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Daniel Schönpflug

Luise von Preußen

Königin der Herzen

Eine Biographie

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

Zum Buch

August Wilhelm Schlegel nannte sie die «Königin der Herzen». Während Napoleons Armeen die Throne in Europa zum Wanken brachten, gelang es Luise von Preußen, der Gemahlin Friedrich Wilhelms III., die Untertanen für die Monarchie zu begeistern. Als Preußens Waffen längst vor dem Kaiser der Franzosen kapituliert hatten, trat sie ihm persönlich entgegen. Daniel Schönpflug zeichnet in seiner hinreißend geschriebenen Biographie ein neues Bild von der jungen Königin, die schon mit 34 Jahren starb.

«Mit seinem Buch schließt Daniel Schönpflug in die erste Reihe der historischen Erzähler auf … Eine brillante Biographie.»

Rheinischer Merkur

Über den Autor

Daniel Schönpflug, geb. 1969, ist Historiker und stellvertretender Direktor des Centre Marc Bloch Berlin.

Inhalt

I. Zu schön, um wahr zu sein?

II. Provinzbühnen

Mecklenburg-Strelitz

Hannover

Darmstadt

III. Eine gelungene Premiere

Luises Entrée

Berlin 1793

IV. In den Kulissen der Macht

Im Rhythmus des Hofes

Bilder einer Kronprinzessin

V. Staatstheater

Übergangsrituale

Was heißt selbst regieren?

Königliches Leben

VI. Die europäische Bühne

Freundschaft mit dem Zaren

Bündnis und Bruch mit Napoleon

VII. An der Grenze des Königreichs

Auf der Flucht

Unterhaltung mit dem «Teufel»

«Eine Revolution im guten Sinn»

VIII. Der Vorhang fällt

 

Karte

Anmerkungen

Quellen und Literatur

Bildnachweis

Register

 

 

 

 

 

 

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Der Trauerzug der Königin Luise von Hohenzieritz nach Berlin.

I.

Zu schön, um wahr zu sein?

Der Sommer des Jahres 1810 hatte seinen Höhepunkt erreicht. Trockene Hitze brütete über reifen Feldern. Die Kolonne aus Reitern und Kutschen, die sich unter der Julisonne langsam auf der Allee vom mecklenburgischen Hohenzieritz in Richtung Berlin fortbewegte, war von einer Staubwolke eingehüllt. Feiner Sand legte sich auf die Uniformen, klebte auf den Flanken der verschwitzten Pferde und machte das Atmen schwer.

An der Spitze des Zuges ritten der Königliche Oberstallmeister von Jagow und der Schlosshauptmann von Buch, gefolgt von einer Abteilung Kavallerie sowie dem Hofstaat und den Ministern des Herzogtums Mecklenburg-Strelitz. Die Hauptperson des Zuges reiste in einer gepolsterten und gefederten Kutsche. Von den Anstrengungen der Reise spürte sie nichts mehr. Königin Luise von Preußen war wenige Tage zuvor im mecklenburgischen Hohenzieritz verstorben. Vor der von zwei Stallmeistern flankierten und von acht schwarz geschmückten Pferden gezogenen Trauerkutsche mit dem Sarg ritt Luises Halbbruder Karl. Direkt dahinter fuhr Luises Oberhofmeisterin, Gräfin Sophie von Voß, welche die Königin ihr gesamtes Erwachsenenleben begleitet hatte. Der Zug wurde von Luises Kammerfrauen und einer weiteren Kavallerieeinheit beschlossen.

Glocken läuteten in den Städten und Dörfern entlang der Route. Vor ihren Häusern und Hütten erwarteten Bauern den Zug. Männer, Frauen und Kinder in einfacher Trauerkleidung begleiteten, geführt von ihren Pfarrern oder Dorfschulzen, die schwarze Kolonne bis zur Gemeindegrenze des nächsten Ortes. Zu Mittag wurde bei Dannenwalde die brandenburgische Grenze erreicht. Dort erwartete eine 120 Mann starke Abteilung der königlich-preußischen Leibgarde die verblichene Königin und löste das mecklenburgische Geleit ab. In Gransee, wo die Nacht verbracht wurde, war auf dem Marktplatz ein Pavillon für den Sarg errichtet worden. Die Bürgerschaft hatte, mit den bescheidenen Mitteln einer Kleinstadt, in aller Eile eine Einholungszeremonie auf die Beine gestellt: Die Honoratioren – Magistrat und Geistlichkeit – gingen der Leiche bis zur Stadtgrenze entgegen. Dort sang ein Chor für die verstorbene Königin. Die Straßen waren zum Schmuck mit weißem Sand, Blütenblättern und frischem Laub bestreut. Junge Männer bildeten, mit Stäben bewaffnet, eine Ehrenwache am Trauerpavillon; ältere Bürger standen Spalier für die einrollenden Wagen. Sogar eine provisorische Feuerwehr wurde gebildet, weil angesichts der Hitze mit Bränden zu rechnen war. Bis heute erinnert ein von Karl Friedrich Schinkel entworfenes und im Oktober 1811 eingeweihtes Denkmal auf dem Granseer Marktplatz an diesen großen Tag in der Geschichte des Örtchens.

In Oranienburg, nördlich vor den Toren Berlins gelegen, nächtigten die Reisenden ein zweites Mal. Vor der erneuten Abreise wurden der Staub von den Kutschen geputzt, frische Uniformen angelegt und die Pferde gestriegelt. Im Flecken Reinickendorf hoben vierundzwanzig Kammerdiener in einer eigens dafür errichteten Laube den Sarg von der Reisekutsche auf einen Parade-Leichenwagen um.

Die Festlichkeiten des Trauermarsches gipfelten schließlich im monumentalen Einzug in Berlin. Der Zug bewegte sich in gemessenem Schritt durch das Brandenburger Tor. Auf dessen Dach, wo zuvor die von Napoleon nach Paris entführte Quadriga stand, wehte jetzt eine schwarze Fahne. Ein beim Tor platzierter Chor stimmte das Lied «Wie fleucht dahin der Menschen Zeit» an. Langsam bewegte sich der Zug bei Glockenklang und gedämpfter Marschmusik die Allee Unter den Linden hinab. Dicht gedrängt standen die Menschen am Straßenrand, und die Fenster der Häuser entlang der Einzugsroute waren dicht besetzt. Die Bewohner dieser sonst so lauten Stadt waren sprachlos: «Der Zulauf der Menschen war unglaublich», schrieb Wilhelm von Humboldt an seine Frau Caroline, «aber eine Stille, die man sich kaum vorstellt, man hörte nicht einmal das sonst bei großen Haufen fast unvermeidliche dumpfe Gemurmel.»[1]

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Denkmal von Karl Friedrich Schinkel zum Andenken an den Tod der Königin Luise, errichtet 1811 im brandenburgischen Gransee.

Bei der Einfahrt ins Berliner Schloss erklang das Lied «Jesus, meine Zuversicht». 24 Kammerherren hoben den Sarg von der Kutsche und trugen ihn durch die Pforte. Der königliche Witwer, Friedrich Wilhelm III., und die sieben Prinzen und Prinzessinnen kamen ihnen auf der Schlosstreppe entgegen. Die Familie geleitete die verblichene Mutter ins Thronzimmer.[2] Dort wurde der Sarg abgestellt, direkt «unter dem Bild eines ernsten, bärtigen, geflügelten Alten, der mit der linken Hand eine goldene Sense» schwang.[3] Für die Nacht wurde eine Ehrenwache aus Kammerfrauen und -herren sowie zwei Majoren und zwölf Unteroffizieren gebildet.

Am nächsten Morgen begann die dreitägige Ausstellung des Sarges, die Tausende von Berlinern besuchten. Kavallerie, Polizei und Bürgergarde hatten Mühe, die anströmenden Untertanen im Zaum zu halten. Es kam zu wütenden Beschwerden und Rangeleien. Mit dem Gottesdienst am 30. Juli 1810 im Berliner Dom und der Beisetzung in der Hohenzollerngruft waren die Feierlichkeiten noch längst nicht abgeschlossen. Festakte im ganzen Königreich Preußen, in Schlössern, in Kirchen und Synagogen, Zunftstuben, Gutshäusern, Universitäten, Vereinen und Verwaltungen folgten.

Königin Luise beendete ihr Leben, wie sie es gelebt hatte: mit einem fulminanten öffentlichen Auftritt. Noch nach ihrem Tod war sie Hauptdarstellerin in einem mehrtägigen, minutiös geplanten und mit Hilfe des Hofes und tausender Statisten in Szene gesetzten Festakt, der die Macht und die Pracht des Königshauses, den Rang des engsten Kreises seiner Würdenträger, aber auch seine Beziehungen zu den Untertanen zum Ausdruck brachte. Schon zu Lebzeiten, als Kronprinzessin und Königin, hatte sie eine Hauptrolle in jenem gleichzeitig jahrhundertealten und täglich neu inszenierten Stück namens Monarchie gespielt. Vom Morgen bis tief in die Nacht, vom Frühjahr bis in den Winter vollzog sich dieses Theater der Macht, das seine Darsteller oft bis zur Erschöpfung beanspruchte. Luises Jahre verstrichen im Rhythmus jenes gewaltigen Uhrwerks, dessen tieferer Sinn es war, den Status der ersten Familie des Reiches unentwegt sichtbar und erfahrbar zu machen.

Das Geheimnis von Luises Erfolg war die Energie, Hingabe und Brillanz, mit der sie ihre Rolle spielte. Denn wie alle großen Darsteller begnügte sie sich nicht damit, ihren Text getreulich wiederzugeben und die Gesten zu vollziehen, welche die über Jahrhunderte gewachsenen Regieanweisungen ihr nahe legten. Vielmehr interpretierte sie die Königinnenrolle, erfand sogar neue Szenen, Dialoge und Bilder. Wie einer begabten Künstlerin gelang es ihr, den Nerv ihrer Zeit, den Geschmack des Publikums zu treffen. Die Trauer der Preußen um ihre «Königin der Herzen»,[4] wie sie der Dichter August Wilhelm Schlegel genannt hatte, war wie der Applaus eines tief bewegten Publikums nach dem letzten Vorhang.

Luises Tod löste vor allem in Berlin und den preußischen Provinzen, aber auch andernorts in Deutschland ein vielstimmiges Echo aus. Bei ihrem Ableben ließen die Untertanen nochmals die Stationen von Königin Luises Leben Revue passieren. In zahlreichen Festakten, Ansprachen, Predigten und Drucksachen – und gewiss auch in Gesprächen zwischen Einzelnen – rief man die zur Erinnerung geronnenen Momente ihres Lebens zurück. Jene Bilder beschäftigten erneut das kollektive Bewusstsein, die schon zu Lebzeiten untrennbar mit Luises Namen verbunden waren und sich gleichsam zu einem Bilderbogen zusammenfügten. Sie erzählten, gebündelt im Brennspiegel einer Person, eine Geschichte über Preußen. In dieser Geschichte war das Land kein absolutistischer Militärstaat, geschaffen durch Drill und Gehorsam, Exerzieren und Paraden, sondern eine lebendige Gemeinschaft von Individuen, die durch ein inniges Zusammengehörigkeitsgefühl verbunden waren. Während Friedrich II., die wirkungsmächtigste Personifikation Preußens, für Sieg und Größe, aber auch für kalte Vernunft und Härte stand, verkörperte Luise Wärme und Gefühl. Nicht nur ein Mars, sondern auch eine Venus mit dem Antlitz einer anmutigen jungen Frau konnte Preußens Schutzgottheit sein.

Im Reigen der Luisenbilder standen zuerst die Reminiszenzen an eine goldige und freche kindliche Prinzessin, die in der deutschen Provinz fern der großen Höfe aufwuchs. Es folgten die Erinnerungen an das Jahr 1793, als Luise – halb Backfisch, halb erblühende junge Frau – in Berlin ihren Einzug hielt. Danach blieb die junge Kronprinzessin im Gedächtnis haften, die mit ihren blauen Augen und den wehenden blonden Locken ausgelassen durch die Berliner Ballnächte tanzte. Mit ihrer Frische schien sie den Anfang einer neuen Zeit vorwegzunehmen. In einer Ära fundamentaler Umbrüche, jenem Zeitalter der Revolutionen, dem sich Preußen so lange Zeit zu entziehen suchte, doch in dessen Strudel das Land schließlich doch geriet, schien Luise für frischen Wind, für einen Kompromiss zwischen Altem und Neuem, für eine behutsame Veränderung der Monarchie zu stehen. Dementsprechend war der Winter des Jahres 1797 – als ihr Mann Friedrich Wilhelm III. seine Regierung begann und Luise, schon zweifache Mutter, die Verantwortung mit ihm teilte – mit großen Erwartungen beladen.

Unvergesslich bitter blieb das Jahr 1806, als die Königsfamilie nach der Niederlage von Jena und Auerstedt vor dem übermächtigen Empereur Napoleon in den Osten ihres Reiches flüchtete. Für die Ewigkeit schien auch der Moment geschaffen, als sie diesem Gegner Aug’ in Auge entgegentrat, um die Verstümmelung ihres Landes zu verhindern. Schließlich blieb das von Tausenden geteilte Erlebnis eines Todes im Gedächtnis haften, der Luise mit 34 Jahren mitten aus dem Leben riss. Nicht zuletzt das frühe Sterben der Königin im Jahr 1810 machte es möglich, dass sie auf immer eine Figur der «Erhebung» – also der Zeit der preußischen Reformen und des Widerstandes gegen Napoleon – bleiben konnte. Dies unterschied sie von ihrem Gatten Friedrich Wilhelm III., der weiterlebte und nach 1815 zum König der Restaurationszeit wurde.

Neben der Erinnerung an ihre Mädchenhaftigkeit – an Anmut, Schönheit, Charme und Natürlichkeit – und neben der Verheißung auf eine Erneuerung Preußens war es vor allem der Mutterkult, welcher das Bild und das Nachleben der Königin prägte. Liebende Mutter war die Königin zunächst ihren eigenen Kindern; darin sollte sie Vorbild für alle Frauen des Reiches sein. In der nach ihr benannten «Luisen-Stiftung» sollten in ihrem Sinne Erzieherinnen ausgebildet werden, und jedes Jahr an ihrem Todestag erhielten ausgewählte «Luisenbräute» eine Aussteuer aus der königlichen Schatulle. Darüber hinaus war sie im übertragenen Sinn auch Mutter des ganzen Volkes. Luises mütterliche Liebe stand für die emotionale Bindung zwischen dem Herrscherhaus und den Untertanen. Die mütterliche Königin gab der Vision einer als Familie harmonisch geordneten Gesellschaft ein Gesicht. Diese Vision war gerade in den schweren Zeiten nach der Niederlage von 1806 von großer politischer Bedeutung. Oberkonsistorialrat Friedrich Sack, Berliner Hof- und Domprediger, entwickelte in einer kleinen Broschüre die politischen Konsequenzen für die 1810 verwaiste Nation: «So müssen nun auch alle rechtschaffene Patrioten ihrem Landesherren noch so viel inniger ergeben seyn (…) und alles aufbieten, was ihm ein unverdächtiger Beweis ihrer Treue und ihrer Liebe sein kann.»[5]

Luises Tod wurde darüber hinaus als Folge des Leides gesehen, das Napoleon über sie, ihre Familie und das ganze Land gebracht hatte. Die Königin wurde zu seinem Opfer, ja sogar zur Märtyrerin der preußischen Sache, stilisiert. Im Verlauf des Krieges wurde ihr Tod immer mehr als Aufruf zur Gegenwehr gegen die fremden Besatzer gedeutet. «Jetzt endlich ist Luise gerächt», soll der preußische Generalfeldmarschall Leberecht von Blücher vor den Toren des 1814 in den Befreiungskriegen besiegten Paris ausgerufen haben.[6] Luise war in der nationalen Imagination zu einer geistigen Führerin des preußischen Kampfes, später gar zu einer Göttin des Sieges geworden. Ihre Ablehnung Napoleons erschien jetzt als Abneigung gegen den nationalen Feind, ja gegen alles Französische.

Diese Bilder, diese Geschichten Preußens über sich selbst, hatten erstaunlich lange Bestand. Von Generation zu Generation weitergegeben und durch viele Varianten bereichert, überlebten sie bis in das 20. Jahrhundert. In der Revolution von 1848 waren sie bedeutsam, um ein Land im Aufruhr vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren. Im Krieg von 1870 wurde Luise zu einer Galionsfigur des erneuten preußischen Kampfes gegen Frankreich. Im frühen Kaiserreich sollte sie helfen, die Herrschaft der Hohenzollern allen Deutschen schmackhaft zu machen. Noch die Nationalsozialisten, welche die Hohenzollern lange Zeit hofierten, nach vollzogener Machtübernahme jedoch bald auf Distanz gingen, bedienten sich der Königin Luise. Es erscheint wie ein berechneter NS-Propagandacoup, dass eine der letzten Rollen, welche die Schauspielerin Emmy Sonnenmann auf der Bühne verkörperte, bevor sie die zweite Gattin des Reichsluftfahrtministers Hermann Göring wurde, die der Königin Luise in Hans Schwarz’ Theaterstück «Der Prinz von Preußen» war.

Doch nicht nur verschiedene Regime, auch Biographen und Historiker haben sich eifrig an der Erfindung, Fortschreibung und stetigen Erneuerung der Figur beteiligt. Sie haben ihr wechselnde politische und gesellschaftliche Bedeutungen zugeschrieben. In diesem Zusammenhang ist etwa Luises erste Biographin, ihre Freundin Caroline von Berg, zu nennen, die ihre Lebensbeschreibung aus dem Jahr 1814 «der preußischen Nation» sowie den Witwen und Waisen der Kriegsgefallenen widmete. Friedrich Adami schloss sich im Jahr 1851 an. Sein Werk, das mehr als zwanzig Auflagen erreichte, erhielt im Kaiserreich den Untertitel «ihre Lebensgeschichte, dem deutschen Volke erzählt» und prägte das Luisenbild nachhaltig.[7] Zum 100. Geburtstag der Königin, der im Jahr 1876 begangen wurde, beschwor der Historiker Heinrich von Treitschke Luise als «Lichtgestalt», die den preußischen Soldaten der Befreiungskriege engelsgleich voranschwebte.[8] Noch Paul Bailleu sprach am Anfang des 20. Jahrhunderts von einem durch Luises Tod hervorgebrachten politischen «Bund, der alle Wechselfälle der nächsten Jahre überdauerte und die Grundlage für das neue Preußen schuf.»[9]

Auch wenn der Bekanntheitsgrad und die Wirksamkeit der Königin nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges deutlich abgenommen haben und die Erinnerung verblasst, ist die Faszination für Königin Luise nicht vollständig verlorengegangen. An aktuellen Biographien der Königin Luise von Preußen herrscht kein Mangel. Einige von ihnen, wie etwa das erfolgreiche Buch des Journalisten Heinz Ohff, können zu den Klassikern des Genres gezählt werden. Darüber hinaus hat in jüngerer Zeit der Luisenmythos, mehr als Luises Leben und Zeit, die Historiker fasziniert. So haben unlängst Studien des Schriftstellers Günter de Bruyn, der Historikerin Karen Hagemann oder des Kunsthistorikers Philipp Demandt die sich wandelnden Inanspruchnahmen der Figur erforscht.

Dennoch scheint eine frische Annäherung an diese zentrale Figur der preußischen, deutschen und europäischen Geschichte möglich und nötig. Die Zeit ist für ein solches Unterfangen günstig, denn in den Anfängen des 21. Jahrhunderts wird die Position Preußens und seiner Hauptfiguren im kollektiven Gedächtnis neu justiert. «Preußen ist wieder sexy», titelte unlängst das Magazin der Süddeutschen Zeitung.[10] Doch die Beobachtungen der aus München in die Berliner und Potsdamer Gesellschaft entsandten Journalisten trafen nicht den Kern der Sache. Von Ausnahmen abgesehen, die bekanntlich die Regel bestätigen, sind weder die Berliner noch die Brandenburger von einer latent reaktionären Leidenschaft für das Borussische befallen. Die Entscheidung, in Berlins Mitte das Hohenzollernschloss auf den Ruinen des Palastes der Republik zu errichten, hat bekanntlich der Bundestag, nicht die Bewohner der Hauptstadt getroffen. Die durchaus vorhandene Zustimmung zu dieser Entscheidung rührt zumeist aus enttäuschenden Erfahrungen mit moderner Architektur, gewiss auch aus dem Wunsch nach Verdrängung der DDR-Erinnerung, doch kaum aus politischer Rückwärtsgewandtheit. Niemand fordert den alten Kaiser Wilhelm zurück. Niemand, der politisch ernstzunehmen wäre, gibt sich der Illusion einer guten alten Zeit hin. Wenn die Renaissance des Preußischen überhaupt verortbar ist, dann steht seine wachsende Sichtbarkeit bestenfalls für einen sehr diffusen, eher kulturellen als politischen Konservativismus.

Auch der Erfolg von Christopher Clarks Bestseller Preußen – Aufstieg und Niedergang 1600–1947 taugt nicht als Beleg für die Existenz einer neuen, politisch bedenklichen Borussophilie. Zwar hat der aus Australien stammende, in England lehrende Historiker mit der lange Zeit verbreiteten Deutung aufgeräumt, in Preußen lägen die Wurzeln der gefährlichsten Tendenzen in der deutschen Geschichte. Er teilt vor allem nicht die einst verbreitete Auffassung, dass preußischer Militarismus und Untertanengeist in gerader Linie zum Nationalsozialismus führten. Doch gleichzeitig ist seine Studie keineswegs vom Enthusiasmus für das Land der Hohenzollern getragen, sondern vielmehr von solider Kenntnis, von distanzierter, abwägender historischer Analyse. Dass gerade dieses Buch zum Bestseller geworden ist, zeigt, dass die Wiederentdeckung der preußischen Vergangenheit weder mit deren Glorifizierung noch gar mit politischen Projekten für die Gegenwart oder Zukunft einhergehen muss.

Wenn es nicht vorrangig politische Motive sind, welche die Wandlung des Preußenbildes bewirken, was ist es dann? Ohne Frage ist die preußische Vergangenheit als Standortfaktor für eine wirtschaftlich labile Region von Bedeutung; die Touristikunternehmen haben die Zugkraft von Fremdenführern im Kostüm Friedrichs des Großen längst erkannt. Doch es gibt auch tiefere Gründe für eine wachsende Präsenz Preußens im öffentlichen Bewusstsein. Dass bei den Bewohnern des östlichen Deutschlands (zu denen auch die Westberliner zu rechnen sind), die seit 1989 in einem Strom fundamentaler Umbrüche mitgerissen werden, Geschichtsbedürfnisse entstehen, kann kaum überraschen. Gewiss bedarf die krisengebeutelte Gegenwart vor allem einer Auseinandersetzung mit der an Brüchen und Katastrophen reichen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dass der nach Antworten suchende Blick in die Vergangenheit jedoch auch bei der lange Zeit randständigen Lokal- und Regionalgeschichte des deutschen und europäischen Ostens vor 1918 haften bleibt, ist aber nahezu unvermeidlich. Hat nicht jedes Dorf und jedes Städtchen im Norden, Süden und Westen der Republik seine Geschichtsvereine? Warum soll im Osten und in der Hauptstadt die Frage nach der Gewordenheit des eigenen, des unmittelbaren Umfeldes weniger legitim sein? Soll die Erinnerung beim Ersten Weltkrieg halt machen? Soll sie für immer in einseitigen Lesarten verharren, deren politische Funktionen in West und Ost nur zu offensichtlich waren? Könnte das Interesse für die Entstehung der ostdeutschen Städte und Landschaften, Berlin inklusive, nicht ein Nährboden für die Sorge und Pflege sein, derer diese nach wie vor so dringend bedürfen? Sind nicht gerade hier, wo die deutsche Teilung nach wie vor den Alltag prägt, Ansätze gemeinsamer Erinnerung besonders nötig? Es wäre – trotz vereinzelter Vereinnahmung Preußens von rechts und trotz mancher Blüten des Preußen-Kommerzes – fatal, alle Effekte, die eine lebendige kollektive Erinnerung mit sich bringt, von vornherein für verdächtig zu halten. Eine regionale Identität, die auch eine historische Dimension hat, ist per se nichts Verwerfliches. Dass sich die anlässlich des Potsdamer Schlössermarathons gedruckten T-Shirts mit der Aufschrift «Preußisch locker» großer Beliebtheit erfreuen, zeugt davon, dass das nötige Quäntchen Ironie vorhanden ist. Auch der implizite Vorwurf, dass unter der Verschiebung des historischen Horizontes die Beschäftigung mit den geschichtspolitisch bedeutsameren Epochen des Nationalsozialismus und der DDR-Geschichte leidet, ist unberechtigt. Das eine schließt das andere keineswegs aus.

Königin Luise, einst Zentralgestirn des preußischen Nationalmythos, spielt in der derzeitigen Preußen-Renaissance bislang nur eine marginale Rolle. Zwar gibt es – in Hohenzieritz, Gransee, Paretz, Berlin-Charlottenburg, Berlin-Tiergarten und an vielen anderen Orten – Denkmäler und Gedenkstätten, die an die preußische Königin erinnern. Einige von ihnen werden seit neuerem durch eine von den regionalen Tourismusverbänden angebotene «Königin-Luise-Route» miteinander verbunden. Doch im Vergleich zur überwältigenden Popularität, welche die Königin einst hatte, sind dies eher bescheidene Initiativen. Neben einem Erinnerungsort größeren Ausmaßes fehlt es vor allem an einer Vorstellung dessen, was Luise heute bedeuten kann.

Bei dem Versuch, eine Figur der Vergangenheit in die Gegenwart zu übersetzen, muss allerdings mit Bedacht vorgegangen werden. Die Form der Aktualisierung, welche die amerikanische Regisseurin Sofia Coppola gewählt hat, um eine längst verstorbene Königin einem jungen Publikum schmackhaft zu machen, verspricht nur bedingt Erkenntnis. Ihr Film über die französische Königin Marie-Antoinette zeigt diese als ein vergnügungs- und modesüchtiges Girlie in den illustren Dekors des Schlosses von Versailles. Doch auch wenn die junge Kronprinzessin Luise die Nächte bis zum Morgengrauen durchtanzte wie eine Technoqueen der Gegenwart, helfen solche mutwilligen Aktualisierungen kaum zu einem wirklichen Verständnis der Figur.

Vielversprechender ist der entgegengesetzte Weg, bei dem die Mechanismen der Identifikation aufgebrochen werden. Luise ist keine von uns! Die Vertrautheit, ja Vertraulichkeit mit der Prinzessin, Kronprinzessin und Königin und ihrer Zeit, welche viele Biographen pflegen, basiert auf einer Illusion. Die zweihundert Jahre, die seit Luises Tod vergangen sind, müssen vielmehr ernst genommen werden. Es gilt, die höfische Welt um 1800 zu verstehen wie ein Ethnologe, der sich mit einer zunächst fremden Kultur auseinandersetzt. Einsichten verspricht nicht trügerische Nähe zur glanzvollen Sphäre des Hochadels, sondern Beobachtung eines Kosmos, der historisch und sozial weit von unserer Welt entfernt ist. Es gilt, die dichte und reflektierte Beschreibung einer untergegangenen Kultur, ihrer Lebensweisen und Mentalitäten, ihrer Zeremonien und Riten, ihres gesellschaftlichen Sinnes zu versuchen. Aus den Bruchstücken, die uns in Archiven und Museen überliefert sind, ist nicht das Vertraute herauszupicken und in uns geläufige Kategorien zu stecken, sondern gerade das Fremde, das Überraschende, Widersprüchliche und Unerwartete zu sehen.

Was viele Biographen beispielsweise unterschlagen, sind Details von Luises Leichenfeiern, welche kaum ins Bild der liebreizenden Königin passen: Die Hitze, welche in den Tagen der Beisetzung herrschte, ist bereits erwähnt worden. Doch die daraus hervorgehenden Folgen für den Körper der Königin finden selten Erwähnung. Die Verwesung setzte bei weitem schneller und heftiger ein, als dies bei mäßigeren Witterungsverhältnissen der Fall gewesen wäre. Die Organisatoren des Leichenzuges setzten verschiedene Mittel ein, um die Zersetzung des Körpers zu verlangsamen. Schon bei der Leichenwäsche waren mineralische Säuren angewandt worden, welche helfen sollten, den königlichen Körper zu konservieren. Auf den Stationen des Weges, in Gransee und Oranienburg, hatten Gutsbesitzer aus ihren eingekellerten Vorräten Eis zur Verfügung gestellt, das «mit Salz verstärkt» an die nächste Station geliefert werden konnte.[11] Die Zeit um 1800 kannte noch keine Gefrierschränke, nur in speziellen Kellern, die dafür auf Gutshäusern und Dorfangern angelegt wurden, ließ sich im Winter Gefrorenes bis in den Sommer konservieren. Doch die Bemühungen um Luises sterbliche Reste erwiesen sich als vergeblich. Die Oberhofmeisterin Voß schrieb am 28. Juli 1810 in ihr Tagebuch: «Unser heimgegangener Engel fängt seit heute an, sich zu verändern; wir können ihn nicht mehr zeigen. Unterwegs wurde der Sarg täglich geöffnet, um nachzusehen. Auch gestern sah ich meine Engelskönigin noch, aber heute ist sie zuerst nicht mehr dieselbe.»[12] So war bei der dreitägigen Aufbahrung der Leiche lediglich der Sarg zu sehen.

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Der Sarg der Königin Luise mit einer Statue von Christian Daniel Rauch im Mausoleum im Schlosspark Charlottenburg.

Die Bemühungen um den Körper der Königin sind mehr als nur ein makabres Detail oder ein Zeugnis der medizinisch-technischen Möglichkeiten des frühen 19. Jahrhunderts. Vielmehr wird hier ein Blick auf die Notwendigkeiten des Personenkultes eröffnet, für den die Sichtbarkeit offenbar eine große Rolle spielte. Die Verklärung der Luise brauchte ihren physischen Körper als Kristallisationspunkt. So kann es nicht überraschen, dass eben die unversehrte Leiche, welche bei der Beerdigung nicht mehr zu sehen gewesen war, in der endgültigen Ruhestätte der Königin Luise präsentiert wurde: Im Mausoleum im Park des Schlosses Charlottenburg, wohin Luises sterbliche Überreste am 23. Dezember 1811 umgebettet wurden, liegt auf dem Sarkophag die von Rauch gehauene lebensgroße Marmorfigur der gerade verstorbenen Königin. Es scheint, als würde hier das Bild in Marmor nachgeliefert, das der Öffentlichkeit bei der Beerdigung entgangen war.

Die Fremdheit der Königin Luise zu betonen, heißt vor allem, sie nicht als überzeitliche junge Frau zu sehen, sondern sie in den konkreten Kontext ihrer Zeit zu stellen – das heißt zuerst und vor allem in den Kontext der höfischen Welt um 1800. Im Jahr 1969 veröffentlichte der Soziologe Norbert Elias, damals Professor an der Universität von Ghana, seine inzwischen weltberühmte Studie über die höfische Gesellschaft. Elias hat uns gelehrt, dass Pomp und Zeremoniell, wie sie die europäischen Fürsten an ihren Höfen zelebrierten, keineswegs aus Genuss- und Verschwendungssucht resultierten, sondern dass die komplizierten höfischen Formen vielmehr tiefe Bedeutung als Inszenierungen eines Gesellschafts- und Staatstheaters hatten.

Die Metaphern des Theaters – Stück, Bühne, Kulisse, Darsteller, Inszenierung – werden in diesem Buch nicht ohne Bedacht verwandt. Schon die Zeitgenossen nutzten sie, um höfisches Leben zu beschreiben, und auch den heutigen Historikern ist die Vorstellung vom Hof als Bühne vertraut. Dies gilt nicht nur, weil die Hofgesellschaft sich gerne im Theater unterhalten ließ und viele ihrer Mitglieder sich als Dilettanten auf der Bühne betätigten, sondern weil bei Hofe in immer neuen Inszenierungen und unter immer neuen Umständen immer wieder das gleiche Stück gegeben wurde: die Darstellung der Macht. Bis heute sucht Herrschaft die Anschaulichkeit. Macht wird in Szene gesetzt, denn nur so ist sie sichtbar und erfahrbar. So ruft sie sich in Erinnerung und blendet sich ein in das Leben der Beherrschten. Die Höfe waren, abgesehen davon, dass hier Entscheidungen getroffen und umgesetzt wurden, zuerst und vor allem Bühnen der Macht. Hier stellte sich nicht nur die Elite, sondern bei den großen öffentlichen Akten die ganze Gesellschaft dar. Hier zeigte sich vom König bis zum Tagelöhner jeder entsprechend dem ihm zustehenden Rang. «Vergesellschaftung durch Anwesenheit» haben dies die Soziologen genannt; man könnte einfacher sagen: am Hof war Dabeisein alles. Luises Leidenschaft für das Theater, sowohl als Zuschauerin wie als Darstellerin in den kleinen Darbietungen im engeren Kreis, spricht darüber hinaus für diese Sichtweise.

Die Einbettung der Figur Luise in die Hofkultur um 1800 verspricht Erkenntnisse, die das vorherrschende Bild von der Königin verändern. Vor allem eröffnen sich neue Perspektiven auf den Luisenmythos. Dieser ist bislang vor allem als ein Erfolg medialer Vermittlung – durch Gemälde, Drucke, Zeitungen, Bücher, Flugblätter – verstanden worden. Doch vielleicht ist damit die Wirkung des Medialen im 19. Jahrhundert über- und die Macht der direkten Kommunikation in dieser Zeit unterschätzt worden. Beim Blick auf Hofleben und höfische Repräsentation zeigt sich, dass Mythen in einer «Face-to-Face-Society» auch und vor allem aus den unmittelbaren Wirkungen einer Person auf andere entstand. Wer die Berichte von der massenhaften Beteiligung der Untertanen an den öffentlichen Auftritten der Königin liest, dem wird diese Ansicht plausibel erscheinen.

Die Auseinandersetzung mit dem höfischen Kontext erlaubt es darüber hinaus, den gesellschaftlichen Ort der Prinzessin, Kronprinzessin und Königin präziser zu bestimmen. Ein Leitmotiv der Luisenliteratur ist die Betonung der «Einfachheit» der Königin. Immer wieder, fast schon gebetsmühlenartig, wird in der Literatur wiederholt, dass Luises Jugend und Erziehung, ihr Lebensstil als Kronprinzessin und Königin «fast schon bürgerlich» gewesen seien. Die Ursprünge dieses Urteils liegen in der Zeit vor und nach 1800. Nicht nur am Berliner Hof, sondern in ganz Europa nahm das Hofleben bescheidenere, unzeremoniellere und geselligere Formen an. Doch auch wenn es ohne Frage Stiländerungen am preußischen Hof der Luisenzeit gab, ist es wichtig, die Grenzen des Wandels zu ergründen. Eine bürgerliche Königin ist um 1800 ein Widerspruch in sich. Die preußische Monarchie war und blieb eine ständische Herrschaftsform mit klaren Hierarchien. Ob ihre Überwindung zumindest teilweise gelang, wie viel Tradition, wie viel Innovation, wie viel Respekt für Standesgrenzen und wie viel Offenheit für die Welt außerhalb des Hofes hier möglich war, das ist eine der Fragen, die in diesem Buch beantwortet werden sollen. Ganz abgesehen davon, dass die Kategorien des «Bürgertums» und der «Bürgerlichkeit» in der Umbruchzeit um 1800 nicht leicht anzuwenden sind. Wer Luise als «fast schon bürgerlich» bezeichnet, der muss zunächst definieren, was genau hier «fast» und was «bürgerlich» bedeutet.

Ein genauerer Blick auf die Hofkultur erlaubt auch in anderer Hinsicht neue Akzente. Selbst wenn neuere Biographien zumeist frei von der einst üblichen nationalen Mythisierung der Figur sind, so haben sie den engen preußisch-deutschen Horizont, welcher der Königin Luise gespannt wurde, selten verlassen. Doch die dynastische und höfische Welt um 1800 war keineswegs national beschränkt, sondern sie zog ihre Lebendigkeit aus vielfältigen europäischen Verbindungen und Einflüssen. Die Beschreibungen von Luises Schwärmerei für den russischen Zaren und des Konfliktes mit Napoleon sind bei weitem nicht ausreichend, um die europäischen Dimensionen der Luisenzeit aufzuzeigen. Vielmehr gilt es, die grenzüberschreitenden Zusammenhänge des dynastischen Verwandtschaftsverbandes, die internationalen Einflüsse auf die höfische und die politische Kultur oder die künstlerischen und philosophischen Wechselwirkungen mit anderen Ländern aufzuzeigen. Zuerst und vor allem muss hier das Augenmerk auf die seit 1789 von Frankreich und der Revolution ausgehenden politischen und gesellschaftlichen Impulse gerichtet werden. Sie erschöpfen sich keineswegs in einem antagonistischen Gegenüber von Revolution und Gegenwehr. Zwischen einer monarchisch-plebiszitären Figur wie Napoleon und einer «Revolution von oben», wie sie die preußischen Reformen darstellten, gab es überraschend viele Ähnlichkeiten. Trotz militärischer Gegnerschaft waren die Beziehungen zwischen der Welt der Revolution und der Welt des Ancien Régime überaus komplex.

Die umfangreiche Editions- und Übersetzungstätigkeit, welche Luises Nachlass einem großen Leserkreis eröffnet hat, ist der Erkenntnis der internationalen Vernetzung eher hinderlich. Die Vielsprachigkeit der höfischen Welt ist in vielen Editionen nicht mehr nachvollziehbar – dies musste ganz im Sinne einer nationalen Aneignung der Figur sein, welche es Luise kaum nachsah, dass sie das Gros ihres Briefverkehrs in französischer Sprache – mit deutschen und manchmal auch englischen Einwürfen – abgefasst hatte.

Auch in Bezug auf die Frauenbilder der Luisenzeit können durch einen präziseren Blick auf die höfische Kultur um 1800 neue Erkenntnisse gewonnen werden. Denn als stabiler als die nationalen Traditionen haben sich in der Biographik die Konfigurationen der Weiblichkeit des 19. Jahrhunderts erwiesen. Nur wenige Autorinnen, etwa die Schriftstellerin Gertrud Mander oder die Frankfurter Historikerin Luise Schorn-Schütte, haben sich der Verlockung, Luises mädchenhafter oder mütterlicher Fraulichkeit zu frönen, ganz entzogen. Identifikation mit der Königin scheint gerade auf der menschlichen Ebene, durch Sympathie mit einer wunderbaren jungen Frau besonders einfach. Doch nichts ist trügerischer als die Vorstellung eines gleichsam überzeitlichen Menschseins, das uns Heutigen das Verständnis von historischen Figuren ermögliche.

Selbst Routiniers wie Heinz Ohff sind vor Klischees nicht gefeit, beschreiben die Königin als «schön und bezaubernd», als eine Prinzessin «wie es sie sonst nur im Märchen gibt».[13] Doch das Publikum, das sich durch die Frauenbilder des letzten Jahrhunderts angesprochen fühlt, dürfte immer kleiner werden. Bilder von Weiblichkeit zu historisieren, heißt nicht, Luises weiblichen Charme oder ihre Qualitäten als Mutter zu leugnen. Es gilt, ihnen den Spiegel vergangener Ideale vorzuhalten. Die Bildnisse, welche die Künstler ihrer Zeit – ein Schadow, ein Tischbein, eine Vigée-Lebrun oder ein Grassi – schufen, entsprachen dem jeweiligen Zeitgeschmack, ebenso wie viele der schriftlichen Hommagen an die Königin. Aus vielen Zeugnissen über Königin Luise können wir über die Vorstellungen der Autoren und ihrer Zeit mehr lernen als über die Königin.

Ein Blick auf die letzten Lebensjahre der Königin erlaubt es darüber hinaus, den Kontrast zwischen Luises Verklärung zur Lichtgestalt und ihrem persönlichen Erleben zu zeigen. Sieht man die Erneuerung höfischen Lebens, die Verkörperung eines neuen Bildes der Königin, der Dynastie und der Monarchie als das Ziel und die Leistung der Königin Luise an, dann stehen die Jahre nach 1806 für das Scheitern dieses Versuchs. Ein neuer Stil, so musste der Königin schmerzlich bewusst werden, war kein wirksames Mittel gegen den Angriff einer hochgerüsteten Militärmacht. Die französische Besatzung Preußens zerstörte eben jene Bühne, die Luises wirkungsvoller Lebensrahmen gewesen war. Gewiss bewies sie Mut und Anmut in Zeiten der Not und der Gefahr, gewiss zeigte sie sich als leidensfähige Dulderin, gewiss gab sie auch Impulse für eine Erneuerung des Staates, doch war ihrer Vision eines neuen, gestärkten Preußen die Grundlage entzogen. Trotz vielfacher Bewunderung schon zu Lebzeiten war Luises Ende von Momenten der Erschöpfung und Mutlosigkeit überschattet. So betrachtet, ist die beliebteste deutsche Königin eine gescheiterte, ja eine tragische Figur.

Wer hinter die gängigen Bilder sehen, ja sich heute noch einer originären Luisenerfahrung unterziehen will, der nehme eine der Editionen ihrer Briefe – etwa die von Malve Gräfin Rothkirch zusammengestellte Sammlung – zur Hand. Nach wenigen Seiten der Lektüre beginnt Luises Stimme zu erklingen. Anfangs ist sie leicht und heiter bis zur Albernheit, freundlich, zugewandt und empfänglich für die Sorgen anderer, auf unakademische Weise geistvoll. Es gibt wohl kein besseres Mittel, um sich heute noch ein Bild von Luises Charme zu machen und zu verstehen, wie leicht man ihm erliegen kann. In den letzten Jahren jedoch prägt die Briefe immer wieder ein resignierter Ton. Luises Zweifeln, ja Verzweifeln am Projekt Preußen, das sie so lange gemeinsam mit ihrem Mann verfolgt hatte, wird hier allzu deutlich. Die Briefe sind eine gute Grundlage, um die Figur der Luise zu entzuckern und sie aus den Fängen der Bilder vergangener Zeiten zu befreien.

Allerdings steht jeder Versuch, sich der Figur neu zu nähern, vor einem Quellenproblem. Gerade die frühen Gewährsleute, wie etwa Caroline von Berg, haben sich viele Freiheiten im Umgang mit den ihnen zugänglichen Originalen genommen. Die Freundin glaubte, es der Königin und der preußischen Nation schuldig zu sein, die Schriftstücke, die ihr vorlagen, zu bearbeiten und damit das Bild der Königin zu schönen. Malve Gräfin Rothkirch, welche für ihre Briefedition Archivalien und Editionen miteinander verglichen hat, hat dafür zahlreiche Beispiele gefunden. Es gibt sogar einzelne Briefe, bei denen es unsicher ist, ob ein Original jemals bestanden hat.

Sehr kreativ und ein Erfinder vieler sehr erfolgreicher Luisen-Anekdoten und Aperçus war der Hofprediger Rulemann Friedrich Eylert, der am Vorabend der Revolution von 1848 die Charakterzüge aus dem Leben des Königs von Preußen Friedrich Wilhelm III. veröffentlichte. In seiner Darstellung erhält Luise eine nahezu sakrale Aura. Auch die gedruckte Ausgabe der Tagebücher der Gräfin von Voß, eine der wichtigsten Quellen für das Leben der Königin Luise, ist mit Vorsicht zu genießen. Die Ausgaben von 1876 und 1935 sind «sachlich berichtigt und aus zeitgenössischen Quellen ergänzt». Vergleicht man die Edition mit dem im Geheimen Staatsarchiv befindlichen Original, so finden sich zahlreiche Abweichungen.[14]

Selbst ein wissenschaftlich prüfender Autor wie der Archivdirektor Paul Bailleu, dem der Nachlass der Königin Luise zugänglich war, verzichtete nicht auf Anekdoten und Aussprüche, die ihm wohl zu schön erschienen, um nicht wahr zu sein. Spätestens durch Bailleu haben viele Geschichten über die Königin zu Unrecht den Segen der Wahrhaftigkeit erhalten. Die Autoren unserer Zeit haben sich wiederum vielfach auf ihn berufen. Nicht in allen Fällen können heute noch die Originalquellen zur Kontrolle der Überlieferung herangezogen werden. Luises Gatte Friedrich Wilhelm III. hat, wie damals üblich, nach ihrem Tod viele ihrer Briefe verbrannt. In den Wirren des Zweiten Weltkrieges sind darüber hinaus zahlreiche Dokumente verloren gegangen, welche die Historiker der Vorkriegszeit noch konsultieren konnten. Ohne den Anspruch auf letzte Wahrheiten wurde in dieser Biographie auf möglichst verlässliche Quellen zurückgegriffen. Das Leben der Königin Luise bleibt, selbst wenn einige der schönen Zitate und Anekdoten wegfallen müssen, aufregend genug.

II.

Provinzbühnen

Häufig hat man die Kindheit der Königin Luise als Kleinstadt- und Landidyll dargestellt, in dem ein vom Hofleben unverdorbenes Mädchen im Kreis einer liebenden Familie aufwuchs. Luise habe als Kind das «schöne Glück des innigen Familienlebens» genossen. Dies habe, so der bedeutendste Biograph der Königin Luise, Paul Bailleu, ihr Wesen geprägt. «Im Winter gab es Jagden und Schlittenfahrten (…). Den Sommer verlebte man im Garten und Lusthaus der Großmama, in der Braunshardt, und, wenn man eingeladen wurde, in Auerbach an der Bergstraße, (…) in dem am westlichen Abhange des Odenwaldes anmutig gebetteten ‹Fürstenlager›.»[15] Hannover und Herrenhausen, Darmstadt und Broich, die Schauplätze der frühen Jahre der Prinzessin Luise, waren tatsächlich Orte der deutschen Provinz. Erst mit ihrer Hochzeit betrat Luise die große Bühne einer Residenz von europäischem Format, und selbst dann schien sie sich in ihrem kleinen Sommersitz Paretz bei Potsdam am wohlsten zu fühlen. Noch der Tod ereilte die preußische Königin in einem winzigen Schlösschen, im mecklenburgischen Hohenzieritz. Die provinzielle Herkunft war und ist ein Leitmotiv der Geschichten über die Königin Luise. Versinnbildlichte doch das kleinstädtische und ländliche Umfeld Luises «Einfachheit» und «Natürlichkeit» und damit ihre Fremdheit in der künstlichen Welt des Hochadels, die Voraussetzung für die spätere Nähe zu ihren Untertanen zu sein schien. In einer Kleinstadtjugend, gleichsam am Busen der Natur, wurden, so die gängige Erklärung, die Grundlagen für das Erwachsenenleben einer «fast schon bürgerlichen» Königin gelegt.

Doch freilich waren die kleinen Städte, in denen die kleine Luise aufwuchs, Residenzen von Fürsten, die, wenn auch mit bescheideneren Mitteln als ihre bedeutenderen Standesgenossen, auf die Behauptung ihres Ranges nicht verzichteten. Auch die Landsitze und Parks, in denen Luise als Kind spielte, waren weder «natürlich» noch gar «bürgerlich». Vielmehr gehörten Landleben und Landschaft im 18. Jahrhundert fest zur adeligen Lebenskultur. Die Lieblingsbeschäftigungen von Luise und ihren Geschwistern – Kutschfahrten, Ausritte, Federball, Schaukeln und Croquet – gehörten zu einer «amphibischen» adeligen Lebensweise zwischen Stadtresidenz und Landsitz. Auch kennzeichnete es gerade die Mode der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Landsitze zum Idyll auszugestalten. Diese Mode, die als Antwort auf kursierende Hofkritik eine illusionistische Verniedlichung der Herrenschicht versuchte, hatte selbst die mächtigsten Höfe Europas erreicht. Zu ihr gehörte auch, dass die Parks der Schlösser nicht mehr im französischen, sondern im englischen Stil angelegt wurden. Statt nach geometrischen Formen strikt gezogener Wege entstanden gewundene Pfade; statt rigide in Form geschnittener Bäume und Sträucher wurde auf scheinbar von Menschenhand unberührte Flussläufe, Bassins und Beete Wert gelegt. Auch der Darmstädter Schlosspark, in dem Luise als Kind häufig spielte, war von der Landgräfin im englischen Stil umgestaltet und für Spaziergänger geöffnet worden. Der soziologisch aussagekräftige Namen «Herrngarten» wurde jedoch beibehalten.

Diese Form des Gartens, wie sie außerhalb des Barockparks Herrenhausen auch in Hannover anzutreffen war, unterstand einem strikten Gestaltungswillen, bei dem die höchste Kunst darin bestand, einen von Menschenhand angelegten Naturraum urwüchsig erscheinen zu lassen. Sorgfältig geplante Sichtachsen lenkten den Blick auf sonnige Wiesen, lauschige Lichtungen, malerische Baumgruppen, Teiche, gewundene Flussläufe und Wasserfälle. Wie zufällig wurden Bauwerke in der gestalteten Natur verteilt – Tempelchen, Pagoden, maurische Höfe, Almhütten, künstliche Ruinen, Grotten und Einsiedeleien, in denen teilweise sogar eigens angestellte «Schmuckeremiten» ihren Dienst versahen. Nicht die Wildnis, sondern das begehbare Landschaftsgemälde war das Ideal.

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Prinzessin Georg, Luise, zwei Schwestern und Salomé de Gélieu im Garten des Schlosses Braunshardt.

Solche gestalteten Naturräume gehörten zu den bevorzugten Bühnen hochadeligen Lebens. Die Abtrennung der englischen Landschaftsgärten von der Umgebung erfolgte nicht mehr demonstrativ durch hohe Zaungitter, Mauern oder Wasserläufe wie beim älteren französischen Barockpark, sondern durch in Gräben versenkte Mauern, welche die Verbindung von Garten und Umgebung optisch nicht beeinträchtigten und wegen des Täuschungs- und Überraschungseffektes «Ha-Ha» genannt wurden. So waren die sozialen Schranken weniger sichtbar und dennoch vorhanden. Auch wenn adelige Parks, wie auch der Berliner Tiergarten unter Friedrich II., im 18. Jahrhundert zunehmend für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, blieben sie doch in erster Linie Lustgärten, die sich der Hochadel leistete.

Die Auftritte von Luise und ihren Geschwistern auf der Freilichtbühne erfolgten auf planierten Wegen, in empfindlichen Sommerkleidern, vor Sonne und unerwünschter Bräunung durch einen zierlichen Schirm geschützt. Spielzeug und Mobiliar wurden von der Dienerschaft herausgetragen, die auch Tee und «Pique-nique» in lauschigen Lauben servierte. Sich in solchen Landschaften zu verhalten zu wissen, hieß, die Codes der Hocharistokratie zu beherrschen, nicht, sich von ihnen abzugrenzen. Ganz abgesehen davon, dass nur der einigermaßen begüterte Adel ausreichend Grund und finanzielle Ressourcen hatte, um solche Parks anzulegen und zu unterhalten.

Um Luises Jugend von ihrer Geburt im Jahr 1776 bis zu ihrer Hochzeit im Jahr 1793 richtig einzuordnen, ist ein Verständnis für die politisch-gesellschaftliche Bedeutung der Provinz und die im 18. Jahrhundert verbreiteten Inszenierungen des Natürlichen hilfreich. Zu häufig ist angesichts der Überschaubarkeit und des provinziellen Reizes der Orte von Luises Jugend ihre soziale Herkunft unterschätzt worden. Kleine Residenzen, Landschlösschen und Parks waren Lebensräume der erlesensten Oberschichten im Europa des 18. Jahrhunderts. Luise Auguste Wilhelmine Amalie Herzogin zu Mecklenburg aus der Linie Mecklenburg-Strelitz gehörte qua Geburt dazu.

Mecklenburg-Strelitz

Mit unseren heutigen Begriffen von Gesellschaft ist die soziale Herkunft der Königin Luise kaum zu fassen. Im 21. Jahrhundert bestimmen vor allem die Art und der Umfang der Einkünfte eines Menschen über seinen Platz in der Gesellschaft, im 18. Jahrhundert hingegen zählte vor allem der Stand. Die Stände waren durch ihre Rechte und Pflichten definiert, die für Bauern, Bürger, Kleriker oder Adelige sehr unterschiedlich waren. So durften viele Bauern nicht frei über ihren Wohnort entscheiden, ein Bürger hatte in der Regel keinen Zugang zum Hof, ein Adeliger konnte keinen Geldgeschäften nachgehen, ein Kleriker war von den Steuern ausgenommen. Welchem Stand ein Mensch angehörte, darüber entschied vor allem seine Geburt. Der älteste Bauernsohn übernahm zumeist den Hof des Vaters, ein Tischlerspross kehrte nach den Gesellenjahren in die väterliche Werkstatt zurück, die Kaufmannstochter heiratete den Sohn eines Geschäftspartners. Die Stände vermischten sich kaum. Selbst innerhalb der Herrenschicht des Adels verlief eine Standesgrenze: die fürstlichen Häuser, die ihre Staaten als Souveräne regierten, waren vom landsässigen Adel abgetrennt. Noch das preußische Landrecht von 1794, ein Meilenstein in der deutschen Rechtsgeschichte, verbot Ehen zwischen Mitgliedern verschiedener Stände.

Stellt man sich die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts als eine Pyramide vor, dann ist Luises Familie an der Spitze zu finden. Sie war Spross einer der ältesten Fürstendynastien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und ihre Herkunft damit alles andere als bescheiden. Das Haus Mecklenburg stammt von slawischen Herrschern ab, nach denen es auch als Geschlecht der Obodriten bezeichnet wird. Ihre Stammlinie lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen.

Dass die Mecklenburger ein höchst vornehmes und altes Geschlecht waren, heißt nicht zwangsläufig, dass sie auch reich oder mächtig gewesen sind. Zur Schlichtung eines Erbfolgestreits in der mecklenburgischen Herzogsfamilie war deren ohnehin nicht großes Land im Jahr 1701 in zwei Teile gespalten worden. Der größere Teil hieß Mecklenburg-Schwerin, der kleinere Mecklenburg-Strelitz. Letzteres umfasste das Fürstentum Ratzeburg, südlich von Lübeck, sowie die Herrschaft Stargard und die Komtureien Mirow und Nemerow – insgesamt gerade einmal dreitausend Quadratkilometer, die noch nicht einmal zusammenhingen. Residenz des Teilfürstentums wurde ab den 1730er Jahren Neustrelitz, eine kleine Stadt vor den Toren des alten Strelitz am Zierker See, deren Herz das herzogliche Schloss mit Park und Tiergarten war.