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Carsten Burhop/Michael Kißener/
Hermann Schäfer/Joachim Scholtyseck

Merck

Von der Apotheke zum Weltkonzern

C.H.Beck

Zum Buch

Merck ist das älteste pharmazeutisch-chemische Unternehmen der Welt. Es entwickelte sich aus einer Darmstädter Apotheke, für die Friedrich Jacob Merck 1668 das Privileg erhielt, zum Weltkonzern. Seine 350jährige Geschichte erzählt dieses Buch erstmals in ihrer Gesamtheit und auf der Grundlage aller verfügbaren Quellen sowie der neuesten unternehmensgeschichtlichen Forschung.

Lange Zeit galten Firmen im Familienbesitz als Auslaufmodell. Die Zukunft schien der Kapitalgesellschaft mit einer anonymen Aktionärsstruktur zu gehören. Doch es gibt zahlreiche erfolgreiche Gegenbeispiele, etwa Bosch, C&A und Bertelsmann. Dazu gehört auch Merck. Wie gelang es der Familie, das Unternehmen über 13 Generationen über all die politischen Umbrüche und historischen Krisen in ihrem Besitz zu halten und es zu einem global führenden Wissenschafts- und Technologieunternehmen zu machen? Unter dieser Leitfrage erzählen vier ausgewiesene Historiker die faszinierende Geschichte der Firma Merck zwischen 1668 und 2018 und betten sie ein in den wechselvollen Verlauf der Weltgeschichte.

Über die Autoren

Carsten Burhop ist Professor für Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Michael Kißener ist Professor für Zeitgeschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.

Hermann Schäfer ist Professor an der Universität Freiburg und Gründungspräsident des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn.

Joachim Scholtyseck ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Inhalt

Einleitung

Quellen

Das Merck-Archiv

Weitere Archive

Literatur

I.: Ursprünge und Ausgangslagen
eines chemisch-pharmazeutischen Unternehmens (von Michael Kißener unter Mitarbeit von Ludolf Pelizaeus und Frank Kleinehagenbrock)

1. Anfänge

1.1 Herkunft der Familie

1.2. Der erste Merck-Apotheker in Darmstadt:
Jacob Friedrich Merck (1621–1678)

1.3 Der Neffe als Nachfolger: Georg Friedrich Merck (1647–1715) und die Fortführung der Darmstädter Apotheke

1.4. Die Etablierung von Apotheke und Familie in Darmstadt: Johann Franz Merck (1687–1741)

1.5. Vormundschaft und Verwaltung: Elisabeth Catharina Merck, geb. Kayser (1706–1786)

2. 1758–1805: Pharmazie und Geldverleih:
Die Säulen des Merck-Geschäfts im Zeitalter der Aufklärung

2.1. Die Familie Merck als Kreditgeber

2.2. Geistig-kulturelle und gesellschaftliche Einflüsse: Die Rolle Johann Heinrich Mercks

2.3. Ein neuer Apothekertypus:
Johann Anton Merck (1756–1805)

3. 1805–1827: Der Aufbruch in die Moderne: Emanuel Merck und die «Sattelzeit» der Merckschen Apotheke

3.1. Die Familie Merck und die Apotheke an der Wende zum 19. Jahrhundert

3.2. Emanuel Merck

3.3. Apotheke und Darmstädter Gesellschaft

3.4. Neue Geschäftsfelder

3.5. Der Wissenschaftler Emanuel Merck

II.: Im Bann der Industrialisierung
(1827–1914) (Von Hermann SchäferUnter Mitarbeit von Tania Rusca, Nina Schnutz und Wolfgang Treue)

1. 1827–1850er-Jahre: Von der Apotheke zur Fabrik

1.1. In drei Schritten zum Industriebetrieb

1.2. Das wissenschaftliche Netzwerk und der Ausbau der industriellen Fabrikation

1.3. Nebentätigkeiten, Diversifizierung und Investments

1.4. Sozial-patriarchalische Aspekte, Familienzusammenhalt und politische Hintergründe

2. 1850er- bis 1880/90er-Jahre:
Sozietät, langsamer Ausbau, erste Probleme

2.1. Gründung der Sozietät E. Merck

2.2. Wirtschaftlich-politische Hintergründe, Tod Emanuel Mercks, Traditionsorientierung

2.3. Die Apotheke, das «Haus», der Drei-Fabriken-Betrieb – Organisations- und Strukturprobleme

2.4. Soziale Entwicklung und Umweltfragen

3. 1880/90er-Jahre bis 1914: Konflikte, Modernisierung, Paternalismus, Expansion

3.1. Die industrielle Enkelgeneration – ein Gesellschaftsvertrag (1888)

3.2. Modernisierungsdruck und Gewinnrückgang

3.3. Familienkonflikte und Erneuerung des Gesellschaftsvertrags (1899)

3.4. Modernisierungen, der Bau der neuen Fabrik
und Expansion

3.5. Regulierungskämpfe auf dem Pharmamarkt, Forschung und Entwicklung

a) Marktabsprachen und zunehmende Konzentration

b) Die Interessengemeinschaft (IG) –
Gründung, Ziele und Bedeutung

c) Forschung und Entwicklung

3.6. Fabrikordnung, soziale Fragen, Paternalismus und Gewerkschaften

3.7. Nationale und internationale Expansion

III.: Im Zeitalter der Weltkriege (1914–1948) (Von Joachim ScholtyseckUnter Mitarbeit von Patrick Bormann)

1. 1914–1923: Das Familienunternehmen
in der Krise

1.1. Allgemeine Entwicklung

1.2. Der Verlust von Merck & Co.

1.3. Konkurrenzen und Kooperationen

1.4. Marketing

1.5. Belegschaft und Unternehmenskultur

1.6. Merck in der Ernährungs- und Landwirtschaftsindustrie

2. 1924–1935: Wirtschaftliche Konsolidierung

2.1. Allgemeine Entwicklung

2.2. Auslandsgeschäft

2.3. Wirtschaft und Politik –
Die Mercks im «Dritten Reich»

2.4. Forschung

2.5. Vitamine

3. 1933–1948: Forschungsstagnation
und Rüstungsgeschäfte

3.1. Allgemeine Entwicklung

3.2. Antisemitismus und «Judenfrage»

3.3. Zwangsarbeit

3.4. Die Palastrevolution des Jahres 1942

3.5. Wasserstoffperoxid: Vom Desinfektionsmittel
zum Raketentreibstoff

3.6. Niedergang, Kriegsende, Entnazifizierung
und Neuanfang

IV.: Vom Wirtschaftswunder zum Global Player(1948–2018) (Von Carsten Burhop Unter Mitarbeit von Andreas Jüngling)

1. Wiederaufbau im Wirtschaftswunder

1.1. Im Wirtschaftswunderland

1.2. Merck 1948

1.3. Unternehmensverfassung, Unternehmensorganisation und die Familie

1.4. Die Belegschaft in der Zeit des Wirtschaftswunders

1.5. Die Produkte zwischen Kostendruck
und Überalterung

1.6. Die Forschung im Wiederaufbau

1.7. Die Rückkehr auf den Weltmarkt

2. Die Ära Langmann

2.1. Zwischen Stagflation und Europäisierung

2.2. Neujustierung von Unternehmensverfassung
und Organisation

2.3. Die Belegschaft

2.4. Forschung und Entwicklung

2.5. Der langsame Abschied von der Massenware

2.6. Auf dem Weg zum globalen Unternehmen

2.7. Akquisitionen als Wachstumsstrategien

2.8. Verkauf und Werbung

2.9. Der Schutz der Umwelt

3. Eine Unternehmensgeschichte
der Gegenwart

Schlussbetrachtung

Nachwort und Dank

ANHANG

Anmerkungen

Einleitung

I. Ursprünge und Ausgangslagen
eines chemisch-pharmazeutischen Unternehmens

1. Anfänge

2. 1758–1805: Pharmazie und Geldverleih: Die Säulen des Merck-Geschäfts im Zeitalter der Aufklärung

3. 1805–1827: Der Aufbruch in die Moderne: Emanuel Merck und die «Sattelzeit» der Merckschen Apotheke

II. Im Bann der Industrialisierung (1827–1914)

1. 1827–1850er-Jahre: Von der Apotheke zur Fabrik

2. 1850er- bis 1880/90er-Jahre: Sozietät, langsamer Ausbau, erste Probleme

3. 1880/90er-Jahre bis 1914: Konflikte, Modernisierung, Paternalismus, Expansion

III. Im Zeitalter der Weltkriege (1914–1948)

1. 1914–1923 – Das Familienunternehmen in der Krise

2. 1924–1935: Wirtschaftliche Konsolidierung

3. 1933–1948: Forschungsstagnation und Rüstungsgeschäfte

IV. Vom Wirtschaftswunder zum Global Player: Merck (1948–2018)

1. Wiederaufbau im Wirtschaftswunder

2. Die Ära Langmann

3. Eine Unternehmensgeschichte der Gegenwart

Stammbäume

Abkürzungsverzeichnis

Archivverzeichnis

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Personenverzeichnis

Firmenverzeichnis

Einleitung

Auf eine 350-jährige Tradition können sich die wenigsten Unternehmen berufen. Die Keimzelle der pharmazeutisch-chemischen Firma Merck liegt in einer 1668 erworbenen, eher unscheinbaren Apotheke in Darmstadt. Sie ist der Ursprung des industriellen Unternehmens in der 1827 artikulierten Vision des Apothekers Emanuel Merck. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts lassen sich die Konturen eines Familienunternehmens klar erkennen, das schon früh internationale Bedeutung erlangte und heute, allen Herausforderungen und Krisen zum Trotz, zu den Global Playern zählt. Wenn Merck sich als das älteste pharmazeutisch-chemische Unternehmen der Welt bezeichnet und sich dies im Jahr 2003 sogar von der Académie Internationale d’Histoire de la Pharmacie bestätigen ließ, zeugt dies davon, wie sehr sich die Firma über ihre Geschichte definiert. Und weil der Name Merck eine traditionsreiche Marke bezeichnet, deren Bedeutung sich auch aus ihrer Geschichte erklärt, hat die Frage nach Alter, Herkunft und Tradition maßgebliches Identifikations- und Orientierungspotenzial.[1] Nicht nur wegen ihres langen Bestehens, sondern auch nach Eigentümerstruktur sowie Unternehmenskultur und -verfassung zählt Merck zu den besonders traditionsbewussten Firmen. Die Bewahrung familiärer Vermögensressourcen war in allen Epochen ebenso wichtig wie die Weitergabe fachlichen Wissens und unternehmensethischer Werte.

Wie viel «Familiensinn»[2] war und ist nötig, um ein Unternehmen über inzwischen insgesamt 13 Generationen, einen ebenso spektakulären wie singulären Zeitraum, im Familienbesitz zu halten? Der gefürchtete «Buddenbrooks-Effekt», die Annahme, dass spätestens in der dritten Generation die unternehmerischen Kräfte einer Familie erlahmen, trat bei den Mercks bekanntlich nicht ein.[3] Lange Zeit hat die wirtschafts- und unternehmensgeschichtliche Forschung Familienunternehmen als «eine Art Auslaufmodell» betrachtet.[4] Der Wandel vom paternalistischen Familien- zum Managerunternehmen wurde als fast zwangsläufiger Weg zur Aktiengesellschaft interpretiert. Diese namentlich von Alfred D. Chandler[5] beeinflusste Interpretation ist – so nützlich sie heuristisch bleibt – zu deterministisch.[6] Inzwischen wird eher eine «neue Wertschätzung des familiengebundenen Unternehmens» konstatiert.[7] Die Existenz von Merck über diesen langen Zeitraum widerlegt die immer wieder gerne herangezogene These, Familienunternehmen seien ein anachronistisches Relikt des 19. Jahrhunderts. In den 1920er-Jahren führte der bekannte englische Reeder Sir Walter Runciman geradezu apodiktisch aus: «It is almost a law of nature that a business of any kind rarely passes beyond the third generation of those who founded it.»[8]

Die Frage, wie die entscheidenden Faktoren für die Kontinuität über dreieinhalb Jahrhunderte so erfolgreich bis in das 21. Jahrhundert tradiert werden konnten, dass Merck sich auch in der Gegenwart zu mehr als zwei Drittel in Familienbesitz und zudem in einer wirtschaftlich komfortablen Lage befindet, ist Leitmotiv dieser Untersuchung. Sie kann hier gewissermaßen in einer Langzeitstudie untersucht und zudem vor dem Hintergrund der wechselvollen deutschen Geschichte beantwortet werden. Wenn ein Unternehmen über alle politischen Umbrüche hinweg jahrhundertelang überlebt, prosperiert, der «permanenten Bestandsbedrohung»[9] trotzt und so dem Schicksal gleichsam ein Schnippchen schlägt, spielen nicht nur Können und Beharrlichkeit eine Rolle. Der Weg von Merck war von vielerlei Einflüssen bestimmt, von den handelnden Personen, deren Geschick und Talent, von Schicksalsschlägen ebenso wie von Standortfaktoren, Konkurrenzen und Kooperationen sowie dem immer notwendigen Quentchen Glück. Aber Glück über 350 Jahre hinweg? Weil dieser Weg von Brüchen und Kontinuitäten gekennzeichnet und weder immer geradlinig noch strategisch geplant bzw. planbar war, gibt es auch für die Merck-Geschichte «keinen Königsweg für die Unternehmensgeschichtsschreibung».[10] Die Frage nach der Resilienz, also der «Krisenrobustheit», und danach, warum es Organisationen schaffen, nicht unterzugehen, begleitet die Geschichte von Merck über den gesamten Zeitraum.[11]

In der vorliegenden Untersuchung wird die Merck-Geschichte erstmals in ihrer Gesamtheit über die Dauer ihres Bestehens hinweg wissenschaftlich und auf solider Quellengrundlage dargestellt und analysiert. Dabei bleibt stets die übergeordnete Frage, warum das Unternehmen aus allen Krisen letztlich gestärkt hervorging. Hier gilt es als Erstes, die Familie zu betrachten: Handelte die Familie bewusst anders als andere Unternehmer, die beispielsweise seit dem 19. Jahrhundert ihre Firmen in Aktiengesellschaften umwandelten? Der Blick auf die Rolle der Familie zieht sich wie ein Ariadnefaden durch diese Geschichte, nicht nur hinsichtlich Geschäftspolitik und Gesellschaftsverträgen, sondern auch das unternehmerische Ethos und seine Kultur betreffend. Die Untersuchung ist daher nicht nur Ereignisgeschichte, sondern auch eine Verhaltensgeschichte in einem Zeitraum, der nicht wenige politische und wissenschaftliche Systemzäsuren umfasst.

Der Anspruch, stets bescheiden aufzutreten, vielleicht auch abgeleitet aus protestantischer Ethik, spielte und spielt im Selbstverständnis der Familie eine wichtige Rolle. Seit Ende des 19. Jahrhunderts nahmen aber familienfremde «Manager» eine zunehmend wichtigere Rolle ein. Dies lag zwar im Trend der Zeit, aber trug die familiäre Grundsatzentscheidung zur Beschäftigung von Managern dazu bei, dass es nicht zu einem – theoretisch niemals ausgeschlossenen – Auseinanderfallen des Familienunternehmens kam? Welche Veränderungen durchlebte Merck, und ist die Firma auch heute noch ein Familienunternehmen im klassischen Sinne?

Das heutige Unternehmen Merck hat, trotz manch nostalgischer Reminiszenzen, natürlich nichts mehr mit der Apotheke des Jahres 1668 gemeinsam. Ohne ausreichendes Kapital und Reserven für Krisenzeiten kann kein Unternehmen auf den in der Regel unsicheren und risikobehafteten Märkten überleben. Auf welche Weise hat das Familienunternehmen Merck über 350 Jahre hinweg das Kapital beschafft, gesichert und vermehrt? Diese Fragen stellen sich schon für die Anfangsjahre, zumal Merck stärker als bislang bekannt, bereits in dieser Zeit nicht nur eine erfolgreiche Heiratspolitik verfolgte, sondern neben der Apotheke auch Geld- und Bankgeschäfte betrieb. Auch im 19. Jahrhundert pflegte Emanuel Merck neben der Heiratspolitik nicht nur die kluge, systematische Ausbildung seiner Söhne und Nachfolger; mit seinem ausgeprägten Forscherinstinkt und seinen kaufmännischen Fähigkeiten war er in der Lage, die Chancen der sich industrialisierenden Welt zu nutzen. Lagen diesen Entscheidungen langfristig und bewusst getroffene strategische Überlegungen zugrunde? Warum gelang es den Mercks immer wieder, diejenigen zu finden, die aus der Familie heraus zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle einsprangen – bei der Übergabe von Emanuel Merck an seine Söhne ebenso wie an die Enkel und an die folgenden Generationen? Was war der Antrieb, seit dem 20. Jahrhundert auf Hilfe von außen zu vertrauen und sich dann jeweils in kluger Selbstbeschränkung aus dem operativen Geschäft zurückzuziehen?

Diese Frage erscheint umso wichtiger, als es schließlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch kein Problem mehr darstellte, dass «angeheiratete» Experten genauso wie gebürtige Mercks agieren und an die Unternehmensspitze treten konnten. Mit dem Ausscheiden der letzten Mercks aus der Führungsverantwortung im operativen Geschäft am Ende des 20. Jahrhunderts fand eine wichtige Familientradition ihren Abschluss. Wurde dies in der Familie als eine Zäsur empfunden? In den Akten finden sich immer wieder Hinweise auf die Intensität, mit der sich die Mercks mit der eigenen Familientradition identifizierten. Aber wann setzte diese Reflexion ein, wann begann sich die Familie ihrer Besonderheit bewusst zu werden? Eher spekulativ und auf Aktenbasis nur schwer zu beantworten ist die Frage, ob es schon immer eine Art «Familienkultur» gegeben hat, die historisch so wirksam war, dass die Familie in Krisensituationen rechtzeitig eingriff, um den Untergang ihres Unternehmens zu verhindern.

Weil bei einer ständig wachsenden Familie auch die Ansprüche und Begehrlichkeiten größer wurden und der Verlust des Erworbenen drohte, stellt sich die Frage nach einer langfristigen Geschäftsstrategie. Diese wurde umso nötiger, seit sich die Firma im 19. Jahrhundert von einer Apotheke zu einem Industriebetrieb wandelte und sich mit einer wachsenden Vielfalt neuer Produkte diversifizierte. Wurde diese Entwicklung bewusst betrieben, oder entsprang sie eher pragmatischem Handeln? Welche Rolle spielten Innovationen, gerade in einer Zeit, in der Konkurrenzunternehmen wie Pilze aus dem Boden schossen? Entsprach der Aufbau eines breiten Sortiments an Arzneien und Chemikalien einer bewussten Entscheidung, oder war der Weg zum sprichwörtlichen «Tausendfüßler» mit seiner Vielzahl von Produkten ein Prozess, der heute mit dem Begriff der Kontingenz umschrieben wird, also etwas, das weder zwangsläufig noch unumgänglich war?[12]

Damit ist ein weiterer Themenkreis angesprochen: In dem Maß, wie das Unternehmen Merck zu einem Industriebetrieb wurde, spielte auch die Politik eine immer größere Rolle und beeinflusste die Entwicklung des Familienunternehmens. Unterlag schon die Apotheke des späten 17. Jahrhunderts den Unwägbarkeiten der Politik der Landgrafschaft bzw. des Großherzogtums Hessen, galt dies umso mehr seit dem 19. Jahrhundert für den Einfluss überregionaler historisch-wirtschaftlicher Ereignisse: den Wegfall von Zollgrenzen, die Revolution von 1848/49, die Gründung des Deutschen Reiches 1871 und erst recht die Umwälzungen des 20. Jahrhunderts, Erster Weltkrieg, Inflationszeit, Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg, Teilung Deutschlands, der Zusammenschluss Europas und schließlich die Wiedervereinigung Deutschlands. Hatten die Mercks ein politisches «Credo», und wie veränderte es sich gegebenenfalls? Welche Engagements lassen sich identifizieren, gegenüber dem großherzoglichen Hof der Residenzstadt, an der Wende vom Kaiserreich zur Republik, im «Dritten Reich» und seit 1945 in der Bundesrepublik? Ging es den Mercks darum, eine mögliche Beschränkung ihrer unternehmerischen Freiheit durch äußere Umstände – die Politik – zu verhindern oder doch zu begrenzen? Sah die Familie die Gefahren, die damit verbunden waren, sich auf das Politikfeld zu begeben, das mit zahlreichen Unwägbarkeiten und Risiken versehen war, die nicht im Geschäftsinteresse sein konnten?

Vergleichbare Fragen stellen sich auch auf wirtschaftlichem Gebiet. Wie verhielt sich das Unternehmen Merck gegenüber Kooperationspartnern bzw. Konkurrenten, in der Anfangszeit zunächst gegenüber Apothekern, später gegenüber industriellen Rivalen? Welche Auswahlkriterien gab es für eine Zusammenarbeit? Gab es Überlegungen, im Sinn eines «If you can’t beat them, join them?» den Status eines über lange Zeit nur mittelgroßen Pharma- und Chemieunternehmens auszunutzen? Oder wurden die Entscheidungen für eine Kooperation doch eher sporadisch und pragmatisch getroffen, sodass es wenig sinnvoll ist, eine systematische, langfristige Strategie ausmachen zu wollen? Um hier Klarheit zu schaffen, muss auf die vielfältigen Kooperationen eingegangen werden, die seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmend in Form von Kartellen und «Interessengemeinschaften» gepflegt wurden.

Fragen stellen sich auch hinsichtlich der Produkte, beispielsweise ob der Weg von der Apotheke zur «Großapotheke», von einem industriellen Pharmahersteller zu einem diversifizierten und global agierenden Wissenschafts- und Technologieunternehmen vorgezeichnet war, oder ob nicht erneut Glück und Zufälle eine Rolle spielten. Reicht es aus, den Topos von der «Reinheit der Merck-Produkte» herauszustellen, um den langen Atem des Unternehmens zu erklären?

Die Berufung auf die Qualität der Arzneien, der vielen Traditionsprodukte, Medikamente und Chemikalien ist zwar berechtigt, aber sie kann nicht alles erklären: Dies zeigt allein der Blick auf das Generikageschäft, das einem mehrfachen Wandel unterlag. Hinzu kommt, noch sehr viel bedeutender, dass Merck immer wieder für längere Zeit aufgrund seiner geringen Größe, aber auch durch Versäumnisse keineswegs forschungsstark war und sich diese Expertise von außen zukaufen musste. Joseph A. Schumpeters Modell dynamischer und schöpferischer Unternehmer, die zwar keine neuen Technologien schaffen, das Vorhandene aber weiterentwickeln und innovativ anwenden, erscheint für Merck durchaus anwendbar.[13] Die Frage muss dennoch gestellt werden, warum das Unternehmen trotz einer partiellen Rückständigkeit so erfolgreich sein konnte.

Eine Teilantwort liegt sicherlich in den schon früh erkennbaren Bemühungen zur Internationalisierung: Bereits die Auslandsreisen Johann Anton Mercks (1756–1805) waren keine reinen «Kavaliersreisen», sondern dienten der Ausbildung und dem Anknüpfen von Forschungskontakten, die seit Ende des 18. Jahrhunderts substanziell wurden und bei denen es sich um Vorformen einer «Internationalisierung» handelte. Hierzu zählte auch die schon im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts identifizierbare Schaffung eines Netzwerks von in- und ausländischen Handelsvertretern. Im Zuge der «Verwandlung der Welt» (Jürgen Osterhammel)[14] im 19. Jahrhundert wurde Merck ein zunehmend global handelndes Familienunternehmen, zunächst in Europa, dann vor allem auf dem amerikanischen Kontinent, während Asien erst später folgte. Die verschiedenen Farbenfabriken werden häufig als Vorreiter der Expansion globaler und transnationaler Marktbeziehungen angesehen,[15] aber die Geschichte von Merck lehrt, dass Pharmaunternehmen ihnen in dieser Hinsicht vorangingen.

Im 20. Jahrhundert wurde, nachdem diese Verbindungen in den Weltkriegen jeweils gewaltsam zerschlagen worden waren, das Auslandsnetz auf geradezu atemberaubende Weise rekonstruiert: Hier sind die roten Fäden – und eine Auslandsstrategie – mit Händen zu greifen, obwohl sich die Schwerpunkte auf den Weltmärkten verschoben und beispielsweise die wichtigen Märkte Russland und USA nach dem Ersten Weltkrieg aufgegeben werden mussten. Letztlich muss auch nach den Arbeitsbeziehungen und der Kultur eines Familienunternehmens in der «longue durée» von 350 Jahren gefragt werden, auch wenn es schwerfällt, von der Vormoderne bis in das postindustrielle Zeitalter eine Verbindungslinie zu ziehen.

Die Teilhaber des Familienunternehmens sind nicht mit der Firma gleichzusetzen. Denn die Bedeutung der Unternehmensleitungen wird überschätzt, wenn man strikt an der Vorstellung festhält, es handle sich stets um «rationale Entscheidungsprozesse einer Gruppe weit blickender Männer, die das Richtige zur richtigen Zeit tun».[16] Das Langzeitbeispiel der Merck-Geschichte erlaubt auch eine Antwort auf die durchaus provozierend-skeptisch gemeinte Frage, ob denn die «innerwirtschaftliche Umwelt» überhaupt für «Möglichkeiten des Lernens und Bewährens» hinreichend stabil sei.[17] Die neuere Forschung berücksichtigt dies, indem sie auf einer überindividuellen Analyseebene das jeweilige Unternehmen als einen «quasi autonome[n] Organismus» ansieht, «der wie aus sich selbst heraus zu funktionieren scheint und dessen einziges Ziel und Lebensprinzip (…) offenbar darin besteht, ein unaufhörliches Wachstum zu generieren».[18] Die Perspektive «von oben» wird ergänzt durch den Blick auf die Arbeits- und Lohnstrukturen, die Betriebs- und Sozialpolitik, das Verhältnis zwischen Management, Angestellten und Arbeitern, also die «Mikropolitik im Unternehmen».[19] Der breite Untersuchungszeitraum bietet die Möglichkeit, auch jüngeren Forschungsansätzen der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, sowohl organisations- und institutionsgeschichtlichen Fragestellungen[20] als auch solchen der Unternehmenskultur, nachzugehen.[21]

Dass ein Großunternehmen wie Merck im Zentrum einer Studie steht, ist an und für sich nicht ungewöhnlich. Zahlreiche deutsche Traditionsbetriebe ließen in den letzten zwanzig Jahren ihre Geschichte nicht mehr, wie das lange Zeit üblich war, aus der Binnensicht in einer «Festschrift» darstellen, sondern auf eine breitere Quellenbasis gestützt wissenschaftlich erforschen. Eine fundierte, historisch-kritische Aufarbeitung der Unternehmensgeschichte muss daher immer zugleich manche über Jahrhunderte tradierte «Meistererzählungen» – eine «Erfolgsgeschichte» von einer kleinen Apotheke in einer Residenzstadt zu einem heute weltweit tätigen Unternehmen auf fortwährendem Expansionskurs – anhand der Quellen kritisch überprüfen.

Neben der Unternehmens- und Familiengeschichte in ihrem Wechselverhältnis werden daher die Wirtschafts-, Sozial-, Politik- sowie die Wissenschaftsgeschichte der jeweiligen Perioden in die Untersuchung integriert. Die Entwicklungen in der Medizin, der Pharmazie und der Chemie sind untrennbar mit der Merck-Geschichte verbunden. Allerdings können im vorgegebenen Rahmen bei Weitem nicht alle Aspekte behandelt werden; dies gilt besonders für viele pharmaziegeschichtliche Aspekte. Die Darstellung beruht vor allem auf bislang kaum ausgewerteten Archivquellen, sie berücksichtigt aktuelle historiografische Methoden und Ansätze, ohne jedoch die Merck-Historie in das Prokrustesbett von Theorien einzuspannen. Abstrakte Erklärungsmuster über einen «allgemeinen Wirtschaftsmenschen»[22] helfen nicht weiter, denn sie ermöglichen keine allgemeingültige Aussage darüber, wie sich «individuelle Bewusstseinsoperationen» vollziehen.[23] Unternehmerische Entscheidungsprozesse können zudem nicht allein mit Geschäftsberichten, Bilanzen und statistisch-quantifizierendem Material, geschweige denn ökonometrischen Methoden erschöpfend erklärt werden. Mit anderen Worten: Die Aporien, die auf vielen Seiten der Unternehmensgeschichte auftauchen, lassen sich nicht lediglich durch die Erkundung ökonomischer Eigenlogiken verstehen. Die «empirische Vielfalt und Widersprüchlichkeit gelebten Lebens»[24] lässt sich nicht «herausrechnen». Dennoch ist ein Blick auf diese «innere ökonomische Logik unternehmerischen Handelns» in Gesellschaft wie Politik unabdingbar und verlangt eine Untersuchung der Voraussetzungen und Folgen des Prozesses der «Institutionalisierung» eines modernen Unternehmens wie Merck.[25]

Aus dieser Ausgangslage ergibt sich die Anlage von vier Hauptkapiteln. Im ersten Kapitel zur Frühen Neuzeit wird in Anlehnung an die Familiengeschichte und die Entwicklung der Darmstädter Apotheke das bislang Tradierte zur Frühgeschichte der Firma Merck kritisch geprüft. Hier wird vor allem der Frage nachgegangen, auf welchen Wegen und in welchen Formen in der Vormoderne die Grundlagen geschaffen wurden, auf denen seit dem 19. Jahrhundert die industrielle Entwicklung des Unternehmens Merck erfolgen konnte. Dabei wird in die Betrachtung auch die «Sattelzeit» einbezogen, in der sich durch den gesellschaftlich-politischen Umbruch im Gefolge der Französischen Revolution von 1789 und der Napoleonischen Kriege die Rahmenbedingungen für das wirtschaftliche Handeln in der Landgrafschaft bzw. ab 1806 im Großherzogtum Hessen-Darmstadt wesentlich veränderten. Die Herkunft des Käufers der erst später so genannten Engel-Apotheke, Jacob Friedrich Merck, aus einer bereits vermögenden Familie stammend, die im 17. Jahrhundert zum Kreis der etablierten lutherischen Exulanten in der Reichsstadt Schweinfurt gehörte, wird ebenso beleuchtet wie zahlreiche eher spekulative Überlegungen der älteren Forschung. Die Weiterentwicklung der Apotheke verlief im 18. Jahrhundert unter schwierigen Bedingungen, da infolge des frühen Todes designierter Nachfolger immer wieder Krisensituationen entstanden, die das Familienvermögen gefährdeten. Wie gelang es, trotz aller Brüche in der Generationenfolge, vor allem den bedeutenden Ehefrauen der Verstorbenen, das Vermögen zusammenzuhalten und die Apotheke im Familienbesitz zu bewahren, ja ihre «Marktstellung» in der Residenzstadt Darmstadt sowie ihrer Umgebung zu sichern und auszubauen? Auf drei zentrale Faktoren wird hier eingegangen: Erstens den Umstand, dass die Apotheke als wirtschaftliche Grundlage durch die Anstellung von Provisoren und konsequente Sparsamkeit erhalten werden konnte; zweitens wie – selbst in Krisenzeiten – durch ein geschicktes Heiratsverhalten sowie eine konsequente Vererbungspolitik das Familienvermögen bewahrt und sogar gemehrt wurde; drittens auf welche Weise die «Wohlstandswahrung» durch ein von Anfang an in der Familie betriebenes Kreditgeschäft vorsichtig abwägend weiterbetrieben und ausgebaut wurde. Die Apotheke, das Heiratsverhalten und die Kreditvergabe an Privatleute und «öffentliche» Institutionen wie Kommunen und landgräfliche Kassen verwurzelten die Familie Merck tief in der Region und banden sie eng an die stets hoch verschuldeten Territorialherren. In diesem Zusammenhang wird auch die Bedeutung des durch seine vielseitigen Begabungen bekannten Kriegsrates Johann Heinrich Merck (1741–1791) für die Apotheke und das wirtschaftliche Fortkommen der Familie Merck untersucht werden. Für diesen Literaten, Naturforscher und Goethefreund war die Darmstädter Apotheke sicher kein zentraler Bezugspunkt seines Lebens, doch lassen sich vielfältige Verbindungen zu den verwandten Apothekern, insbesondere zu Johann Anton Merck, nachweisen, die der Apotheke und ihrer Entwicklung zugutekamen. Die Verheiratung seiner Tochter Adelheid mit Johann Anton Merck wurde schließlich zu einer entscheidenden Grundlage für die Fortentwicklung der wirtschaftlichen Basis der Merck-Familie. Auf welche Weise das vorhandene Kapital zusammengeführt wurde und fortan dem gemeinsamen Sohn Emanuel (1794–1855) zur Verfügung stand, wird ebenso zu analysieren sein wie die auf dieser Grundlage ermöglichte solide und moderne naturwissenschaftliche Ausbildung, mit der dieser die Geschicke von Apotheke und Familie in die Hand nahm. Nicht zuletzt ist in diesem Kapitel die Rolle der Merck-Frauen bemerkenswert und besonders herauszuarbeiten.

Allerdings blieb das Innovationspotenzial der Merckschen Apotheke auch unter Johann Anton und Emanuel zunächst noch beschränkt. Warum weitete sich das Geschäft der Apotheke aus, blieb aber zunächst noch sehr dem traditionellen ökonomischen Verhalten und der üblichen Produktpalette einer Apotheke der Frühen Neuzeit verhaftet? Um diese Fragen zu beantworten, soll das Zusammentreffen sowohl «endogener» wie «exogener» Faktoren gedeutet werden, mit deren Hilfe gerade diese Familie und diese Apotheke den Sprung in ein neues Zeitalter und eine neue Dimension wirtschaftlicher Tätigkeit schaffte: Auf der Basis einer jahrhundertelangen soliden Kapitalbewirtschaftung in der Familie, die keine größeren Ausfälle zuließ und das Familienvermögen mit aller Konsequenz zusammenzuhalten und zu vermehren bestrebt war, wurde eine moderne, naturwissenschaftliche Ausbildung des Familiennachwuchses sichergestellt, die im aufkommenden «Zeitalter der Verwissenschaftlichung» Zukunft verhieß. Emanuel hatte von seinem Vater das naturwissenschaftliche Interesse geerbt und bei seinerzeit bedeutenden Lehrern der Pharmazie und Chemie seine wissenschaftliche Kompetenz erworben. Einer von diesen, Johann Bartholomäus Trommsdorff, hatte ihn zudem gelehrt, ökonomisch zu denken, sodass er aus den ersten negativen Erfahrungen in seiner eigenen Familie mit protoindustriellen Fertigungsweisen Lehren ziehen konnte. Aber erst als sich im Gefolge der napoleonischen Umwälzungen und Reformen die gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen langsam auch im 1806 zum Großherzogtum erhobenen Hessen-Darmstadt zu ändern begannen, waren die Voraussetzungen geschaffen, um, ausgestattet mit Kapital, pharmazeutischer Kompetenz und ökonomischem Sachverstand, den Aufbruch in eine neue Zukunft wagen zu können. Was Emanuel in dieser Situation gegenüber anderen auszeichnete, war am Ende sein Mut, es wirklich zu tun.

Das zweite Kapitel behandelt das Unternehmen in der Epoche der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Die allgemein üblichen Periodisierungen dieses Zeitraums sehen die chemische Industrie neben Maschinenbau und elektrotechnischer Industrie als eine der Leitbranchen der dritten Welle der Industrialisierung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Die pharmazeutisch-chemische Industrie hatte ihre Wurzeln aber bereits in der Frühindustrialisierung, als Textil- und Eisenindustrie sowie Bergbau und Eisenbahn die Leitsektoren waren. Was die einschlägige Forschung zwar «Industrialisierungsschübe» der pharmazeutischen Industrie nannte,[26] waren zunächst eher Gründungsimpulse für protoindustrielle Betriebe bzw. Manufakturen, die dann – zum Teil – mit der Einführung der Dampfmaschine allmählich zu Industriebetrieben wurden. Die Entdeckung der Alkaloide brachte einen «Paradigmenwechsel in der Pharmazie» mit sich, weil nun zunehmend chemisch zu definierende Stoffe an die Stelle von pflanzlichen Drogen traten.[27] Diese Entwicklung stand im Hintergrund, als Emanuel Merck die Großherstellung von Alkaloiden begann.

In diesem Kapitel interessiert, ab wann und unter welchen Bedingungen die Mercksche Apotheke zu einem industriellen Unternehmen und ihr Inhaber Emanuel Merck zu einem industriellen Unternehmer wurden. 1827 startete Merck einen «Take-off» in drei Schritten. Er wird mit Blick auf technologische Bedingungen, das pharmazeutisch-chemisch-wissenschaftliche und verfahrenstechnische Know-how sowie die Netzwerke erläutert und findet letztlich seinen organisationslogischen Abschluss in der Gründung der Familiensozietät E. Merck im Jahr 1850. Die Darstellung des Wandels von der Apotheke zum Industriebetrieb bedingt auch einen Blick auf die Mitarbeiter, die mit der Entstehung des industriellen Betriebs aus der Apothekertradition heraus immer wichtiger wurden. Ob und wie sich Unternehmensstrukturen organisch entwickelten, zusammenwirkten und sich veränderten, wie lange beispielsweise der Prinzipal der Apotheke die «Fäden» allein in der Hand hielt, wann und wie er zu delegieren begann, ob und wie sich die staatlich regulierte Preisbildung der Apotheken in die Praxis der Massenfabrikation transferieren ließ, sind weitere für die Markt- und Konkurrenzfähigkeit eines Betriebs wie Merck wesentliche Fragen. Im Vordergrund dieser Phase steht die nachhaltig lenkende und alle Entscheidungen dominierende Persönlichkeit von Emanuel Merck als Apotheker, Wissenschaftler, Netzwerker und industrieller Unternehmer, aber auch als Vater, der durch die Erziehung der Söhne zielstrebig die Grundlagen für eine Erweiterung des Familienunternehmens legte.

Die drei Jahrzehnte der 1850er- bis in die 1880er-Jahre wirken wie eine Übergangsphase. Während die formelle Gründung des Familienunternehmens 1850 eine klare Zäsur vorgibt, lässt sich das Ende dieser Phase – auch infolge der Quellenprobleme für diesen Zeitraum – nicht genauer bestimmen, es bleibt im Jahrzehnt der 1880er-Jahre fließend. Der Tod von Emanuel Merck 1855 hinterließ zwar kein äußerlich erkennbares Vakuum, weil er selbst noch die Weichen für den Bestand der Firma gestellt hatte. Umso mehr muss nach den Ursachen für die seit den 1870er-Jahren offenkundig werdenden wirtschaftlichen, technologischen und organisatorischen Probleme gefragt werden, die eine Stagnation in dieser Übergangsphase mit sich brachten.

Welche Rolle das Netzwerk der Wissensgesellschaft seit der Frühindustrialisierung, die gegenseitige Beeinflussung durch Forschungen und Forscher dabei spielten, ist ebenso wichtig wie die Frage, ob und wie dieses Wissen bei zunehmender Konkurrenz und daraus folgenden Konzentrations- und Kartellierungstendenzen seit Ende des 19. Jahrhunderts gesichert und weiterentwickelt wurde. Das Jahrhundert der vor allem durch die wachsende Verkehrsinfrastruktur beschleunigten «Globalisierung»[28] brachte nicht nur eine – rohstoff- wie absatzbezogene – Ausdehnung der Märkte mit sich, sondern auch Konkurrenz für Merck. Warum aber wurde die Firma, inzwischen als E. Merck firmierend, ein «very early mover» und Global Player, lange bevor die deutsche Industrie auf dem Weltmarkt eine zunehmend wichtigere Rolle zu spielen begann?

Das sukzessive Eintreten der Enkelgeneration von Emanuel Merck seit den 1880er-Jahren und die Einstellung einer neuen Generation pharmazeutisch, chemisch und kaufmännisch geschulter Mitarbeiter bewirkten eine Revitalisierung, die mit einer erheblichen Ausweitung auf die Auslandsmärkte einherging. Aber warum genau waren die beiden Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg von einem starken, seit dem Bau und Bezug der neuen Fabrik 1903/04 sogar rasanten Wachsen des Unternehmens begleitet? Wäre die Expansion, die notwendigerweise die Apothekentradition in den Schatten stellte, ohne die Beteiligung an weitgehenden Marktabsprachen nicht möglich gewesen? Wie veränderte die Ausdehnung die patriarchalische Unternehmenskultur?

Der Aufstieg des Unternehmens Merck wurde erst durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs abrupt unterbrochen, wie im dritten Kapitel deutlich werden soll. Die folgenden drei Jahrzehnte stellen zwar keine Degenerationsgeschichte dar, waren aber durch Dauerkrisen gekennzeichnet. Das alle Kontinente umspannende, im Krieg verloren gegangene Exportgeschäft musste mühsam wiederaufgebaut werden. Was waren die Gründe, dass dies innerhalb nur eines Jahrzehnts erstaunlich gut gelang? Erklärt die Hereinnahme firmen- und branchenfremder Manager in den 1920er-Jahren, warum das Unternehmen schließlich in den späten 1920er-Jahren und auch im «Dritten Reich» Gewinne machte? Warum arrangierte sich die Firma im «Dritten Reich» mit dem NS-Regime, warum beteiligten sich Karl Merck und der von außen in die Firma geholte Bernhard Pfotenhauer sogar an geheimen Rüstungsprojekten? Sollte die Schwächung des Familienunternehmens verhindert werden? Fürchteten die Mercks, gegenüber den mächtigeren Konkurrenten der Chemie- und Pharmabranche zu kurz zu kommen, die sich – wie die I. G. Farben – dem Regime bereits angedient hatten? Die Schilderung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Kriegsgefangenen sowie der Fremd- und Zwangsarbeiter in Darmstadt soll zudem eine Antwort auf die Frage nach den Motiven und Verantwortlichkeiten liefern. Ebenso werden die Strategien der Firma in der letzten Phase des Krieges verfolgt, als es in erster Linie darum ging, den bevorstehenden Untergang des «Dritten Reiches» zu überleben. Das Kriegsende 1945 wiederum bedeutete keineswegs eine «Stunde Null». Daher bieten die juristische Verfolgung der NS-Verbrechen durch die Alliierten und die Entnazifizierung eine Möglichkeit, den Umgang der Mercks mit dem fatalen Erbe des NS-Regimes zu analysieren. Die Rekonstruktion des Geschäftsgebarens des Unternehmens nach 1945 ermöglicht zudem einen Blick auf die Frage nach Kontinuität und Brüchen in den Jahren vor dem «Wirtschaftswunder».

Mehr noch als im zweiten und dritten verlagert sich im vierten Kapitel über die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg der Schwerpunkt von der Familien- zur Unternehmensgeschichte. Rückblickend betrachtet waren die Jahre seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland erfolgreich für Merck. Stets wurde ein Bilanzgewinn ausgewiesen, Mitarbeiter- und Umsatzziffern wuchsen fast durchgängig. Warum aber wurde der Umsatz zunächst fast ausschließlich in Deutschland erzielt, während dieser heute zu über 90 Prozent mit im Ausland ansässigen Kunden erwirtschaftet wird? Wie erklärt sich die enorme Internationalisierung der letzten Jahrzehnte? Auf welche Weise gelang es, die im Zweiten Weltkrieg verlorenen Tochtergesellschaften im Ausland nach und nach zurückzuerwerben? Was war die Ursache für den Internationalisierungsschub der 1960er-Jahre und die Gründung von Tochtergesellschaften in den USA, in Frankreich und in Japan? Wozu dienten die weiteren Erwerbungen und Beteiligungen in Großbritannien und Italien, später die Unternehmensübernahmen wie der französischen Lipha sowie der US-amerikanischen Sigma-Aldrich? Warum griff die Firma wie in der Zwischenkriegszeit auf die Schweizer Holdingkonstruktion zur Finanzierung und Verwaltung der ausländischen Tochtergesellschaften zurück, und warum gab man dieses Modell mit der Verschmelzung aller operativen Einheiten auf die heutige Merck KGaA im Jahr 1995 auf?

Merck zog sich aus der bewährten Massenproduktion von Vitaminen und Pflanzenschutzmitteln zurück und konzentrierte sich auf pharmazeutische «Spezialitäten». Warum jedoch dachte die Unternehmensleitung trotz einiger Rückschläge in der Produktentwicklung offenbar nie an die Aufgabe des Pharmabereichs? Waren Unternehmensübernahmen und Kooperationen mit anschließender erfolgreicher Produktion von Medikamenten (wie beispielsweise Glucophage gegen Zuckerkrankheit, das Krebsmittel Erbitux und Rebif gegen Multiple Sklerose) Teil einer langfristigen Unternehmensstrategie? Warum entwickelte sich die Chemiesparte, heute unter dem Signum «Performance Materials», mit den Flüssigkristallen zuletzt zu wahren Verkaufsschlagern? Wie erklärt sich der Erfolg beim Geschäft mit Pigmenten, die vor allem in der Automobil- und Kosmetikindustrie verwendet werden? Die dritte Säule des «Tausendfüßlers» Merck bildet das modernisierte Laborgeschäft, heute unter dem Label «Life Science». Die Mitarbeiter dieses Bereiches verkaufen heute Tausende von Chemikalien, die hauptsächlich in der Erforschung, Entwicklung und Produktion von Arzneimitteln, aber auch in anderen Branchen, etwa der Nahrungsmittelindustrie, verwendet werden. Dieses Geschäft kann auf eine lange Tradition im Hause Merck zurückblicken, denn seit vielen Jahrzehnten stellt Merck derartige Waren her. Insbesondere die großen Übernahmen der letzten Jahre – Millipore und Sigma-Aldrich – verhalfen dem Bereich zu neuer Bedeutung.

Die Steuerung dieses vielseitigen, rasch wachsenden und inzwischen großen Unternehmens erfordert Managementkapazitäten, die jenseits der Fähigkeiten einer Familie liegen. Der Neuaufbau gelang, zunächst mit Karl Merck, später mit Hans Joachim Langmann an der Spitze. Freilich gab es auch Perioden, in denen die Entwicklung weniger geradlinig verlief. Insbesondere die späten 1950er- und frühen 1960er- sowie die späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre bargen Herausforderungen. In beiden Fällen ging die unbefriedigende Entwicklung der Umsatz- und Ertragsziffern mit einem mühsamen Umbruch an der Unternehmensspitze einher. Im Sommer 1959 trat Karl Merck vom Vorstandsvorsitz zurück, aber erst zwei Jahre später in den Aufsichtsrat ein. Selbst danach dauerte es noch ein paar Jahre, bis das Unternehmen unter der Leitung von Langmann zunächst stabilisiert und, trotz eines Übernahmegesuchs der BASF, später als selbständiges Familienunternehmen ausgebaut wurde. Kritisch wurde es erneut, als Langmann 1989 das 65. Lebensjahr erreichte und innerhalb der Familie vor dem Hintergrund einer schwächelnden Unternehmensentwicklung die Nachfolgefrage offen diskutiert wurde. War die Umwandlung in eine Kommanditgesellschaft auf Aktien und die Kapitalerhöhung an der Börse, in deren Folge die Familie noch 75 Prozent der Anteile hielt, eine Voraussetzung, um die Chancen von Europäisierung und Globalisierung ergreifen und Merck von einem deutschland-zentrierten zu einem globalen Unternehmen umzubauen? Warum zogen sich die Familienmitglieder allmählich aus der operativen Geschäftsleitung zurück? Ist Merck seit der Jahrtausendwende mit bereits dem vierten familienfremden Geschäftsleitungsvorsitzenden noch ein klassisches Familienunternehmen? Hat sich die Familie Merck in die Rolle eines passiven Großaktionärs zurückgezogen, oder spielt sie mit ihren inzwischen 155 Gesellschaftern über den Familien- und Gesellschafterrat noch eine entscheidende Rolle? Daher wird auch untersucht, wie die informelle Entscheidungsfindung unter den Teilhabern und die formelle Steuerung der Besitzwahrung ablaufen, die dazu dient, die Fortexistenz von Merck als selbständigem Familienunternehmen zu sichern.

Quellen