Die Autorin

Julie Heiland – Foto © heike ulrich fotowork

JULIE HEILAND hat Journalistik studiert und eine Schauspielausbildung absolviert, gibt sich mittlerweile aber voll und ganz dem Autorinnendasein hin. Sie lebt in Süddeutschland und kann sich im Sommer nichts Schöneres vorstellen als mit einem guten Buch im Strandbad zu liegen. Bei Ullstein ist von ihr bereits die Romanbiografie Diana. Königin der Herzen erschienen.

Julie Heiland

Die Freundinnen vom Strandbad

Wellen des Schicksals. Roman

Ullstein

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www.ullstein.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Juni 2022
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022
Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München
Titelabbildung: © SZ Photo / Scherl / Bridgeman Images
Autorenfoto: © Heike Ulrich
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ISBN 978-3-8437-2681-8

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Anmerkung

Anmerkung


Auch wenn dieser Roman vor dem Hintergrund wahrer politischer Ereignisse spielt, handelt es sich hierbei um eine fiktionale Erzählung.

Prolog

1956

Martha

Feierabend im Strandbad Müggelsee, schrieb Martha auf ihren Block und unterstrich die Überschrift.

17.45 Uhr: Das Strandbad leert sich, notierte sie. Eine junge Mutter packt Badetücher, Spielsachen und Sonnencreme in ihren Korb.

17.50 Uhr: Die Gymnastikgruppe macht Kniebeugen am Ufer.

17.51 Uhr: Uschi, Angestellte im kleinen Kiosk, ordnet die Auslage. Sie dreht das Radio lauter. Der Sprecher kündigt eine gewisse Mona Babtiste an.

»Heut liegt was in der Luft, in der Luft, in der Luft«, sang diese Mona.

17.52 Uhr: Uschi schwingt die Hüften.

Martha verlor sich im Anblick des Fischreihers, der am Rande der Anlage, dort, wo die Nackten lagen, am Wasser entlangstakste.

»Natürlich darfst du heute Nachmittag ins Strandbad Müggelsee«, hatte ihre Mutter gesagt. »Da spricht nichts dagegen, denn ich kenne mein kleines Mädchen und weiß, dass du so gewissenhaft bist, dort zu lernen. Vergnügen sollte immer mit Pflicht verbunden werden.«

»Protokolliere doch das Geschehen«, hatte ihr Vater vorgeschlagen. Wie immer hatte er großes Talent dafür bewiesen, in die Tageszeitung vertieft zu sein und sich trotzdem am Gespräch zu beteiligen. »Beobachte die Leute ein bisschen, hör hin, was sie untereinander reden. Du schreibst doch gern. Das ist sicher eine gute Übung. Ich würde das Protokoll dann auch lesen und dir Tipps geben.«

Martha mochte es, »Augen und Ohren offen zu halten«, wie ihr Vater sie angewiesen hatte. Sie stand nicht gern im Mittelpunkt, sondern beobachtete lieber. Nur leider schien sie immer das Falsche aufzuschnappen. »Fischreiher und Mode sind nicht von Interesse. Nimm dir doch ein Beispiel an deinem Bruder Ronny. Er weiß, welche Details man wie zusammenfasst«, würde es heute Abend wieder heißen.

Aber ihr ging es auch gar nicht darum, fremde Gespräche zu belauschen. Rezepte von Eisbein mit Erbspüree und Sauerkraut, Beschwerden über unfreundliche Verkäuferinnen oder halb leere HO-Läden waren nicht gerade das, was sie interessierte. Ihr ging es um die Menschen. Sie wollte ihr Verhalten ergründen, wollte unter die Oberfläche blicken.

»Ich könnte weinen und lachen und lauter Unsinn machen«, sang Uschi mit und traf die Töne eher schlecht als recht. »Heut liegt was in der Luft, ein ganz besonderer Duft, der so verlockend ruft!«

Es duftete wirklich verlockend, und zwar nach dem Prasselkuchen, den Uschi heute im Angebot hatte. Martha lief das Wasser im Mund zusammen. Sie seufzte, dann kratzte die Spitze ihres Füllers wieder über das Papier.

17.55 Uhr: Drei Frauen kommen von den Umkleiden. Sie tragen dasselbe gepunktete Kleid, aber an jeder von ihnen sieht das Modell ganz anders aus. Sie hakten sich beieinander ein, kicherten über etwas und stiegen die Freitreppe hinauf zur Dachterrasse. Wäre sie doch nur schon erwachsen, dann könnte sie auch hohe Schuhe und Lippenstift tragen und sich die Haare beim Friseur legen lassen, und Männer würden ihr die Tür aufhalten. Und ganz sicher würde sie ganz oft den Sonnenuntergang am Müggelsee bewundern, vielleicht sogar an einer der »wilden« Badestellen abseits vom Strandbad, die keine Öffnungszeiten kannten. Ihre Eltern hatten ihr natürlich verboten, dort schwimmen zu gehen.

17.57 Uhr: Ein Mädchen taucht an der großen Freitreppe auf und lässt den Blick schweifen.

Betty Reinhart. Tochter des Strandbad-Leiters.

Marthas Mutter predigte immer, dass im Sozialismus alle Menschen gleich seien. Aber das stimmte nicht. Betty war … Sie war wertvoller als alle anderen. Wenn sie den Schulflur entlanglief, dann waren die Wände nicht mehr ganz so grau, und auch das Rot des Pionierhalstuchs sah an ihr leuchtender aus als an allen anderen. Betty war stets von einer Blase von Mädchen umgeben. Wenn die Sportlehrerin in der Schule fragte, ob sie zum Abschluss Völkerball oder Volleyball spielen wollten, sahen sie alle zu Betty hin, und was sie sagte, wurde gemacht. Steckte eine hübsche Spange in Bettys dickem blonden Haar, sah man am nächsten Tag überall im Schulflur Haarspangen, die meisten aus Suralin oder bunter Pappe selbst gebastelt.

An diesem Nachmittag trug Betty einen gepunkteten Badeanzug mit Rüschen an den Seiten. Eigentlich war Martha stolz auf ihr dunkelblaues Modell gewesen, das ihre Mutter vor zwei Wochen ergattert hatte. Der Moment, als Martha die Überraschung aus der Tüte gezogen hatte, war wie Geburtstag und Weihnachten gleichzeitig gewesen! Aber jetzt kamen ihr der gewöhnliche Schnitt und die Einfarbigkeit langweilig vor. Wo bitte bekam man einen solchen Badeanzug her? »Die kaufen bestimmt im Westen ein«, würde ihre Mutter sagen.

17.59 Uhr: Der letzte Dampfer des Tages schippert vorüber. Ein angenehmer Wind überzieht den See mit feinen Rillen, die ans Ufer rollen. Ich schiebe meine nackten Füße in den Sand. Meine Haut spannt leicht von dem Tag in der Sonne.

Sie strich die letzten zwei Zeilen durch. Wie oft hatte ihr Vater ihr gepredigt: »Deine persönlichen Befindlichkeiten tun nix zur Sache! Das interessiert niemanden!«

Weiter.

Eine Gruppe Jungs spielt Wasserball, wobei sie sich eigentlich nur gegenseitig nass spritzen. Laut, ungehemmt. Schräg von ihnen zwei junge Frauen. Beide splitterfasernackt. Das lange Haar reicht ihnen bis zum Po. Sie sitzen im Sand, ohne Decke, ohne alles, wie gestrandete Nixen. Nur eine Gitarre haben sie dabei, auf der die eine zupft, die andere singt dazu. Es dauert nicht lange, bis eine ältere Dame sie darauf hinweist, dass sie gern in Ruhe ihr Rätsel lösen würde, aber die beiden zucken gleichgültig mit den Schultern und lachen laut.

Ganz schön dreist! Für eine freche und respektlose Reaktion wie diese würde Martha von ihrem Vater eine saftige Ohrfeige kassieren, bei der danach Sternchen vor ihren Augen tanzen würden. Die Frau guckte zu Martha, woraufhin sie geflissentlich den Kopf schüttelte, so wie ihre Mutter es immer tat, wenn man schon wusste, wie ihr nächster Satz lauten würde: »Über manche Menschen kann man sich nur wundern!« Aber eigentlich verstand sie nicht, was so schlimm an ein bisschen fröhlichem Gesang war.

Weiter im Protokoll.

18.02 Uhr: Ein Pärchen schlendert an dem bunt bepflanzten Beet mit der Statue einer nackigen Frau darin vorbei und das Gebäude entlang, das sich als flacher Bogen an das leicht abschüssige Gelände anpasst. »Kleiderbügel« nennt man das Gebäude wegen seiner Form, und ebenso wenig wie ein Kleiderbügel etwas Besonderes ist, ist dieses Gebäude etwas Besonderes. Es ist ein Zweckbau, dessen Zweck es ist, den Menschen einen Ort zu schenken, wo sie zusammenkommen, entspannen und ihre Freizeit genießen können. Und weil es mit dem Café auf der Dachterrasse aus Stahlbeton sowie dem Laden für Badebedarf im Erdgeschoss diesen Zweck wunderbar erfüllt, ist es eben doch etwas ganz Besonderes.

»Von Martha Asseln«, vollendete sie ihren Text und spürte lächelnd der Gänsehaut nach, die ihre Unterarme überzogen hatte und nun langsam wieder verschwand. Dieses Gefühl, wenn die Worte regelrecht Besitz von ihr ergriffen und nur so aus ihr herausströmten, war berauschend. Es gab sie eben doch, die Magie des geschriebenen Wortes, auch wenn ihr Vater darüber immer despektierlich lachte. Er war der Ansicht, das geschriebene Wort wäre allein dafür da, etwas zu dokumentieren, und zwar am besten so sachlich und knapp wie möglich.

Auf einmal legte sich ein Schatten auf ihr Notizheft. Martha zuckte vor Schreck zusammen, aber es war nur Uschi, die ihr ein Stück Prasselkuchen brachte, weil das Bad in einer Stunde schloss und sie noch so viel übrig hatte. »Du bist ja von einem Sommer zum anderen ein richtijes Frollein geworden«, sagte sie. »Haste denn schon deine Jugendweihe jehabt?«

»Ich bin doch erst dreizehn«, antwortete Martha. »Die Jugendweihe hat man mit vierzehn.«

»Na denn. Bist immer so fleißig«, sagte Uschi und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Die anderen Kinder vergnügen sich im Wasser, und du sitzt hier auf der Bank und lernst. Bist ’n braves Mädchen.«

Martha lächelte. Was sollte sie auch darauf erwidern? Eigentlich würde sie viel lieber im Wasser Ball spielen. Aber ihr wurde allein bei der Vorstellung, die Jungs zu fragen, ob sie sich ihnen anschließen durfte, mulmig zumute. Am Ende passierte ihr noch etwas Tollpatschiges, und alle würden sie auslachen.

Platsch. Schon wieder hatte das Mädchen vom Ende des langen Stegs einen Köpper ins Wasser gemacht. Schon seit einer halben Stunde ging das so. Sie konzentrierte sich, sprang, kletterte wieder auf den Steg, konzentrierte sich, sprang … Trainierte sie für einen Schwimmwettbewerb?

Die Sportgruppe beendete nun ihre Stunde. Ein Chor aus »Mach’s jut, Gudrun! Mach’s besser, Heike! Bis nächste Woche! Immer schön fit bleiben!«, setzte ein.

»Was is mit dir, Horst?«, rief eine der älteren Frauen.

»Ick bleib noch, Mädels«, antwortete er. »Ick will mir noch ’n bisschen im Wasser abkühlen.« Horst kam vom Ufer zurück und stolzierte mit eingezogenem Bauch und erhobenem Kopf zu einer Frau, die in einem blauen Trägerkleid und Clogs schon abreisebereit war. Wie ein echter Gentleman hob er ihren Dederonbeutel mit bunten großen Plaste-Druckknöpfen auf, klopfte mit der Hand den Sand ab und bot ihr den Arm, um sie die Freitreppe hinaufzubegleiten, aber davon wollte sie nichts wissen.

Horst, das Müggelsee-Urgestein. Jeder hier kannte ihn. Er erzählte gern Geschichten von früher, und alle begannen sie mit: »Ick bin hier schon schwimmen jejangen, da war allet noch Wildnis! Da war von ’nem Strandbad noch keene Rede!«

Oft hatte er wirklich spannende Geschichten auf Lager. Entweder saugte er sich all die Abenteuer aus den Fingern und war ein hervorragender Schwindler, oder in den Tiefen des Müggelsees lagen wirklich so einige unglaubliche Geheimnisse verborgen …

»Dann sei mal lieber vorsichtig, wenn du noch ’ne Runde schwimmen willst, wa? Du bist auch nich mehr der Jüngste.«

»Nu werd mal nich frech!«

»Na, so alt wie det Strandbad bist du zumindest. Du sagst doch immer, dass du tüchtig jeholfen hast, die ersten schilfgedeckten Holzhäuser auf dem Gelände zu bauen. Det war ja noch vor dem Ersten Krieg.«

»Det hast du junges Huhn alles nich erlebt«, erwiderte Horst und zog seine Badehose hoch, die auch schon einige Sommer erlebt hatte und immer wieder verrutschte, weil der Bund ausgeleiert war und Schlüpfergummi Mangelware. »Du kennst det Strandbad ja nur picobello.«

»Ja, ja, Horst«, sagte die Frau. »Aber eh du mir wieder erzählst, dass das Gebäude ursprünglich aus den Zwanzigern ist – ich muss los. Mein Mann wartet. Wir sehn uns nächste Woche.«

»18 Uhr, die Rentner-Sportgruppe löst sich auf«, seufzte Martha und wollte ihre Beobachtung festhalten, aber der Füller kratzte nur auf dem Papier. Die Tinte war eingetrocknet. Das kam davon, wenn man nicht bei der Sache war! Sie befeuchtete die Spitze mit Spucke.

Platsch. Wie lange wollte dieses Mädchen denn noch Kopfsprünge üben? Wurde ihr nicht langsam schwindelig? Sie ging in Marthas Parallelklasse, aber sie sprach mit niemandem. Ihr Haar war rostrot und reichte ihr gerade mal bis knapp über die Ohren. Dazu dieser sehr gerade, kurze Pony.

Die Tochter des Strandbad-Leiters warf ihre dicken blonden Zöpfe über die Schultern, zog eine Zeitschrift aus ihrem Campingbeutel und machte es sich in einem der Strandkörbe bequem. Martha hatte es noch nie gewagt, sich in einen der Strandkörbe zu setzen. Irgendwie hatte sie immer gedacht, dass sie den Erwachsenen vorbehalten waren.

Martha griff nach ihrer Waldmeister-Limonade, die neben ihr auf der Holzbank stand, und fischte den Strohhalm heraus, der etwas tief gerutscht war.

Auf einmal sah sie etwas auf sich zufliegen. Keine Sekunde später wurde sie von einem Ball getroffen. Die Limonade landete auf ihrem Heft, ein blauer Fleck breitete sich auf dem Papier aus. Dahin war die Arbeit von Stunden. Oh nein! Ihr Vater würde unzufrieden mit ihr sein, selbst wenn sie ihm die Seite zeigte und ihm erklärte, dass sie nichts dafür konnte …

»’tschuldigung«, sagte jemand.

Martha sah von ihrem Heft auf. Vor ihr stand ein Junge. Leuchtend rote Badehose. Braune Haut. Blaue Augen.

»Tut dir was weh?«, fragte er. Die schräg stehende Sonne ließ sein nasses blondes Haar glitzern.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

Er deutete auf ihr Heft. »War das wichtig?«

Erneut schüttelte sie den Kopf. Klemmte sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Nein.«

Sie wollte etwas Lockeres sagen, etwas wie: »Ach, war nur für die Schule, nicht weiter wichtig«, aber ihr Kopf war wie leer gefegt.

Er deutete auf sein Kinn. »Du hast da Tinte.«

»Oh.« Hastig befeuchtete Martha ihren Zeigefinger mit Spucke und wischte über ihr Kinn.

»Also dann«, sagte der Junge. »Viel Spaß noch.« Er nahm den Ball und ging weg.

»Pass halt besser auf, Alex«, wies Betty ihn zurecht. War der Junge ihr Bruder? Alex war also sein Name.

Alex katapultierte eine Ladung Sand mit dem Fuß auf Betty. Ja, definitiv Geschwister.

»Du bist so doof! Das sage ich Papa!«

»Mach doch, Petze!« Er gab seinen Freunden ein Zeichen, und die Clique zog ab zu Uschis Kiosk.

Platsch. Wann gab dieses Mädchen endlich auf? Nahm sie denn nicht wahr, dass sich das Strandbad leerte? Und wo war überhaupt Horst? Martha suchte das Wasser ab. Kein alter Mann weit und breit. Oder halt … Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Weit draußen ruderte doch jemand hilflos mit den Armen! Sie sprang auf und rief: »Hilfe! Da ertrinkt jemand!«

Wo waren nur all die Erwachsenen auf einmal?! Oder die Jungs?

Platsch. Das Mädchen war ins Wasser gesprungen und kraulte dem Ertrinkenden entgegen. Alleine wäre sie niemals stark genug, ihn die ganze weite Strecke aus dem Wasser zu ziehen. Gemeinsam jedoch könnten sie es schaffen.

Martha rannte los. Erst über den Strand, dann bis ans Ende des Stegs. Kopfsprung ins Wasser. Horst strampelte panisch mit Armen und Beinen. Immer wieder verschwand der alte Mann unter der Wasseroberfläche. Was, wenn sie es nicht rechtzeitig schafften?

Kurzes Aufatmen, als das Mädchen ihn erreichte. Doch Horst klammerte sich an ihr fest und drückte sie unter Wasser.

»Horst! Lass sie los!«, rief Martha verzweifelt.

Das Mädchen schlug um sich, traf Horst am Kopf, und er ließ von ihr ab. Keuchend tauchte sie wieder auf. Der alte Mann schluckte eine Ladung Wasser. Hustete. Er klang fürchterlich, so, als würde er ersticken.

Endlich erreichte auch Martha die beiden. »Horst, ich bin’s! Martha! Beruhige dich!«, rief sie in sein Gepaddel und Gekeuche hinein. »Wir helfen dir!«

»Fieser … Krampf …«, presste er hervor.

»Wir sind jetzt bei dir. Gemeinsam schaffen wir es ans Ufer.« Das war ja Betty! Wo kam sie denn plötzlich her?

»Ich packe Sie jetzt unter den Achseln«, erklärte das Mädchen eindringlich, »und dann schwimmen wir gemeinsam auf dem Rücken ans Ufer. Verstanden?«

Eine an je einem Arm, eine bei den Beinen, und immer wieder mussten sie schnaufend innehalten – mit vereinten Kräften gelang es ihnen tatsächlich, Horst an Land zu hieven. Der alte Mann sank vor Martha auf den Sand, wo er mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen Unterschenkel rieb und keuchte.

Im nächsten Moment war alles voller Leute. Uschi schrie, jemand solle einen Arzt rufen. Martha zitterte. Ihr Körper bebte richtig. Ihre Beine waren ganz weich. Neben ihr hockten die beiden anderen Mädchen. Irgendwie hatten sich ihre Hände gefunden. Sie hielten einander fest. Sahen mit an, wie zwei Sanitäter mit einer Trage auf sie zueilten. Wie Horst sich weigerte, ins Krankenhaus zu fahren. »Det war doch nur ein dummer Krampf!«, schimpfte er. »Unfug! Ich fahre nirgendwohin!«

Uschi sagte: »Ihr Süßen braucht jetzt Zucker. Ich hole euch was aus meinem Laden.«

Herr Reinhart, der Leiter des Strandbads, sagte: »Das war sehr tapfer von euch. Geht’s euch gut?«

Sie nickten.

Und schon waren alle wieder verschwunden, den Sanitätern und dem fluchenden Horst hinterher.

»Wie können die uns denn allein lassen?« An Bettys Lidern stauten sich Tränen, die sie tapfer fortblinzelte. »Wo ist Vati?«

»Die kommen sicher gleich wieder.« Martha wagte es, Betty tröstend über den Rücken zu streichen, und erinnerte sich an einen Satz, den sie vor ein paar Wochen in einem Roman gelesen hatte. Er hatte ihr besonders gut gefallen. Er hatte bedeutungsvoll gewirkt. »Und solange haben wir einander.«

Sie sah die Bank, auf der sie vorhin noch friedlich, ja sogar ein wenig gelangweilt gesessen hatte. Sah den Strandkorb, in dem Betty vor ein paar Minuten noch in einer Zeitschrift geblättert hatte. Sah den Steg, von dem das Mädchen wieder und wieder einen Köpper ins Wasser gemacht hatte, ohne auch nur einmal richtig durchzuatmen. Eine Blonde, eine Rothaarige, eine Brünette – ihre Leben waren in unterschiedlichen Bahnen verlaufen, doch von einer Sekunde auf die andere hatte das Schicksal sie zusammengeworfen. Und nun kauerten sie nebeneinander auf dem Boden, verbunden durch den Schock, dem Tod begegnet zu sein, und der Erleichterung darüber, dass alles gut gegangen war.

»Ich kann noch immer nicht glauben, was gerade passiert ist«, brachte Betty mit unsicherer Stimme hervor.

Martha nickte. Sie sehnte sich nach einer Umarmung. Sie stellte sich vor, wie sie nach Hause kam und erzählte, was vorgefallen war. Würde ihr Vater stolz auf sie sein? Wahrscheinlich würde er davon ausgehen, dass sie maßlos übertrieb. Ihre Mutter würde ihr Mitgefühl dadurch ausdrücken, dass sie Martha die restlichen Hausaufgaben erließ und ihr gestattete zu lesen.

Martha nahm die Wärme wahr, die die Mädchen zu ihren beiden Seiten ausstrahlten, und wurde tatsächlich etwas ruhiger. Erging es ihnen vielleicht gerade ähnlich? Sehnten sie sich nach dem Schutz und der Geborgenheit ihres Zuhauses? Sie stellte sich Bettys Eltern wie aus der Bino-Werbung vor: Familie Reinhart versammelt am Esstisch in einem hübschen Haus, das mit modernen, hellen Plastemöbeln eingerichtet war.

Und das fremde Mädchen? Sie hatte die Hände auf ihre angewinkelten Knie gelegt und starrte aufs Wasser hinaus.

Martha wusste nichts über sie. In der Schule war sie wie ein Schatten. Sie war da, aber man nahm sie kaum wahr. Nur einmal war sie Martha deshalb aufgefallen, weil Mitschüler sie gehänselt hatten. Fast jeden Tag hatte sie ein anderes Buch dabei, in dem sie in der Pause las, anstatt Anschluss zu suchen. Sie war auch nicht bei den Pionieren, was Martha nicht in den Kopf wollte. Es machte doch Spaß, gemeinsam zu basteln, zu singen oder Ausflüge in die Natur zu unternehmen.

»Jemand sollte sich auch um dich kümmern«, fiel Betty auf einmal ein. »Du wurdest unter Wasser gedrückt. Du hast sicher …«

»Schon gut«, unterbrach das Mädchen sie. Jäh erhob sie sich vom Boden, klopfte sich den Sand von den Beinen und sagte: »Ich muss los.«

»Was?« Aus einem Reflex heraus griff Martha nach ihrem Handgelenk. Sie konnte jetzt nicht einfach gehen. Nicht nach dem, was sie miteinander erlebt hatten. »Wie heißt du denn eigentlich?«

Das Mädchen sah sie an, die Augenbrauen zwei misstrauische Striche. Ihr Blick ging durch und durch, und kurz befürchtete Martha, etwas Falsches gefragt zu haben, doch da huschte so etwas wie ein Lächeln über ihre Lippen. »Clara.«

»Ich bin Betty«, sagte das beliebteste Mädchen der Schule. Dabei wusste doch jeder, wie sie hieß.

Martha hatte gar nicht gemerkt, dass Betty erneut ihre Hand genommen hatte. Als sie aufstand, zog Martha sie mit auf die Beine. Der Boden unter ihren Füßen hatte aufgehört zu schwanken.

»Und ich bin Martha«, sagte sie. »Ich bin froh, dass wir drei gleichzeitig zur Stelle waren. Wir sind die drei tollen Lebensretterinnen vom Müggelsee.«

Betty nickte, holte tief Luft, und als sie sprach, hatte ihre Stimme an Sicherheit gewonnen. »Sind wir denn jetzt Freundinnen?«

Martha konnte kaum glauben, was sie da gerade gehört hatte. Hatte Betty Reinhart sie wirklich gefragt, ob sie Freundinnen waren?

»Freundinnen«, wiederholte Clara leise.

»Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als dass ihr meine Freundinnen seid«, sagte Martha.

Später fuhr Bettys Vater Clara und sie in seinem Wagen nach Hause. Martha dankte, stieg aus und sah den Wagen davonfahren. Eine wohlvertraute Melancholie überkam sie.

Als sie am nächsten Morgen den Schulhof betrat, sah, dass Betty wie immer von ihrem Gefolge umgeben war und Clara ihren Kopf in ein Buch steckte, sagte eine Stimme in ihr: Du hast es doch gewusst.

Sie drückte ihr Mathematikbuch fester an die Brust und wollte sich ins Klassenzimmer zurückziehen, als Betty sie bemerkte. Sie winkte ihr, sagte etwas zu den Mädchen, die sie umringten, und kam dann auf Martha zu. »Endlich, ich habe schon auf dich gewartet. Ah, dort drüben sitzt Clara. Lass uns zu ihr gehen.«

Martha entging nicht der verstohlene Blick aus dem Augenwinkel, den Clara ihnen zuwarf. Als sie vor ihr standen, fragte Betty: »Was liest du da?«

Clara klappte ihr Buch zu. Das Universum stand darauf.

»Ah.« Betty nickte. »Wollen wir gemeinsam nach der Schule zum Strandbad fahren?«, schlug sie vor.

Wieder dieser scheue, aber auch neugierige Blick. Clara steckte ihr Buch in ihre Schultasche. Das erste Mal überhaupt sah Martha sie lächeln.

»Das würde mich sehr freuen«, sagte sie förmlich, als wäre sie eine erwachsene Frau und nicht ein Mädchen knapp vor der Jugendweihe.

Gemeinsam betraten sie das Schulgebäude, und es war Martha, als würde sie die beiden Mädchen an ihrer Seite schon seit Jahren kennen.