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Vittorio Hösle

Kritik der
verstehenden Vernunft

Eine Grundlegung der
Geisteswissenschaften

C.H.Beck

Epiphanie

Du blätterst die Seitendes Lichts umund plötzlich entdeckst duzum ersten Mal:du hast das meiste überblättert –

jede Seite besteht aus zahllosenviel dünneren Seitendu spitzt deinen Atemschärfst die Fingernägel zu Katzenkrallenum ihr Geheimnis zu öffnen –

unendlich feine Seitenfächern sich aufund wiederumunendlich feinere Seiten –

dünner als Blattgolddünner als die Luftzwischen Liebendendünner als ein sengender Blick –

immer weitere öffnen sichunter jedem Hauch

kein Mensch kann sie lesen

nicht einmal die Ewigkeitwäre lang genug –

doch du blätterstund blätterst

in gleißenderEuphorie

Ludwig Steinherr

Zum Buch

«Man kann nicht nur anders, man auch besser und schlechter verstehen, ja, auch etwas völlig mißverstehen.»

Die Beliebigkeit, die die Geisteswissenschaften zu Anfang des 21. Jahrhunderts kennzeichnet, hat viele Ursachen. Eine zentrale ist das Fehlen von Klarheit hinsichtlich grundlegender Begriffe, Methoden und Aufgaben dieser Wissenschaften. Die Beseitigung dieses Mankos unternimmt Vittorio Hösle in diesem wegweisenden Buch. Insbesondere geht es ihm darum, die Möglichkeit intersubjektiv gültigen Verstehens aufzuzeigen. Doch Hösles von Kant inspiriertes Werk bietet nicht nur eine ausführliche Analytik und Systematik der komplexen Akte des Verstehens unter Berücksichtigung etwa auch der Jurisprudenz und der Theologie. Ebenso unterzieht es einseitige hermeneutische Theorien der Kritik, darunter auch Freuds Psychoanalyse. Ein dritter und abschließender Teil schließlich liefert eine kurze Geschichte der Hermeneutik, von der Antike bis Gadamer und Davidson, mit einem Ausblick auf die Geisteswissenschaften der Zukunft.

Über den Autor

Vittorio Hösle ist Paul Kimball Professor of Arts and Letters an der University of Notre Dame (USA). Bei C. H.Beck liegen u.a. von ihm vor: Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert (1997); Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie (31997); Das Café der toten Philosophen. Ein philosophischer Briefwechsel für Kinder und Erwachsene (zus. mit Nora K., 32004), Der philosophische Dialog (2006), Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie (2013).

Inhaltsverzeichnis

 Vorwort

1. Analytik des Verstehens

1.1. Formale Kennzeichen des Verstehens

1.1.1. Einleitende Begriffsklärungen: Verstehen, Auslegen, Deuten, Interpretieren, Hermeneutik, Geisteswissenschaften

1.1.2. Universalität des Verstehens?

1.1.3. Die besondere Schwierigkeit, Verstehen zu erklären. Der Behaviorismus als Kurzschlußreaktion. Eine Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens als Ausweg aus dem Zirkel

1.2. Gegenstände und Akte des Verstehens

1.2.1. Die Stufenordnung des Mentalen

1.2.1.1. Eigenschaften des Mentalen. Das Problem des Unbewußten

1.2.1.2. Formen der Intentionalität

1.2.1.3. Formen der Rationalität

1.2.2. Ausdrucksformen des Mentalen

1.2.2.1. Der Ausdruck von Affekten und Emotionen

1.2.2.2. Die Handlung als Ausdruck von Mentalem

1.2.2.3. Das Werk als Ausdruck von Mentalem

1.2.2.4. Die sprachliche Äußerung als Ausdruck propositionaler Einstellungen

1.2.2.4.1. Sprache als nicht-natürliches Zeichensystem

1.2.2.4.2. Der Weg von Signalen zu einem nicht-natürlichen Zeichensystem

1.2.2.4.3. Sprache als willkürliches Zeichensystem

1.2.2.4.4. Die Funktionen der Sprache und die Natur von Sprechakten

1.2.2.4.5. Die Abweichungen der menschlichen Sprache von dem Ideal einer logischen Kunstsprache: Nicht-verbale Kommunikation; indirekte Mitteilung; die poetische Funktion der Sprache

1.2.3. Verstehen der Ausdrucksformen des Mentalen

1.2.3.1. Formen des Verstehens: Perzeptuelles, noetisches und noematisches Verstehen

1.2.3.1.1. Zum perzeptuellen Verstehen. Prinzipien der Textkritik. Perzeptuelles Verstehen und ästhetischer Genuß

1.2.3.1.2. Zum noetischen Verstehen. Theoretisches, widerhallendes und sympathetisches Verstehen. Internes und externes noetisches Verstehen

1.2.3.1.3. Zum noematischen Verstehen. Explizites und impliziertes Noema. Jemanden besser verstehen, als er sich selbst versteht. Produktive Mißverständnisse

1.2.3.2. Direktes und erschließendes Verstehen.
Verstehen und Erklären

1.2.3.3. Verstehen der vier Ausdrucksformen des Mentalen

1.2.3.3.1. Verstehen des Ausdrucks von Affekten

1.2.3.3.2. Handlungsverstehen

1.2.3.3.3. Werkverstehen

1.2.3.3.4. Sprachverstehen

1.2.3.4. Wann muß Verstehen sich an der Autorintention orientieren, wann darf oder muß es sie überschreiten?

1.2.3.4.1. Beispiele legitimen und illegitimen Überschreitens der Autorintention

1.2.3.4.2. Das besondere Problem des Auslegens von mehreren Autoren verfaßter, zumal autoritativer Texte

1.2.3.4.2.1. Jurisprudenz

1.2.3.4.2.2. Theologie

1.2.3.5. Die Verflechtung der Geisteswissenschaften mit den anderen Wissenschaften

1.2.3.6. Deuten der Wirklichkeit und der Geistesgeschichte

1.3. Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens. Transzendentalphilosophie und objektiver Idealismus

1.3.1. Transzendentale Ästhetik der Hermeneutik: Was wahrgenommen werden muß, damit Verstehen möglich ist

1.3.2. Transzendentale Logik der Hermeneutik: Unterstellung von Rationalität

1.3.3. Transzendentale Pragmatik der Hermeneutik: Unterstellung von Rationalität zweiter Ordnung und Kooperationswille

2. Dialektik des Verstehens

2.1. Behavioristische Hermeneutik. Die Fokussierung auf das Verhalten bei Quine

2.2. Noetische Hermeneutik. Die Fokussierung auf das Erleben bei Dilthey

2.2.1. Die Ursachen des mentalen Lebens. Quellen und die Absicht zu wirken

2.2.2. Die unbewußten Ursachen: Freuds psychoanalytische Hermeneutik

2.2.3. Die Wirkungen des mentalen Lebens. Gadamers Projekt

2.3. Noematische Hermeneutik

2.3.1. Legitimer und illegitimer Anachronismusvorwurf

2.3.2. Leo Strauss’ Verfolgungshermeneutik

2.3.3. Werk ohne Subjekt

3.   Eine kurze Geschichte der Hermeneutik

3.1. Antike und Mittelalter: Wahrheit statt Sinn

3.1.1. Warum es in der klassischen Antike keine philosophische Hermeneutik gibt

3.1.2. Interpretation autoritativer Texte, zumal der Bibel

3.1.3. Augustinus’ Synthese von Zeichenphilosophie und Bibelhermeneutik

3.1.4. Mittelalterliche Innovationen

3.2. Das Verstehen von Sinn unabhängig von seiner Wahrheit

3.2.1. Spinozas Revolution der biblischen Hermeneutik

3.2.2.  Die Herausforderung des Historismus

3.2.2.1. Von Vico zu Schleiermacher

3.2.2.2. Die Selbstaufhebung des Historismus bei Dilthey

3.3. Die Wiedergewinnung der Wahrheitsdimension der Hermeneutik bei Gadamer und Davidson

3.4. Die Geisteswissenschaften der Zukunft

 Anhang

 Bibliographie

Personenregister

Für Johannes Hösle (1929–2017),
den weisen Menschen,
ersten Lehrer und idealen Vater,
in nie nachlassender
Dankbarkeit und Liebe

Vorwort

Als Kant sein großes Unternehmen einer kritischen Prüfung der Ansprüche auf Wissen begann, die in seiner Zeit bestanden, behandelte er, neben der Ethik und Teilen der Ästhetik, die Naturwissenschaften und in bescheidenen Ansätzen die Psychologie; an eine Grundlegung der Geisteswissenschaften dachte er nicht. Das hatte zwei Gründe: Einerseits hat die nachcartesische Philosophie den Gegensatz zwischen res extensa und res cogitans, physischem und mentalem Sein, zu ihrem Ausgangspunkt genommen, und es ist nicht leicht, in dieses Schema die Geisteswissenschaften zu klemmen. Andererseits standen die Geisteswissenschaften zur Zeit Kants noch relativ am Anfang ihrer Entwicklung, die er kaum zur Kenntnis nahm. Das 19. Jahrhundert freilich hat einen beispiellosen Aufstieg der Geisteswissenschaften erlebt, und auch wenn das Desiderat, die von Kant gelassene Lücke zu füllen, durchaus gespürt wurde – Wilhelm Dilthey erwog schon für die «Einleitung in die Geisteswissenschaften» den Titel einer «Kritik der historischen Vernunft» (1883; V, 145) –, hat doch niemand es befriedigt. Das Chaos, in dem die Geisteswissenschaften sich nun, zu Anfang des 21. Jahrhunderts, tummeln, hat viele Ursachen; aber eine wichtige ist zweifelsohne das Fehlen von Klarheit hinsichtlich grundlegender Begriffe, Methoden und Aufgaben dieser Wissenschaften. Man kann damit leben, daß sich die Geisteswissenschaften inzwischen weitgehend als wertfreie Disziplinen ausgeben; denn in der Tat haben, wie wir noch sehen werden, die Geisteswissenschaften keine besondere Kompetenz hinsichtlich der Erkenntnis moralischer Werte und Normen. Was die Geisteswissenschaften bis ins Mark gefährdet, ist dagegen das Bestreiten der Möglichkeit intersubjektiv gültigen Verstehens.

Verstehen erfolgt auf verschiedenen Ebenen; doch es ist eine der Thesen dieses Buches, daß zwischen dem Verstehen von Aussagen in der eigenen Muttersprache und den akrobatischen Interpretationsleistungen, die etwa der Entzifferer einer verschollenen Schrift und der Deuter eines hermetischen Gedichtes vollbringen, zwischen Lebenswelt und Geisteswissenschaft also, eine erstaunliche Kontinuität waltet. Ihre Tätigkeiten unterliegen den gleichen Prinzipien, wenn auch ihre Anwendung auf sehr unterschiedlichen Komplexitätsniveaus erfolgt. Da man das Einfache leichter als das Zusammengesetzte begreift, will ich mit den einfachsten Formen des Verstehens beginnen statt mit einer so komplexen wie dem Kunstverstehen. Daß Hans-Georg Gadamer seine philosophische Hermeneutik in «Wahrheit und Methode» bei letzterem hat einsetzen lassen, erklärt zum Teil die Skepsis hinsichtlich der Normen des Verstehens, zu der er gelangt ist. Anders als er gehe ich davon aus, daß die Hermeneutik eine Unterdisziplin der Erkenntnistheorie und daher normativ ausgerichtet ist – es geht in ihr darum, richtiges Verstehen von Mißverstehen zu unterscheiden. Denn man kann nicht nur anders, man kann auch besser und schlechter verstehen, ja, auch etwas völlig mißverstehen. Das gilt für geisteswissenschaftliche Theorien nicht minder als für lebensweltliche Interaktionen, und man tut den Geisteswissenschaften einen Bärendienst, wenn man dies bestreitet – man beraubt sie nämlich ihrer Wissenschaftlichkeit, die daran hängt, daß man ein externes Ziel, die Wahrheit, treffen oder verfehlen kann.

Meine Ausrichtung an der normativen Frage, der quaestio juris, erklärt, warum ich, soweit nur eben möglich, dem natürlich unerreichbaren Vorbild Kants folge, zumal seiner Einteilung in einen konstruktiven und in einen auf den ersten gegründeten destruktiven Teil, die auch ich hier «Analytik» und «Dialektik» nenne. Der bei weitem wichtigste und längste Teil des Buches ist die konstruktive Analytik. Wie Kant gehe ich davon aus, daß Verstehen nur möglich ist, weil es von bestimmten synthetisch-apriorischen Prinzipien geleitet wird; diese wenigstens anzudeuten, ist eines der Ziele meines Buches. Da mein Gegenstandsbereich ein anderer als der seine ist, werden die konkreten Prinzipien, die ich entwickle, über die Kantischen hinausgehen; jeder Kenner wird rasch sehen, wieviel ich William James’ Grundlegung einer wissenschaftlichen Psychologie und zumal Husserls epochemachender Analyse intentionaler Einstellungen verdanke, wieviel ich John Searles Theorie der Sprechakte entnommen habe, wie stark ich von Paul Grice’ und Donald Davidsons innovativer Anwendung transzendentaler Prinzipien auf die Lehre des Verstehens beeinflußt bin und wie sehr mich Oliver Scholz’ bedeutende hermeneutische Studien inspiriert haben. Anders als Ludwig Wittgenstein haben diese Denker keine Scheu gehabt, die Grundlegung der Sprachphilosophie in einer Theorie subjektiver Intentionen zu suchen. Allerdings lehne ich Kants subjektivistische Engführung der transzendentalen Fragestellung ab, die im Fall der Hermeneutik noch gefährlicher ist als im Fall der Erkenntnis der Natur. Was meinen zweiten Teil mit Kants «Transzendentaler Dialektik» verbindet, ist die Überzeugung, daß es, wenn nicht notwendige, so doch höchst naheliegende Fehler der Vernunft gibt – hier freilich geht es nicht um Irrtümer der metaphysisch konstruierenden, sondern der verstehenden, zumal in den Geisteswissenschaften sich manifestierenden Vernunft. Diese Irrtümer ergeben sich aus reduktionistischen Verabsolutierungen einzelner der zahlreichen Momente, die bei einem gelungenen Verstehen mitwirken.

Gadamers wirkungsgeschichtliche Lösung des normativen Problems des Verstehens ist ein solcher Reduktionismus und als solcher unhaltbar. Aber das bedeutet keineswegs zu bestreiten, daß es genetische Voraussetzungen des Verstehens gibt, sofern man sie nur säuberlich von den geltungstheoretischen unterscheidet. Die Geschichte der Hermeneutik teleologisch einzuholen ist Ziel meines mit dem zweiten Teil von Gadamers Hauptwerk konkurrierenden, allerdings viel kürzeren dritten Teils, der der Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft in Kants dritter Kritik entspricht und die eigentliche, objektiv-idealistische Pointe meiner hermeneutischen Theorie deutlich macht: Es geht darum, die erkennende Annäherung an die normativen Prinzipien, die selbst ungeschichtlich sind, im Rahmen der Geistesgeschichte derart zu begreifen, daß zugleich jene Prinzipien selbst zur Anwendung kommen. Die hermeneutischen Prinzipien somit sowohl zur Norm als auch zum Gegenstand des eigenen Verstehens zu machen ist als methodischer Kunstgriff aus der Hegelschen Geistphilosophie vertraut. Freilich hat Hegel selber keine ausgearbeitete Hermeneutik vorgelegt, während jedem Kenner klar sein wird, wieviel meine konkreten Unterscheidungen Friedrich Schleiermachers «Hermeneutik und Kritik» verdanken. Trotz aller Kritik an Diltheys andersgeartetem Reduktionismus und seinem Historismus ist ferner offenkundig, wieviel ich auch ihm verdanke – nicht nur, aber zumal in der ersten Untergliederung des umfangreichsten Teiles dieses Buches, Kap. 1.2.

Was die Genese meines eigenen Versuchs betrifft, so empfinde ich dieses Buch in vielerlei Hinsicht als eine Einholung von noch nicht ausreichend geklärten Präsuppositionen mehrerer meiner früheren Werke. Interpretationen konkreter philosophischer und literarischer Werke, darunter solcher wie derjenigen Vicos und Hegels, denen wir Entscheidendes zur Grundlegung der Geisteswissenschaften verdanken, haben mich seit langem beschäftigt; und in «Der philosophische Dialog» (2006a) sind einige meiner erkenntnisleitenden hermeneutischen Prinzipien explizit zum Ausdruck gekommen. Aber mein frühes Interesse an der metaphysischen Struktur der Philosophiegeschichte und an der Ontologie der sozialen Welt hatte die erkenntnistheoretische Analyse der Operation des Verstehens mehr oder weniger abgedrängt, die ich hier nachholen möchte. Wichtige Vorarbeiten sind mein Vergleich von Davidson und Gadamer (2004a), meine Typologie von Reduktionismen in der Hermeneutik (2012a), der Artikel «Hermeneutics» für die «Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics» (2012b) sowie mein Brückenschlag zwischen Schleiermacher und Grice (2018a) gewesen.

Daß ich dabei unweigerlich auch Teilgebiete der Philosophie der Psychologie und der Sprachphilosophie berühre, ohne die die Hermeneutik nicht begründet werden kann, mag das Buch auch Lesern nützlich werden lassen, die nicht primär an Interpretation interessiert sind. Dieses Werk ist ein zentraler Bestandteil des objektiven Idealismus der Intersubjektivität, an dem ich seit Jahrzehnten arbeite; denn ohne Verstehen gibt es keine Intersubjektivität. Allerdings gibt es ohne eine starke Theorie der Subjektivität auch keine Theorie der Intersubjektivität, was ich u.a. dank eines langen Briefwechsels mit Manfred Wetzel, dem Autor von «Prinzip Subjektivität», inzwischen deutlicher begriffen habe als früher. Methodisch wird man in diesem Buche den Einfluß einiger der besten analytischen Philosophen spüren, auch wenn mein Thema ein klassisch kontinentales ist. Mir scheint der unsinnige Gegensatz von «analytisch» und «kontinental» den einzig interessanten zu verdecken, den zwischen guter und schlechter Philosophie. Die ideale Philosophie ist sowohl durch Präzision als auch durch einen Sinn für den Ort eines Einzelproblems im Ganzen des Denkens und durch Vertrautheit mit der Ideenfülle der großen Denker der Vergangenheit gekennzeichnet. Zudem muß eine philosophische Regionaldisziplin mit den Ergebnissen der entsprechenden Einzelwissenschaften vertraut sein. Der ständige Brückenschlag zwischen spezifisch philosophischen Fragestellungen und geisteswissenschaftlichen Problemen und Resultaten mag zur Schwierigkeit dieses Buches beitragen, dessen Lektüre gewisse Kenntnisse sowohl in der Philosophie als auch in den Geisteswissenschaften voraussetzt. Aber vielleicht ist der Lohn dieser Schwierigkeit eine größere Fruchtbarkeit meiner Theorie, wenn man sie kontrastiert mit abstrakten philosophischen Theorien des Verstehens einerseits, die nicht gesättigt sind durch konkrete hermeneutische Erfahrungen, und konkreter interpretatorischer Arbeit, die jede Methodenreflexion verweigert, andererseits.

Mit Dankbarkeit erwähne ich hier meinen Vater Johannes Hösle und meinen Onkel Mario Geymonat, die mir früh Interpretationsmethoden beibrachten, meine Regensburger Lehrer Imre Tóth und Franz von Kutschera, meine Tübinger Lehrer Dieter Wandschneider, Paul Thieme, der auch als Methodologe erstrangig war, Konrad Gaiser und Hans Krämer, der nicht nur als Interpret höchst Innovatives vollbracht hat, sondern mich schon als Studenten auf die Unhaltbarkeiten in Gadamers Hermeneutik hinwies, und meine germanistischen Freunde in Notre Dame Mark Roche und Carsten Dutt sowie in Bamberg Friedhelm Marx, mit denen ich manche Themen dieses Buches erstmals besprach. Meinen philosophischen Freunden und Kollegen Jens Halfwassen und Anton Koch danke ich für die Einladung nach Heidelberg, wo ich im Sommersemester 2015 den ersten Teil dieses Buches in einer Vorlesung einer interessierten und kritisch fragenden Hörerschaft von Studenten vortrug. Der dritte Teil geht auf ein Seminar an der University of Notre Dame zurück. Bei einer Diskussion der Grundthesen dieses Buches mit Kollegen und Studenten profitierte ich besonders von den kritischen Fragen und Anregungen von Gustav Melichar, Christoph Poetsch, Felix Rohls, Andreas und Christian Spahn, Fernando Suarez Müller sowie Changjiang Xing.

Dutt war Gadamers wichtigster Gesprächspartner in seinem letzten Lebensjahrzehnt, und es ist ein untrügliches Zeichen von Gadamers echter philosophischer Natur, daß er Menschen förderte, von denen er wußte, daß sie nicht mit ihm übereinstimmten, deren philosophische Berufung er aber spürte. Auch ich habe Gadamers geistige und menschliche Großzügigkeit genießen dürfen, und wenn meine Kritik an ihm in diesem Buch mir nicht schwergefallen ist, so nur, weil ich weiß, daß er an einem sachorientierten, und d.h. unvermeidlicherweise stets auch kritischen, Gespräch über seine Theorie wahrhaft interessiert war.

1.Analytik des Verstehens

Wie ist richtiges Verstehen möglich? Offenkundig kann diese Frage nur beantwortet werden, wenn wir einerseits wenigstens einen vorläufigen Begriff von Verstehen und andererseits einen Überblick über die Fülle an zu verstehenden Gegenständen gewinnen. Ziel der «Analytik», des konstruktiven Teiles dieses Werkes, ist es, erstens grundlegende Begriffe zu klären, den Platz des Verstehens innerhalb der anderen epistemischen Leistungen zu bestimmen sowie seine besondere Bedeutung ebenso wie die eigentümlichen Schwierigkeiten, die mit ihm verbunden sind, zu begreifen (1.1.). Alsdann sollen in concreto die Gegenstände, die im Prinzip verstehbar sind, ebenso wie die Grundformen des Verstehens erörtert werden. In diesem Zusammenhang werden die erkenntnistheoretischen Untersuchungen unweigerlich ontologische Fragen einbeziehen müssen, weil unterschiedlichen Ausdrucksformen von Mentalität verschiedene Formen des Verstehens entsprechen müssen (1.2.). Ich setze in diesem zweiten Abschnitt einfach voraus, daß es Fremdpsychisches als Gegenstand des Verstehens gibt; es handelt sich, wenn man in Anlehnung an Kant so sprechen will, um eine metaphysische Erörterung. Die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens dieser Gegenstände werden erst im dritten Abschnitt diskutiert, der am ehesten Kants transzendentaler Deduktion entspricht (1.3.). Er umfaßt ebenfalls eine transzendentale Ästhetik und eine transzendentale Logik; zudem enthält der Abschnitt eine transzendentale Pragmatik.

1.1.Formale Kennzeichen des Verstehens