image

Norbert Scheuer · Die Sprache der Vögel

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

Paul Arimond kommt 2003 als Sanitäter der Bundeswehr nach Afghanistan, in ein Land, das auch schon sein Vorfahr Ambrosius einst, auf der Suche nach der Universalsprache der Vögel, wegen seiner reichen Tierwelt bereist hatte. Auch Paul, geplagt von Schuldgefühlen nach einem Autounfall, den er mit verursacht hat, liebt es, Vögel zu beobachten und Aufzeichnungen über sie zu machen. Sie scheinen nach einer anderen Ordnung und mit anderen Freiheiten zu leben. Inmitten einer zunehmend gefährlichen Bedrohungslage beginnt Paul immer unberechenbarer und anarchischer zu handeln.

Norbert Scheuers mit zahlreichen Zeichnungen versehener Roman über einen fragilen Vogelliebhaber führt mitten ins Herz der Verstrickungen, aus denen das rätselhafte Leben seiner bewegenden und einzigartigen Figuren besteht.

Über den Autor

Norbert Scheuer, geboren 1951, arbeitet als Systemprogrammierer. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise und veröffentlichte die Romane „Flussabwärts“ (2002), „Der Steinesammler“ (Neuausgabe, 2010), den Erzählband „Kall, Eifel“ (2006) und Gedichte („Bis ich dies alles liebte“, 2011) bei C.H.Beck, zuletzt den Roman „Peehs Liebe“ (2012). Sein Roman „Überm Rauschen“ (2009) stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und war 2010 „Buch für die Stadt“ in Köln und der Region. Scheuer hielt Poetikvorlesungen an den Universitäten Duisburg-Essen (2011) und Bonn (Thomas-Kling-Poetikdozentur 2014). Er erhielt zahlreiche Literaturpreise, zuletzt den Georg K. Glaser-Preis (2006), den d.lit.-Literaturpreis (2010) und den Rheinischen Literaturpreis Siegburg (2010). Er lebt in der Eifel.

 

 

Für Elvira

 

 

 

 

It is tributary to the great lies
told with the eyes half-shut
that have the truth in view
Richard Wilbur

 

 

Mein Urahn Ambrosius Arimond glaubte, alle Vögel unserer Erde besäßen eine gemeinsame Sprache. Sein Leben lang beschäftigte er sich mit der Entschlüsselung ihrer Gesänge, einer Welt magisch klingender Töne, Zeichen und Bedeutungen. Jede Vogelart und ihr individueller Gesang waren für Ambrosius Buchstaben eines kryptischen Alphabets. Die Vogelgesänge soll er in einer selbst erdachten Schrift aufgezeichnet haben. Das Flugbild der Vögel, das für jede Art charakteristisch ist, war in dieser Sprache die Grammatik, der Himmel ein lapislazuliblaues Pergament, das den ganzen Erdball umspannte und bis zur Stratosphäre reichte, wo Mauersegler sich im Flug liebten. Seine Forschungsreisen führten den jungen Ambrosius fast überallhin, seinen Berichten zufolge überquerte er anno 1776 die Alpen, gelangte nach Venedig, segelte von dort übers östliche Mittelmeer, er folgte der Seidenstraße bis nach Akkon, dem alten Ptolemais, reiste weiter nach Palästina, mit Karawanen durch Wüsten, am Euphrat entlang, immer weiter Richtung Osten, über entlegene Hochgebirge, durch Persien bis ins heutige Afghanistan. Vater hatte uns oft von Ambrosius erzählt, dessen Aufzeichnungen zum größten Teil in den napoleonischen Kriegen verloren gegangen wären, nur ein paar vergilbte Pergamentpapiere sollten noch irgendwo in einer alten Holzkiste in einer Scheune liegen, handgeschriebene Seiten, auf denen er von seiner Reise durch Persien berichtet hatte. Ambrosius sei schließlich wieder in unser Dorf zurückgekehrt, habe von unbekannten Vogelarten erzählt und von Menschen mit Zephyr-Seelen, die mit Ornithoptern und selbstgebauten Drachen von den Gipfeln des Hindukusch aus hoch über dem Land im Luftmeer geschwebt seien. Ich weiß nicht, was an diesen Geschichten wahr ist, ob Vater selbst daran geglaubt hat. Jedenfalls liebte er es, uns davon zu erzählen. Hinter dem Hindukusch sei das Land der Vögel, sagte er, es gebe dort vielleicht mehr Vogelarten als in ganz Europa, ja in der ganzen westlichen Welt, das liege am einzigartigen Blau des Himmels.

 

 

Montag, 14. April 2003, Afghanistan, Airport
Sanitätsobergefreiter Paul Arimond,
IV. Infanteriebataillon

Über dem staubigen Rollfeld flattern Elstern. Diese asiatische Art hier hat einen schmalen, grünlich glänzenden Flügelsaum und langes bronzefarbenes Schwanzgefieder, sie ist eine Nuance größer als unsere heimische Art (Pica pica germanica). Es soll hier fünf verschiedene Unterarten geben. Zuletzt hatte ich in Lüneburg auf dem Kasernengelände Elstern gesehen; sie hockten krächzend in der Krone einer Zitterpappel, während wir uns im Schulungsraum auf unseren Afghanistaneinsatz vorbereiteten.

Die Elstern am Rollfeld zanken sich um ein Küken, das sie wahrscheinlich aus einem Nest geraubt haben. Sie fliegen auf, ihre Flügel wirbeln im grellen Licht. Während sie an dem Tierchen zerren, blitzen ihre schwarz-weißen Schwingen in verblüffender Schönheit auf, dann stolzieren sie schnatternd mit wippendem Gang umher wie Ratsherren.

Ich ziehe meine Splitterschutzweste an, schultere den Rucksack, marschiere mit Kameraden an hohen Barrikaden mit Stacheldraht vorbei. Die Sonne brennt, mein Helm rutscht auf meiner verschwitzten Stirn. Die Umgebung flimmert in phantastischen Brauntönen. Pulvriger Staub von der Farbe fein zerriebener Eierschalen, Felsbraun und das Braun rötlicher Steine, niedrige Büsche, tamariskenartige Bäume, deren Nadelblätter pastellfarben leuchten, winzige Sandkörnchen, die sich auf meine Lippen und Augenbrauen legen; geblendet kneife ich die Augen zu und öffne sie kurz darauf wieder. Die Elstern sind verschwunden, für sie gibt es keine Zäune oder Absperrungen.

Als wir im Bus vom Flugplatz zu unserem Lager fahren und ich neugierig durch die getönten Scheiben das Gewimmel der Stadt betrachte, frage ich mich, wo die Elstern hier ihre Nester bauen. Sie hier zu wissen, ist eine tröstende Erinnerung an Zuhause.

 

 

Dienstag, 15. April 2003

Am Abend im Lager, noch im provisorischen Zelt, schreibe ich einen Brief an Jan. Wir sind seit unserer Jugend Freunde, haben uns aber niemals Briefe geschrieben – wir konnten uns immer treffen und miteinander reden, wieso sollten wir uns schreiben? Seit unserem Unfall spricht Jan nicht mehr, jedenfalls nichts, was man als Sprechen bezeichnen könnte, er plappert nur verworrenes Zeug, es sind seltsame, beängstigende Laute, die niemand verstehen kann, selbst seine Mutter Odette weiß nichts damit anzufangen. Sie ist oft hilflos, wenn sie ihn so hört, und die Ärzte sagen nur, Jan habe einen irreversiblen Gehirnschaden erlitten. Bei dem Unfall sind seine Schädelknochen gebrochen und ins Gehirn gedrückt worden, das linke Auge ist lädiert. Er kann sich an nichts mehr erinnern. Ich weiß nicht, ob Jan versteht, was ich ihm aus Afghanistan schreibe, will nicht glauben, dass jetzt alles in seinem Gehirn vergraben ist, all die gemeinsamen Ideen und Erlebnisse. Ich möchte Jan so in Erinnerung behalten, wie er vor unserem Unfall gewesen ist. Nach dem Abitur hatten wir vor zu studieren, ich wollte reisen, die Sprache der Vögel lernen, und Jan sollte mich auf meinen Reisen begleiten. Wir phantasierten, lachten darüber, weil wir wussten, wie verrückt das alles war, nicht mehr als ein Traum.

Ich versuche Jan zu erklären, warum ich zur Bundeswehr gegangen und Sanitäter geworden bin, wieso ich mich freiwillig für den Einsatz in Afghanistan gemeldet habe. Ich beschreibe ihm die Umgebung hier, berichte von meinen Kameraden, mit denen ich im Feldlager zusammenlebe, vom See in der Nähe des Lagers und von all den Vögeln, die ich bislang beobachtet habe.

Nach dem Unfall lebte ich monatelang wie in einem Vakuum, wartete ab, was geschehen würde. Mein ganzes Leben war sinnlos geworden, ich lag grübelnd auf meinem Bett oder lief ziellos herum, nichts interessierte mich mehr. Ich wollte mit niemandem über das reden, was passiert war, auch mit Theresa nicht. Ich spürte, ich würde auch sie verlieren, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich wollte nicht mehr studieren, wie ich es ursprünglich vorgehabt hatte, bemühte mich auch nicht um Arbeit oder einen Ausbildungsplatz. Ich stritt oft mit Mutter, versuchte sie zu überzeugen, dass es sich nicht lohne, etwas Neues anzufangen, da ich ohnehin bald zum Militär einberufen würde.

 

 

Mittwoch, 16. April 2003

Unser Feldlager ist eine umfriedete Siedlung mit Zeltunterkünften, Schlaf- und Verwaltungscontainern, einer Bar, einer Pizzeria, einem Einkaufszentrum und einer Poststelle, sogar ein Kapellchen gibt es. Soldaten aus vier Nationen sind im Lager stationiert. Als ich ankomme, scheint das Camp bereits völlig überfüllt, denn monatlich kommen neue Kontingente.

Am ersten Tag erledige ich mit anderen Neuankömmlingen die notwendigen Formalitäten, ein Offizier weist uns auf Sicherheitsbestimmungen hin und erzählt von Sprengstoffanschlägen, Raketen würden mehrmals in der Woche vom zerklüfteten Hochland aus aufs Lager abgefeuert, richteten allerdings selten Schaden an, sie schlügen nur im Gebiet außerhalb des Lagers ein. Beim Rundgang grüßen uns Kameraden, die auf Klappstühlen vor ihren Wohncontainern hocken, unter den als Sonnenschutz aufgespannten Tarnnetzen hören sie Musik. Zwischen den Containern haben einheimische Arbeiter Schotterwege angelegt. Die meisten Flächen im Lager sind geschottert, um zu verhindern, dass die lästigen Wüstenmäuse sich im Lager ausbreiten. Nachmittags werden Passfotos für die Sicherheitsausweise gemacht, ohne Ausweis darf sich niemand im Lager aufhalten. Das Passbild zeigt mich bereits mit kurzgeschorenen Haaren, fast alle im Lager lassen sich ihre Haare schneiden und Bärte wachsen. Ich erkenne mich auf dem Foto zunächst nicht, erschrecke, glaube, mich vollkommen verändert zu haben. Doch dann sehe ich den kleinen Höcker auf meinem Nasenrücken. Als Kind bin ich gegen eine Glastür gelaufen und habe mir dabei das Nasenbein gebrochen.

Während unseres Rundgangs finde ich eine Vogelfeder. Ich streiche sie glatt und lege sie in mein Notizbuch – meine erste hier gefundene Feder. Es gibt in diesem Land viele mir unbekannte Arten, dieser Vogel wird ungefähr so groß wie eine Meise gewesen sein. Die Feder ist durch die intensive Sonneneinstrahlung ausgebleicht.

 

 

Samstag, 19. April 2003

Zu Hause ist jetzt Ostern. Theresa erwähnte, es würde in der Eifel seit Karfreitag wieder schneien. Sie rief mich gestern überraschend an. Während wir telefonierten, saß sie im Regionalzug nach Gerolstein. Ich habe Theresa so lange nicht gesprochen, daher war ich glücklich, ihre Stimme zu hören. Sie erzählte, sie sei in Kall gewesen, um Jan zu besuchen. Danach habe sie im Café des Supermarktes auf den Zug gewartet. Mutter, die wieder im Café als Bedienung arbeitet, habe ihr meine Telefonnummer gegeben. Theresa redete von Jan und ihrer Arbeit auf dem Gestüt in der Nähe des Maares. Sie hatte immer Pferdewirtin werden wollen, sie liebt Pferde. Irgendwann während der Fahrt wurde die Verbindung unterbrochen.

Ambrosius beschreibt fünf Elsternarten, die er auf seiner Reise durch Afghanistan beobachtet hat, sie unterscheiden sich im Ornament ihres Gefieders, in Schwanz- und Schnabelfarbe und in der Größe. Elstern gehören zur Gattung der Rabenvögel und sind doch Singvögel, auch wenn ihr lautes Krächzen und Schnattern dies nicht unbedingt vermuten lässt. Sie besiedeln fast unseren gesamten Globus. Es heißt, die eine Elster bringe Glück, die andere Unglück. Bereits Plinius der Ältere hatte Hochachtung vor der Intelligenz dieser Vögel. Er meinte, sie fänden Gefallen daran, bestimmte Wörter zu äußern und lernten diese nicht nur, sondern liebten sie, dächten insgeheim sorgfältig über ihre Verwendung nach und würden nicht verbergen, wie sehr sie das in Anspruch nehme. Es sei eine erwiesene Tatsache, dass Elstern zu Tode kämen, wenn sie an der Schwierigkeit eines Wortes scheiterten. Als ich zwölf war, zog ich eine Elster auf, die aus ihrem Nest gefallen war. Jeden Morgen, bevor ich zur Schule ging, fütterte ich sie, bald war sie zutraulich, setzte sich auf meine Schulter, zupfte mich am Ohrläppchen und begleitete mich auf meinen Spaziergängen.

Am Abend, nachdem ich meine Erlebnisse ins Tagebuch eingetragen habe, versuche ich, die Elstern zu zeichnen, die ich am Flugplatz beobachtet habe. Viele Ornithologen fotografieren die von ihnen beobachteten Vögel, ich aber würde durch solche Fotografien die Erinnerung an das Gesehene verlieren. Ich zeichne die Elster und denke an Theresa.

image

Elster (Pica pica bactriana)

 

 

 

Theresa brachte mit Bruni die Pferde zur Koppel, dann misteten sie die Ställe aus und fuhren anschließend mit dem alten Fendt-Trecker auf die Weide am Maar, um Zäune zu reparieren. Es war erstaunlich, wie viele Dinge im Winter auf dem Hof kaputt gegangen waren. Theresa hatte gehofft, der Winter wäre nun endlich vorüber. Aber in der Nacht hatte es wieder gefroren. Nach dem Frühstück hatte der Hofbesitzer ihnen gesagt, sie müssten Zäune reparieren. Kessler war ein kleiner glatzköpfiger Greis mit einem dreieckigen Runzelgesicht und buschigen Augenbrauen. Bruni wusste, was zu tun war, sie war schon ein paar Jahre auf dem Hof. Sie hatte, bevor sie in die Eifel gekommen war, auf Baltrum als Pferdewirtin gearbeitet, war im Sommer mit Kindern am Strand entlanggeritten, aber im Winter hatte sie es vor Langeweile auf der Insel nicht mehr ausgehalten, wo alles so überschaubar war, dass die Straßen nicht mal Namen trugen. Als sie Kesslers Anzeige in einer Pferdezeitung las, hatte sie ihre Sachen gepackt und sich auf die Reise gemacht. In einigen Jahren würde sie den Kessler-Hof überschrieben bekommen, erzählte sie Theresa. Kessler und seine Frau hätten ihr versprochen, sie könne den Hof übernehmen und müsse ihnen nur eine kleine Rente zahlen. «Wir sind schon alt und schaffen das nicht mehr lange», hatte Kessler zu ihr gesagt, die Chefin hatte mit ihrem faltigen schmalen Gesicht genickt. Bruni war naiv und glaubte alles, was die Kesslers ihr erzählten, sie bildete sich auch ein, der junge Tierarzt, der auf dem Hof die Pferde medizinisch betreute, hätte Interesse an ihr.

Am Nachmittag arbeiteten sie unten am Maarufer. Ein eisiger Wind strich übers Wasser, es dämmerte und begann zu schneien. Theresa trug Pauls alten Parka, darunter einen dicken Strickpullover, aber sie hatte keine Arbeitshandschuhe. Mit schmerzenden Händen zog sie den Draht stramm, und Bruni schlug Krampen in die Pfähle. Theresa blickte zum Maar, ein Gewimmel von Vogelkörpern erhob sich und landete wieder. Immer wenn sie Vögel sah, dachte sie an Paul, schon als kleiner Junge hatte er sich für alles, was flog, interessiert. Bruni redete unentwegt, sie konnte nicht still sein, auch nicht während der Arbeit. Sie erzählte, wie sie im Sommer mit den Ferienkindern zum Maar reiten würden, wie sie dort schwimmen und den ganzen Tag in der Sonne liegen würden. Dann fing sie vom Tierarzt an, was für ein gutaussehender Mann er doch sei, und dass er ein Auge auf sie geworfen habe, seit er vor einem Jahr die Praxis vom alten Doktor Langrich übernommen habe. «Den kennst du gar nicht mehr», sagte sie. Der neue Veterinär arbeitete noch nicht lange in der Eifel, er stammte aus einem Ort nahe der Ostseeküste. Wenn er den Hof besuchte, lief Bruni wie ein kleines Schulmädchen hinter ihm her, dauernd schwärmte sie von ihm.

Sie spannten einen weiteren Draht. Theresa hatte davon Risse in den geröteten Handflächen, jedes Mal, wenn sie zu heilen begannen, brachen die Verletzungen wieder auf.

Als der Schneefall dichter wurde, beendeten sie ihre Arbeit, luden das Werkzeug auf und fuhren über Feldwege zum Hof zurück. Die Scheinwerfer erloschen minutenlang wegen eines Wackelkontakts, dann fuhren sie blind über holprige Wege. Da der Trecker keine Windschutzscheibe hatte, klatschte ihnen der Schnee ins Gesicht. Auf dem Hof versorgten und striegelten sie die Pferde, für den nächsten Tag hatten sich Leute aus der Stadt angekündigt, die sich den Stall ansehen und vielleicht ihre Pferde unterstellen wollten.

 

 

Sonntag, 20. April 2003

Morgen ist mein 24. Geburtstag, ich werde keine Zeit zum Feiern haben, auch nicht für meine Notizen. Ich werde den ganzen Tag über Sanitätsdienst schieben und abends an der Besprechung des BAT-Zuges teilnehmen. Meinen Geburtstag habe ich selbst meinen Stubenkameraden Sergej und Julian gegenüber nicht erwähnt, es wäre mir peinlich, diesen Tag zu feiern. Ich weiß nicht, warum das so ist. Ich komme nicht zur Ruhe, es fällt mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich habe keine Ahnung, woher diese Unruhe kommt. Vielleicht ist es Angst. Mir ist ständig heiß, ich kann nicht so viel trinken, wie ich ausschwitze. Vermutlich rufen Mutter und Sabine morgen an. Wo meine Schwester wohl lebt und was sie macht? Nach Vaters Tod hockte sie beinahe jeden Abend neben der Zingsheimer Autobahnbrücke und starrte zu den Pfeilern hoch. Sie saß im Gras, nahm Drogen und hielt sich die Ohren zu, weil sie die Schreie der Falken, die dort oben nisteten, nicht ertrug. Sie hörte sie, obwohl Falken in der Dunkelheit stumm bleiben. Irgendwann war sie wie vom Erdboden verschwunden, und ich war froh, dass sie wenigstens nicht mehr zu dieser verfluchten Brücke ging.

Als ich früher einmal mit Vater ins Boletal zum Kalksteinbruch radelte, durfte ich auf seiner Fahrradstange sitzen – «Wir fliegen!», rief ich. Vater zählte die Namen der Singvögel auf, die an uns vorbeiflogen, ahmte ihr Trillern nach, was auch ich bald lernen würde. Im Steinbruch nistete ein Uhupärchen. Wir hörten flüsterndes Flügelschlagen.

image

Uhu (Bubo bubo)

 

 

Dienstag, 22. April 2003

Ich klettere nach dem Dienst zum ersten Mal auf den Ausguck, einen Holzturm mitten im Lager, und hoffe, von dort den See zu sehen, der mir auf der Fahrt zum Feldlager aufgefallen ist. Der See schimmert türkisgrün, vielleicht verursacht durch gelöste Salze, andere Mineralien und kleine Krebse. Er liegt weit entfernt von der staubigen Piste, die von der Stadt zum Lager führt. Vom Turm aus blicke ich über unser Camp hinweg, über die Büro- und Schlafcontainer, über den schützenden Wall aus aufeinandergestapelten quaderförmigen Steinkörben. Rings um den Festungswall erstreckt sich ein Geländestreifen, begrenzt von einem Zaun samt Stacheldrahtkrone. Bewacht wird das Lager von afghanischen Sicherungsposten und unseren Soldaten. Hinter dem Zaun mache ich niedrige Büsche aus, Steppengras, brachliegende Felder, Sanddünen, über denen feiner Staub wirbelt. Weit entfernt bewegen sich Vogelschwärme über den See wie leicht im Wind schwebende Tücher. Viele dieser Vögel sind wahrscheinlich ebenso wie wir Fremde in diesem Land, sind tausende Kilometer weit geflogen, um hier zu rasten. Der See liegt circa fünf Kilometer weit entfernt in nordwestlicher Richtung. Zu Fuß würde ich eine gute Stunde marschieren, ich nehme mir vor, ihn bei nächster Gelegenheit zu besuchen. Ich möchte dort Vögel beobachten, in der Hoffnung mir unbekannte Arten zu entdecken. Ich will unbedingt an seinem Ufer sitzen, obwohl es verboten ist, das Feldlager ohne ausdrückliche Erlaubnis zu verlassen.

Meine Notizen verschiebe ich oft auf den folgenden Tag. Ich liege im Bett, denke an die Vögel, die ich gesehen habe. Darüber schlafe ich meist ein. Eine gute Methode, um nicht zu sehr ins Grübeln zu geraten.

 

 

 

Als Helena im Frühjahr 2004 plötzlich schwer erkrankte, stellte Ignatz ihr Bett ins Klavierzimmer neben der Küche, so musste sie nicht vom Schlafzimmer die steile Treppe zu Küche und Wohnzimmer hinuntersteigen. Ein altes Bruchsteinhaus war nichts für kranke Leute. Als sie vor dreißig Jahren nach Kall gezogen waren, hatten sie es preiswert von der Bergwerksgesellschaft gekauft. Es hatte ihnen auf Anhieb gefallen, ihre Kinder waren später hier geboren und aufgewachsen.

Von ihrem Bett aus blickte Helena durch das große Flügelfenster auf eine Weide. Die Pferde hatten im Sommer das Gras um die hochgewachsenen Disteln abgefressen, kleine Inseln mit wilden Karden, Bienen- und Kratzdisteln waren entstanden. Hinter der Wiese erstreckte sich ein Kiefernwald, in dem versteckt Abwasserteiche und Pumpbecken des alten Bleibergwerks lagen, daran schloss sich militärisches Übungsgelände an, eine Wildnis, die wegen der Einsturzgefahr alter Bergwerksstollen gesperrt war. Den ganzen Sommer über hatte Helena im Bett gelegen, an manchen Tagen hatte sie nur geschlafen oder vom Bett aus den über der Wiese schwebenden, glitzernden Distelsamen zugesehen. Helena fragte sich, was Ignatz tun würde, wenn sie nicht mehr hier wäre. Sie hatte immer angenommen, dass er nicht ohne sie leben könne. Sie dachte an ihr Verhältnis mit Leo, ihre heimlichen Treffen. Sie dachte, wenn sie sterben müsse, würde sie bedauern, Leo so selten gesehen zu haben. Sie hatte ihm geschrieben, sie könnten sich nicht mehr treffen. Es war ihr unmöglich, in ihrem Zustand mit ihm in einem Hotelzimmer in der Stadt zusammen zu sein. Sie schlief ein, und als sie wieder wach wurde, schwebten silberne Distelsamen durch das Fenster ins Zimmer, manche der filigranen Gebilde blieben an der Bettdecke hängen. Helena pustete sie wieder in die Luft. Sie stellte sich vor, so als Samenfallschirm zu segeln. Einmal, als sie zwischendurch aufwachte, flog ein Buchfink durch das Zimmer, setzte sich auf eine Klaviertaste, flatterte hoch, landete immer wieder auf den Tasten und zirpte dabei. Sie wartete auf Ignatz. Er war zum Supermarkt gefahren, um für das Wochenende einzukaufen. Danach hatte sie einen Termin im Krankenhaus.

Helena stand in der Haustür, als Ignatz kam. Sie trug eine Perücke, ihre Lippen waren geschminkt. Ignatz parkte in der Garageneinfahrt, stieg aus, sah sie bewundernd an und nahm sie in den Arm. Er war viel größer als sie, hatte lange graue Haare und trug einen kleinen silbernen Ohrring. Als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, hatte er in Bonn Jura studiert, doch nach dem ersten Staatsexamen brach er das Studium ab und wurde Sozialarbeiter. Sie zogen nach Kall, wo er ein Jugendwohnprojekt für schwer erziehbare Jugendliche leitete. Helena hatte bis zu ihrer Erkrankung als Lehrerin gearbeitet.

«Du siehst hübsch aus», sagte Ignatz. Sie glaubte ihm das nicht so recht, aber es war nicht wichtig. Seine Augen strahlten, sie waren das Schönste an ihm. Gemeinsam räumten sie den Kofferraum aus. Ignatz stellte die Körbe in den kleinen Abstellraum neben der Garage. Das Fleisch legten sie in den Kühlschrank. Sie hatten keine Zeit, einen Kaffee zu trinken, sondern mussten sofort los. Ignatz brachte sie immer zur Klinik, er wollte nicht, dass sie mit dem Zug fuhr.

Während der Fahrt legte sie die Hand auf sein Bein. Ignatz kleidete sich noch immer wie ein Student, trug verwaschene Jeans und das Hemd über der Hose. Er sprach von der Wohngemeinschaft. Die Jugendlichen, die er betreute, hatten keine Ausbildung, fanden keine Stelle, außerdem gab es Drogenprobleme. Ein Mädchen hatte sich den Arm geritzt und wäre beinahe verblutet. «Mara verletzt sich nur, damit sie etwas anderes nicht mehr spürt», sagte Ignatz.

Vor ihrer Krankheit war Helena selbst Auto gefahren. Ignatz hatte aus dem Fenster gesehen und Bluesstücke auf seiner Mundharmonika gespielt, das vermisste sie jetzt, wie viele andere Dinge, die früher für sie belanglos gewesen waren. Ihr Verhältnis zu Leo würde sie Ignatz niemals erklären können. Helena schloss die Augen, hörte Musik aus dem Radio, in den Nachrichten kündigten sie für den Abend starke Regenfälle und orkanartige Stürme an. Sie dachte an die Distelsamen, die dann vom Sturm in alle Himmelsrichtungen verteilt würden.

Als sie über den Parkplatz gingen, hielt Ignatz ihre Hand. «Da oben ist wieder der junge Mann», sagte sie. Jedes Mal, wenn sie sich dem Krankenhaus näherten, stand er an einem Fenster im fünften Stock und blickte auf den Parkplatz hinunter. Ignatz konnte diesmal nicht bei ihr bleiben, er musste zurück zur Arbeit.