Geschichte und Gegenwart
unter Mitarbeit von
Eva J. Dubisch
Verlag C.H.Beck
Wirtschaftskrisen gehören zum Kapitalismus wie Gewitter zu einem heißen Sommertag. Sie sind die Kehrseite seiner enormen Wachstumsdynamik. Das Buch gibt einen historischen Überblick von den frühmodernen Krisen des »type ancien« über die Konjunkturzyklen des Industriekapitalismus und die Verwerfungen der Zwischenkriegszeit bis zu den Krisen der Gegenwart. Dabei zeigt sich, dass die Wahrnehmung der heutigen Situation durch unzutreffende historische Analogien verzerrt ist. Unsere Erwartungen werden durch Ausnahmesituationen bestimmt: im Positiven durch die Boom-Phase der Nachkriegszeit, im Negativen durch die Weltwirtschaftskrise von 1929 mit ihren apokalyptischen Folgen. Tatsächlich, so macht Werner Plumpe deutlich, sind die Krisen des letzten Jahrzehnts jedoch durch Bedingungen geprägt, wie sie in der vergleichsweise liberalen Weltwirtschaft vor 1914 herrschten – eine Beobachtung, vor deren Hintergrund die jüngste Verschuldungsoffensive der Industrienationen als Überreaktion erscheint.
Werner Plumpe ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Vorsitzender des Verbands der Historiker und Historikerinnen Deutschlands.
Mit einer Grafik
Impressum
Originalausgabe
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2010
ISBN Buch 978 3 406 60681 6
ISBN eBook 978 3 406 61500 9
Weitere Informationen zum Buch und zum Programm des Verlags C.H.Beck
Literatur – Sachbuch –Wissenschaft
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I. Wirtschaftskrisen – Geschichte und Gegenwart
Alte Krisen – neue Krisen
Die Krisen und die Spekulation
II. Das Wissen um die Krise – Ein kurzer Überblick
III. Das Elend Alteuropas: Wirtschaftskrisen der vorindustriellen Zeit
Krisen des «type ancien»
Spekulationskrisen in Alteuropa
IV. Aus der Kinderstube des Kapitalismus: Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts
Die neuen Krisen
Die Wirtschaftskrisen der ersten Jahrhunderthälfte
V. Wachstumszyklen im «bürgerlichen Zeitalter» (1849–1914)
Der Aufschwung der 1850er Jahre und die erste
Weltwirtschaftskrise von 1857
Gründerboom, Gründerkrach und «Große Depression»
Die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg
VI. Krisen und Katastrophen im Zeichen der Weltkriege
Der Weltkrieg, die große Inflation und ihre Folgen
Die «Goldenen Zwanziger Jahre»
Die Weltwirtschaftskrise
VII. Nach dem «Großen Boom»: Die Wiederkehr der Normalität
Die Krisen von 1966/67, 1974/75 und 1981/82
VIII. Entgrenzung und Ernüchterung im Zeitalter der Globalisierung
Währungs- und Zahlungsbilanzkrisen
Konjunktur und Spekulation: Die großen Krisen seit den 1980er Jahren
IX. Fazit
X. Glossar
XI. Auswahlbibliographie
XII. Personenregister
Im April und Mai 1873 platzte an der Wiener Börse eine Immobilienblase. Unter den zahlreichen Anlegern aus Hochadel, Bürgertum und einfachem Volk brach eine Panik aus. Die eben noch so erfolgreichen Bankiers und Börsenhändler fürchteten plötzlich um Freiheit und Leben. Manche griffen zu drastischen Mitteln. So schrieb eine Wiener Zeitung, dass einige Börsenhändler «Selbstmord fingierten, indem sie ihre alten Kleider an einer Brücke niederlegten und in neuen das Weite suchten». Ganz ähnlich berichtete der «Spiegel» am 26. Januar 2009: «Eine Reihe prominenter Selbstmorde schockiert die Wall Street. Doch nicht in allen Fällen bringen sich Banker und Börsenhändler tatsächlich um – einige täuschen ihren Freitod vor, um der Strafverfolgung zu entkommen.» Das Fluchtverhalten scheint nicht unbegründet: Noch jüngst forderte ein Münchener Strafrechtsprofessor, die Verantwortlichen für die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise müssten vor Gericht gebracht werden. Prominente Fälle wie der des New Yorker Vermögensverwalters Bernard Madoff und mancher offenkundig raffgieriger Fondsmanager komplettieren das Bild: Die Finanzwelt scheint in der Hand einer Bande von skrupellosen Gaunern, die es lieber auf eine schwere Wirtschaftskrise ankommen lassen, als auf eine Gewinnchance zu verzichten. Ohne skrupellose Banker, so scheint es, wären uns die jüngsten Verwerfungen erspart geblieben.
Doch ein Blick zurück durch die Jahrhunderte schürt Skepsis gegenüber diesem ebenso populären wie vereinfachenden Bild. Denn Wirtschaftskrisen zählen zu den wiederkehrenden, prägenden Ereignissen der Geschichte; ihre Bedeutung war und ist häufig so groß, dass sie weit über das wirtschaftliche Geschehen hinaus ausstrahlen und ernsthafte politische und soziale Probleme auslösen. Wirtschaftskrisen sind auch keine neue Erfahrung. Bereits aus dem Alten Testament sind mit der Josephs-Geschichte die sieben mageren und die sieben fetten Jahre überliefert. Ernteschwankungen und in ihrem Gefolge Teuerung, Hunger und Not zählten zu den ständigen Begleitern der Geschichte Alteuropas. Auch deren Überwindung durch die Zunahme der Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft seit dem 19. Jahrhundert hat keineswegs zu einem Ende der Krisen geführt. Seither wird die Entwicklung der Wirtschaft von wiederkehrenden konjunkturellen Störungen geprägt. Ernteschwankungen und Schwankungen der Konjunktur sind nicht einmal die einzigen Plagen, die die Menschheit zu ertragen hatte und noch erträgt. Hinzu treten Spekulationskrisen, die ebenfalls keine neue Erscheinung sind. Der «Tulpenschwindel» in Holland im 17. Jahrhundert, die «Südseeblasen» im England des 18. Jahrhunderts oder die zahlreichen Spekulationsblasen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts markieren eine schier nicht enden wollende Reihe krisenhafter Abschwünge. Und schließlich die verbreiteten Staatsbankrotte. Folgt man den amerikanischen Ökonomen Carmen M. Reinhart und Kenneth S. Rogoff, zählen die durch Zahlungsschwierigkeiten von Staaten bzw. durch ihre überhöhte Verschuldung ausgelösten Probleme zu den häufigen Krisenverursachern der letzten Jahrhunderte. Auch wenn man die Staatsbankrotte nicht unbedingt zu den Wirtschaftskrisen im engeren Sinn rechnen möchte, da ihre Ursachen in der Regel politischer und nicht ökonomischer Art sind, entfalten sie gleichwohl eine ungeheure Krisendynamik, wie 2009 und 2010 die Schwierigkeiten des griechischen Staates gezeigt haben. Nimmt man alles zusammen, sind Krisen offensichtlich normaler Bestandteil des ökonomischen Geschehens. Sie scheinen überdies so vielfältig zu sein, dass es schwerfällt, hierfür das Verhalten einzelner Personen verantwortlich zu machen, geschweige denn ein aussagefähiges theoretisches Krisenmodell vorzulegen. Der deutsche Nationalökonom und Wirtschaftshistoriker Werner Sombart (1863–1941) beklagte bereits 1904 eine nicht mehr überschaubare Fülle an Krisentheorien. Die gegenwärtige ökonomische Theorie verzichtet im strengen Sinn ganz auf die Verwendung des Krisenbegriffs und benutzt stattdessen in der Sprache der Konjunkturtheorie Begriffe wie Rezession, Abschwung oder Depression, um das zu bezeichnen, was in der Öffentlichkeit im Allgemeinen als Wirtschaftskrise verstanden wird.
Trotz dieser Ungenauigkeiten ist die Verwendung des Begriffs «Wirtschaftskrisen» durchaus sinnvoll, nicht zuletzt, weil seine Bedeutung in den öffentlichen Debatten außer Frage steht. Im Folgenden wird er im Sinne gesamtwirtschaftlicher Störungen verwendet. Er soll einerseits den Umschlagpunkt von einer Aufschwungphase oder zumindest einer Phase stabiler wirtschaftlicher Entwicklung in Stagnation und Abschwung, andererseits aber auch die Abschwung- und Depressionsphase selbst bezeichnen. Ganz ähnlich wird der Rezessionsbegriff verwendet, der Phasen stagnierender bzw. sinkender wirtschaftlicher Gesamtleistung markiert. Das Platzen von Spekulationsblasen oder die Zahlungsschwierigkeiten von Staaten, die zweifellos Krisenerscheinungen darstellen, werden in dieser Sicht vor allem wegen ihrer gesamtwirtschaftlichen Bedeutung zum Thema und lassen sich genauer zuordnen, als es bei einer bloßen Aufzählung von Krisenphänomen der Fall wäre.
Alte Krisen – neue Krisen Betrachtet man den wirtschaftlichen Strukturwandel unter der Perspektive gesamtwirtschaftlicher Störungen, so lässt sich das Krisengeschehen historisch grob ordnen. Die Krisen der vormodernen Welt, also der Zeit vor der Durchsetzung des modernen Kapitalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts, waren vor allem Agrar- und Ernährungskrisen. Zwar gab es zahlreiche Staatsbankrotte und auch das Auftreten und Platzen von Spekulationsblasen war nicht selten. Aber deren gesamtwirtschaftliche Folgen waren in einer Welt, die wirtschaftlich von der Landwirtschaft und den Bemühungen um die Sicherstellung der Ernährung bestimmt war, begrenzt. Die entscheidenden Faktoren im Krisengeschehen waren Klima und Wetter. Günstige klimatische Bedingungen ermöglichten gute Ernten, niedrige Lebensmittelpreise sowie wachsende Bevölkerungszahlen und in der Folge sinkende Löhne und einen Anstieg auch der gewerblichen Produktion, die angesichts niedriger Lebensmittelpreise auf günstige Nachfragebedingungen traf. Schlechte Ernten konnten hingegen rasch verheerende Folgen haben: Beschäftigungslosigkeit, Hunger und Elend, Bettelei und Tod waren dann häufige Gäste, gerade in den Häusern der armen Bevölkerung. Erst die großen Fortschritte der Landwirtschaft im 19. Jahrhundert beendeten diese stete Bedrohung.
Die Krisen der vormodernen Welt folgten also keinem festgelegten Rhythmus, sondern wurden in hohem Maße durch jedenfalls seinerzeit unvorhersehbare Klimaschwankungen verursacht. Das änderte sich mit der modernen Wirtschaft. Zwar verloren die Wirtschaftskrisen nach und nach ihre apokalyptischen Dimensionen. Stattdessen wurden sie zum wiederkehrenden, geradezu rhythmischen Muster, das nicht mehr äußeren Irritationen, sondern offensichtlich einer Art innerer Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Entwicklung folgte. Karl Marx (1818–1883) sah die rhythmischen Schwankungen der Wirtschaft bereits für die 1820er Jahre als gegeben an. Spätestens seit den 1860er Jahren und den Beobachtungen des französischen Arztes Clement Juglar (1819–1905) war offensichtlich, dass der wirtschaftliche Strukturwandel Zyklen durchlief. Zyklen von Aufschwung, Boom, Rezession und Depression, die sich – so Juglars empirisch durchaus stimmige Annahme – zudem in einem relativ festen zeitlichen Rahmen von sechs bis zehn Jahren abspielten. Die neuere Konjunkturgeschichtsschreibung hat diese zeitlichen Rhythmen zwar im Einzelnen nicht schematisch festschreiben wollen, sondern verschiedene Amplitudenlängen nachgewiesen, doch haben sich die Juglar-Zyklen als empirische Beobachtung seither im Grunde bestätigt.
Die moderne Wirtschaft weist mithin im Gegensatz zur vormodernen Welt Zyklen auf, die aber als geradezu notwendige Erscheinungsweise einer tendenziell wachsenden Wirtschaft und eines intensiven ökonomischen Strukturwandels begriffen werden müssen. Die Umschwünge vom Boom zur Rezession wurden und werden daher auch nicht unbedingt stets als krisenhaft erfahren, sondern können, wie etwa in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Wachstumszyklen wahrgenommen werden. Andererseits waren die Krisen der Jahre vor 1848 oder der Zwischenkriegszeit im 20. Jahrhundert mit großem sozialen Elend verbunden, das zu Krisen des politischen Systems beitrug. Offensichtlich gibt es Phasen, in denen Krisen eher hingenommen werden, und Phasen, in denen die Bedeutung von Krisen dramatisch zunimmt und sie das gesamte Gesellschaftssystem in Mitleidenschaft ziehen können. Dies mag mit den später noch genauer zu behandelnden langen Wellen der Konjunktur zu tun haben. Knut Borchardt hat jedenfalls für den modernen Kapitalismus in Anlehnung an eine Formulierung von Karl Marx die überaus hilfreiche Unterscheidung zwischen «Krisen an sich» und «Krisen für sich» getroffen. «An sich» lassen sich alle Umschwünge vom Boom zum Abschwung als «Krise» begreifen; aber ob sie in einem manifesten Sinne auch zu «Krisen für sich» werden, hängt nicht nur von ihren gesamtwirtschaftlichen Dimensionen und sozialen Folgen, sondern auch stark davon ab, wie insbesondere die Zeitgenossen auf das wirtschaftliche Geschehen reagieren. Die Erwartungshaltungen von Unternehmen und Haushalten spielen für das Krisengeschehen eine ebenso wichtige Rolle wie die öffentliche und wissenschaftliche Diskussion der Wirtschaftswissenschaft sowie die Reaktion der Politik. Insofern sind auch in unserer Erinnerung keineswegs alle Konjunkturumschwünge gleichermaßen präsent. Die Diskussion des Jahres 2010 erinnert vor allem an jene Krisen, die von den Zeitgenossen als besonders tief und heftig wahrgenommen wurden. Das Krisengeschehen in der Moderne, so ist zu schlussfolgern, hat daher nicht allein etwas mit der Veränderung von gesamtwirtschaftlichen Größen zu tun, sondern ebenso mit ihrer Interpretation und den wirtschafts- und sozialpolitischen Reaktionen auf sie. Werden Krisen als dramatisch erfahren, ist auch die Suche nach dem hierfür Verantwortlichen ausgeprägt. Das hat insbesondere die «Spekulation» in Verruf gebracht und ihr den Nimbus einer Geißel der modernen Wirtschaft eingebracht.
Die Krisen und die Spekulation Die Krisen, also die mehr oder weniger regelmäßigen Störungen der gesamtwirtschaftlichen Leistung, waren aber weder unter den Bedingungen der älteren Agrarverhältnisse eine Folge von dem, was man heute umgangssprachlich unter Spekulation versteht, noch findet sich in der Moderne ein unmittelbarer Zusammenhang von Spekulation und Krise. Die eigentliche Bedeutung von Spekulation ist unter einem gewaltigen Berg von mehr oder minder populären Vorurteilen verschüttet. Denn wirtschaftlich gesehen ist Spekulation kein Übel, sondern ein notwendiges Moment allen wirtschaftlichen Handelns, das bei seinem Abschluss mit zukünftigem Erfolg kalkuliert und sich deshalb auf das Risko einlässt, heute etwas zu tun, von dem man erst in der Zukunft wissen kann, ob es erfolgreich ist. Spekulation ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass es überhaupt zu wirtschaftlicher Entwicklung kommt und nicht nur zu einer Wiederholung des bereits Bekannten. Das heißt nicht, dass Spekulation immer gleich ist und historisch immer gleich war. Zweifellos gibt es Phasen größerer und Zeiten geringerer Spekulationsfreude, zweifellos gab und gibt es auch Übertreibungen, die man aber nur im Nachhinein feststellen kann. Im Moment der Entscheidung selbst steht nicht fest, wie die Spekulation ausgeht! Es gehört daher geradezu zu den feststehenden historischen Wahrheiten, dass es bei Spekulationskrisen immer schon alle gewusst haben, wenn es so weit ist! Größere Spekulationsphänomene finden sich in der Regel immer dann, wenn hohe Erwartungen mit einer guten Liquiditätsversorgung und niedrigen Zinsen zusammentreffen, man also für vermeintlich aussichtsreiche Geschäfte billig und leicht Kredit bekommen kann. Derartige spekulative Wellen neigen zudem zur Selbstverstärkung, die durch Arbitrageure, also Marktakteure, die nicht an den Geschäften selbst, sondern vor allem an der Nutzung von Preisunterschieden interessiert sind, getragen werden. Spätestens zu dem Zeitpunkt, an dem sich zeigen muss, ob die großen Erwartungen auch gerechtfertigt sind, neigen Spekulationsblasen dazu, zu platzen. Dieses Platzen hatte in der älteren Welt zumeist begrenzte Folgen, da die Landwirtschaft selbst hiervon kaum betroffen war. Im modernen Kapitalismus ist das anders, weil sich hier das spekulative Verhalten in der Regel mit der Aufschwungphase eines Zyklus, wenn alle Marktakteure von steigenden Preisen und glänzenden Aussichten ausgehen, verbindet. Der moderne Kapitalismus zeichnet sich überdies dadurch aus, dass er spekulative Momente zur Finanzierung seiner Großprojekte über neue Unternehmensformen (Aktiengesellschaften) und neue Finanzierungsstrukturen (Börsen, Kapitalmärkte) regelrecht institutionalisiert. Zwar gibt es auch seit dem 19. Jahrhundert Spekulationsphänomene, die mit dem Konjunkturzyklus wenig zu tun haben, doch im Regelfall ist die Spekulation ein Begleiter des Aufschwungs, den sie bis zu dem Punkt trägt und verstärkt, an dem die zeitweilig übertriebenen Erwartungen an Absatz, Gewinn und Rendite nicht eingelöst werden. In der modernen Welt ist Spekulation daher auch der Ausdruck eines intensiven, durch die Finanzmärkte vorweggenommenen Strukturwandels, der die Tendenz haben kann, in Übertreibungen zu enden. Das ist ein Risiko, das im modernen Kapitalismus wohl unvermeidlich ist, auch wenn es geboten sein kann, das Ausmaß der Spekulation zu begrenzen.
Eine Geschichte der Wirtschaftskrisen muss daher die Spekulation berücksichtigen, kann sie aber nicht als ihren Ausgangspunkt nehmen. Historisch gesehen sind Krisen nämlich von ihr unabhängig verbreitete Phänomene und keinesfalls vermeidbare Ausnahmen. Im Zentrum der nachfolgenden Überlegungen stehen daher die gesamtwirtschaftlichen Störungen in ihrer jeweiligen zeittypischen Bedingtheit, also vor allem die Agrarkrisen der vormodernen Welt und die modernen Konjunkturzyklen sowie das jeweils zugehörige spekulative Geschehen. Staatsbankrotte und Zahlungsbilanzkrisen, die ihre ganz eigenen Ursachen haben, werden gelegentlich erwähnt, aber nicht systematisch abgehandelt.
Wirtschaftskrisen halten sich nicht an politische Grenzen. Weder kennt das Wetter Staatsgrenzen, noch respektieren die Börsenkurse nationale Unterschiede, zumindest solange es nicht dazu kommt, dass sich Staaten oder Staatengruppen, wie etwa der Ostblock nach 1945, aus der internationalen Wirtschaft völlig zurückziehen. Die Wirtschaftskrisen, zumal die modernen, hatten daher bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts stets einen internationalen Zuschnitt; spätestens seit den 1850er Jahren handelte es sich jeweils potentiell um Weltwirtschaftskrisen, zumindest in der kapitalistischen Welt. Die folgende Darstellung sucht dies zu berücksichtigen, auch wenn die Krisenverläufe, die in den verschiedenen Ländern ganz unterschiedlich ausfielen, nicht jeweils gesondert, sondern an Beispielen erörtert werden, die naheliegenderweise vor allem auf das Krisengeschehen in Europa (hier vor allem in Deutschland und Großbritannien) sowie Nordamerika (USA) referieren. Die Nichtberücksichtigung großer Teile der Weltwirtschaft in der Darstellung lässt sich angesichts des zur Verfügung stehenden Platzes, aber auch angesichts der Literatur, die sich bis heute auf die Zentren der kapitalistischen Welt konzentriert, nicht vermeiden. Dies ist bedauerlich, weil die europäischen und nordamerikanischen Wirtschaftskrisen ihre «Pendants» in den sogenannten Kolonien bzw. Entwicklungsländern besaßen und besitzen, deren Entwicklung nicht selten vom Krisengeschehen des «Nordens» und dem Verhalten der dortigen Akteure maßgeblich beeinflusst wurde. Im Rahmen dieser Einführung ist es freilich nicht anders möglich. Immerhin zeichnen sich die Konturen einer Krisengeschichte ab, die keineswegs nur für den «Westen» von Belang ist. Der Aufstieg Asiens in der kapitalistischen Weltwirtschaft zeigt, dass auch dort mit Krisenphänomenen zu rechnen ist, die in Europa und den USA seit dem frühen 19. Jahrhundert gang und gäbe sind.
Es ist heute selbstverständlich, dass der Staat auf Wirtschaftskrisen mit den Mitteln der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik reagiert, um deren Folgen zu begrenzen, wenn nicht bereits versucht wird, Krisen durch antizyklische Maßnahmen ganz zu vermeiden. Diese Vorgehensweise ist keineswegs besonders alt. Denn um derartige Eingriffe in das wirtschaftliche Geschehen tätigen zu können, reicht guter Wille allein nicht aus. Zunächst einmal muss man wissen, womit man es eigentlich zu tun hat. Sodann stellt sich die Frage nach der richtigen «Medizin» für das diagnostizierte ökonomische Problem. Das Wissen um die Diagnose und den Umgang mit Krisen hängt daher vor allem davon ab, inwieweit es überhaupt möglich ist, das Krisengeschehen angemessen zu erfassen und zu interpretieren. Wirtschaftsstatistik und Wirtschaftstheorie stehen daher am Anfang aller krisenhistorischen Überlegungen.
Die aus krisenhistorischer Sicht notwendigen makroökonomischen Daten etwa zum Inlandsprodukt, zur Geldmenge, zur Investitionsquote oder zur Arbeitslosigkeit lagen vor 1945 bestenfalls rudimentär vor. Erst Ende des 19. Jahrhunderts begann man damit, eine regelrechte Wirtschaftsstatistik zu betreiben. In der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg, und dann insbesondere in der Zwischenkriegszeit, entstanden neben der amtlichen Statistik der verschiedenen Staaten, die die wirtschaftliche Tätigkeit auf ihren Territorien aus administrativen, steuerlichen und politischen Gründen zu dokumentieren begannen, zusätzlich Einrichtungen der Wirtschaftsbeobachtung und der Konjunkturforschung. Die erste Institution dieser Art war das National Bureau of Economic Research, das 1912 in den USA errichtet wurde und bis heute als das weltweit wichtigste Konjunkturforschungsinstitut gilt. 1925 wurde in Berlin auf Initiative von Ernst Wagemann (1884–1956), dem Präsidenten des Statistischen Reichsamtes, das Institut für Konjunkturforschung (heute: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)) gegründet. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Zahl der Forschungsinstitute weiter zu; allein in Deutschland bestehen derzeit sieben einschlägige Einrichtungen mit zum Teil mehr als hundertjähriger Geschichte. Insofern kann man davon ausgehen, dass erst seit den 1920er Jahren einigermaßen verlässliche Daten zur Konjunktur- und Krisenentwicklung existieren und erst seit dem Zweiten Weltkrieg mit der mittlerweile international standardisierten volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung eine exakte Konjunktur- und Krisenstatistik möglich geworden ist. Vor 1914 behalf man sich mit einfacheren, aber durchaus aussagefähigen Indikatoren, insbesondere mit Daten zur Preis- und zur Zinsentwicklung, zum Außenhandel sowie zu den Insolvenzen, die allerdings noch nicht national bzw. international standardisiert waren und daher nicht immer exakte Informationen, sondern eher Anhaltspunkte zum Konjunkturverlauf lieferten.
Wie diese Daten aufzufassen und welche Reaktionen auf sie naheliegend bzw. wünschenswert waren, ergab sich allerdings keineswegs unmittelbar aus den Zahlen selbst. Dies hing vielmehr – genau wie heute – vom Einfluss großer Lobby-Gruppen, die den Staat in die eine oder andere Richtung zu bewegen suchten, vor allem aber vom jeweiligen Stand der ökonomischen Theorie ab, die ihrerseits auf das ökonomische Geschehen reagierte. Man muss geradezu von einer Art Koevolution von ökonomischer Entwicklung und ökonomischem Wissen ausgehen, die sich also keineswegs im Sinne eines stabilen Fortschrittsprozesses als Erweiterung und Verbesserung unseres Wissens begreifen lässt. Der Ideenvorrat in dieser Koevolution war und ist zudem beschränkt. Im Grunde stehen sich zwei große Lager gegenüber, und zwar auf der einen Seite die klassische und die neoklassische Wirtschaftstheorie, die Krisen als zu vermeidende Gleichgewichtsstörungen ansehen, auf der anderen Seite Theoretiker wie Joseph A. Schumpeter (1883–1950), die Konjunkturzyklen für die eigentliche Form des kapitalistischen Prozesses halten und sie daher im Grundsatz sogar begrüßen, da sie wesentliche Momente des ökonomischen und technologischen Strukturwandels darstellten. Für Schumpeter sind ökonomische Gleichgewichte bestenfalls Durchgangsstadien, keinesfalls aber stabile Zustände einer Volkswirtschaft.
Für die vormoderne Zeit kann man von einer ökonomischen Theorie zur Bewältigung von wirtschaftlichen Störungen kaum sprechen. Das bedeutete aber nicht, dass man sich um den Umgang mit dem stets drohenden Mangel keine Gedanken machte. Sowohl ältere Fürstenratgeber wie jüngere merkantilistische und kameralistische Texte rieten den Obrigkeiten, Vorratshaltung zu betreiben und Wucherpreise sowie das Ausnutzen von Notlagen durch Preistaxen und Verbote zu verhindern. Die sogenannte Hausväterliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts kreiste zusätzlich um den Gedanken der nachhaltigen Haushaltsführung, die durch umsichtiges Wirtschaften das Überleben des Hauses ggf. auch unter schwierigen Bedingungen ermöglichen sollte. In einer noch wesentlich statischen Welt hatte diese uns heute als konservativ und fortschrittsskeptisch erscheinende Literatur gleichwohl ihren guten Sinn, indem sie auf das Bewährte setzte. Alles andere war zu riskant.
Die klassische Ökonomie, die seit dem 18. Jahrhundert in Großbritannien aufkam und sich von dort aus auf den Kontinent und die USA ausbreitete, setzte sich mit Wirtschaftskrisen «an sich», also dem spätestens zum Ende des 18. Jahrhunderts auftauchenden Phänomen von Konjunkturschwankungen, nicht wirklich auseinander. Diese mochte es geben. Aber sie wurden als Phänomene aufgefasst, die auf externe Ursachen zurückzuführen waren. Die kapitalistische Ökonomie hingegen funktionierte in diesem vom Newton’schen Gleichgewichtskonzept bestimmten ökonomischen Denken zumindest dann reibungslos, wenn Wettbewerb und freier Markt garantiert waren. Dann schuf sich, so die klassische Formulierung durch den französischen Ökonomen Jean-Baptiste Say (1767–1832), jedes Angebot seine Nachfrage, da bei der Produktion von Gütern jene Löhne gezahlt würden, die zu deren Konsum notwendig waren. Das Say’sche Theorem sah von Verteilungsfragen ab, und auch die Märkte funktionierten dieser Ansicht nach ohne Zeitverzögerung, sodass zumindest theoretisch jedes Gut einen Käufer fand. Es konnte, so räumte der englische Philosoph und Ökonom John S. Mill (1806–1873) später ein, durchaus Marktverzerrungen und Spekulationserscheinungen geben, doch war deren systematische Bedeutung gering. Wirtschaftskrisen als Ausdruck der normalen Funktionsweise kapitalistischer Marktwirtschaften kamen in dieser Sicht nicht vor. Das Wirtschaftssystem tendiere vielmehr selbst nach externen Störungen immer wieder zu krisenfreien Gleichgewichtszuständen.