Attar, Hiob und die
metaphysische Revolte
Mit sechs Kalligraphien
von Karl Schlamminger
Verlag C.H.Beck
Das «Buch der Leiden» des klassischen persischen Dichters Attar ist die vielleicht schwärzeste Dichtung, die je von einem Menschen geschrieben worden ist. Navid Kermani nimmt es zum Ausgangspunkt, um die Geschichte jener Religiosität zu erzählen, die Gott kennt, aber Ihm zürnt: eine Gegen-Theologie, die lange vor Hiob einsetzt und mit Georg Büchner noch längst nicht zu Ende ist. Sie zieht sich durch viele Religionen, vor allem aber verbindet sie auf hintergründige Weise das Judentum, den Islam und die europäische Moderne – das Alte Testament, den Sufismus und die deutsche Literatur, wo sie am dunkelsten ist. Navid Kermani zieht den Leser mit fast magischer Kraft in den Bann eines Glaubens jenseits der Rechtgläubigkeit. Die offene Ratlosigkeit, zu der sich diese häretische Frömmigkeit bekennt, dürfte der Welt, wie sie sich auch in unserer Zeit durch Krieg und Hunger, Erdbeben und Tsunamis zeigt, eher gemäß sein als die Antworten der Freitags- und Sonntagspredigten.
Navid Kermani, geboren 1967, ist Orientalist und lebt als freier Schriftsteller in Köln. Für sein akademisches und literarisches Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hessischen Kulturpreis und der Buber-Rosenzweig-Medaille. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. «Gott ist schön» (42007), „Schöner neuer Orient“ (22003) und «Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime» (22010).
Es gibt nichts Ganzeres
als ein zerbrochenes Herz.
Rabbi Nachman von Bratslav
Meinen Eltern
Sakineh Schafizadeh-Kermani
und Djavad Kermani
gewidmet
1. Hiobs Frage
Denn es ist ihresgleichen nicht im Lande
Güte, Allmacht, Erkennbarkeit
Die Leugnung Gottes
Die Not als Gottesbeweis
Leben und Legenden Attars
Das Werk
2. Das Buch der Leiden
Die Rahmenhandlung
Wendung ins Utopische
Zeitzeugnis
Ethos und Glaubensmaxime
Endzeit
Sehnsucht nach dem Nichts
3. Rechtfertigung und Schrecken Gottes
Allmacht versus Weisheit, Freiheit versus Vorhersehung
Der unergründliche Gott
Relativierung der göttlichen Allmacht
Gott selbst leidet
Der Schrecken Gottes
Theologie der Angst
4. Der Aufstand gegen Gott
Das Hiob-Motiv
Abwertung der Klage in der christlichen Theologie
Das Hiob-Motiv im Islam
Das Hadern mit Gott im «Buch der Leiden»
Die Narren
Der Mensch erhebt sich über Gott
Lust des Leidens
Häresie der Frömmsten
Hiob in der Islamischen Republik
5. Geschichte einer Gegen-Theologie
Nachfolge Gottes
Der Zorn auf die Götter
Das Hadern mit Gott im Judentum
Attar und die jüdische Tradition
In die Moderne
Das ewige Warum
Die Schoah
Satans Klage
Was bleibt
Anhang
Dank
Hinweise zur Umschrift und Zitierweise
Zu den Kalligraphien
Anmerkungen
Literatur
Personenregister
Wahrscheinlich sollte ich erklären, warum ich ein Buch über eine mystische Dichtung des 12. oder 13. Jahrhunderts mit der Erinnerung an meine Tante beginne. Das Leben hat mir persönlich noch kein Leid bereitet, das es erlauben würde, der Schöpfung zu zürnen. Die Gründe dafür, daß ich nach der Pubertät nicht aufgehört habe, am Leben zu verzweifeln, sind nicht der Rede wert. Ich bin für mein Alter viel gereist und habe einiges gelesen. Was sich mir bot, genügte, um die Annahme zu verwerfen, das Leben könne einen vertretbaren Sinn bergen. Doch ist mein Verhältnis zu Gott nicht eng genug, Ihm sein Werk vorzuhalten, gerechterweise vorhalten zu dürfen. Die Religiosität meiner Kindheit habe ich mir bewahrt, nur ist sie von eher praktischer Bedeutung; ich ziehe aus ihr keinen intellektuellen Schluß. Sie besteht nicht gegen das Leid der anderen, das sich auftut, wohin ich sehe, sie versucht es gar nicht erst und hilft mir dennoch durch den Alltag, indem sie mir wie eine Fee zuflüstert, mein Weg folge einer Spur. Ich bin bereit, der Stimme aus dem einfachen Grund zu glauben, daß sie mich davon abhält, stehenzubleiben. Der Glaube meiner Tante und der anderen Menschen, von denen ich sprechen werde, von denen der Dichter Faridoddin Attar spricht, ist von anderer Konsistenz. Ihr Glaube durchdringt sie. Darüber mag man sich philosophisch erheben, man mag es belächeln oder für sich verwerfen, aber wenn ich mir die schlichte, wesentliche Frage stelle, was am Ende den einen vor den anderen Menschen auszeichnet, dann stehen sie für mich im Glanze, denn am Ende, dem letzten der Tage, oder vor dem Jüngsten Gericht zählt die Güte, nichts anderes. Ich sehe, daß die Frommen unter meinen Mitmenschen – und damit meine ich zuallererst die Verwandten aus der Generation meiner Eltern und Großeltern – gute Menschen sind, gut im emphatischen Sinne: Sie sind so liebevoll wie wohltätig, weder lügen sie, noch betrügen sie, man kann vielleicht nicht alles mit ihnen besprechen, aber sich in allem auf ihre Zuneigung verlassen, sie sehen einem noch die großen Kränkungen nach und verzeihen immer zuerst. Sie sind tolerant im eigentlichen Sinne, insofern sie das Fremde mit distanzierter Freundlichkeit behandeln, ohne es verstehen, geschweige denn mögen zu müssen.
Selbstverständlich können andere Menschen auch gut sein. Aber die Menschen des religiösen Typus, den ich meine, den Attar meint, sind es auf jeden Fall. Ihnen ist die Güte wesenseigen. Vor allem auf Reisen schärft sich das Gespür für Sicherheit, und mir ist aufgefallen, daß ich jemandem instinktiv und ohne weitere Bedenken vertraue, wenn ich die edelste Form der Frömmigkeit an ihm bemerke. Daß ich von den Bigotten oder Buchstabenfrommen nicht spreche, versteht sich, den Erbsenzählern oder Kopfarbeitern, sondern von denen, «die da glauben und Gutes tun», wie es der Koran in der stets wiederkehrenden Formulierung präzise faßt – glauben und Gutes tun. Es müssen keine schlichten Menschen sein, die ich meine, aber ihr Glaube ist schlicht. Die Rituale, die ihnen aufgegeben worden sind, befolgen sie strikt, ohne nach der Begründung zu fragen, die Werte, die ihnen die Offenbarung an die Hand gibt, achten sie so still wie konsequent, und Gott preisen sie selbst dann für das Sein, wenn es sie quält. Durch Worte und nachdrücklicher durch ihr Vorbild mahnen sie ihre Umgebung beständig zum wohltätigen Glauben (welcher Glaube, das ist ihnen weniger wichtig, nicht ruhen läßt sie vielmehr der Unglauben). Sie mahnen – nicht mehr, aber zu unserem gelegentlichen Verdruß auch nicht weniger. Das ist die Religiosität, die sich mir als Kind eingeprägt hat, und so deutlich ich wahrnehme, welches Unheil heute gerade aus dem Islam erwächst, vergesse ich doch die Menschen nicht, die mir bis heute die Tugend zum Vorbild geben, meinen Großvater zum Beispiel, der den getuschelten Spott seiner jungen, frechen Töchter ertrug, wenn er vor ihnen das Gebet der Großfamilie leitete. In seinen Memoiren hielt er als erstes stolz die Anekdote fest, wie unser Urgroßvater, ein hochangesehener Theologe, sich im Wortsinn schützend vor die Bahais in Isfahan gestellt hat, als andere Mullahs den Mob losließen; Anfang des letzten Jahrhunderts muß das gewesen sein. Mein Großvater ist als Großbürger überzeugter Demokrat gewesen und als Vertreter der Isfahaner Notabeln in den vierziger Jahren eigens nach Teheran gefahren – keine kurze Strecke damals –, um dem verblüfften Oppositionsführer Mossadegh mitzuteilen, daß er seinen Kampf gegen die Monarchie gutheiße. Liberal jedoch, wie wir es verstehen, war mein Großvater nicht, vielmehr ein konservativer Mann von orthodoxem Ernst, das Lob Gottes beständig auf den Lippen und mit strengen moralischen Ansprüchen an sich und seine Nächsten. Wenn er, der selbst an einer Theologischen Hochschule in Isfahan studiert hatte, den Kleingeist der Straßenprediger wie der Staatstheologen verächtlich machte, dann fühlte er sich nicht dem Geist der westlichen Aufklärung und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verpflichtet, sondern dem größten Geist, dem des Allmächtigen.
Da ist der Herr Ingenieur Kermani, der Mann meiner Tante Eschrat, der uns mit dem Backgammon auch das Beten lehrte, ein Kettenraucher vor dem Herrn, der seine immense Körpermasse am liebsten in Kleidung vom Stile Gamal Abdel Nassers zwang, jenen hellbraunen oder hellblauen Baumwollanzügen, bei denen die Jacke zugleich Hemd ist. Herr Ingenieur – den Titel Āqā-ye Mohandes, «Herr Ingenieur», vergaß ich selbst dann nicht zu nennen, wenn ich zu mir selbst sprach –, Āqā-ye mohandes Kermani war eine wirklich imposante Erscheinung, der dickste und größte unter meinen Verwandten, den riesig-runden Schädel kahl und mit goldenem Vorderzahn im häufig lachenden Mund. Solange meine Erinnerung zurückreicht, versorgte er die Häuser aller Verwandten und Bekannten, auch jener, die in Europa und den Vereinigten Staaten leben, mit einem selbstentworfenen braunen Poster, auf dem «Remember God» in drei Sprachen stand, auf englisch, arabisch und persisch. Bei meinen Eltern hängt es noch heute im Flur.
Herr Ingenieur war fromm, aber nie kleingeistig. Ich war zu jung, um seine Größe zu überblicken, mein ältester Bruder jedoch berichtete mir, wie der Herr Ingenieur ihn einmal während der Ferien in Teheran zur Seite nahm und auf dessen Hosenlatz deutete. Mein Bruder stand damals kurz vor der Geschlechtsreife, die im Islam mit der Verpflichtung zum Ritualgebet einhergeht.
– Paß mal auf, sagte er meinem Bruder, du wirst bald an deinem Körper etwas ganz Besonderes und sehr Schönes bemerken. Dein Glied wird manchmal groß und fest werden, und vielleicht wachst du auch mal eines Morgens mit einem Flecken vorn in der Hose auf oder bemerkst, daß es Spaß macht, mit deinem Glied zu spielen. Vielleicht wird dann etwas Weißes aus deinem Glied spritzen, eine Flüssigkeit, die aussieht wie Milch. Das ist nicht schlimm. Das ist etwas Wunderbares. Das ist eines der schönsten Geschenke, die Gott uns gibt. Du mußt dich nicht schämen oder dich fürchten. Du darfst es genießen.
Bei allem Frohlocken über die Wohltaten Gottes vergaß Herr Ingenieur Kermani nicht, meinen Bruder auf die bevorstehende Verpflichtung zum Ritualgebet hinzuweisen. Daß ihm die Sexualität göttlich vorkam, machte ihn nicht zum Freigeist. Er nahm es als einen Grund mehr, Gott zu danken. Gott zu lieben hieß für den Herrn Ingenieur, die Schöpfung zu lieben. Gott zu dienen hieß für ihn, Gottes Geschöpfen zu dienen. Mein Bruder erzählte mir auch von der Hochzeit eines Bettlers, die der Herr Ingenieur ausgerichtet hatte. Der Bettler hatte ihn auf der Straße um ein Almosen gebeten, und der Herr Ingenieur hatte ihm statt dessen eine Arbeit besorgt, später eine Ehefrau vermittelt und dazu noch die Aussteuer bezahlt. Auch die anderen Bettler und Bedürftigen der Nachbarschaft konnten sich auf ihn verlassen, und für die Waisenkinder Isfahans gründete er ein Heim, wie es heute noch in Isfahan kein größeres und besser organisiertes gibt. Immer wieder sahen wir, wie er in Isfahan bei Familienfeiern und großen Gesellschaften Geld sammelte für seine Waisen, und wenn jemand starb, legte er statt des üblichen Blumengestecks eine große Tafel auf das Grabmal, auf der er zu Spenden für das Heim aufrief, bis kaum noch jemand daran dachte, zu Beerdigungen Blumen mitzubringen und alle das Geld gleich dem Waisenheim überließen. Die älteren Verwandten einschließlich meiner Eltern behaupten fest, daß Gott ihnen jede Bitte, die mit einer Spende für die Waisen des Herrn Ingenieur bekräftigt wurde, erfüllt hat. Der Herr Ingenieur lebte mit Gott, tagein, tagaus. Durch ihn habe ich zu begreifen begonnen, was es heißt, daß Gott dem Menschen «näher als die Halsschlagader» sein kann, wie es Sure 50,16 behauptet. Als mein Bruder etwas älter war, gestand ihm der Herr Ingenieur, daß er manchmal im Gebet eine Erektion bekomme, so entrücke ihn das Gespräch mit Gott, und daß er umgekehrt, wenn er mit der Tante schlafe, das Gefühl habe, Gott sehr nahe zu sein und Ihm zu dienen. Nein, Herr Mohandes Kermani war nicht typisch in seinem Glauben, auch kein typischer Muslim. Auch die Frommen, über die Attar schreibt, sind nicht typisch, weder für ihre Zeit noch für den Islam. Deshalb schreibe ich über sie, weil sie besonders waren. Stereotypen, zumal islamische, gibt es genug.
Ein, zwei Stockwerke tiefer, im gleichen Hochhaus gegenüber der sowjetischen Botschaft, mitten in der Teheraner Innenstadt, wo die Vornehmen längst nicht mehr wohnen, lebte sein Freund Mehdi Bazargan, der langjährige Widerstandskämpfer gegen den Schah, kurzzeitige Ministerpräsident unmittelbar nach der Revolution und langjährige Widerstandskämpfer gegen die Islamische Republik, ein ebenso grundreligiöser Mensch, dessen entschlossene Friedfertigkeit nicht einmal seine Gegner unberührt ließ. Über ihn habe ich an anderer Stelle geschrieben.[1] Und natürlich ist da, wiederum in Isfahan, meine Tante Lobat, die ich als Kind schon deshalb innigst liebte, weil sie «die schönsten aller Geschichten» erzählte, ahsanu l-qasasi, bin ich versucht, eine Formulierung der Sure 12,4 zu verwenden, die der Koran auf sich selbst münzt, aber auch, weil ihre Wärme keine Grade kannte, schon gar nicht gegenüber uns Kindern. Niemals habe ich von ihr ein lautes oder nur unfreundliches Wort gehört, kaum je eine Klage, obwohl sie die letzten ein, zwei Jahrzehnte schrecklich unter Arthrose und allen möglichen anderen Krankheiten litt und sich vor Schmerz oft nur in einer Ecke zusammenkauern konnte, mit einem gedämpften Stöhnen als äußerstem Ausdruck. Gott läßt immer eine Stelle übrig, an der wir Ihm danken können, pflegte sie zu sagen.
Ich könnte nicht behaupten, daß ihre Duldsamkeit mir ein unbedingtes Vorbild war, aber geachtet habe ich Tante Lobat aus tiefster Jugendseele. Alle staunten, wie sehr sie ihrer Mutter glich, meiner Großmutter väterlicherseits, die starb, als ich vier oder fünf war. Die Dankbarkeit, die Tante Lobat von ihr gelernt haben muß, ist auf Genügsamkeit nicht zu reduzieren, sondern setzt voraus, nehmen zu können. Wenn meine Mutter irgendwo sparen wollte, tadelte meine Großmutter sie auf eine Weise, die in diesem Buch häufig wiederkehren wird. – Du sollst Gott nichts Schlechtes angewöhnen. Wenn Er sieht, daß du dich mit weniger begnügst, gibt Er dir auch weniger.
Meine drei Brüder berichten noch heute lebhaft von einer Fahrt mit dem Auto von Deutschland nach Iran vor vielleicht vierzig Jahren: Eine Woche lang saßen die drei Söhne neben meiner Großmutter auf dem Rücksitz des Mercedes-Benz, sie stritten sich untereinander, sie spielten, sie langweilten sich, lärmten, kreischten und trieben meine Eltern zur Weißglut. Nur meine Großmutter brachten sie nicht eine Sekunde aus dem stets lächelnden, verzeihenden Gleichmut. Ich habe dieses Lächeln vor Augen und auch, wie sehr ich erschrak und überhaupt nichts verstand und vielleicht alles verstand an dem Tag, an dem ich Großmutter nicht mehr lächeln sah. Das war, als ich sie zusammen mit meinem Vater das letzte Mal bei Tante Heschmat besuchte, am Tag bevor wir nach Deutschland zurückflogen. Ohne daß es mir jemand gesagt hätte, war klar, daß sie in den nächsten Ferien nicht mehr da sein würde, Māmāngungun, wie die Oma etwas umständlich, aber wunderschön im Kinderpersisch heißt, mit doppeltem Diminutiv. Māmān bedeutet Mama, die mit einfachem gun zusätzlich gekost werden kann, wobei das Suffix keine leere Silbe wie «chen» ist, sondern «Seele» bedeutet, Mamaseele also. Das doppelte gun steht für die Großmutter. Mit Blick auf den Innenhof lag Mamaseeleseele in dem kleinen Zimmer neben dem Eingang, in dem sonst Herr Afrahi, der Mann der resolut frommen Tante Heschmat, seine Freunde zu Backgammon, Opium, Wodka und Poesie empfing. Ach, über die zwei allein wäre so viel zu sagen, von dem Wasser zum Beispiel, das Tante Heschmat heimlich in die Wodkaflaschen mischte, damit die Sünden ihres Mannes etwas weniger wögen, oder nein, genau gesagt von dem verschmitzten Lächeln, mit dem uns Tante Heschmat davon berichtete. Und dann der gewaltige Herr Afrahi, der seiner Frau nur an die Schulter reichte: Mit seinen Lastern streichelte er die Sinne, mit seinen Gedichten umgarnte er den lieben Gott. Aber Tante Heschmat und Herr Afrahi, das wäre ein anderes Buch, so viel auch sie gelitten haben. Ein Buch wäre das über die Lebenskunst in der Verzweiflung. Das vorliegende Buch setzt an, wo jene Kunst aufhört.
Eine meiner frühesten Erinnerungen handelt, so glaube ich, von Großmutter, es könnte aber genausogut Tante Lobat gewesen sein. Sie war zu Besuch bei uns in Deutschland und paßte auf mich auf. Ich nehme an, daß ich zwei, drei Jahre alt war, bestimmt nicht älter. Als meine Mutter aus der Stadt zurückkehrte, fand sie mich auf einer dieser riesigen persischen Decken aus gestempeltem Kattun sitzen, an denen zwei Dutzend Verwandte hocken können zum Abendessen, und zwar mitten auf einem Berg Berberitzen oder einer anderen Zutat, die meine Großmutter oder Tante zu reinigen oder zu schneiden oder von Steinen zu befreien übernommen hatte. Das ganze Wohnzimmer muß voll von den Berberitzen gewesen sein, oder was immer es war (vielleicht Reis, aber es könnten zu allem Unglück auch persische Sauerkirschen, ālbālu, gewesen sein), denn ich planschte fröhlich in den Vorräten, als wären sie der Schaum in der Wanne. Meine Großmutter oder Tante saß mit eingeschlagenen Beinen friedlich neben mir auf dem Kattun, lächelte meine entgeisterte Mutter gutmütig an und meinte nur: ach, ist nur Spaß, oder, wie sie auf persisch wahrscheinlich gesagt hat: āheh touri ke našod, ist doch nicht weiter schlimm, ich mach hinterher schon sauber! So waren sie zu mir und zu allen Kindern, meine Großmutter und meine Tante Lobat, und mein Großvater und der Herr Ingenieur Kermani waren auch nicht viel anders. Es war mehr als eine allgemeine Zärtlichkeit der Wahrnehmung, die ihr Herz öffnete, daß alle Kinder Adams darin Platz fanden. Ihre Haltung gründete nicht allein, aber auch im Glauben; das erkannte ich damals instinktiv und weiß es heute trotz aller Reflexion.
Mit dem Christentum verbindet man zu Recht den Begriff der Nächstenliebe, aber man macht sich im Westen und nicht einmal unter Wissenschaftlern, die mit Texten arbeiten, klar, wie tief der Begriff der Barmherzigkeit das alltägliche Handeln vieler Muslime prägt. Es ist das religiöse Moment der Barmherzigkeit, durch das die Dinge des Lebens wie des Glaubens weicher, flexibler, durchlässiger werden, als sie allein dem Wort nach sein dürften. Dabei geht die Barmherzigkeit ebenfalls auf das Wort zurück, ist sie das häufigste Motiv im Koran, wie die Mystiker stets betonten, und den Dogmen und Gesetzen als Widerpart mitgegeben. Jedenfalls bei den Menschen, von denen ich spreche, bedingte die Frömmigkeit ihre Güte. Weil ich in einem iranischen Elternhaus großgeworden bin, sind es zufällig Muslime (jede Glaubensgemeinschaft zehrt von ihnen), und weil die Poesie, über die ich nachdenken werde, von einem persischen Dichter stammt, fügen sie sich um so besser ein in die Betrachtung (dabei finden sich die Motive Attars wohl in allen Literaturen des Orients und Europas). Als Kind fand ich sie besonders nett, die Tante Lobat, den Großvater, den Herrn Ingenieur Kermani, heute kommen sie mir vor wie Heilige, ja, wie den Versepen und Hagiographien des Faridoddin Attar entsprungen, die immer wieder neu von der Tugend künden, mild zu sein und groß im Herzen.
Vermutlich war nicht ihr gesamtes Leben so vom Glauben durchzogen, wie ich es an ihnen kennengelernt habe. Nur habe ich sie in ihren jüngeren Jahren nicht erlebt. Ich weiß nicht, warum sie wurden, was sie waren: Bestimmt lasteten die Prüfungen und bestimmt auch die Pein eigenen Versagens auf ihnen, wie auf allen Heiligen. Bei Tante Lobat kann ich es mir vorstellen, einer ihrer Söhne hat sich als Jugendlicher umgebracht, der andere hat es versucht, als sie schon alt war. Einzig ihre jüngste Tochter war glücklich verheiratet, aber weit weg in Amerika und glücklich auch nur solange, bis ihr Mann auf einer Geschäftsreise in Asien von heute auf morgen an einem Virus starb. Die zwei Töchter des Herrn Ingenieur Kermani starben im Kindesalter; für beider Krankheit sprach er sich die Schuld zu, für die Blutkrankheit der ersten Tochter, weil er mit meiner Tante entfernt verwandt war, und für die spastische Lähmung der zweiten Tochter, weil er sie als kleines Kind im Spiel einmal so hoch in die Luft geworfen hatte, daß ihr Schädel an die Zimmerdecke prallte. Mein Bruder sagte, daß der Herr Ingenieur seitdem erst zum Kettenraucher geworden ist, und die Kopfschmerzen, die ihn fast täglich gequält hätten, genau wie die Schlafstörungen, an die auch ich mich erinnere, weil er nachts in Teheran immer in der Diele auf und ab ging, die hätten auch aus dieser Zeit gerührt. Tagsüber hat er sich nie etwas davon anmerken lassen, im Gegenteil – wie oft sahen wir seine Goldkronen im lachenden Mund, und für uns Kinder hatte er das größte Ohr unter allen erwachsenen Männern der Verwandtschaft. Nicht die Heiligen sind es, die aussterben, aber die Generation der Menschen, die schon alt waren, als ich noch ein Kind war, stirbt nun aus, und die nachfolgende Generation ist noch nicht alt genug für die menschenfreundliche Weisheit der Alten, oder ich bin zu alt, um sie an ihnen zu bemerken.
Man muß nicht fromm sein, um gut zu sein. Aber die Menschen, von denen ich spreche, waren auch deshalb gut, weil sie fromm waren. Das Umgekehrte gilt nicht: daß sie aus Güte an Gott glaubten. Von außen betrachtet, wahrscheinlich sogar für sie selbst, war der Glaube ein Gewinngeschäft. Er stattete sie mit Vertrauen aus, versorgte sie mit Hoffnung, bescherte ihnen Kraft und mit den Ritualen täglich mehrfach ein reiches ästhetisches Erleben. Die Religion zu praktizieren schien bei ihnen mehr als nur die Erfüllung von Pflichten zu sein, da spielte auch Genuß mit, wie manchmal die Verzückung auf ihren Gesichtern verriet. «Wer Gott wirklich kennt», so sagte es bereits der Lehrer des frühen Sufismus, Abu Sulayman ad-Darani (gest. 830), «läßt bei seinem Gebet nicht einmal zwei Kniefälle aus, ehe er deren Lieblichkeit geschmeckt hat.»[2] Das Leiden hob dieser Glauben nicht auf, aber Gott half ihnen, es zu ertragen, indem sie es als Prüfung oder mit Blick auf die jenseitige Verheißung als vergänglich, ja als notwendig deuten konnten. Ich habe nicht oft Menschen gesehen, die den Tod vor Augen hatten, aber soviel habe ich erfahren, daß es den Frommen leichter fiel, einen Umgang mit ihm zu finden. Wie an dem letzten verbliebenen Strang hielt Tante Lobat sich an den Gebeten fest. Wenn sie vor Schmerzen laut aufstöhnte, tröstete sie nicht nur uns mit einem Lächeln, sondern zeigte zugleich dem Schmerz die Zähne. Tante Lobat war alt geworden mit dem Lehrspruch: «Wenn Gott einen Diener liebt, prüft Er ihn durch eine Heimsuchung. Wenn der Diener von ihr getroffen wird, bewahrt er Geduld.»[3] Für das Versprechen, daß Gott den Kranken und Siechen gegeben hat, erfüllte sie ihren Teil: «Wenn Ich einen Diener heimsuche mit Schmerz, und er bewahrt Geduld und beklagt sich vor denen, die ihn aufsuchen, nicht über Mich, werde Ich ihm tauschen gegen sein Fleisch ein Fleisch, das besser ist, und gegen sein Blut ein Blut, das besser ist.»[4] Niemals beschwerte sie sich; wenn sie doch einmal aufstöhnte vor Schmerz, dankte sie Gott im nächsten Atemzug für die Gnade, die Er ihr und all ihren Lieben zuteil werden ließ.
Doch Freudenbotschaft gib du den Geduldigen!
Die, wenn ein Unheil sie befällt, sprechen: wir sind Gottes,
Und zu Ihm kehren wir zurück.
Die sind es, über denen sind die Segnungen
Von ihrem Herrn und Erbarmung,
Und sie sind die Geleiteten. (Sure 2, 155f.)
Sie verriet es nicht, dazu war sie zu bescheiden, aber ihrem Glauben verdankte sie die Gewißheit, daß der Leidende überreich entschädigt wird. Gott ist zu edel, um einen Sünder zweimal zu strafen (und meine Tante hätte nie behauptet, von Sünden rein zu sein). Wird jemand in dieser Welt durch Leiden gestraft, sind seine Vergehen in jener Welt bereits gesühnt. Selbst für einen Dorn, an dem man sich verletzt, erläßt Gott eine Sünde. Mehr noch: Wird jemand krank, schreiben ihm die Schreiberengel noch bessere Werke auf, als er in gesundem Zustand hätte leisten können.[5] Gott selbst sagt, «Ich schäme Mich» (istahyaytu), die guten und schlechten Werke des Leidenden am Jüngsten Tag mit der Waage zu bemessen.[6] Als die Frau des Mystikers Fath al-Mausili (gest. 835) einmal ausrutschte und sich einen Knochen brach, lachte sie. Ob sie keinen Schmerz habe, wurde sie gefragt. «Die Freude über die Belohnung, die den Leidenden zuteil wird, hat die Bitterkeit des Schmerzes aus meinem Herzen getilgt.»[7] Sartre meinte, daß man nicht fragen soll, ob es Gott gibt, sondern ob man ihn braucht. Tante Lobat hat ihn gebraucht, zuletzt bei jedem Atemzug.
Gedächtnis der Erbarmung deines Herrn
An seinem Knecht Zakaria.
Anrief er seinen Herrn mit heimlichem Rufe,
Sprach: O mein Herr, schwach geworden ist mein Haupt von
Greisheit.
Doch beim Gebet zu Dir, Herr, war ich nie unglücklich. (Sure 19,1–4)
Vor fünf, sechs Jahren erlitt Tante Lobat einen Schlaganfall. Schon vorher war ihr das Gehen schwergefallen und schmerzte sie das Sitzen wie das Liegen, aber das hinderte sie nicht am Lachen. Sie hatte so ein verschmitztes Grinsen: Wenn ihre Tochter Badri, ihr Sohn Massoud oder ihre Schwester Ghodsi sie allzu laut bemitleideten, warf sie mir einen spitzbübischen Blick zu, um zu sagen, daß ich auf das Gerede nichts geben solle, die besten Geschichten, die erzähle immer noch sie. Wie geht’s mit Ihrer Krankheit? fragten wir sie (Tanten ihrer Generation spricht man in Iran nicht mit Du an). Engāri ke hič – als sei nichts gewesen, sagte sie. Und immer hat sie gebetet, Gott gepriesen in jeder Sekunde, in der sie sich keinem Menschen zuwandte. Sie war – um anschaulich zu machen, wie sie ihre Arthrose, ihre dauernden Schmerzen, ihre sich ausbreitende Lähmung handhabte, muß ich eine Hagiographie anführen – sie war wie aus der folgenden Geschichte, die von Attar hätte stammen können. In diesem Fall hat Martin Buber sie aufgezeichnet:
Als Rabbi Schmelke und sein Bruder zum Maggid von Mesritsch gekommen waren, brachten sie dies vor: «Unsere Weisen haben ein Wort gesprochen, das uns keine Ruhe läßt, weil wir es nicht fassen können. Das ist das Wort, der Mensch solle Gott für das Übel lobpreisend danken wie für das Gute und solle es in gleicher Freude empfangen. Ratet uns, Rabbi, wie wir es fassen.» Der Maggid antwortete: «Geht in das Lehrhaus, da werdet ihr Sussja finden, wie er seine Pfeife raucht. Er wird euch die Deutung sagen.» Sie gingen ins Lehrhaus und legten Rabbi Sussja ihre Frage vor. Er lachte: «Da habt ihr euch den Rechten ausgesucht! Ihr müßt euch schon an einen anderen wenden, und nicht einen wie ich, dem zeitlebens kein Übel widerfuhr.» Sie aber wußten: es war Rabbi Sussjas Leben vom Tag seiner Geburt an bis zu diesem Tag aus Not und Pein ohne andern Einschlag gewoben. Da verstanden sie, was es heißt, Leid in Liebe zu empfangen.[8]
Aber dann erlitt sie diesen Schlaganfall. Als wir einige Zeit später in Isfahan eintrafen, hatten Massoud und Badri das kleinere der drei Zimmer, die zum Hof hinausgingen, bereits zum Krankenzimmer umbauen lassen. Die Wände waren frisch gestrichen und der Boden, den vorher ein alter Perserteppich auf grauem Filz bedeckt hatte, weiß gekachelt. Sie hatten auch ein richtiges Krankenbett besorgt, mit Rädern und verstellbarer Rückenlehne. Sonst war das Zimmer bis auf die metallenen Stühle leer. Ich nehme an, daß das mit der Hygiene zusammenhing, bloß schienen mit den Möbeln auch alle Erinnerungen entfernt worden zu sein. Das klinisch weiße Zimmer wirkte in dem Haus von Herrn Madani und Tante Lobat so fremd, als hätte ein Kurpfuscher es implantiert. Das Haus hinter der Schah-Moschee war von braunen, grauen und dunkelroten Tönen bestimmt, und alles war wohl reinlich, aber zugleich ein bißchen abgewohnt, dämmrig, weil sich die Schichten langen Familienlebens auf Teppiche, Möbel und Gardinen gelegt hatten und meine Tante selbst dann noch darauf bestand, die großen Zimmer selbst zu putzen (oder mindestens mitzuhelfen), als sie sich schon kaum mehr bewegen konnte (auf dem Boden sitzend schob sie sich mit dem Putzlappen durch die Wohnung). Nun war da ein Ort, aus dem alle Schichten weggeätzt waren, ein Raum, desinfiziert für den anrückenden Tod, und in die Mitte hatte man meine wütend röchelnde Tante gerollt, die Geschichtenerzählerin.
Massoud hatte mich vorgewarnt, daß ihr ganzer Körper vom Ausschlag wund sei und offenbar schrecklich jucke; ständig müsse sie massiert werden, eingeölt oder einfach nur gekratzt. Obwohl sie ihr Morphium gaben, wimmerte sie den ganzen Tag kläglich vor sich hin, wenn sie nicht aufschrie, daß es noch den Nachbarn ins Mark gehen mußte, oder vor Schmerz gleich in Ohnmacht fiel. Man liest das in Romanen, daß Menschen auf einen Schlag um ein halbes Menschenleben altern können. Hier war das so: Ein Jahr zuvor hatte mich eine zwar schmerzgeplagte, aber fröhliche Frau von siebzig, fünfundsiebzig Jahren verabschiedet, nun war ich zurückgekehrt zu einem hautbespannten Skelett, bei dem sich das Alter schon nicht mehr schätzen ließ. Bewegen konnte sie nur noch die Hände, sprechen nichts außer der unverständlichen Reihung von Silben. Die Haare, die sie, seit ich denken kann, immer zusammengesteckt und bei Besuch unter einem Kopftuch versteckt hatte, breiteten sich schneeweiß in alle Richtungen aus, zogen sich wirr übers ganze Kissen und bis zur Brust herab. So sehr war sie abgemagert, daß sich in ihrem einst kugelrunden Gesicht alle Wölbungen und Einkerbungen des Schädels abzeichneten. Um so größer waren die Augen, die mich aus tiefen Höhlen anstarrten, als ich das Zimmer betrat.
Mein Gebein hanget an mir an Haut und Fleisch, und ich kann meine Zähne mit der Haut nicht bedecken. Erbarmet euch mein, ihr meine Freunde! denn die Hand Gottes hat mich getroffen. (Hiob 19,20–21)
Ich werde ihren Blick nie vergessen: Er war mehr als nur leidend, er war zornig und zugleich von tiefer kindlicher Furcht, in angestrengter Nachdenklichkeit, ratlos, hilflos und zugleich beschämt. Ja, es war ihr peinlich, nicht nur in einen solchen Zustand gebracht worden zu sein, sondern dabei auch noch von allen gesehen zu werden, dazu all diese Umstände, Mühen und Kosten, die sie verursachte. Sie war bei klarem Bewußtsein, das hatte mir Massoud vorher schon gesagt, damit ich nicht erschrecke, aber ich hätte es auch sofort an ihrem Blick bemerkt.
Die Tränen in den Augen mußte ich nicht verbergen, da sie ohnehin wußte, was vor sich ging. Auch sie weinte. Sie nahm präzise wahr, was mit ihr geschah, was sie durchlitt und daß wir ihr zusahen; sie reflektierte es, darauf deutete die Konzentration in ihrem Blick hin, aber ihr waren die Möglichkeiten genommen, darauf zu reagieren, es wenigstens zu kommentieren. Das machte sie wütend, das spürte ich genau. Sie wollte das nicht hinnehmen, alles andere, aber das nicht. Deshalb unternahm sie immer neue Anläufe zu sprechen, ohne daß es ihr gelang, die Zunge zu den Sätzen zu bewegen, die sie auf den Lippen hatte. Sie stammelte etwas, blickte in unsere fragenden Gesichter, stellte fest, daß sie sich wieder nicht hatte verständlich machen können, und zuckte mit dem Kinn nach oben, um den Kopf im gleichen Augenblick verbittert von uns abzuwenden. Für mich war dies schwerer zu ertragen als die Schmerzensschreie: dieser nach oben zuckende und sich dann wegdrehende Kopf, das Wegwerfen, das sich darin andeutete, oder besser gesagt, der Versuch, es wegzuwerfen, das elende Leben, das den Aufwand nicht lohnt. Aber es ging nicht, nicht einmal das ging, denn es blieb an ihr haften, das Leben, sie konnte es einfach nicht abschütteln. «Gewöhnlich sagt man einem Menschen, dessen Zustand aussichtslos ist: ‹Gib es auf, leg dich hin und stirb!›» heißt es in einer Erzählung Sadeq Hedayats (gest. 1951). «Aber was geschieht, wenn der Tod dich nicht haben will, wenn er dir den Rücken zukehrt, wenn er einfach nicht zu dir kommt, nicht zu dir kommen will?»[9] Sie mußte weiter vor uns ausharren.
Und dennoch, so unangenehm ihr, der Glaubensstarken und immer Geduldigen, es war, vor uns so erbärmlich vorgeführt zu werden – noch schlimmer war für sie, wenn wir sie verließen, und sei es nur, daß einer aufs Klo mußte, denn sie vermochte nicht zu beurteilen, ob man auch wiederkommen würde. Sie verstand offenbar nur Bruchstücke dessen, was wir ihr zubrüllten, und dann war es auch so, daß sie uns oft nicht zu glauben schien, daß sie dachte, Badri oder Massoud würden sie nur schonen, wenn sie sagten, ihre Enkelin, ihr Bruder, ihr Neffe kämen gleich zurück. Wenn sie merkte, daß wir aus dem Zimmer gehen wollten, bettelte sie panisch wie ein kleines Kind, das nicht allein zu Hause bleiben will, da sie jedesmal dachte, wir würden nun nach Deutschland zurückkehren und sie würde uns nie mehr sehen. Wenn es einen Menschen gab, den Glauben und seelische Verfassung stark genug gemacht hatten, Schmerzen und Unheil zu erdulden, war sie es, aber das hier, das ging schlicht über ihre Kräfte hinaus, sogar über ihre Kräfte. Damit hatte sie nicht rechnen können, daß es so schlimm werden könnte, das hatte ihr niemand gesagt. Es stand in keinem Buch, nicht einmal im Buch Gottes, in dem sie täglich gelesen hatte. Es zog sich noch beinah ein Jahr hin, juckend, schmerzend, von Eiter überzogen: ein Martyrium. «Siehe da, er sei in deiner Hand», sprach der Herr zu Satan (Hiob 2,6), der daraufhin Hiob mit bösartigen Geschwüren von der Fußsohle bis zum Scheitel schlug: «Mein Fleisch ist um und um wurmig und kotig; meine Haut ist verschrumpft und zunichte geworden.»(7,5)
Gewiß ist Hiob keine Person aus unserem täglichen Leben. Dennoch muß man nicht in die Geschichte oder ferne, krisengeschüttelte oder von Katastrophen heimgesuchte Länder gehen, um ihn zu finden. Ein Besuch im Spital genügt. Man braucht nicht einmal zu den Schmerzpatienten zu gehen. Die Scham kann den Menschen ähnlich zersetzen, das sagen einem alle Pfleger. Dort habe ich einen getroffen, nur noch 46 Kilo schwer, der auf dem Stuhltopf saß und eine hellbraune Flüssigkeit schiß. Bett und Kleider waren verschmiert. Der Pfleger stülpte sich Handschuhe über und wusch Po und Geschlecht des Wimmernden behutsam mit einem Schwamm. Bestürzter hätte mich Hiob nicht ansehen können. Viel schlimmer als die Schmerzen war für meinen Großvater, daß er am Ende die Herrschaft über seine Blase verloren hatte. Man macht sich hier keinen Begriff davon, was es in Iran vor zwei, drei Jahrzehnten noch bedeutete, Oberhaupt der Familie zu sein, welche Würde es zugleich voraussetzte und mit sich brachte. Und da sah ich Dreizehnjähriger nun, wie sich Bābāgungun vor allen Leuten in die Hose machte, und ich war dabei, als meine Tante Jaleh ihm die Unterhose wechselte. Dabei hatte er für sich von Gott nur zwei Dinge erbeten, wie mein Bruder ein paarmal mitgehört hatte: vor seinen Kindern zu sterben, was ihm nicht vergönnt war, da sein jüngster Sohn übernächtigt gegen einen Baum fuhr, und zu sterben, bevor er auf die Hilfe anderer angewiesen war. Nun hatte Gott ihm, dem Stolzen, die Hilflosigkeit ausbuchstabiert wie ein pedantischer, unnachgiebiger Lehrer. Auch Tante Lobat quälte die Scham über die eigene Schwäche, das sah ich genau. Nicht einmal Hiob, der nackt auf der Asche sitzt und sich mit einer Glasscherbe kratzt, der einst vor allen gerühmte Hiob hält es aus, daß Gott ihn zum Spott für die Leute ausgestellt hat: «Mein Odem ist zuwider meinem Weibe, und ich bin ein Ekel den Kindern meines Leibes. Auch die jungen Kinder geben nichts auf mich; wenn ich ihnen widerstehe, so geben sie mir böse Worte. Alle meine Getreuen haben einen Greuel an mir.» (19,17–19)
Hiob konnte wenigstens noch klagen; meiner Tante war selbst dies verwehrt, sooft sie immer wieder neu versuchte, wenigstens einen einzigen Satz zu artikulieren. «O hätte ich einen, der mich anhört!» (31,35) Alle in meiner Familie, auch die Alten, waren sich einig, daß ihr das grauenvollste Sterben zuteil geworden war, an dem je einer von uns teilgenommen, von dem je einer gehört hatte – ausgerechnet ihr, der Gottesfürchtigsten unter uns, der Gerechtesten. Das genau ist die Erfahrung Hiobs, nicht nur das Leiden, auf welches das Christentum mit dem Kreuz eine entschiedene Antwort gibt, sondern dessen Ungerechtigkeit, das gottgewollte Unrecht, auf das auch das Kreuz nicht antwortet. Niemand hat es weniger verdient als er: «Denn es ist seinesgleichen nicht im Lande, schlecht und recht, gottesfürchtig und meidet das Böse», spricht Gott, bevor Er Hiob dem Satan überläßt (1,8). Gerade weil Hiob gerecht ist, muß er leiden. Und wie Hiob zu Gott sagt, «Laß mich wissen, warum du mit mir haderst» (10,2), so schien im bohrenden Blick meiner Tante die Frage zu liegen, warum Gott sie dem Bösen preisgegeben hatte – warum ausgerechnet sie? «Ist denn auf meiner Zunge Unrecht, oder sollte mein Gaumen Böses nicht merken?» (6,30) In allen anderen Situationen hätte das eine selbstsüchtige Frage sein können. Hier war es die Frage nach dem Sinn, die Kernfrage Hiobs: Wie sind das Leid und die Ungerechtigkeit in der Welt in Einklang zu bringen mit dem Bild, das uns von Gott gelehrt wurde?
Wir lernen, daß Gott gut ist, daß Er die Menschen liebt und sich ihrer erbarmt. Von anderen, den früheren Religionen setzt sich der Monotheismus eben dadurch ab, daß der eine Gott den Menschen in Güte zugewandt ist – im Gegensatz zu den vielen Göttern des Polytheismus, die böse waren oder übelwollend, unzuverlässig oder wechselhaft. Die Liebe Gottes gilt uns als konstitutiv für den Monotheismus. Wir lernen auch, daß Gott gerecht ist. Nicht immer bemerken wir die Spannung, die zwischen beiden Aussagen besteht. Wer liebt, ist nicht immer gerecht. Er vergibt, ohne Maß anzulegen. Wer gerecht ist, kann nicht alles verzeihen. Manche erinnern sich, daß die Religionen auch Gottes Zorn und Gewalt, ja Seine Rachsucht kennen. Wer liebt, der erzürnt spät, aber um so heftiger. Der Gerechte zerstört, was zerstörerisch ist. Eben jene gewalttätigen, furchterregenden Züge, die die Exegesen unserer Zeit zur Beschwichtigung oft retuschieren, würden es noch am ehesten gestatten, das Bild des liebenden wie gerechten Gottes zu bewahren, da mit ihnen die Pein als Strafe, als Prüfung oder auch als Enttäuschung über des Menschen Untreue zu erklären wäre. Bereits der christliche Philosoph und Theologe Laktanz (3. Jahrhundert) hat das erkannt, als er sich gegen jene wandte, die «wohlklingend und gefällig sagen», daß Gott nur «der sanfte, ruhige, gnädige und wohltätige Erhalter ist». Für Laktanz ist der Zorn eine Regung Gottes, die mit Seiner Liebe, Seiner Herrschaft und der Verantwortung für die Schöpfung zwingend einhergeht. Wer sich über das Übel und das Böse nicht errege, könne kein Liebender sein. «Da Gott von der Gnade bewegt wird, muß Er folglich auch zürnen.»[10]
Man mag also die Attribute der Liebe und der nicht immer mildtätig wirkenden Gerechtigkeit womöglich in Einklang bringen. Aber das monotheistische Gottesbild kennt nicht nur Liebe und Gerechtigkeit oder, um die ethischen Attribute, mit denen wir Gott versehen, in einem Begriff zusammenzufassen: Güte. Ein Axiom scheint auch die Allmacht Gottes zu sein – und daß es Wege gibt, Seine Weisheit zu erkennen. Die Verstehbarkeit bezieht sich nicht zwingend auf das Wesen Gottes, aber doch auf die Einsichtigkeit Seiner Botschaft, Seines Tuns in der Welt, Seiner schieren Existenz: Gott spricht zu uns, und wir können Seine Offenbarung begreifen, Gott handelt, und wir können darin einen Sinn erkennen, wir können den Satz glauben: «Und siehe da, es war sehr gut.» (1. Mose 1,31) Dieser elementare Anspruch des monotheistischen Gottesbildes kommt im Begriff der Erkennbarkeit zum Ausdruck. Der Koran erneuert die biblische Aufforderung «Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist» (Ps. 34,9), wenn er beständig an den Menschen appelliert, endlich die Zeichen Gottes zu erkennen, die offenkundig seien, sichtbar, hörbar, riechbar, fühlbar, für den Verstand nachzuvollziehen, mit dem Herzen zu verstehen. Anders als das Buch Genesis erklärt der Koran die Schöpfung nicht allein in ihrem Ursprung für gut, sondern ausdrücklich auch die Welt, wie sie jederzeit, überall und von allen erfahrbar ist, wenn die Menschen nur ihre Augen öffnen. Die Schöpfung wird nicht nur, wie etwa in Psalm 104, in ihrer Schönheit und Ordnung gerühmt, nein, ihre absolute Harmonie erscheint im Koran auch als eine nachprüfbare und daher nicht ernsthaft bestreitbare Realität. Für den Koran ist der Gedanke, die Welt könne sich bei genauerem Besehen als unstimmig oder gestört herausstellen, abwegig.
Du siehst in der Schöpfung
Des Allerbarmers keinen Riß;
Und wende deinen Blick! siehst du wohl einen Sprung?
Dann wende nochmals deinen Blick und nochmals!
Es kehrt dein Blick zu dir zurück,
Erliegend also, daß er müd hinfällt. (Sure 67,3f.)
Höher könnte die Meßlatte nicht liegen, die der Schöpfer an Sein Werk legt: Nicht die Spur eines Makels soll es geben, und der Mensch braucht nur Seine Sinne und seinen Verstand zu gebrauchen, um Gott in Seiner Weisheit zu erkennen. Alle übrigen Attribute, die dem Schöpfer zugeschrieben werden, darunter die Vernunft und ästhetische Kategorien wie Schönheit, Herrlichkeit und Erhabenheit, lassen sich dieser Trias aus Güte, Allmacht und Erkennbarkeit zuordnen. Nur wo die Vorstellung von Gott alle drei Attribute vereinigt, stellt sich strenggenommen die Frage der Theodizee, also nur im Monotheismus. Hiob glaubte an die Güte Gottes, wagte es nicht, an Seiner Allmacht zu zweifeln, und meinte, die Weisheit göttlichen Handelns zu erkennen, da der Rechtschaffene belohnt und der Ungläubige bestraft zu werden schien. Als das Unglück ihn traf, drang er darauf, den Grund zu erfahren.
Hiobs Beispiel zieht sich durch die Geschichte der drei monotheistischen Religionen. Immer wieder haben Gläubige – Laien, Theologen, Philosophen, Dichter, auch Propheten – das Bild, das sie sich von Gott gemacht hatten, angesichts der Wirklichkeit voller Leid in Frage gestellt. Gewiß hat der Hauptstrom aller drei Religionen über den Widerspruch hinweggesehen, das Leiden relativiert und vor allem immer wieder – und ohne weiteres Bedenken der göttlichen Allmacht – auf jene Stellen der Schrift verwiesen, die die Verantwortung für das Übel allein dem Menschen zuschreiben, der aus freien Stücken sündigt oder vom Satan verführt ist, vom Sündenfall in der Genesis bis zur Sure 4,79:
Was dir Gutes widerfährt, ist von Gott,
Und was dir Böses widerfährt, ist von dir selbst.
Dem naheliegenden Einwand, daß Gott in Seiner Allmacht den Menschen doch das Leiden dadurch leicht hätte ersparen können, daß Er sie ohne Veranlagung zum Bösen geschaffen hätte, stehen in der Bibel wie im Koran Verse entgegen, die das Leiden als gottgewollt darstellen, sei es als Prüfung:
Wir aber stellen euch auf die Probe
Mit Bösem wie mit Gutem. (Sure 21,35)
oder zu erzieherischen Zwecken:
Und wir schlugen sie mit Gutem und mit Bösem,
Auf daß sie vielleicht umkehrten. (Sure 7,168)
Den gleichen Gedanken entwickelt die Bibel an vielen Stellen, so in Deuteronomium 8,5, Offenbarung 3,19, Sprüche 3,11–12 und letzteres zitierend im Hebräerbrief 12,6–12:
Denn welchen der Herr liebhat, den züchtigt er; und er stäupt einen jeglichen Sohn, den er aufnimmt. So ihr die Züchtigung erduldet, so erbietet sie euch Gott als Kindern; denn wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt? Seid ihr aber ohne Züchtigung, welcher sie alle sind teilhaftig geworden, so seid ihr Bastarde und nicht Kinder. Und so wir haben unsre leiblichen Väter zu Züchtigern gehabt und sie gescheut, sollten wir denn nicht viel mehr untertan sein dem Vater der Geister, daß wir leben? Denn jene haben uns gezüchtigt wenig Tage nach ihrem Dünken, dieser aber zu Nutz, auf daß wir seine Heiligung erlangen. Alle Züchtigung aber, wenn sie da ist, dünkt uns nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein; aber darnach wird sie geben eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die dadurch geübt sind.
Die Versuche, Gott zu rechtfertigen, knüpfen in allen drei abrahamitischen Religionen zunächst an diese Deutung des Leidens an: Was der Mensch als böse wahrnimmt, ist gar nicht böse, sondern folgt höherer Weisheit. Der Monotheismus der Bibel und des Korans läßt keinen Raum für eine von Gott vollkommen unabhängige, absolut böse Macht. Das biblische und antike Judentum beschäftigten sich denn auch kaum mit dem Bösen als Gegenstand theologischen Nachdenkens. Die ersten rabbinischen Lehren, die das Problem des Leidens überhaupt zur Sprache bringen, finden sich in der Mischna, dem im 3. Jahrhundert entstandenen Corpus des jüdischen Religionsgesetzes, doch gilt ihr das Leiden als Strafe für die Sünde und damit geradezu als Beleg für Gottes Gerechtigkeit, wie es die Hebräische Bibel an vielen Stellen darstellt, so im 1. Buch Samuel 12,15:
Werdet ihr aber des Herrn Stimme nicht gehorchen, sondern seinem Munde ungehorsam sein, so wird die Hand des Herrn wider euch sein wie wider eure Väter.
Die Unvollkommenheit der Wirklichkeit ignoriert die Mischna fast vollständig, um statt dessen das Bild einer Welt zu zeichnen, die gewiß besser war als die seinerzeit bestehende. Die halachischen oder tannaitischen Midraschim, die der Bibel Vers für Vers folgen, erkennen im Leiden immerhin ein potentielles Problem, verlangen jedoch, es in Demut zu ertragen. Scharf verurteilt wird, wer an Gottes Gerechtigkeit zweifelt. Erst mit dem babylonischen Talmud, also im 5. und 6. Jahrhundert, gehen die Deutungen des Leids weit auseinander und erlauben sich immer mehr jüdische Autoren, die Notwendigkeit des Unheils zu bezweifeln, ja die Gerechtigkeit des Schöpfers offen in Frage zu stellen.[11] Vorherrschend bleibt freilich die Auffassung vom Leid als Mittel Gottes, Seine gerechte Schöpfungsabsicht zu erfüllen. Manche kabbalistischen Texte bezeichnen das Böse sogar ausdrücklich als eine der Potenzen, die in Gott ruhen und durch die Er nach außen wirkt.[12]
Kaum zufällig veranschaulicht der Koran am Beispiel des jüdischen Propheten, daß Gottes Gerechtigkeit auch dort waltet, wo der Mensch sie nicht sieht. Die koranische Erzählung folgt einem Muster, das vorislamisch bereits in der christlich-orientalischen wie in der jüdischen Literatur vorgeprägt ist: Ein frommer Protagonist – ein Einsiedler in der christlichen Legende, Rabbi Akiba (gest. ca. 135) im Midrasch – erlebt nacheinander drei offenkundige Ungerechtigkeiten, die sich am Ende der Geschichte als Gnade Gottes erweisen.[13] In der koranischen Variante fragt Mose einen mit Huld und Weisheit bedachten «Diener Gottes», ob er ihm folgen dürfe, um den rechten Weg kennenzulernen. Der Diener stellt zur Bedingung, daß Mose nicht nach Erklärungen fragen werde bei dem, was er nicht begreife. Mose verspricht es, und so brechen die beiden auf. Dreimal bricht Mose jedoch sein Wort: Als der Diener ein Schiff zum Kentern bringt, als er einen unschuldigen Jüngling erschlägt und als er die Bewohner einer Stadt vor dem Einsturz einer Mauer bewahrt, obwohl sie sich zuvor geizig gezeigt hatten gegenüber Hungernden. Dreimal kann Mose nicht an sich halten und fragt den Diener nach dem Sinn seines Handelns. Der Diener spricht:
Dies ist die Scheidung zwischen mir und dir.
Nun sag ich dir die Deutung dessen,
Wobei du dich nicht hast gedulden können:
Das Schiff zuerst gehöret armen Leuten,
Die ihr Gewerb im Wasser haben,
Und schadhaft wollt’ ich’s machen,
Weil hinter ihnen her ein Fürst war,
Der jedes Schiff nahm mit Gewalt.
Der Jüngling aber, seine Eltern
Sind Gläubige, wir aber hatten Sorge,
Er möcht’ sie verleiten zu Abfall und Verleugnung,
Und wünschten, daß für ihn ihr Herr
Geb’ ihnen einen bessern
An Lauterkeit und näheren an Liebe.
Die Mauer endlich, die gehört
Zwei Waisenkindern in der Stadt,
Und drunter liegt ein Schatz für sie,
Ihr Vater war ein frommer Mann, drum wollte
Dein Herr, daß sie zu ihrem Alter kämen,
Und ihren Schatz hervor dann nähmen;
Aus Huld von deinem Herrn, mitnichten
Aus eigner Willkür tat ich es.
Dies ist die Deutung dessen,
Wobei du dich nicht hast gedulden können. (Sure 18,66–82)
Der Koran reduziert die Volkslegende auf ihren archetypischen Kern: zu zeigen, daß ein Unterschied besteht zwischen dem, was der Mensch sieht, und dem Sinn, den Gott dem Geschehen gibt. Um nichts anderes als den Versuch, die verborgene Weisheit Gottes zu begründen, geht es der These von der besten aller möglichen Welten, die mit Leibniz (gest. 1716) nicht nur die europäisch-christliche Philosophie, sondern bereits vom frühen 12. Jahrhundert bis weit ins 19. Jahrhundert auch das arabisch-islamische Denken intensiv beschäftigt hat, erstmals formuliert von Muhammad al-Ghazali (gest. 1111): «Es kann nichts Schöneres, Vollständigeres und Vollkommeneres geben als das, was ist.»[1415