Hermann A. Schlögl
DAS ALTE ÄGYPTEN
C.H.Beck
Das Alte Ägypten hat seit der Antike durch seine monumentalen Bauten, durch Kunstwerke, eine unermessliche schriftliche Hinterlassenschaft und seine geheimnisvolle Religion fasziniert. Hermann A. Schlögl bietet in diesem Band einen allgemeinverständlichen Überblick über vier Jahrtausende Altägyptischer Geschichte von der prähistorischen Zeit bis zum Selbstmord der Königin Kleopatra, mit dem das Ende des pharaonischen Ägypten besiegelt wurde. Neben der Geschichte der Pharaonen beschreibt er auf anschauliche Weise auch Religion, Kultur und den Alltag im Nilland. So erhalten auch solche Personen Profil, die im Schatten der Mächtigen standen, über deren Lebensgeschichte wir aber dennoch erstaunlich genau Bescheid wissen.
Hermann Alexander Schlögl ist emeritierter Professor für Ägyptologie an der Universität Freiburg (Schweiz). Er ist durch zahlreiche Monographien zur Geschichte und Kultur des Nillandes und durch Übersetzungen Altägyptischer Literatur hervorgetreten. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. die große Gesamtdarstellung Das Alte Ägypten (2006) sowie in C.H.Beck Wissen Nofretete (2. Aufl. 2013) und Echnaton (2008).
I. Einführung und Grundlagen
1. Eine kleine Landeskunde Ägyptens
2. Der Stein von Rosette und die Schrift der Ägypter
3. Götter und Könige
4. Strukturen und Mentalität der ägyptischen Gesellschaft
II. Frühzeit und Altes Reich
1. Die Vorgeschichte und ihre Fundorte
2. Die Frühzeit. Grundlagen der Herrschaft
3. Staat aus dem Stein: Beginn der Pyramidenzeit
4. Die 4. Dynastie: Hochblüte in Architektur und Plastik
5. Die Sonnenkönige der 5. Dynastie
6. Der Zusammenbruch des Staates: Sturz aus der Geborgenheit
7. Die literarische Antwort
III. Das Mittlere Reich
1. Neubeginn und Regeneration des Staates
2. Die Residenz von Itj-taui
3. Sesostris I. und die innere Stabilität
4. Ausdehnung von Handel und Verkehr
5. Die Erschließung des Fajum
6. Höhepunkte in der bildenden Kunst: Sesostris III. und Amenemhat III.
7. Niedergang und Fremdherrschaft: Unterdrückung durch die «Hyksos»
IV. Das Neue Reich: Die glorreiche 18. Dynastie
1. Befreiung durch Ahmose
2. Der kulturelle Aufschwung unter Amenophis I.
3. Aufstieg zum Großreich
4. Der Athlet und der Pragmatiker: Amenophis II. und Thutmosis IV.
5. Amenophis III. und das Kolossale
6. Die Götterdämmerung unter Amenophis IV.-Echnaton
7. Ausklang einer Epoche
V. Die Ramessidenzeit
1. Die Erneuerung der Schöpfung
2. Ramses II. und die Kunst der Diplomatie
3. Von König Merenptah zu König Sethnacht
4. Ramses III., ein bedeutender Herrscher
5. Die Arbeitersiedlung von Deir el-Medineh
6. Der Niedergang Ägyptens
VI. Die Spätzeit
1. Libysche Könige aus Bubastis
2. Fremde Herren auf dem Pharaonenthron
3. Die Renaissance in der 26. Dynastie
4. Persische und griechische Herrscher im Nilland
5. Ägypten wird römische Provinz
Dynastien und Könige
Weiterführende Literatur
Der griechische Geschichtsschreiber und Geograph Herodot, der um 450 v. Chr. Ägypten bereiste, nannte das Land ein «Geschenk des Nils» und hat damit treffend die Tatsache bezeichnet, dass der Fluss die Lebensgrundlage des Landes darstellte. Über 6000 km hin bahnen sich die Wasser des Nils ihren Weg vom Innern Afrikas zum Mittelmeer. Im Seengebiet Äquatorialafrikas entspringt der Weiße Nil und vereinigt sich ungefähr 2 km von der sudanesischen Hauptstadt Khartum entfernt mit dem Blauen Nil, der im abessinischen Hochland seinen Ursprung hat. Schließlich mündet dann noch der reißende Atabara in den Nil. Der gewaltige Strom durchbricht auf seinem Weg nach Norden sechs steinerne Barrieren, die Katarakte entstehen lassen. Die letzte dieser Stromschnellen liegt bei Assuan. Da man die Katarakte aber von Norden nach Süden zählt, wird der Katarakt bei Assuan als der erste bezeichnet. Er bildet seit alters die natürliche Südgrenze Ägyptens gegen Nubien, das die Pharaonen seit 1550 v. Chr. das Land Kusch nannten. Von dort aus konnte sich der Fluss bei geringem Gefälle nordwärts ein breites Tal in den weichen Kalkboden graben. Dann aber rückt eine gebirgig-felsige Wüste nahe an den Flusslauf heran, so dass das bewohnbare Land an keiner Stelle breiter als 25 km ist. Der Nil teilt das Land in drei Abschnitte. Der schmale Nillandstreifen von Assuan bis etwa 900 km nördlich, wenn das Gebirge sich zu öffnen beginnt, wird als Oberägypten bezeichnet. Im weiteren Flussverlauf gen Norden, in Mittelägypten, liegt, durch eine Hügelkette von ihm getrennt, westlich das Seenland Fajum, das in der pharaonischen Geschichte zu einer bedeutsamen Region aufstieg. In alter Zeit durch ein Kanalsystem mit dem Nil verbunden und von diesem gefüllt, entstand hier ein großer See, dessen Reste noch heute den 40 m unter dem Meeresspiegel liegenden Birket Karun bilden. Schließlich teilte sich der Nil nördlich der alten Stadt Memphis, in der Gegend der heutigen Metropole Kairo, in sieben Arme, um sich zuletzt in das Mittelmeer zu ergießen. Das Land zwischen den Armen, das aus angespültem Schwemmland bestand, bildete die Form eines Dreiecks (Delta) und wird als Unterägypten bezeichnet. Von den sieben Nilarmen sind heute nur noch zwei vorhanden, der westliche, der bei der Stadt Rosette, und der östliche, der bei dem Ort Damiette ins Meer mündet.
Anhaltende sommerliche Monsunregenfälle in den tropischen Gebieten und auf der abessinischen Hochebene ließen den Blauen Nil und den Atabara in jedem Jahr stark anschwellen. Der Fluss begann Ende Juni langsam zu steigen und überschwemmte Ägypten bis Ende September, wobei er fruchtbaren Schlamm an den Ufern ablagerte. So wurde ein ertragreicher Ackerbau möglich. Das große jährliche Ereignis der Nilüberschwemmung war für alle Bewohner von höchstem Interesse. Durch das Anlegen von Deichen schützte man Dörfer und Gärten vor Überflutung. Große Becken wurden gebaut, um das Überschwemmungswasser aufzunehmen. Nur so konnte man später auf Wasserreserven zurückgreifen. Um das Wasser zu verteilen, grub man Kanäle; Schöpfräder und Hebevorrichtungen brachten das kostbare Nass auf höher gelegene Ländereien. Diese organisierten Arbeiten an der Bewässerung bildeten Gemeinschaften über eine bloße Stammeszugehörigkeit hinaus und begünstigten die Herausbildung einer einheitlichen Kultur. Blieb die Nilüberschwemmung aus oder erreichte sie nur eine geringe Höhe, waren oft katastrophale Hungersnöte die Folge. Die Ägypter nannten den fruchtbaren und reichen Kulturboden das «Schwarze Land», im Gegensatz zur Wüste, die sie als das «Rote Land» bezeichneten. Der Kontrast ist eindrücklich, denn fast wie mit dem Lineal gezogen liegen dort Ackerboden und Wüstensand nebeneinander.
Ägyptens geographische Lage mitten in der Wüste, im Norden vom Meer begrenzt mit nur einem schmalen Zugang über die Sinaihalbinsel, isolierte das Land von seinen Nachbarn und zwang die Bewohner zur Selbstversorgung. Ein Großteil von ihnen war in der Landwirtschaft beschäftigt. Das rohstoffarme Land war reich an verschiedenen Gesteinsarten, und schon früh hatten die Ägypter gelernt, dieses Material mit den einfachsten Hilfsmitteln meisterhaft zu beherrschen. So schuf man die Voraussetzung, um Statuen, Reliefs, Vasen und Krüge herzustellen und monumentale Architekturwerke wie etwa die Pyramiden zu errichten. Die Werkstoffe kamen alle aus dem Niltal selbst oder wurden aus der nahe gelegenen Wüste herbeigeschafft. Den Nil benutzte man als Wasserstraße zum Transport der Güter. Schon in vorgeschichtlicher Zeit hatten sich die Ägypter auf den Bootsbau verstanden, obgleich das dazu benötigte Holz eine Mangelware war und aus Westasien oder aus dem Süden, aus Nubien, importiert werden musste. Ägypten und Nubien waren reich an Goldvorkommen, heute können 150–160 antike Abbauplätze nachgewiesen werden. In den betreffenden Wadis hat man die goldhaltigen Quarzadern mit Hämmern und Metallmeißeln herausgebrochen, dann das gewonnene Material in einem Mörser zerklopft und zuletzt den Goldflitter aus dem Quarz herausgewaschen. In der Gewinnung von Gold übertraf Ägypten alle seine Nachbarvölker.
Am Ende des 18. Jahrhunderts strebte Frankreich danach, die englische Herrschaft in Indien zu beenden. Um den Stützpunkt Ägypten in die Hand zu bekommen, drang 1798 Napoleon Bonaparte mit einer Expeditionsarmee in das Land ein. Den Invasionstruppen war eine Gruppe von Gelehrten angeschlossen, die Ägypten erforschen sollten, um genauere Kunde von dem geheimnisvollen Land nach Europa zu bringen. Zwar geriet Napoleons Feldzug militärisch und politisch zum Fiasko, doch bedeutete er eine Sternstunde für die Erforschung des Nillandes.
Als besonders bedeutsam erwies sich dabei der Fund eines schwarzen Basaltsteines, der im Juli 1799 in der Nähe der Stadt Rosette, an der westlichen Nilmündung nur wenige Kilometer vom Mittelmeer entfernt, bei Schanzarbeiten gefunden wurde. Dieser Stein war auf einer Seite poliert und zeigte drei voneinander getrennte Abschnitte, die jeweils verschiedene Schriftarten trugen, nämlich hieroglyphische, demotische und griechische Zeichen. Ein junger französischer Ingenieur-Offizier, Pierre François Bouchard, erkannte die Bedeutung des Fundes, weil er annahm, dass die drei Texte den gleichen Inhalt haben müssten und damit ein Schlüssel zur Entzifferung der Hieroglyphen gegeben sein könnte.
Im Jahr 1801 wurde das militärische Abenteuer Napoleons in Ägypten durch die Engländer beendet, wobei der Kapitulationsvertrag bestimmte, dass der Stein von Rosette zusammen mit anderen Funden den Engländern ausgeliefert werden musste. Bereits Ende des Jahres 1802 kam er ins Britische Museum in London und wurde dort einem breiten Publikum bekannt gemacht. Die griechische Version war bald gelesen. Sie berichtet von einer Widmung der memphitischen Priesterschaft an König Ptolemäus V. Epiphanes aus dem Jahre 196 v. Chr. anlässlich der Wiederkehr seines neunten Krönungsjubiläums. Es folgt eine lange Aufzählung von Wohltaten, Vergünstigungen, Steuerermäßigungen und Schenkungen, die der Herrscher dem Land und der Priesterschaft erwiesen hat. Dieses Dekret sollte in jedem Tempel erster, zweiter und dritter Ordung in Stelen von hartem Stein, beschriftet mit hieroglyphischen (=heiligen), demotischen (=volkstümlichen) und griechischen Zeichen direkt neben dem Bild des Königs aufgestellt werden. Die Inschrift war somit zweisprachig, nämlich in Ägyptisch und in Griechisch, und in drei Schriftarten ausgeführt. Obgleich man den Inhalt des Textes kannte, gestaltete sich die Entzifferung problematisch. Der erste, der voran kam, war der schwedische Orientalist Johan David Åkerblad (1763–1819), der sich in Paris mit dem Studium koptischer Handschriften beschäftigte. Koptisch ist die letzte Sprachstufe des Altägyptischen, die mit griechischen Buchstaben geschrieben wird und noch heute bei koptischen Christen als Kirchensprache weiterlebt. Er stellte Gleichungen demotischer und koptischer Wörter zusammen, konnte auch einzelne Wörter erkennen, kam aber mit seinen Forschungen nicht weiter, weil er irrtümlich annahm, dass die demotische Schrift ausschließlich alphabetische Zeichen verwende. Im Jahre 1814 begann sich der englische Arzt und Physiker Thomas Young (1773–1829), weltbekannt durch die Entdeckung der Wellentheorie des Lichtes, für die Entzifferung der Schriften zu interessieren. Auch er versuchte sich zuerst am demotischen Textteil, wechselte aber bald zur hieroglyphischen Version über, mit der er sich vier Jahre beschäftigte. Er kam zu dem wichtigen Ergebnis, dass die Hieroglyphenschrift eine Mischung aus Laut- und Wortzeichen darstellt, und legte ein Vokabular von 204 Wörtern an, von denen er ein Viertel völlig richtig erkannt hatte. Er stellte fest, dass in den Kartuschen, den langgezogenen ovalen Ringen, die in den ägyptischen Inschriften auftauchen, jeweils die Königsnamen eingeschrieben sind, und entzifferte so auf der Kopie einer Inschrift vom Tempel von Karnak exakt die Namen der Königin Berenike und ihres Gatten, des Königs Ptolemäus I. Soter. Seine Forschungen veröffentlichte er 1819 im Supplementband der Encyclopaedia Britannica und war dabei einer endgültigen Entzifferung der Hieroglyphen ganz nahe gekommen. Der Durchbruch gelang zwei Jahre später dem Franzosen Jean François Champollion (1790–1832). Er ging im Alter von 16 Jahren an die Universität Paris, um orientalische Sprachen zu studieren. Nur zwei Jahre später wurde er Professor für Geschichte an der Universität Grenoble. 1822 fand er den Schlüssel für die Lesung altägyptischer Denkmäler und machte in seinem berühmten «Lettre à M.Dacier relative à l’alphabet des hiéroglyphes phonétiques» seine Entdeckungen der französischen Akademie und der Gelehrtenwelt bekannt. Das Jahr 1822 gilt seither als Geburtsstunde der Wissenschaft «Ägyptologie».
Erfunden wurde die Hieroglyphenschrift um 3000 v. Chr. und ist damit die älteste schriftlich fixierte Sprache des afroasiatischen (hamito-semitischen) Sprachstammes. Geschrieben wurden nur die Konsonanten, wie es auch im Arabischen und Hebräischen üblich ist, mit etwas mehr als 1000 verschiedenen Schriftzeichen. Während sich bis zur Mitte des 3. vorchristlichen Jahrtausends meist nur knappe Mitteilungen finden, die den König und seine Beamtenschaft betrafen, entwickelte sich schließlich auch eine niedergeschriebene Überlieferung in Religion, Literatur und Wissenschaft. Vieles davon ist durch die Zerstörung der antiken Bibliotheken verlorengegangen, dennoch sind – durch die Trockenheit des Klimas begünstigt – große Reste erhalten geblieben, die uns Kenntnis vom Denken und der Weltsicht der alten Ägypter geben. Gerne ließen sich wichtige Beamte, auch Mitglieder der Königsfamilie, in Statuen als Schreibende darstellen, denn die Kenntnis des Lesens und Schreibens war es, die den Zugang zu allen höheren Positionen des Staates eröffnete. So war es ein Traumberuf, Schreiber zu werden. Schulen, in die besonders ausgewählte Kinder im Alter von fünf bis zehn Jahren eintraten, um das Lesen und Schreiben zu erlernen, gab es nachweislich schon nach 2000 v. Chr. Als Vorlagen für die Schüler, zum Abschreiben, aber auch zum Diktat, dienten alte Akten, religiöse Texte, Briefe und erzählende Literaturwerke, wobei letztere oft besonders intensiv durchgenommen wurden. So sind uns viele Dichtungen nur durch fleißige Schülerhände überliefert. Wenn wir von Hieroglyphen (=heilige Schriftzeichen) sprechen, dann versteht man darunter die künstlerisch eindrucksvoll gestaltete Schriftform, welche sich, teilweise farbig ausgemalt, vorwiegend auf Tempelwänden, Stelen und Grabinschriften findet. Die Schreibschüler aber lernten vor allem eine davon abgeleitete, stark kursive Form, die für den täglichen Gebrauch geeigneter war und die wir heute «hieratische» (=priesterliche) oder Buchschrift zu nennen pflegen. Vereinfacht kann man sagen, dass das Hieratische sich zu den Hieroglyphen verhält wie unsere Handschrift zur Druckschrift. Eine dritte Schriftart stellt das Demotische (=Volkstümliche) dar. Es handelt sich dabei um eine aus dem Hieratischen entwickelte Kurzschrift, die verschiedene Eigentümlichkeiten aufweist und seit etwa 700 v. Chr. im Gebrauch war. Zur Zeit der Ptolemäer und Römer war es die übliche Schrift des täglichen Lebens. Als Schreibutensilien dienten Binsen, die an einem Ende spitz zuliefen und zu einer Art Pinsel zerkaut wurden, sowie rotes und schwarzes Tintenmaterial, das auf einer Palette mit Wasser gebrauchsfertig angerührt wurde. Wichtige Schriftstücke schrieb man auf wertvollem Papyrus; für einfache Texte und für den allgemeinen Gebrauch benutzte man Kalksteinsplitter (Ostraka), die überall in reicher Menge vorhanden waren.
Es ist die Religion, welche die ägyptische Kultur prägte und den Zugang zu ihrem Verständnis öffnet. Die ägyptische Religion war keine Offenbarungs- oder Buchreligion, in der sich der Gott persönlich enthüllt, sondern sie war durch Mythen und Kult bestimmt: In allem, was der Ägypter auf der Erde oder am Himmel sah, konnte sich die Macht eines Gottes oder einer Göttin kundtun. So gab es eine unglaubliche Vielzahl und Vielgestaltigkeit an göttlichen Wesen, die den Himmel oder die Unterwelt bewohnten. Auf Erden erbauten ihnen die Menschen Tempel, so dass auch hier im Diesseits die wichtigsten Götter ihre Heimstatt hatten. Ihre Kultbilder aus Gold oder Stein waren im innersten Teil des Tempels in verschlossenen Schreinen aufgestellt, und nur wenige auserwählte Priester hatten dort Zutritt, um den täglichen Dienst zu versehen. Auch die übrigen Räume des Gotteshauses waren nur einem privilegierten Personenkreis zugänglich; der einfache Gläubige sprach seine Gebete an den Tempeltoren.
Neben diesem Polytheismus, der später zu einem Kosmotheismus (Vergottung der Welt) führte, war auch die Vorstellung von einem großen, einzigartigen Gott im Volk lebendig, mit welchem meist der Sonnengott Re identifiziert wurde. Allerdings konnte diese Einzigartigkeit auch auf andere göttliche Wesen übertragen werden, etwa auf die Götter Ptah und Thot, den Herrn der Schrift und Aktuar der Götter, oder auf Amun (=der Verborgene), der seit dem Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. an der Spitze des ägyptischen Pantheons stand. Die Vielzahl der übrigen Götter blieb gleichzeitig notwendig, denn sie erleichterte den Menschen eine Annäherung an die Götterwelt und machte diese ansprechbar. Die Götter waren wie die Menschen einem Alterungsprozess unterworfen, sie konnten sterben und bedurften der Regeneration, so dass in der Vorstellung der Ägypter die Schöpfung nicht ein einmaliger Vorgang war, sondern ein Akt ständiger Erneuerung. Beide, Götter und Menschen, vereinte die Verpflichtung auf die Maat. Dieser Begriff, der oft mit «Wahrheit», «Recht», «Gerechtigkeit» übersetzt wird, hat einen so vielschichtigen Inhalt, dass er in der Übersetzung nicht durch ein einziges Wort ausgedrückt werden kann. Maat verkörpert die Weltordnung, die der Schöpfergott bei der Schaffung der Welt gesetzt hat, bedeutet das Gegenteil von Chaos, beinhaltet die Gesetzmäßigkeit der Natur und ordnet das Zusammenleben der Menschen untereinander. Der Ägypter hat diesen Begriff personalisiert in der Gestalt der Göttin Maat, die als Tochter des Sonnengottes Re galt. Bildlich wird sie als Frau dargestellt, die auf dem Kopf als Scheitelattribut eine Straußenfeder, ihr Schriftzeichen, trägt. Doch nicht nur die Maat in die Tat umzusetzen war Aufgabe von Göttern und Menschen, sie waren auch verpflichtet, alles, was der Schöpfung entgegenstand, sie bedrohte oder sinnentleert machte, abzuwehren. Das Wort «Isefet» war der ägyptische Sammelbegriff negativer Kräfte und für die Feinde der Schöpfung. Er schloss Mord, Lüge, Gewalt und Tod genauso ein wie Leiden, Mangel, Krieg und Ungerechtigkeit.
Unter den zahlreichen Weltschöpfungsvorstellungen, die es in Ägypten gab, ist die Kosmogonie durch das Wort, durch Magie und Zauber besonders herausragend. Diese Vorstellung wurde z.B. auf einer Basaltplatte aufgezeichnet, die sich heute im Britischen Museum befindet und als «Denkmal memphitischer Theologie» bekannt ist. Im Mittelpunkt steht der Schöpfergott Ptah, Schutzherr jeder handwerklichen Kunst. In der Stadt Memphis besaß er, der in der Regel als Mensch mit ungegliedertem Körper und einer eng anliegenden Kappe auf dem Kopf dargestellt wird, ein bedeutendes Kultzentrum. Der Text berichtet, dass Ptah durch Gedanken und Worte die Götter, die Welt und die Menschen erschaffen hat, dazu alle guten Dinge, Nahrung und Speisen, Recht und Gesetze: «So wird Maat gegeben dem, der tut, was geliebt wird, Isefet gegeben dem, der tut, was gehasst wird. So wird nun Leben gegeben dem Friedfertigen und Tod gegeben dem Frevler.»
Nach ägyptischer Vorstellung konnte ein Gott oder eine Göttin mit einem oder mehreren anderen göttlichen Wesen eine sehr innige Verbindung eingehen, die man theologisch als «Einwohnung» oder «Synkretismus» bezeichnet. Die Götternamen wurden bei einer solchen Einwohnung einfach aneinandergereiht. So konnte etwa der Gott Amun mit dem Sonnengott Re eine Verbindung eingehen, so dass man von Amun-Re sprach. Eine solche Einwohnung konnte entweder nur vorübergehender Natur sein oder auch länger andauern. Neben dem Sonnengott Re gab es auch andere Sonnengötter; in jedem kam ein besonderer Aspekt der Sonne zum Ausdruck, der den Tageszeiten entsprach. So verkörperte sich die Morgensonne in dem Gott Chepre (=der Entstehende), der sich als Mistkäfer (Skarabäus) manifestierte. Der Ägypter beobachtete nämlich, wie die Nachkommen des Käfers scheinbar der Erde entschlüpften, das heißt gleichsam aus ihr selbst entstanden, und so gab es Analogien zwischen dem Tier und dem morgendlichen Sonnengott. In der Taggestalt der Sonne glaubte man den Gott Harachte (=horizontischer Horus) zu erkennen, der als Sonnenfalke über den Himmel zog. Die Abendgestalt der Sonne wurde mit Atum (=der Undifferenzierte), einer wichtigen Urgottheit, gleichgesetzt.
Unter den Göttinnen war Hathor (=Haus des Horus) die angesehenste und theologisch vielschichtigste Göttin im ägyptischen Pantheon. In ältester Zeit galt sie als Himmelsgöttin und hat, wie ihr Name zeigt, eine Verbindung zu Horus und damit zur Sonne. Man setzte sie auch mit dem versengenden und feuersprühenden Auge des Sonnengottes Re gleich und gab ihr wegen ihrer vernichtenden Kraft den Beinamen «Herrin des Schreckens». Eine andere Seite ihres Wesens war die einer Göttin der Musik, des Tanzes und der Liebe, und so kam es nicht von ungefähr, dass die Griechen in ihr Aphrodite erkennen wollten. Hathor hatte aber auch mütterliche Züge. Zudem wurde sie vor allem in Theben als Totengottheit verehrt. In den Darstellungen erscheint sie häufig ganz in Kuhgestalt oder als Frau mit einem Kopfschmuck, der ein Kuhgehörn mit einer Sonnenscheibe darstellt. Ihr Hauptkultort war Dendera in Mittelägypten. Vielen Göttern wurde ein Tier zugeordnet, das ursprünglich mit dem Wesen des Gottes in Verbindung stand. So wurde Anubis (=das Hündchen), der Gott der Nekropole und der Einbalsamierung, mit dem Schakal verknüpft, und die beiden Kronengöttinnen Nechbet und Uto, welche die beiden Landeshälften Ober- und Unterägypten repräsentierten, wurden mit dem Geier und der Kobra verbunden. Es gibt zahlreiche Götter, die entweder ganz in Tiergestalt oder als Mensch mit Tierkopf auftreten. Aber keinesfalls haben sich die Ägypter die Götter real in dieser Form vorgestellt. Tierkopf oder Tiergestalt galten vielmehr als Erkennungs- und Unterscheidungsmerkmal, wie dies auch in der christlichen Religion, etwa in der Darstellung des Christus als Lamm Gottes und des Heiligen Geistes als Taube, geläufig ist. Auch die Evangelisten Markus, Lukas und Johannes wurden schon früh mit Tiersymbolen (Löwe, Stier und Adler) verbunden. Der prächtige Schnitzaltar der Thomaskirche von Tribsees (Mecklenburg-Vorpommern) aus dem 15. Jahrhundert zeigt die Evangelisten als Menschen mit Tierkopf.
Die altägyptischen Theologen versuchten, die Vielzahl der Götter systematisch zu ordnen. So wurden in Theben Amun und die Göttin Mut mit dem Kindgott Chons als eine heilige Familie, als eine Dreiheit (Triade), verehrt. Eine andere Gruppierung war die Achtheit, die sich aus vier Paaren zusammensetzte. Hermopolis in Mittelägypten bezeichnete man direkt als «Stadt der Acht». Auch zu Neunheiten (drei mal drei als Plural des Plurals) wurden die Götter geordnet. Die älteste dieser Neunheiten war in Heliopolis beheimatet, mit dem Gott Atum an der Spitze.
Der König stellte das Lebensprinzip und das Zentrum des Staates dar; er war der Sohn und das Abbild des Schöpfergottes auf Erden. Trotz eindrücklicher Zeugnisse für die Gottesnatur des Königs kann aber der Pharao nicht mit Gott gleichgesetzt werden; der König als Person blieb Mensch. Göttlich waren ausschließlich das Amt, der Ornat, Kronen, Herrschaftsinsignien und die königlichen Waffen. Der Pharao war der Garant dafür, dass die Maat im Diesseits verwirklicht wurde, indem er für Moral und Recht eintrat und die Götter durch Opfer und die seligen Verstorbenen durch Totenspeisungen zufriedenstellte. Natürlich war der König gezwungen, diese Aufgaben an Beamte und Priester zu delegieren. Letztlich aber war die Maat-Verwirklichung auf Erden Aufgabe des ganzen Volkes. Dabei wusste man, dass es die Maat in ihrer reinsten Form, wie sie am Tage der Schöpfung bestanden hatte, nicht mehr gab. Überall hatte sich das Böse, Isefet, ausgebreitet und war nicht mehr zu vertreiben. Unrecht, Lüge, Krieg und Tod waren ein fester Bestandteil der Welt geworden.
Kein Volk hat sich mehr mit dem Tod beschäftigt als das ägyptische; er war für sie kein Endpunkt, sondern Neubeginn in einer anderen Welt. So stammt auch der größte Teil der materiellen Hinterlassenschaft aus dem Reich der Toten. Das Jenseits wurde zu verschiedenen Zeiten der ägyptischen Religionsgeschichte zuerst in der westlichen Wüste, dann im Himmel, später in der Unterwelt lokalisiert. Das Jenseits als Ort trug mitunter überhöhte Züge des Diesseits; es war mit zahlreichen göttlichen Wesen, aber auch mit gefährlichen Erscheinungen bevölkert. Durch den Tod kam es zu einer direkten Begegnung des Menschen mit den Göttern. Man glaubte, dass sich jeder Verstorbene dem Jenseitsgericht stellen musste, dessen oberster Richter der Herrscher des Totenreiches Osiris war, der noch heute zu den bekanntesten Göttern des ägyptischen Pantheons gehört. Der Mythos erzählt, dass Osiris, der einst über das Land Ägypten herrschte, von seinem Bruders Seth, dem Gott der brutalen Gewalt, getötet wurde, der danach den Thron bestieg. Die Schwestergemahlin des Osiris, Isis, aber beklagte und betrauerte das Los ihres Gatten mit solcher Kraft, dass sie den Getöteten so weit zum Leben erwecken konnte, um von ihm ein Kind, nämlich Horus, zu empfangen, das später als Rächer seines Vaters auftreten sollte. Die wirkliche Auferstehung des Osiris aber vollzog sich im Jenseits, wo er Herrscher der Unterwelt wurde. Die reiche Totenliteratur zeigt, dass der Tod durchaus zum Leben gehörte, ja dass er das Leben geradezu verstärkte. Die bei der Schöpfung der Welt gesetzte Ordnung, die Maat, galt auch im Totenreich. In einem Gerichtsverfahren wurde das Herz des Verstorbenen gegen das Federzeichen der Maat gewogen. Senkte sich die Schale zuungunsten des Toten, so wurde er einem schrecklichen Wesen, «der Fresserin» als personifiziertem Höllenrachen, übergeben, hielten die Schalen aber das Gleichgewicht, so war der Verstorbene gerettet und konnte sein jenseitiges Leben beginnen.
Alle Macht des Staates lag in den Händen des Königs. Die Aufgaben, welche die Führung und Verwaltung des Landes mit sich brachten, musste er jedoch delegieren, wodurch Ämter entstanden, deren Besetzung von einer persönlichen Verbindung zum König abhängig waren. So fehlt der Titel «Königsbekannter» bei kaum einem der Amtsträger. Selbstverständlich musste dieser aber für seine Aufgaben geeignet und des Lesens und Schreibens kundig sein. Der ranghöchste Beamte war der Vezir. Er hatte die Aufsicht über das Schatzhaus, war oberster Richter des Landes, leitete die Ernährungswirtschaft und die staatlichen Archive. Auch als Bau- und Expeditionsleiter trat er in Erscheinung. Seine Anordnungen erhielt er direkt vom König und nur ihm war er verantwortlich; nach 1500 v. Chr. wurde das Amt aufgeteilt in die Vezirate von Ober- und Unterägypten. Für kurze Zeit war um 1300 v. Chr. das Vezirat wieder in einer Hand. Die Grenzen zwischen Beamtentum und Priesterschaft waren fließend; der Hohepriester oder «Erste Prophet» eines Gottes war Oberhaupt der Priesterschaft eines Tempels und hatte teilweise erhebliche Machtbefugnisse. Das Militär spielte im 3. Jahrtausend v. Chr. als kämpfende Truppe eine geringe Rolle. Erst nach 2000 v. Chr. gab es Berufssoldaten mit einer speziellen Ausbildung an verschiedenen Waffen: Pfeil und Bogen, Wurfspeer und Krummschwert. Später kam dazu der Umgang mit Pferd und Streitwagen. Der Dienst im Heer brachte jetzt Aufstiegsmöglichkeiten in der Beamtenhierarchie des Staates, und die militärische Führungsschicht gewann immer mehr Einfluss auf den König.
Nur eine privilegierte kleine Schicht besaß eigenen Grund und Boden als Privateigentum; freie Berufe oder selbständiges Unternehmertum hat es nicht gegeben. Die Mehrzahl der Menschen stand in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den Staatsbesitzungen; die Worte «Sklaverei» oder «Sklaventum» im heutigen Sinne aber passen in keiner Weise zu den abgestuften Abhängigkeitsverhältnissen der ägyptischen Gesellschaft. Nur der Ägypter mit seinen Kenntnissen und seinen Anschauungen galt als wirklicher Mensch, dem Ausländer begegnete man mit Misstrauen. Aus dieser Haltung ergab sich eine große Lebenssicherheit, mit der Folge, dass die Bewohner des Nillandes nicht zu leidenschaftlichen Exzessen neigten. Sie waren kompromissfähig und auf Ausgleich bedacht, konnten aber in Notsituationen dennoch harte Entscheidungen fällen. In Darstellungen haben die Ägypter die Völker in vier Rassen eingeteilt und durch Farben gekennzeichnet: Gelb war der Asiat, weißlich der Libyer, schwarz der Schwarzafrikaner und rotbraun der Ägypter selbst. Entsprechend beinhaltet das ägyptische Wort für Farbe sinngemäß auch «äußeres Aussehen», «Wesen» und «Charakter».
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