbst war es schlicht undenkbar, sich den Stellvertreter Jesu Christi auf Erden, das Oberhaupt von Abermillionen katholischen Gläubigen weltweit, als Untertan des italienischen Königs und gewöhnlichen Bürger Italiens vorzustellen. Zur Ausübung seines universalen geistlichen Amtes brauchte der Papst ihrer Ansicht nach die Souveränität eines eigenen Staates, der ihm völlige Unabhängigkeit von weltlichen Mächten gewährte. Umgekehrt konnte das neue Königreich Italien im Interesse seiner gerade gewonnenen nationalen Einheit auf gar keinen Fall Teile des Kirchenstaates und schon gar nicht die Hauptstadt Rom dem Papst zurückgeben. Staat und Kirche blockierten sich so jahrzehntelang gegenseitig. Während des Ersten Weltkriegs gab es sogar Überlegungen, den Heiligen Stuhl von Rom nach Liechtenstein oder Mallorca zu verlegen. Was mit parlamentarisch gestützten Regierungen Italiens stets gescheitert war, die Conciliazione, die Verständigung zwischen der Römischen Kurie und dem italienischen Nationalstaat, kam zwischen dem totalitären Regime Mussolinis und Pius XI. 1929 schließlich zustande: Faschismus und Katholizismus einigten sich. In den Lateranverträgen, die aus einem Staatsvertrag, einem Konkordat und einem Finanzabkommen bestanden, wurden der souveräne Staat der Vatikanstadt errichtet und damit für den Papst zumindest ein kleiner Kirchenstaat geschaffen sowie als Gegenleistung für eine Entpolitisierung von Klerus und Kirche die katholischen Glaubens- und Moralprinzipien staatskirchenrechtlich in Italien besonders geschützt. Gleichzeitig schaffte der Papst den Faschisten die ungeliebte politische Konkurrenz katholischer Provenienz, die Volkspartei, vom Hals. Die Verhandlungen und der Abschluß der Lateranverträge mit dem Italien Mussolinis können durchaus auch als Pakt des Papstes mit «dem Bösen» im Interesse der Seelsorge interpretiert werden.
Auch wenn Pius XI. in seiner Ansprache im Rahmen einer Privataudienz für katholische Professoren und Studenten den italienischen Bezug seiner Äußerungen akzentuierte, ergibt sich aus dem Kontext klar und deutlich, daß der Pontifex maximus seine Aussagen nicht nur anlaßbezogen beziehungsweise auf die italienische Situation fixiert, sondern in viel grundsätzlicherer Weise verstanden wissen wollte. Es ging ihm nicht nur um die gerade abgeschlossenen Verhandlungen mit Mussolini und den italienischen Faschismus. Pius XI. nutzte die Audienz vielmehr, um am Beispiel des Themas Bildung und Erziehung Rolle und Funktion der Kirche angesichts der Herausforderungen der modernen Welt in prinzipieller Weise zu umreißen. Dabei sahen sich Papst und Kurie seit dem 19. Jahrhundert mit den zunehmenden Versuchen der Staaten konfrontiert, den Einfluß der Kirche in zentralen Bereichen wie der Erziehung der Kinder und Jugendlichen zurückzudrängen oder sogar ganz auszuschalten. Der Papst betrachtete die kirchliche Erziehung als einen unabänderlichen ewigen göttlichen Auftrag an die Kirche zur Rettung der Seelen der jungen Menschen. Die katholische Kirche als «Mater et Magistra», als Mutter und Lehrerin, hatte für ihn nicht nur das unaufgebbare Recht, sondern auch die heilige Pflicht, den Eltern, denen das Erziehungsrecht im Schoß der Kirche nach göttlichem Recht unverrückbar zukam, ihre Hilfe in diesem Bereich angedeihen zu lassen, weil die einzelnen Familien ansonsten überfordert wären. Der Staat indes dürfe sich dieses Recht der Erziehung in gar keinem Fall anmaßen, das wäre «absurd» und «gegen die Natur» – so der Papst. In der vollständigen Kontrolle von Erziehung und Bildung der jungen Generation, die von zahlreichen Staaten, gleich welcher Weltanschauung sie auch folgten, angestrebt wurde, sah Pius XI. eine Hauptgefahr nicht nur für das zeitliche Wohl, sondern auch für das ewige Heil der Kinder und Jugendlichen. Hier war die Kirche gefordert, hier standen ewige Werte auf dem Spiel, hier ging es um Sein oder Nichtsein, hier mußte man notfalls sogar mit dem Teufel in Person verhandeln. Der Papst unterstrich in seiner Ansprache, daß er in dieser Weise schon mehrfach mit den Staaten verhandelt habe und bis an die Grenzen des für die Kirche Möglichen gegangen sei, «wenn davon das Schicksal unserer geliebten Katholiken abhing». Aber wenn es um die naturrechtlichen Prinzipien und das göttliche Recht selbst ging, mußte die Kirche nach Ansicht Pius’ XI. unnachgiebig bleiben, weil diese «unanfechtbar, unabdingbar, unwiderstehbar» seien, also schlicht nicht zur Disposition der Menschen – auch nicht der Kirche – stünden.
Der moderne Staat, gleichgültig auf welcher weltanschaulichen Grundlage er basierte, versuchte nach Ansicht von Papst und Kurie einen umfassenden beziehungsweise totalen Anspruch auf seine Bürger durchzusetzen, der mit dem nicht minder totalen Anspruch der katholischen Kirche auf ihre Gläubigen in Konflikt geraten mußte. Die katholische Weltanschauung sah sich im Laufe des 20. Jahrhunderts immer stärker mit totalitären Ideologien konfrontiert, die als politische Religionen das Christentum und seinen absoluten Wahrheitsanspruch bis aufs Messer bekämpften. Ideologien traten mit einem ebensolchen Anspruch und dem Ziel einer totalen Vereinnahmung von Staat, Gesellschaft und Individuen auf. Sie vergötterten sich selbst in Pervertierung des biblischen Gebots «Du sollst keine anderen Götter neben mir haben». Daß die katholische Kirche mit ihrem dem Selbstverständnis nach in Gott selbst gründenden Wahrheitsanspruch und der Papst als Repräsentant Jesu Christi angesichts dieser vielfältigen, nicht minder umfassenden Heilsangebote und alternativen politischen Religionen herausgefordert waren, liegt auf der Hand. «Der Begriff des Totalitarismus» – so hieß es in einem internen Papier des Päpstlichen Staatssekretariates vom Herbst 1933 – «darf aber keinesfalls dazu mißbraucht werden, um politische und weltliche Ziele zu erreichen. Die Kirche selbst strebt nach Totalität, um den ganzen Menschen und die ganze Menschheit für Gott zu verlangen.»[2]
Wenn im folgenden von «Totalitarismus» und «Totalitarismen» gesprochen wird, dann geschieht dies eher aus pragmatischen Gründen; eine Anlehnung an eine bestimmte Theorie ist damit nicht verbunden. Die Verwendung des Totalitarismusbegriffs könnte in der Tat dazu führen, die Gemeinsamkeiten ganz unterschiedlicher politischer Systeme wie des Kommunismus und des Faschismus zu stark zu betonen. Hier geht es nur darum, den umfassenden Anspruch, den unterschiedliche politische Ideologien und religiöse Glaubensgemeinschaften erhoben haben, im wahrsten Sinn des Wortes auf einen Begriff zu bringen. Im kurialen Sprachgebrauch der dreißiger Jahre scheinen die Begriffe «total» und «totalitär» ohnehin synonym verwendet worden zu sein, so daß in den dreißiger Jahren noch nicht von einem elaborierten Totalitarismusbegriff ausgegangen werden kann.
Das dualistische Weltbild der Katholiken ist ernstzunehmen, an ihm orientierten sie sich im Kampf mit den neuen Ideologien. «Eine religiöse Betrachtung des Nationalsozialismus muß» – so schrieb Eric Voegelin (1901–1985), der den Begriff der «politischen Religion» wissenschaftlich maßgeblich prägte, 1938 im amerikanischen Exil – «von der Annahme ausgehen dürfen, daß es Böses in der Welt gebe; und zwar das Böse nicht nur als einen defizienten Modus des Seins, als ein Negatives, sondern als eine echte, in der Welt wirksame Substanz und Kraft.» Und er fügte hinzu, «einer nicht nur sittlich schlechten, sondern religiös bösen, satanischen Substanz» könne «nur aus einer gleich starken religiös guten Kraft der Widerstand geleistet werden». Man könne «eine satanische Kraft» mit «Sittlichkeit und Humanität allein» schlicht nicht «bekämpfen». Letztlich seien nur «große religiöse Persönlichkeiten» zum «Widerstand gegen das Böse» fähig, nur sie könnten den Kampf gegen die äußerst attraktive Kraft des «Luziferischen» in die Hand nehmen.[3] Wenn überhaupt jemand, dann war aus der Sicht der Kirche der Papst als Stellvertreter Jesu Christi auf Erden als Nachfolger der Inkarnation der Güte Gottes dazu berufen, den Kampf gegen das Böse zu organisieren.
Die Lehre der Kirche malte diesen Kampf zwischen Gut und Böse in grellen Farben aus, und in der Vorstellungswelt der Päpste und vieler Katholiken war er durchaus real. Der Papst hatte den damit verbundenen Erwartungen gerecht zu werden, und die papsttreuen Gläubigen sahen sich vor die Wahl gestellt: Sie mußten sich entscheiden zwischen Wahrheit und Irrtum, zwischen ewigem Heil und ewiger Verdammnis – zwischen Papst und Teufel eben. An dieser Grundentscheidung hatten sie ihr Handeln auszurichten. So wie Christus in der Wüste dreimal vom Teufel versucht wurde und ihn dreimal zurückwies (Matthäus 4,1–11), so sah sich der Papst als Repräsentant Christi auf Erden gefordert, sich dem Bösen zu stellen, um als «guter Hirte» die ihm anvertraute Herde sicher durch die finsteren Schluchten zu den ewigen Weideplätzen im Himmel zu führen und keines seiner Schäfchen auf dem Weg durch diese Zeit mit all ihren Gefährdungen zu verlieren.
Es ging Pius XI. also um den Schutz ewiger, unveränderlicher Wahrheiten und damit letztlich um den Heilsauftrag der katholischen Kirche in dieser Welt, deren Verteidigung den Papst sogar mit dem, was er für das Böse in Person hielt, in Kontakt treten ließ. Damit sind nicht nur die totalitären Weltanschauungen des 20. Jahrhunderts wie Kommunismus, Nationalsozialismus, Faschismus, Franquismus oder ein radikal antikirchlicher Liberalismus als «böse» antichristliche Ideologien gemeint, auch nicht nur Stalin, Hitler, Mussolini oder Franco als dunkle Fürsten dieser Welt. Hinter dem Satan verbergen sich in den Augen des Papstes auch nicht nur die totalen Ansprüche der modernen Nationalstaaten auf die Seelen ihrer Bürger. Der Teufel steht für ihn vielmehr als Chiffre für all die modernen Versuchungen und prinzipiellen Infragestellungen der ewigen göttlichen Wahrheit, die Jesus Christus geoffenbart hat und deren Garant in der Welt die katholische Kirche und nicht zuletzt der Nachfolger des Apostelfürsten Petrus, der Papst selbst, ist. Der «böse» Zeitgeist will durch seine Einflüsterungen, seien sie materieller oder ideeller Art, die Christgläubigen vom rechten Weg abbringen, so daß sie ihren von Gott gewiesenen Lebensweg und ihr ewiges Seelenheil verlieren. Es geht um nichts weniger als die alles entscheidende Frage, ob es dem Papst als Haupt der ecclesia militans, der streitenden Kirche in dieser Welt, gelingt, für die Katholiken das Tor zum Himmel offenzuhalten und die Pforten der Hölle zu verschließen.
Die Existenz der Hölle als Ort ewiger Verdammnis und das Wirken des Teufels in dieser Welt standen zur Zeit Pius’ XI. für gebildete Theologen und einfache Katholiken gleichermaßen außer Frage, sie waren bedrohende Realität. «Die Offenbarungen Christi über den Teufel sind von großem Ernst», schrieb etwa der Freiburger Erzbischof Conrad Gröber (1872–1948) 1937 in seinem immer wieder aufgelegten Handbuch der religiösen Gegenwartsfragen. Dreimal nenne ihn Christus im Johannesevangelium den «Herrscher dieser Welt» (Johannes 12, 31, 14, 30 und 16, 11), und Paulus spreche sogar vom «Gott dieser Weltzeit» (2. Korinther 4,4). Für Gröber ist der Teufel nach dem eindeutigen Zeugnis der Heiligen Schrift «der Feind» schlechthin, der auf dem «Acker des Gottesreiches das Unkraut sät. … Der Teufel führt die Bösen an, die, sei es innerhalb der sichtbaren Kirche, sei es von außen, an dem Untergang des Reiches Christi arbeiten; aber er wird die auf den Felsen Petri gebaute Kirche nicht überwältigen.»[4] Die dualistische Annahme zweier gleichrangiger ewiger Prinzipien, Gott auf der einen und der Teufel auf der anderen Seite, hat die Kirche aber stets abgelehnt. Vielmehr wurde Luzifer als gefallener Engel betrachtet, wie schon das Vierte Laterankonzil 1215 festgehalten hat: «Der Teufel und die anderen Dämonen sind zwar von Gott der Natur nach gut geschaffen, aber sie sind von sich aus böse geworden. Der Mensch jedoch hat aufgrund der Einflüsterung des Teufels gesündigt.»[5] Die Ursünde der gefallenen Engel, die aus dem Himmel auf die Erde gestürzt sind, und der Sündenfall der Menschen im Paradies liegen somit auf einer Linie. Seither ist die Schlange, der Teufel, der Satan in der Welt und verführt in ganz unterschiedlichen Gestalten die Menschen immer neu zum Bösen. «Diese Gewalt Satans ist sehr ernst zu nehmen», heißt es im einschlägigen Teufelsartikel des Lexikons für Theologie und Kirche aus dem Jahr 1938, dem Standardwerk für katholische Theologen und Pfarrer. Christus, der ihn einen «Menschenmörder von Anfang an» (Johannes 8,44) nennt, habe im Teufel «den Feind seines ganzen Erlösungswerkes» gesehen.[6] Durch Christi Erlösertod am Kreuz habe die Kirche zwar ein wirksames Mittel zur Bekämpfung des Teufels in der Hand. Das bedeutet allerdings nicht, daß das Böse, wie wiederum Gröber ausführt, damit «einfach aus der Welt ausgeschlossen wäre». Vielmehr bleibe «die Macht des Satans zwar ‹bis zur Ernte› im Unkraut erkennbar», aber im Weltgericht werde seine Macht endgültig zerbrochen. «Im Hinblick darauf … wartet die Kirche in Zeiten der Verfolgung auf den Endsieg Christi.»[7] Bis zur Wiederkehr des Herrn zum Jüngsten Gericht sind der einzelne Christ und die Kirche den Versuchungen des Teufels ausgesetzt, wird der Kampf zwischen Gut und Böse unerbittlich ausgefochten.
Als natürlicher Gegenspieler des Bösen, gleich in welcher Gestalt es sich auch zeigte, war der Papst sowohl nach eigenem Selbstverständnis als auch nach den Erwartungen der Gläubigen gefordert. Der «Bischof von Rom, Stellvertreter Jesu Christi, Nachfolger des Apostelfürsten, Oberster Pontifex der universalen Kirche, Patriarch des Abendlandes, Primas von Italien, Erzbischof und Metropolit der römischen Kirchenprovinz und Souverän des Staates der Vatikanstadt»,[8] wie die offizielle Titulatur nach dem Annuario Pontificio, dem jährlich erscheinenden offiziellen päpstlichen Handbuch, lautet, mußte sich wie Jesus Christus selbst in der Heiligen Schrift dem Versucher und Fürsten der Welt stellen. Denn nach katholischer Glaubensüberzeugung «vertritt der Papst die Stelle Jesu Christi auf Erden».[9] In den heftigen Auseinandersetzungen mit dem absolutistischen Kirchenregiment zahlreicher meist protestantischer Staaten des 19. Jahrhunderts hatten nicht wenige Katholiken im Zuge des sogenannten Ultramontanismus ihre Hoffnungen ultra montes, über die Berge, nach Rom, auf den Papst als den in der Ewigkeit gründenden Petrusfelsen gerichtet, der in den tosenden Stürmen der Moderne Halt und Sicherheit bot, an den man sich in den Fluten des Bösen festklammern konnte. Man sah im Papst «gleichsam eine Inkarnation der übernatürlichen Ordnung», in der die Völker Christus selbst erkennen, «der deshalb in allen und für alle im Papst und mit dem Papst und durch den Papst ist»[10] – wie ein italienischer Bischof 1870 auf dem Ersten Vatikanischen Konzil formulierte. Die Volksfrömmigkeit ging noch einen Schritt weiter mit Formulierungen wie «Wenn der Papst meditiert, ist es Gott, der in ihm denkt».[11] Schließlich wurde sogar eine dreifache Inkarnation, eine dreifache Menschwerdung des Sohnes Gottes propagiert: durch die Geburt des ewigen Logos im Jesuskind im Stall von Bethlehem, durch die Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi in der Heiligen Kommunion und schließlich durch die geheime Wahl eines Kardinals im Konklave zum Papst.
Diese Vorstellungen führten auf dem Ersten Vatikanischen Konzil zur Dogmatisierung der Unfehlbarkeit und des universalen Jurisdiktionsprimats des römischen Papstes. Durch diese Dogmen wurde allen Katholiken als zu glauben verbindlich vorgeschrieben: Der Papst ist infolge seiner Unfehlbarkeit der Garant für die sichere Erkenntnis der geoffenbarten göttlichen Wahrheiten, nach denen «Gott aus seiner unendlichen Güte den Menschen auf das übernatürliche Ziel hingeordnet hat, nämlich zur Teilnahme an den göttlichen Gütern, die jede Einsicht des menschlichen Geistes übersteigen».[12] Daher ist er unverzichtbar, «um das heilbringende Werk der Erlösung auf Dauer zu gewährleisten». Sein Primat «über den gesamten Erdkreis», den Christus, der Herr, «unmittelbar und direkt dem seligen Apostel Petrus verheißen und übertragen» hat, und in Petrus zugleich all seinen Nachfolgern auf dem Apostolischen Stuhl, sichert die «Stärke und Festigkeit der ganzen Kirche», zumal in Zeiten, «da sich die Pforten der Unterwelt von Tag zu Tag mit größerem Haß und von überall her gegen das von Gott gelegte Fundament erheben». Wenn der Papst in Ausübung seines Amtes als oberster Hirte und Lehrer der Kirche spricht, sind seine Entscheidungen in Glaubens- und Sittenfragen «unfehlbar aus sich selbst, nicht erst aufgrund der Zustimmung der Kirche».[13]
Pius XI. auf der Sedia gestatoria.
Wenn sich Pius XI. auf der Sedia gestatoria, angetan mit den Pontifikalgewändern, gekrönt mit der Tiara, unter einem Baldachin durch die Schar der Gläubigen in die Peterskirche tragen ließ, wurde seine Rolle als Repräsentant der Güte Gottes und Gegenspieler des Teufels in all seinen Erscheinungsformen in augenscheinlicher Weise symbolisch inszeniert. Der tragbare Thronsessel und die Gewänder, die auf das antike Kaiserzeremoniell zurückgehen, weisen auf den umfassenden herrschaftlichen Anspruch des römischen Bischofs in Kirche und Welt hin. Die dreifache Krone steht für die allumfassende päpstliche Autorität und seine universale Vollmacht als «Vater der Fürsten und Könige, Lenker der Welt und Stellvertreter Christi auf Erden», wie es im Pontificale Romanum von 1596, dem großen Zeremonienbuch der Päpste, treffend heißt.[14] Unter dem Baldachin wird normalerweise während der Fronleichnamsprozession vom Priester das Allerheiligste getragen, die in eine prächtige Monstranz eingesetzte gewandelte Hostie, in der Christus selbst sakramental gegenwärtig ist. Die Stelle des eucharistischen Brotes nimmt hier der Papst als Realsymbol Jesu Christi in dieser Welt ein.
Die wahrhaft teuflisch anmutenden Herausforderungen für Pius XI. waren groß und vielfältig. Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, die sein Pontifikat weitgehend abdeckt, war durch gewaltige Umbrüche geprägt. In der Sowjetunion etablierte sich nach der Oktoberrevolution der Kommunismus, was mit einer rigiden Kirchenverfolgung verbunden war. In Deutschland hatte die Novemberrevolution das Ende der Monarchie gebracht; auf die Weimarer Demokratie folgten die nationalsozialistische Diktatur, der «Anschluß» Österreichs und die Sudetenkrise. Im Spanischen Bürgerkrieg unterlag die Volksfrontregierung, und Franco errichtete sein autoritäres Regime. In Italien entstand der Faschismus, und Mussolini stieg zum Diktator auf. Überall radikalisierten sich alte und neue Nationalismen, eine sozialdarwinistische Rassenlehre und ein biologistischer Antisemitismus gewannen an Boden. Der antikirchliche Zeitgeist stellte christliche Werte und Überzeugungen grundsätzlich in Frage.
Nicht weniger als dreimal hatte der Papst in den zwanziger Jahren der Sowjetunion unter Stalin die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit dem Heiligen Stuhl und die völkerrechtliche Anerkennung des kommunistischen Regimes der UdSSR durch die katholische Kirche angeboten, wenn im Gegenzug die Christenverfolgungen in dem bolschewistischen System aufhörten und wenigstens eine Grundversorgung der Katholiken mit den Sakramenten, den Gnadenmitteln der Kirche, garantiert würde. Gleichzeitig hoffte man wohl auch auf eine Aufwertung des Katholizismus gegenüber der verfolgten orthodoxen Staatskirche. Erste Auswirkungen des antikirchlichen kommunistischen Terrors nach der Oktoberrevolution von 1917 hatte Achille Ratti als Apostolischer Visitator in Polen und Nuntius in Warschau am Ende des Ersten Weltkriegs in den Jahren 1918 bis 1921 aus eigener Anschauung kennengelernt. Seither war der russische Bolschewismus für den späteren Papst wie einen Großteil der Römischen Kurie die Verkörperung des Bösen par excellence, vor dem Kirche und Welt unbedingt geschützt werden mußten, mit dem man aber im Interesse der Rettung der Seelen zur Not auch verhandeln mußte.
Das Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich, das 1933 wenige Monate nach der «Machtergreifung» Hitlers abgeschlossen wurde, galt nicht wenigen als der Pakt des Papstes mit dem Teufel schlechthin. Auch wenn Pius XI. im Frühjahr 1933 Hitler als einzigen Staatsmann gelobt hatte, der – außer dem Papst selbst – sich öffentlich und eindeutig gegen den Kommunismus ausgesprochen habe, gaben sich der Pontifex maximus und sein Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli – der spätere Papst Pius XII. – über den menschenverachtenden und kirchenfeindlichen Charakter des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland keinerlei Illusionen hin. In den vierziger Jahren scheint Pius XII. Hitler sogar ausdrücklich als vom «Teufel besessen» betrachtet zu haben. Nach Aussagen des Jesuiten Peter Gumpel, der als Untersuchungsrichter der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungen seit Jahren die Erhebung Pius’ XII. zu den Ehren der Altäre betreibt, habe der Papst per «Fernexorzismus» mehrfach versucht, eine Teufelsaustreibung bei Hitler vorzunehmen und diesen so – allerdings ohne Erfolg – «vom Satan zu befreien».[15] Der Pakt mit Hitler war für die Kurie im Grunde ein Akt katholischer Vorwärtsverteidigung im Hinblick auf die schlimmen Zeiten, die man in Rom auf die Kirche unter nationalsozialistischer Herrschaft zukommen sah. Mit dem Reichskonkordat wollte man einen hohen Wall errichten, hinter dem die katholische Kirche ihrer von Gott übertragenen totalen Verantwortung für das ewige Seelenheil der ihr anvertrauten Gläubigen gegen den Absolutheitsanspruch des Nationalsozialismus und seiner Weltanschauung wenigstens halbwegs gerecht werden konnte.
Diese Rechnung scheint in seelsorgerlicher Hinsicht aufgegangen zu sein. Tatsächlich blieb die katholische Kirche die einzige Institution im «Dritten Reich», die sich der Gleichschaltung weitgehend erfolgreich entziehen und eine Eigenständigkeit ihrer Liturgie und Verkündigung erhalten konnte. Anders als bei der evangelischen Kirche, in der die Deutschen Christen als nationalsozialistischer Brückenkopf installiert werden konnten, gelang es den «braunen Truppen» nicht, in nennenswertem Umfang in den Innenraum der katholischen Kirche vorzudringen. Das Reichskonkordat verhinderte in Deutschland ein neues Seelsorge-Desaster, wie es während des Kulturkampfs der siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts geherrscht hatte, als tausende Pfarreien und zahlreiche Bischofsstühle wegen des kirchenpolitischen Konflikts zwischen der katholischen Kirche und dem neuen deutschen Nationalstaat Otto von Bismarcks nicht besetzt werden konnten und daher zahllosen Gläubigen die Tröstungen der Heiligen Sakramente vorenthalten blieben. Damals waren Taufen, Firmungen, Eheschließungen und die Feier der heiligen Eucharistie in der Messe vielfach nicht möglich. Selbst die Sterbesakramente konnten oft nicht gespendet werden, so daß Katholiken ohne Beichte und Sündenvergebung, ohne seelsorgerlichen Beistand und Letzte Ölung vor Gottes Angesicht treten mußten.
Aber war der Preis für diese seelsorgerliche Selbstbehauptung der katholischen Kirche während des «Dritten Reichs» nicht viel zu hoch? Hatte der Papst mit seiner Konzentration auf das ewige Seelenheil der Katholiken nicht das zeitliche Wohlergehen aller Menschen vergessen? Wie kamen der Papst und seine engsten Mitarbeiter mit dem doppelten Anspruch zurecht, als oberste Hirten die ihnen anvertraute Herde durch finstere Schluchten zu sicheren Weideplätzen ans Wasser des Lebens zu führen und gleichzeitig Anwalt aller Menschen als Ebenbilder Gottes sein zu müssen? Wie sahen Pius XI. und sein Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli die Entwicklung in Deutschland? Wie beurteilten sie die politischen Konstellationen in der Weimarer Republik? Wie nahm man den Aufstieg der Nationalsozialisten wahr? Hatte sich die Kurie auf Hitler und sein totalitäres Regime ausreichend vorbereitet? Glaubte man mit dem Nationalsozialismus nach dem Modell des italienischen Faschismus, mit dem man 1929 in den Lateranverträgen zu einer Verständigung gekommen war, umgehen zu können? Unterschätzte man aufgrund der «guten» Erfahrung mit dem Diktator Mussolini den Diktator Hitler? War der «Pakt mit dem Teufel», dem die Sorge um das Seelenheil der Gläubigen als oberstes Prinzip zugrunde lag, letztlich verantwortlich für das «Schweigen» Roms zur Verfolgung und systematischen Ermordung von Millionen von Juden durch die Nationalsozialisten? Gingen gar traditioneller kirchlicher Antijudaismus und moderner Rassenantisemitismus – zumindest indirekt – eine unheilige Allianz ein? Oder wollte Pius XI. den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, indem er mit den «braunen» Machthabern in Berlin einen Vertrag schloß, um ein Bollwerk zum Schutz Europas vor dem russischen Kommunismus zu errichten? Und spezieller: Was bedeuten die deutschen Erfahrungen des Kardinalstaatssekretärs Eugenio Pacelli, der nicht weniger als zwölf Jahre in der entscheidenden Phase von 1917 bis 1929 als Nuntius in München und Berlin tätig war, für seine Einschätzung der Situation im Reich und für die vatikanische Deutschlandpolitik? Welche personellen Netzwerke hat er in seiner Zeit in Deutschland geknüpft? Lassen sich bestimmte Handlungsmuster des späteren Pius XII. gar auf deutsche Erfahrungen zurückführen? Hängt vielleicht sogar sein viel diskutiertes «Schweigen» zum Holocaust damit zusammen?
Diese und zahlreiche andere Fragen konnten bislang nur unzureichend beantwortet werden, weil die Forschung nicht hinter die Mauern des Vatikans blicken konnte. Zwar ermöglichten die öffentlichen und veröffentlichten Äußerungen und Handlungen von Papst und Kurie entscheidende Einsichten, und in zahlreichen staatlichen Archiven und Privatnachlässen tauchte äußerst interessantes Material auf. Aber die römische Zentralüberlieferung mit den Berichten der Nuntien, den Beratungsprotokollen der verschiedenen kurialen Kongregationen als vatikanischen Ministerien, die Akten des Heiligen Offiziums als oberster Glaubensbehörde, die Beratungen zwischen Kardinalstaatssekretär und Papst waren für diesen Zeitraum bislang verschlossen. Über die internen Diskussionen der Kurie konnte man daher nur spekulieren. Das Vatikanische Geheimarchiv schien seinem Namen wieder einmal alle Ehre machen zu wollen.
Sollte letztlich Dan Brown also doch recht haben, der in seinem Thriller Illuminati beschrieb, wie es im Geheimarchiv aussieht und wer reinkommt und wer nicht?[16] «Das Archivio Vaticano. Einer von Robert Langdons Lebensträumen wurde wahr. … Langdon kannte keinen einzigen amerikanischen nichtkatholischen Gelehrten, dem Zutritt zu den Vatikanischen Geheimarchiven gewährt worden wäre. … Das Bild, das er sich im Lauf der Jahre von diesem Raum gemacht hatte, hätte unzutreffender nicht sein können. Langdon hatte sich staubige Bücherregale vorgestellt, die von alten, zerfledderten Folianten überquollen, Priester, die bei Kerzenlicht die Bestände katalogisierten, Bleiglasfenster und Mönche mit Federkielen über Schriftrollen … was nicht einmal annähernd der Wirklichkeit entsprach. Auf den ersten Blick erschien der Raum wie ein dunkler Flugzeughangar, in dem jemand ein Dutzend frei stehender Racquetballfelder mit gläsernen Wänden gebaut hatte. … Es waren Büchertresore, hermetisch gegen Feuchtigkeit und Wärme isoliert, luftdichte Kammern, die verhindern sollten, daß das alte Papier und Pergament noch weiter zerfiel.» Sie zu betreten, ist bei Dan Brown wegen des dort herrschenden Unterdrucks und des geringen Sauerstoffgehalts lebensgefährlich, wenn nicht von außen ein «fremder Bibliothekar die Sauerstoffzufuhr regulierte».
Dan Brown baut hier die perfekte Kulisse für einen spannenden Thriller. Nur leider muß man sagen: Das Bild, das sich Dan Brown vom Vatikanischen Geheimarchiv gemacht hat, könnte unzutreffender nicht sein. Die Szenerie ist nicht einmal gut erfunden. Das einzige, was stimmt, ist, daß für den Historiker, der in dieser einmaligen Sammlung arbeiten darf, tatsächlich ein Lebenstraum in Erfüllung geht. Das Vatikanische Geheimarchiv ähnelt einem Flugzeughangar jedoch so wenig wie einer gotischen Krypta. In den meisten Räumen stehen ganz normale, aber schier endlose Aktenregale, insgesamt über fünfundachtzig Kilometer. Der Zugang zum Vatikanischen Geheimarchiv wird keineswegs nur papsttreuen Katholiken erlaubt. Im Gegenteil: Das Taufbuch spielt dabei überhaupt keine Rolle. Ausschlaggebend ist allein der Nachweis wissenschaftlichen Könnens. Wer das Empfehlungsschreiben einer Universität oder einer anderen Forschungseinrichtung in der Tasche hat, wer Erfahrungen mit der Recherche in großen Archiven vorweisen kann, wer gute Kenntnisse in Latein und Italienisch hat und im Entziffern alter Handschriften geübt ist, bekommt uneingeschränkten Zutritt.
Daß die Vatikanischen Archive «geheim» sind, bedeutet nicht, daß etwas verborgen und vertuscht werden soll. Der Ausdruck «geheim» ist vielmehr im Sinne von «privat» zu verstehen. Das «Archivio Segreto Vaticano» ist kein öffentliches Archiv im gewöhnlichen Sinne, sondern das Archiv eines Souveräns, des Papstes, der deshalb auch das volle und alleinige Verfügungsrecht über alle Bestände hat. Ursprünglich hatte das Geheimarchiv einzig die Aufgabe, den Päpsten und der Kurie als Verwaltungsregistratur zu dienen. Solche Geheimarchive waren in Europa gang und gäbe, als Beispiele zu nennen sind hier etwa das «Preußische Geheime Staatsarchiv» in Berlin oder das «Geheime Hausarchiv» der Wittelsbacher in München.
Wer in die Vatikanischen Archive möchte, muß also keinen Taufschein vorlegen – aber zumindest beim ersten Besuch ein Tagesvisum, schließlich ist die Vatikanstadt ein unabhängiger Staat. Und zu jedem Archivbesuch muß man von der Republik Italien in die Città del Vaticano einreisen und einen Grenzübertritt hinter sich bringen. Dieses Visum erhält man nach dem Ausfüllen eines Formulars, wenn man den Schweizer Gardisten sein Anliegen schildert, die den einzigen offiziellen Grenzübergang zwischen Italien und dem Vatikan bewachen, die rechts vom Petersplatz gelegene Porta Santa Anna. Der Weg zum Archiv, die Via del Belvedere, führt vorbei an den turmhohen Mauern des Vatikanischen Palastes. Vatikanischer Supermarkt, vatikanische Post und die Bank des Vatikans in ihrem runden Turm bleiben rechts und links des Weges liegen. Durch eine weite Einfahrt gelangt man in einen der Innenhöfe des Gebäudekomplexes, der neben den Vatikanischen Museen auch die Vatikanische Bibliothek umfaßt. Der Eingang zum Archiv liegt auf der rechten Seite dieses Innenhofs, des Cortile del Belvedere. Um Punkt halb neun am Morgen beginnt der stets freundliche Mitarbeiter hinter der Rezeptionstheke, die Tessere der Wissenschaftler einzusammeln und im Gegenzug Schließfachschlüssel zu verteilen. Die Tessera, den Benutzerausweis, stellt nebenan ein anderer Mitarbeiter aus. Wer zum ersten Mal im Vatikanischen Geheimarchiv, das zur Zeit unter der Leitung des ausgewiesenen Archivars und Historikers Bischof Sergio Pagano steht, forschen will, muß ihm das Empfehlungsschreiben vorlegen, einige Angaben zur Person und zu seinen Forschungsgegenständen machen und sich für die Tessera digital fotografieren lassen. Das war es dann aber auch.
Der modern ausgestattete Lesesaal befindet sich im dritten Stock, er bietet Sitzplätze für etwa siebzig Forscher, von denen die meisten immer ihren Laptop dabei haben. Zwar wird um angemessene Kleidung gebeten, aber gerade die jüngeren Historiker tragen manchmal auch Turnschuhe und Jeans zum Sakko. Durch große Fenster und eine stets nur angelehnte Tür fällt der Blick auf einen grünen Hinterhof, den Cortile della Pigna, der auf derselben Geländehöhe wie der Lesesaal im dritten Stock liegt – hier merkt man, daß der Vatikan ein Hügel ist. In diesem Hof plätschert ein kleiner Brunnen; die freundlichen Mitarbeiter einer kleinen Cafeteria servieren einen erstklassigen Cappuccino und verkaufen belegte Sandwiches. Für den phantasievoll mordenden Mönch aus Dan Browns Thriller wäre das vermutlich ein wenig inspirierendes Umfeld. Hier treffen sich Historiker aus aller Welt zum Erfahrungsaustausch. Manches Forschungsprojekt und internationale Symposion wurde hier schon geplant.
Der Lesesaal des Vatikanischen Geheimarchivs in seiner alten Bestuhlung. Heute finden sich moderne Schreibtischstühle, Leselampen und Steckdosen an jedem Platz. Die Lesepulte sind jedoch geblieben, auf sie sind die Archivalien zu legen. Hinten im Lesesaal führt eine Tür direkt zur Vatikanischen Bibliothek.
Seriöse Wissenschaftler glauben selbstredend auch nicht daran, daß die katholische Kirche hinter den hohen Mauern des Vatikans den Heiligen Gral oder sonstige Geheimnisse versteckt, die den Bestand der Kirche gefährden könnten. Mystische Verschwörungstheorien und Schauermärchen sind Sache der Romanautoren, nicht der Historiker. Und doch argwöhnen auch einige Geschichtswissenschaftler, daß der Vatikan ihnen durch seine Archivpolitik unliebsames Material vorenthalten könne oder es zumindest am nötigen Interesse für die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit mangeln lasse. Konkret kritisieren sie die Praxis des Vatikans, zwar immer alle Akten aus der gesamten Regierungszeit eines Papstes gleichzeitig zugänglich zu machen, dabei aber keinem festen Zeitplan zu folgen. Es werden also nicht wie etwa in deutschen Staatsarchiven bestimmte Aktentypen wie Personalakten oder Sachakten nach bestimmten Fristen benutzbar, die allgemein bekannt sind. Vielmehr liegt die Entscheidung über die Öffnung bestimmter Bestände allein in der souveränen Entscheidung des jeweiligen Papstes. So wurden etwa zuletzt zu Beginn der neunziger Jahre auf Weisung Johannes Pauls II. (1978–2005) die Akten Benedikts XV. einsehbar, der von 1914 bis 1922 auf dem Stuhl Petri saß. Es folgte 1998 im Vorfeld des Heiligen Jahres 2000 und des päpstlichen Schuldbekenntnisses die von vielen als Sensation bewertete Öffnung der Archive der «Heiligen Römischen und Universalen Inquisition» sowie der Indexkongregation, die als die geheimsten Kirchenarchive überhaupt galten. Diese Bestände befinden sich jedoch nicht im Vatikanischen Geheimarchiv, sondern in der Obhut der Kongregation für die Glaubenslehre, im Palazzo del Sant’Uffizio links vom Petersplatz.
Die Tatsache, daß die vatikanischen Akten aus der Zeit des Nationalsozialismus nicht zugänglich waren, führte zu wilden Spekulationen. Besonders hitzig wurde gestritten, als das bis heute andauernde Seligsprechungsverfahren von Pius XII. aufgenommen wurde, der von 1939 bis 1958 Papst war und zu den umstrittensten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts zählt. Für die einen war er «Hitlers Papst» (John Cornwell), für die anderen der «größte jemals lebende Wohltäter des jüdischen Volkes» (Pinchas Lapide). War Pius XII. tatsächlich, wie ihm viele vorwerfen, «der Papst, der zum Holocaust schwieg»? Hegte er vielleicht insgeheim Sympathien für den Nationalsozialismus? War er vielleicht sogar Antisemit? Um solche Fragen zu klären, wurde 1999 von Papst Johannes Paul II. eine Historikerkommission ins Leben gerufen, der drei katholische und drei jüdische Wissenschaftler angehörten. Ihre Aufgabe sollte es eigentlich sein, die umfangreichen, auf Weisung Pauls VI. (1963–1978) bereits veröffentlichten vatikanischen Akten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs durchzuarbeiten und mit Blick auf die Rolle Pius’ XII. neu zu bewerten. Doch die meisten Mitglieder der Kommission gaben sich damit nicht zufrieden, sondern forderten einen ungehinderten und unbegrenzten Zugang zum Vatikanischen Geheimarchiv. Dieser wurde ihnen verweigert mit der Begründung, daß die Bestände noch nicht archivarisch aufbereitet seien. Denn bevor die Akten zugänglich werden, müssen die Blätter gebündelt, inventarisiert, paginiert und gestempelt werden. Es kam zum Zerwürfnis, die Kommission löste sich auf.
Nicht zuletzt die daraufhin einsetzende heftige Kritik bewog Papst Johannes Paul II. dazu, von der üblichen vatikanischen Archivpolitik abzuweichen. Im Jahr 2003 wurden im Vatikanischen Geheimarchiv vier Serien aus der Regierungszeit Pius’ XI., also aus den Jahren von 1922 bis 1939, gesondert zugänglich gemacht. Es handelte sich dabei zum einen um die Archive der Nuntiaturen, der diplomatischen Vertretungen des Vatikans in München und Berlin, die nach Rom überführt worden waren. Zum anderen wurde die vatikanische Gegenüberlieferung zu diesen deutschen Beständen in den Archiven des Päpstlichen Staatssekretariats beziehungsweise der Kongregation für die Außerordentlichen Kirchlichen Angelegenheiten einsehbar, den vatikanischen Schaltstellen für die politischen Beziehungen zu den Staaten in aller Welt. Sie tragen die sprechenden Titel «Baviera» und «Germania». Damit waren die Nuntiaturberichte aus Deutschland und die Weisungen an die Nuntien in Deutschland für die Zeit bis 1939 erstmals zugänglich.
Diese Quellen sind besonders in bezug auf die Person von Eugenio Pacelli interessant. Während seiner Zeit in Deutschland schrieb er Tag für Tag oder sogar mehrmals täglich nach Rom; fast fünftausend detaillierte Berichte sind bislang im Vatikanischen Geheimarchiv aufgefunden worden. Dazu kommt, daß Pacelli nach seinem Weggang aus Deutschland, 1930, von Pius XI. zum Kardinalstaatssekretär ernannt wurde. Jetzt war er der vatikanische Empfänger der Berichte seines Nachfolgers, Cesare Orsenigo (1873–1946). Jetzt analysierte er mit dem Papst die Situation in Deutschland und zog daraus Schlüsse für seine Politik. Diese knapp tausend archivalischen Einheiten stellen für die Kenntnis der vatikanischen Sicht auf Deutschland bereits einen Quantensprung dar, auch wenn die Erschließungsarbeit der Quellen erst am Anfang steht. Die internen Diskussionen der Kurie, die Sitzungsprotokolle der verschiedenen Kongregationen, die Unterredungen des Papstes mit seinem Kardinalstaatssekretär, die Aufzeichnungen über die Audienzen der beim Heiligen Stuhl akkreditierten Botschafter lagen jedoch genausowenig vor wie die Berichte der Nuntien aus der ganzen Welt und die römischen Weisungen an sie sowie die entsprechenden Nuntiaturarchive. Diese braucht man aber, um Licht in den römischen Informationsstand zu bestimmten Fragen und vor allem die internen römischen Meinungsbildungsprozesse bringen zu können. Im Februar 2006 machte Papst Benedikt XVI. deshalb alle Akten des Vatikanischen Geheimarchivs aus dem Pontifikat Pius’ XI. vom 6. Februar 1922, dem Tag der Wahl Achille Rattis zum Papst, bis zum 10. Februar 1939, dessen Todestag, der Forschung zugänglich. Dabei handelt es sich um die gewaltige Menge von rund hunderttausend archivalischen Einheiten, also Schachteln, Faszikeln, Konvoluten oder Aktenbündeln mit jeweils bis zu tausend Blatt Umfang.
Die im Vatikanischen Geheimarchiv 2003 und 2006 neu zugänglich gewordenen Quellen bieten, wenn sie einmal erschlossen und ausgewertet sein werden, die einmalige Möglichkeit, die Konfrontation der mit absolutem Wahrheitsanspruch auftretenden katholischen Kirche mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts aus der Sicht der Kurie zu rekonstruieren. Für den Bolschewismus der Sowjetunion, den Faschismus Italiens, den Franquismus Spaniens, den Antiklerikalismus in Mexiko, den Austro-Faschismus und den österreichischen Ständestaat und nicht zuletzt den Nationalsozialismus in Deutschland liegen umfangreiche Bestände vor. Diese Akten aus verschiedenen Länderserien des Staatssekretariats beziehungsweise der Kongregation für die Außerordentlichen Kirchlichen Angelegenheiten und aus den verschiedenen Nuntiaturarchiven sind alle ins Vatikanische Geheimarchiv überführt worden.
Auch die internen Akten des Staatssekretariats, die Unterredungen des Kardinalstaatssekretärs mit den beim Heiligen Stuhl akkreditierten Botschaftern und nicht zuletzt die Notizen Pacellis über seine fast täglichen Audienzen bei Pius XI. enthalten äußerst interessante Informationen. Dazu kommen die Überlieferungen der unterschiedlichen Kongregationen und vor allem auch des Heiligen Offiziums als der obersten römischen Glaubensbehörde.
Eine umfassende Analyse der geradezu endzeitlichen Konfrontation des totalitarismo der Kirche mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts kann nur in einer internationalen historischen Zusammenschau Erfolg haben. Dafür ist es so kurz nach der Archivöffnung von 2006 angesichts der immensen Aktenmassen noch zu früh. Zudem sind noch nicht einmal alle Akten, die Deutschland und den Nationalsozialismus betreffen, gehoben, geschweige denn ausgewertet, obwohl sie bereits 2003 zugänglich wurden. Immerhin sind hier aber erste Aussagen auf sicherer Quellengrundlage möglich. Darüber hinaus ist eine Reihe französischer, italienischer und deutschsprachiger Arbeiten, die auf der Basis der neuen vatikanischen Quellen erschienen sind, hilfreich für dieses Buch gewesen. Hier sind an erster Stelle die Studien von Thomas Brechenmacher zu nennen, der eine Internet-Edition der Nuntiaturberichte Cesare Orsenigos aus Berlin in den Jahren 1930 bis 1939 vorbereitet. Neben den Werken von Gerhard Besier, Giovanni Sale, Andrea Tornielli und Matteo Napolitano sei besonders auf zwei Biographien verwiesen: Emma Fattorinis Pio XI, Hitler e Mussolini, in der bereits einige der erst seit 2006 konsultierbaren Bestände verarbeitet sind, sowie das bereits 2003 erschienene große Lebensbild Pius’ XII. aus der Feder von Philippe Chenaux. Auf eine ausdrückliche Diskussion der verschiedenen Positionen wird jedoch bewußt verzichtet.
Eine Geschichte des Verhältnisses zwischen dem Vatikan und Deutschland in der Zeit von 1917 bis 1945, die alle Aspekte berücksichtigt, läßt sich auf der Basis der zugänglichen Quellen und der bislang vorliegenden Forschungsliteratur jedoch nicht schreiben. Einerseits fehlen die Archivbestände zu den entscheidenden Jahren des Zweiten Weltkriegs noch völlig, weil diese ganz in den Pontifikat Pius’ XII. fallen. Wann diese Akten von Rom zugänglich gemacht werden, ist derzeit nicht abzusehen. Andererseits erlauben die vatikanischen Quellen zumeist nur eine Rekonstruktion des «view from Rome» (David G. Schultenover) auf Deutschland und die deutsche Situation. Es geht in ihnen um die römische Perspektive, um den Blick des Papstes, des Kardinalstaatssekretärs, des Nuntius in Berlin und München auf Deutschland und den Nationalsozialismus. Die neuen Quellen zeigen so vor allem die vatikanische Einschätzung der Vorgänge im Reich, sie dokumentieren aber auch die kurieninternen Diskussionen um eine angemessene Reaktion der Kirche auf deutsche Herausforderungen. Dieser Blick von Rom auf Deutschland und nach Rom hinter die hohen Mauern des Vatikans, wo über deutsche Angelegenheiten diskutiert wurde, ist deshalb auch die bestimmende Perspektive dieses Buches.