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Horace Walpole

DAS SCHLOSS OTRANTO

Schauerroman

 

Aus dem Englischen
von Hans Wolf

Mit einem Nachwort
von Norbert Miller

 

 

 

 

 

C.H.Beck textura

Zum Buch

Horace Walpoles Kurzroman „The Castle of Otranto“, der zuerst anonym als angebliche Übersetzung eines spätmittelalterlichen italienischen Manuskripts veröffentlicht wurde, prägt seit zweieinhalb Jahrhunderten die Romangeschichte und ist so zeitlos, dass er jede Lesergeneration wieder aufs Neue zu fesseln vermag. Gerühmt von literarischen Größen wie Walter Scott und Lord Byron, wurde dieser Prototyp des Schauerromans seit seiner Ersterscheinung im Jahre 1764 in mehr als 130 verschiedenen englischsprachigen Ausgaben veröffentlicht. Ins Deutsche wurde Otranto erstmals 1810 übersetzt, aber bis heute wurde dem kanonischen Roman bei uns nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit geschenkt. Mit dieser völlig neuen Übertragung des Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreisträgers Hans Wolf erhält Walpoles Otranto jetzt endlich seinen wohlverdienten Ehrenplatz inmitten der übrigen Textura-Klassiker. In einem Nachwort reflektiert Norbert Miller den Stellenwert, der dem Werk in der Literaturgeschichte zukommt.

Über den Autor

Horace Walpole, geboren 1717 in London, gestorben 1797 in London, war Autor, Politiker, Mitglied des Parlaments, Kunstmäzen und -sammler und ein Sohn des zweifachen britischen Premierministers Robert Walpole. Er errichtete die erste private Druckerpresse Englands in seinem nach dem Vorbild gotischer Burgen umgebauten Anwesen bei London, Strawberry Hill. Walpole ist als Vater des Schauerromans berühmt.

Über den Übersetzer

 

 

Hans Wolf, geboren 1949 in Baden-Baden, übersetzt seit Mitte der achtziger Jahre Literatur aus dem Englischen und ist auch selbst schriftstellerisch tätig. Für seine Arbeit ist er mehrfach ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis (1992) und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung (2003).

Inhalt

Vorrede zur ersten Auflage

Vorrede zur zweiten Auflage

Sonett auf die sehr ehrenwerte Lady Mary Coke

Das Schloss Otranto

«Der wahre Rost der Historie …».
Horace Walpole erfindet den Schauerroman
von Norbert Miller

Abbildungen

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VORREDE

Zur Ersten Auflage

 

Das gegenwärtige Werk fand sich in der Bibliothek einer alten katholischen Familie im Norden Englands. Gedruckt wurde es in Fracturlettern zu Neapel, anno 1529. Um wieviel eher die Niederschrift erfolgte, ist nicht bekannt. Die vorkommenden Ereignisse lassen auf die dunkelste Epoche des Christentums schließen; gleichwohl haben Sprache und Ausführung nichts Rohes an sich. Der Stil ist ganz und gar italiänisch.

Wäre die Geschichte um die Zeit geschrieben, da man ihre Begebenheiten vermutet, so müßte sie zwischen 1095, der Ära des ersten Kreuzzuges, und 1243, dem Datum des letzten, oder wenigstens nicht weit darnach, entstanden sein. Das Werk birgt keine Scene, welche uns in eine andere Zeitperiode zu führen vermöchte: Die Namen der Charaktere sind ohne Zweifel erdichtet oder sollen womöglich der Maskierung dienen: Allein, die spanischen Namen der Domestiken scheinen dafür zu sprechen, daß dies Werk erst verfaßt wurde, als die Könige von Aragon ihre Herrschaft zu Neapel bereits errichtet und daselbst spanische Benennungen eingeführt hatten. Die Schönheit des Vortrags, des Autors Beeiferung (wo immer gemäßigt durch verständige Selbstkritik), leiten mich zu der Annahme, daß der Zeitpunkt der Niederschrift dem der Drucklegung nur wenig vorangegangen sein muß. In Italien standen damals die Wissenschaften in höchster Blüte und taten das ihrige, dem allerwärts waltenden, von den Reformatoren so heftig bekämpften Aberglauben ein Ende zu machen. Es hält nicht unwahrscheinlich, daß ein kunstsinniger Priester die Neuerer mit ihren eigenen Waffen zu schlagen suchte und als Autor auf seine Fähigkeiten setzte, die Bevölkerung in ihren überkommenen Irrtümern und Ängstlichkeiten zu befestigen. War dies sein Absehen, so betrieb er seine Sache mit merkenswerter Gewandtheit. Ein Werk wie das vorliegende dürfte in hundert gemeinen Köpfen mehr ausgerichtet haben als die Hälfte der Disputationsbücher, welche seit Luthers Tagen bis zur gegenwärtigen Stunde geschrieben wurden.

Allein, welche Beweggründe der Verfasser hatte, darüber lassen sich nur Vermutungen anstellen. Was immer seine Absicht gewesen sein, was immer deren Erfüllung ausgewirkt haben mag, sein Werk kann dem heutigen Publico allenfalls als ein Gegenstand der Unterhaltung vorgelegt werden. Als solchem freilich mag diesem Werk eine Abbitte vorangehen: Wunder, Erscheinungen, Schwarzkunst, Traumbilder und sonstige übernatürliche Begebenheiten gelten heutiges Tags als verworfen, auch in Romanen. Dies war anders zu der Zeit, als unser Autor schrieb; zumal wenn man die Geschichte für wahr ansieht. Der Glaube an Wunder aller Art hatte in jenen finstern Tagen so festen Bestand, daß ein Verfasser, der dessen keine Erwähnung tut, dem Geist jener Zeit wohl nicht würde gerecht werden. Ohne selbst daran glauben zu müssen, ist er doch gehalten, seine Charaktere daran glauben zu lassen.

Sofern also der Leser dies Wunderwesen entschuldigt, mag er sonst nichts finden, was seiner achtsamen Prüfung nicht standhielte. Ist die Möglichkeit der Handlung einmal gegeben, handeln die Charaktere so, wie wirkliche Personen in der nämlichen Lage würden gehandelt haben. Es gibt keinen Bombast, keine Gleichnisse, kein zierlich Beiwerk, keine Abschweifungen oder entbehrlichen Abschilderungen. Alles strebt gerades Wegs der Katastrophe zu. Des Lesers Aufmerksamkeit gelangt nirgends zur Ruhe. Die Regeln des Dramas werden über den ganzen Gang des Stückes beobachtet. Die Figuren sind wohl gezeichnet und besser noch in Scene gesetzt. Furcht und Schrecken, des Autors Hauptmaschinerie, geben die Geschichte niemals der Langenweile preis; zumal das Mitleiden so oft den Gegensatz macht, daß das Gemüt einem steten Wechsel bedeutsamer Leidenschaften ausgesetzt bleibt.

Manche mögen dafürhalten, die Charaktere der Domestiken seien, in Rücksicht auf die Geschichte als Ganzes, zu wenig ernst; aber abgerechnet, daß sie im Widerspruch stehen zum Hauptpersonal, läßt sich in ihrer Behandlung die Kunst des Verfassers sehr fein beobachten. Die Naivetät und Schlichtheit der Subalternen rücken gar viele Passagen ins Licht, welche der Geschichte wesentlich sind und anders wohl wären verborgen geblieben. Vornehmlich Biancas weibische Angst und Kleinmut leisten im letzten Kapitel das ihrige, den Gang der Katastrophe zu beschleunigen.

Es liegt in der Natur eines Übersetzers, voreingenommen zu sein für sein adoptiertes Werk. Der unbefangene Leser ist von den Schönheiten dieses Stückes vielleicht nicht so sehr beeindruckt, als ich es war. Allein, ich bin nicht blind gegen die Mängel meines Autors. Mir wäre lieber, er hätte sein Vorhaben auf eine nützlichere Moral gegründet als darauf, daß die Missethaten der Väter heimgesuchet werden auf Kinder und Kindeskinder, bis ins dritte und vierte Glied. Ich bin zweifelhaft, ob es die Ehrbegier dazumal mehr lüstete als heute, ihren Hunger nach Herrschaft mit dem Schrecken einer so weit entlegenen Strafe zu stillen. Diese Moral erfährt freilich eine Schwächung durch den weniger deutlichen Hinweis, selbst ein solcher Fluch lasse sich abwenden, so man dem Heiligen Nicholas genügend Demut erzeige. Hier kommen die Interessen des Mönchs dem kritischen Urteil des Autors schlechthin zuvor. Gleichwohl trage ich bei all seinen Mängeln keinen Zweifel, daß der Leser auch diese Sicht seiner Darstellung gutheißen wird. Die durchweg regierende Frömmigkeit, die unzähligen Tugendlehren und die unbiegsame Lauterkeit der Empfindungen verschonen das Werk mit der Zensur, welcher Romane nur allzu oft ausgesetzt sind. Sollte ihm der Erfolg zuteil werden, den ich erhoffe, so könnte ich mich dazu bewogen fühlen, einen Wiederabdruck des italiänischen Originals zu veranstalten, auch wenn dies meiner eignen Arbeit eher abträglich wäre. Unsere Sprache fällt, in Rücksicht auf Reichtum und Wohllaut, weit hinter den Zauber der italiänischen zurück. Die letztere schickt sich besonders vortrefflich zu schlichten Erzählungen. In unserer Zunge hält es schon schwer zu berichten, ohne im Ton entweder zu hoch oder zu tief zu geraten; ein Mangel, welcher sich unstreitig herschreibt von der allzu geringen Mühe, sich in der gewöhnlichen Conversation einer gediegnen Sprechweise zu bedienen. Jeder Italiäner oder Franzose von einigem Stand tut sich darauf zugute, sein Mutteridiom untadelig und mit Sorgfalt zu sprechen. Ich darf mir nicht schmeicheln, daß ich meinem Autor in diesem Punkte Gerechtigkeit widerfahren ließ: Sein Stil läßt so elegant, wie seine Behandlung der Leidenschaften meisterhaft ist. Ein Jammer, daß er seine Talente nicht auf den Gegenstand gewendet hat, dafür sie recht eigentlich bestimmt sind – auf das Theater.

Ich will den Leser nicht länger hinhalten, ihm aber noch eine kurze Anmerkung vergönnen. Ob das Ganze gleich auf Erfindung beruht und die Namen der Charactere imaginär sind, so kann ich doch nicht umhin zu glauben, daß die Geschichte sich im tiefsten Innern auf Wahrheit gründet. Die Handlung spielt ohne Zweifel in einem wirklichen Schloß. Der Verfasser scheint oftmals, ganz ohne Absicht, Teile davon abzuschildern. Das Gemach, schreibt er, rechter Hand; die Türe zur Linken; die Entfernung zwischen der Capelle und Conrads Gemach: Diese und andere Stellen lassen unfehlbar darauf schließen, daß der Autor ein bestimmtes Gebäude im Auge hatte. Neugierige mit hinreichender Muße, sich solchen Nachforschungen zu widmen, mögen bei den italiänischen Schriftstellern vielleicht das Fundament ausfündig machen, darauf unser Autor gebaut hat. Sollte eine Katastrophe, welche der geschilderten gänzlich gleicht, glaubhaften Anlaß zu seinem Werk gegeben haben, so mag dies dem Interesse des Lesers förderlich sein und Das Schloß Otranto zu einer noch bewegenderen Geschichte machen.

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VORREDE

Zur Zweiten Auflage

 

Die günstige Aufnahme, die dieses kleine Werk von seiten des Publicums mittlerweile erfahren hat, macht es dem Verfasser zur Pflicht, die Gründe darzutun, um derentwillen es componiert wurde. Doch ehe er diese Beweggründe offenbart, sei ihm verstattet, seine Leserschaft um Vergebung zu bitten, daß er sein Werk unter dem erborgten Namen eines Übersetzers vorgelegt hat. Das Mißtrauen in die eignen Fähigkeiten und das ihm Neue seines Versuchs waren die einzigen Anlässe, sich dieses Mäntelchen umzuhängen, daher er der Hoffnung lebt, daß sein Beginnen entschuldbar sei. Er überließ das Werk dem unparteiischen Urteil des Publicums, entschlossen, es im Fall einer Mißbilligung der Vergessenheit anheimzugeben, aber auch nicht gesonnen, viel Wesens darum zu machen, wenn anders nicht bessere Richter verkünden sollten, er könne sich ohne Erröten dazu bekennen.

Es war ein Versuch, die beiden Arten von Romanen einander zu vermengen, die alte und die neue. In der ersteren war alles Einbildung und Unwahrscheinlichkeit: In der letzteren geht das Bestreben, und zuweilen mit Glück, immerzu dahin, die Natur getreulich nachzuahmen. Es mangelt ihr nicht an Erfindungsgeist; allein, das gestrenge Festhalten am gemeinen Leben läßt die üppigen Quellen der Phantasie inzwischen versiegen. Doch wo die Natur der Imagination entgegenwirkt, da nimmt sie bloß Rache dafür, daß sie aus den alten Romanen gänzlich excludiert worden war. Handeln, Empfinden und Reden der Helden und Heldinnen gewesener Tage waren so unnatürlich als die Maschinerie, so sie in Gang gesetzt hatte.

Der Verfasser der gegenwärtigen Blätter hielt es für möglich, die beiden Romangattungen miteinander zu versöhnen. Er war bestrebt, der Einbildungskraft im unbegrenzten Reich der Phantasie freien Lauf zu lassen und mithin interessantere Situationen zu schaffen; er wünschte, die sterblichen Protagonisten seines Dramas so zu leiten, daß sie den Regeln der Wahrscheinlichkeit gehorchten; kurz, sie denken, reden und handeln zu lassen wie lebendige Männer und Frauen, wofern sie ähnlich außergewöhnlichen Umständen ausgesetzt wären. Er hatte beobachtet, daß, in allen inspirierten Dichtungen, die Personen unter dem Walten von Wundern und als Zeugen erstaunendster Phänomene niemals das Ansehen menschlichen Characters verlieren: dahingegen in den romanhaften Productionen, ein unwahrscheinliches Ereignis niemals verfehlt, in Begleitung eines vernunftwidrigen Dialogs zu sein. Den Figuren scheinen die Sinne zu schwinden im nämlichen Augenblick, da die Naturgesetze außer Kraft treten. Das Publicum hat den Versuch mit Beifall bedacht, daher der Verfasser nicht sagen darf, er sei der Aufgabe, welche er sich gestellt, durchaus nicht gewachsen gewesen: allein, falls die neuen Schneisen, die er geschlagen, den Weg für glänzendere Talente sollten geebnet haben, so will er mit Freude und Bescheidenheit bekennen, wie sehr ihm immer bewußt war, daß sein Vorhaben sich noch schöneren Möglichkeiten eröffne, als seine Einbildungskraft oder Behandlung der Leidenschaften darauf zu wenden vermochte.

Was die Aufführung der Domestiken betrifft, darauf ich in der vormaligen Vorrede zu sprechen gekommen, so bitte ich um die Erlaubnis, ein paar Worte hinzufügen zu dürfen. – Die Schlichtheit ihres Betragens, welche meistens zum Lächeln anreizt und anfangs zum Ernst des Ganzen nicht recht zu stimmen scheint, dünkte mich nicht nur nicht fehl am Platze, sondern wurde mit Vorsatz in dieser Manier gehalten. Meine Richtschnur war die Natur. Wie feierlich, gewichtig oder auch melancholisch die Empfindungen der Fürsten und Helden immer sein mögen, sie drücken ihren Bedienten nicht das Gepräg dieser Regungen auf: zum wenigsten sprechen die letzteren ihr Gefühle nicht im selben hochwürdigen Ton aus und sollten vom Verfasser auch nicht dazu angehalten werden. Nach meiner bescheidnen Meinung setzt der Gegensatz zwischen der Erhabenheit der Helden und der Naivetät der Untergebenen das Pathos der ersteren in ein grelleres Licht. Die große Ungeduld, die ein Leser empfindet, da ihn die derben Lustbarkeiten des agierenden Pöbels daran hindern, zur Kenntnis der bedeutsamen Katastrophe zu gelangen, deren er sich bereits versieht: sie bestärkt ihn vielleicht in seiner Teilnahme, gewiß aber beweist sie ihm, daß es der Kunst gelungen sei, sein Interesse am drohenden Ereignis zu wecken. Allein, ich hatte für dieses Verfahren eine höhere Autorität als nur meine Meinung. Der große Meister der Natur, Shakespeare, war das Modell, welchem ich nacheiferte. Ich frage: Würden seine Tragödien, Hamlet und Julius Cäsar, nicht beträchtlich an Geist und wunderbarer Schönheit verlieren, wenn man die Possen der Totengräber, die Narrheiten des Polonius und die groben Scherze der römischen Bürger daraus verbannte oder in heroische Verse kleidete? Sind die Wohlredenheit des Antonius, die edlere, auf gezierte Weise ungezierte Ansprache des Brutus, nicht gar künstlich erhöht vermöge der rohen Ausbrüche der Natur aus dem Mund ihrer Zuhörer? Diese feinen Striche lassen an jenen griechischen Bildhauer denken, welcher, einen Koloß von der Größe eines Siegels vorhabend, einen kleinen Knaben anstellte, seinen Daumen zu messen.[1]

«Nein», sagt Voltaire als Herausgeber des Corneille, «dieser Mischmasch von Possenspiel und feierlichem Ernst ist unerträglich.» Voltaire ist ein Genius – aber nicht von der Größe Shakespeares. Ohne mich bei ungewissen Autoritäten aufzuhalten, berufe ich mich nun auf Voltaire selbst. Seine vormaligen Lobreden auf unseren gewaltigen Dichter sollen hier unerwähnt bleiben; zweimal hat der französische Kunstrichter einen hamletschen Monolog übersetzt, vor einigen Jahren voller Bewunderung, zuletzt voller Spott und Hohn; es dauert mich, seine Urteilskraft nachlassen zu sehen, wo sie doch eigentlich ins Stadium der Reife getreten sein sollte. Allein, ich will mich seiner eigenen Worte bedienen, welche er über das Theater im allgemeinen geäußert, als er noch nicht daran dachte, Shakespeares Manier zu empfehlen oder herabzusetzen: das heißt, als Voltaire noch unparteiisch war. In der Vorrede zu seinem Enfant Prodigue, einem trefflichen Stück, welches meine ganze Bewunderung hat und das, sollte ich noch zwanzig Jahre leben, ins Lächerliche zu ziehen mir gewiß nicht beifallen würde, findet er für die Comödie die folgenden Worte (die freilich ebenso für die Tragödie gelten, sofern eine Tragödie das ist, was sie recht eigentlich sein sollte, nämlich ein Gemälde des menschlichen Lebens; es will mir eben nicht in den Kopf, weshalb gelegentliche Posserei von der tragischen Bühne müsse eher verbannt sein als pathetischer Ernst von der comischen): On y voit un mélange de sérieux et de plaisanterie, de comique et de touchant; souvent même une seule aventure produit tous ces contrastes. Rien n‘est si commun qu‘une maison dans laquelle un père gronde, une fille occupée de sa passion pleure; le fils se moque des deux, et quelques parents prennent différemment part à la scène &c. Nous n‘inférons pas de là que toute comédie doive avoir des scènes de bouffonnerie et des scènes attendrissantes: il y a beaucoup de très bonnes pièces où il ne règne que de la gaieté; d‘autres toutes sérieuses; d‘ autres mélangèes: d‘autres où l‘attendrissement va jusques aux larmes: il ne faut donner l‘exclusion à aucun genre; et si on me demandoit, quel genre est le meilleur, je répondrois, celui qui est le mieux traité.[2] Wahrhaftig, darf eine Comödie toute serieuse sein, so mag man auch der Tragödie hie und da ein bescheidentlich Lächeln erlauben. Wer könnte das verbieten? Will der Kunstrichter, welcher aus Gründen der Selbstverteidigung erklärt, der Comödie stehe wohl beides zu, sich zu Shakespeares Gesetzgeber aufschwingen?

Ich bin mir bewußt, daß die Vorrede, daraus ich diese Passagen gezogen, nicht unter dem Namen des Monsieur de Voltaire steht, sondern unter dem seines Herausgebers; allein, wer möchte bezweifeln, daß Herausgeber und Verfasser einerlei Person sind? oder vielmehr, wo ist der Herausgeber, der sich des Stils und der brillanten und leichtfüßigen Überzeugungskraft seines Autors so glücklich zu bemächtigen vermag? Unstreitig geben diese Äußerungen die unverfälschte Gesinnung des großen Schriftstellers wieder. In einer Epistel an Maffei, welche seiner Mérope als Vorwort dient, spricht er ungefähr die nämliche Meinung aus, wenngleich, wie mich dünkt, mit einem kleinen Zusatz von Ironie. Ich will die betreffende Stelle hier anführen und sodann den Grund nennen, um deswillen ich sie heranziehe. Monsieur de Voltaire übersetzt eine Passage aus Maffeis Merope und fügt hinzu: Tous ces traits sont naïfs; tout y est convenable à ceux que vous introduisez sur la scène, et aux mœurs que vous leur donnez. Ces familiarités naturelles eussent été, à ce que je crois, bien reçues dans Athènes; mais Paris et notre parterre veulent une autre espèce de simplicité.[3] Ich bin, wie gesagt, im Zweifel, ob dieser Epistel an der einen oder anderen Stelle nicht ein Gran Spott beigemengt ist; allein, die Wahrheit verliert nicht an Kraft durch einen Anstrich von Witz. Maffei gedenke eine griechische Geschichte auf die Bühne zu bringen: Gewiß seien die Athener, was griechische Sitten und die Genauigkeit ihrer Darstellung betreffe, nicht minder tüchtige Richter als das Pariser Parterre. «Just im Gegenteil», sagt Voltaire (und ich kann seine Beweisführung nur bewundern): «Athen hatte nur zehntausend Bürger, und Paris zählt beinahe achthunderttausend Einwohner, darunter man dreißigtausend Richter über dramatische Werke rechnen darf.» – Wahrhaftig! – aber ob ich gleich dies zahlreiche Tribunal zugeben will, so glaube ich doch, daß hier der einzige Fall vorliegt, wo jemand behauptet, dreißigtausend Personen, welche an zweitausend Jahre nach der gedachten Epoche leben, seien, lediglich in Rücksicht auf die Zahl ihrer Köpfe, für bessere Richter anzusehen als die Griechen selbst, wenn es die Genauigkeit eines Bühnenstücks gelte, welches von einer griechischen Begebenheit handelt.

Ich bin nicht gesonnen, in einen Disput einzutreten über die vom Pariser parterre geforderte espèce de simplicité, auch nicht über die Fesseln, in welche die dreißigtausend Richter ihre Dichtkunst geschlagen haben, deren vornehmstes Verdienst darin besteht (wie ich aus mehreren Passagen des Neuen Commentars zu Corneille erfahre), daß sie trotz dieser Fesseln Sprünge zu machen vermag – ein Verdienst, welches, so es denn zutrifft, die Dichtkunst vom erhabenen Streben der Imagination auf kindische und verächtlichste Arbeit würde herabziehen, wahrhaftig auf difficiles nugae.[4] Allein, ich kann nicht umhin, eines Reims zu erwähnen, der meinen engländischen Ohren immerzu wie das platteste und läppischste Exempel umständlicher Genauigkeit geklungen hat; welchen jedoch Voltaire, der neun Zehnteile der Werke Corneilles so streng behandelt, zur Verteidigung Racines besonders hervorhebt:

De son appartement cette porte est prochaine,
Et cette autre conduit dans celui de la reine.

will heißen:

Zu seinem Gemach führt diese Thüre hin,
Die andre aber bringt dich zur Königin.

Unglücklicher Shakespeare! hättest du Rosenkranz seinem Genossen Güldenstern den Grundriß des Palastes zu Copenhagen vorsagen lassen, anstatt uns einen moralischen Dialog zwischen dem Prinzen von Dänemark und dem Totengräber zu präsentieren, so wäre das aufgeklärte Pariser Parterre zum zweiten Male unterwiesen worden, deinen Talenten zu huldigen.

Nach allem Gesagten verbleibt mir nur noch, mich mit meinem eignen Wagstück getreu an die Richtschnur des hellsten Genius zu halten, welchen mein Vaterland immerhin hervorgebracht hat. Ich hätte wohl anführen können, mir als dem Schöpfer einer neuen Romangattung stehe es frei zu entscheiden, welche Regeln ich zu ihrer Behandlung für tauglich befinde: Allein, mein Stolz gilt mehr dem Umstand, einem so meisterhaften Muster, wenngleich ohne dessen Glanz, dürftig und nur von ferne, gefolgt zu sein, als der Freude über das volle Verdienst der Erfindung – gesetzt, ich vermochte meinem Werk den Stempel sowohl des Genius als auch der Originalität aufzudrücken. Wie die Sache steht, hat das Publicum ihm Ehre genug erwiesen, ungeachtet, welchen Rang ihm seine Stimme zubilligen mag.

 

 

1 Die folgende Anmerkung gehört eigentlich nicht hierher, allein, man wird sie wohl einem Engländer vergeben, der gerne glauben möchte, daß der harte Tadel, welchen ein so meisterhafter Schriftsteller wie Voltaire an unserem unsterblichen Landsmann übt, eher auf einer Ausgießung von Esprit und auf Übereilung gründet, als daß er das Resultat eines bedachten Urteils sei. Vielleicht ist des Kunstrichters Fertigkeit, in Rücksicht auf Kraft und Gewalt unserer Sprache, ebenso mangelhaft und beschränkt wie seine Kenntnis von der Geschichte unseres Landes? Von letzterem immerhin hat seine Feder ein augenfälliges Zeugnis gegeben. In der Vorrede zu Thomas Corneilles Le Comte d‘Essex gesteht Monsieur de Voltaire, die historische Wahrheit sei in diesem Stücke gröblich verkehrt. Als Entschuldigung trägt er vor, zu der Zeit, da Corneille geschrieben, habe sich der französische Adel nur wenig der Lectur englischer Geschichte befleißigt; aber heut zu Tage, so der Commentator, wo man sie studiert, würde man fehlerhafte Darstellungen dieser Art wohl nicht mehr durchgehen lassen. – Allein, da er vergißt, daß die Epoche der Unwissenheit vorüber ist und daß es keine große Not hat, die Kenntnis zu unterweisen, so macht er sich anheischig, aus dem reichen Füllhorn seiner Belesenheit, der Nobilität seines Vaterlands die Günstlinge der Königin Elisabeth herzuzählen, deren erster, behauptet er, Robert Dudley, und deren zweiter der Earl of Leicester gewesen sei. Sollte man glauben, es möchte nötig sein, Monsieur de Voltaire zu belehren, daß Robert Dudley und der Earl of Leicester einerlei Person sind?

2 Man sieht darin einen Mischmasch von Ernst und Scherz, von Comischem und Tragischem; oftmals bringt eine einzelne Begebenheit all diese Contraste hervor. Nichts ist so commun als ein Haus, darin der Vater schilt, eine von Leidenschaft befallene Tochter weint, der Sohn beide verlacht und einige Anverwandte unterschiedenen Anteil an diesem Schauspiel nehmen, etc. Wir schließen daraus nicht, daß jede Comödie possenhafte und ernste Szenen in sich vereinigen müsse: es gibt gar viele gute Stücke; bald lustige, bald ernsthafte; bald ein Gemeng von beidem; in manchen kann einen die Rührung zu Tränen treiben: man muß keine Gattung excludieren; und fragt man mich, welcher Gattung ich den Vorzug gebe, so antworte ich, derjenigen, welche am besten behandelt wird.

3 Das läßt alles sehr natürlich; jeder Characterzug schickt sich zu den in Scene gesetzten Personen wie auch zu den Sitten, welche Sie ihnen beigeben. In Athen hätte man diese natürliche Vertrautheit wohl gut aufgenommen; allein, Paris und unser Parterre verlangen eine andere Art von Schlichtheit.

4 Mühselige Tändeleien.

SONETT

 

AUF DIE SEHR EHRENWERTE
LADY MARY COKE

Der sanften Maid Geschick will ich erzählen,

Die Blätter hier verkünden’s unerschrocken;

Sie werden, Holde, freilich nicht verfehlen,

Dir manche nasse Zähre zu entlocken.

Schon immer war dein barmensreicher Busen

Empfindlich gegen jedwed’ irdisch Leiden;

Es füllten ihn die zärtlicheren Musen

Mit Kraft, den Schmerzensfaden zu zerschneiden.

Oh! mögest du die Wunder viel beachten,

Die falsche Ehrbegier zunichte machten

Und zarte Lüfte dir entgegenfächeln.

So mag ich denn mein kühnes Segel wählen

Und mich des Windes Laune anvermählen;

Allein, den Ruhm gewährt mir nur dein Lächeln.

H. W.

DAS SCHLOSS OTRANTO

Ein Schauerroman

1. KAPITEL

Manfred, der Fürst von Otranto, hatte einen Sohn und eine Tochter: Die letztere, eine ausnehmend liebreizende Jungfrau von achtzehn Jahren, ward Matilda genannt. Conrad, der Sohn, zählte drei Jahre weniger – ein biederer Jüngling, kränklich und ohne versprechende Anlagen; gleichwohl war er der Liebling seines Vaters, welcher niemals irgends Zuneigung gegen Matilda erzeigte. Manfred hatte seinem Sohn ein kontraktlich Verlöbnis auferlegt mit Isabella, der Tochter des Marquis von Vicenza; und deren Vormünder hatten sie bereits in die Hände von Manfred gegeben, auf daß er, sobald es Conrads schwache Gesundheit erlaubte, die Hochzeitfeierlichkeiten ins Werk richten möchte.

Manfreds ungeduldige Erwartung dieser Zeremonie blieb seiner Familie und den Nachbarn nicht unbemerkt. Da die erstere das gestrenge Gemüt ihres Fürsten allerdings fürchtete, so unterfing sie sich nicht, ihre Gedanken zu dieser Übereilung laut auszutun. Hippolita, seine Gemahlin, eine liebreiche hohe Frau, unternahm es zuweilen, der Gefahren zu erwähnen, ihren einzigen Sohn in Ansehung seiner großen Jugend und noch größerer Schwächlichkeit so früh zu verheiraten; allein, sie erhielt niemals eine andere Antwort als Manfreds Betrachtungen über ihre Unfruchtbarkeit, dadurch ihm nur ein einziger männlicher Erbe gewährt worden sei. Seine Vasallen und Untertanen hielten sich in ihren Gesprächen weniger zurück. Sie rechneten diese hastige Heirat der Furcht des Fürsten zu, es möcht’ sich eine alte Weissage erfüllen, derzufolge das Schloß und die Herrschaft Otranto vorgeblich dem iezigen Geschlecht soll kommen ab Handen, so wie der würckliche Innhaber zu groß worden, darinne zu hausen. Es hielt nicht leicht, dieser Weissage einen Sinn abzumerken; und noch minder leicht war zu begreifen, was sie mit der gedachten Heirat zu tun hatte. Doch ungeacht dieser Rätsel oder Widersprüche verharrte das Volk bei seiner Meinung.

Zur Vermählung ward des jungen Conrads Geburtstag bestimmt. Die Gesellschaft hatte sich nicht sobald in der Schloßkapelle versammelt, und alles war zugerüstet für Beginn des göttlichen Amtes, so wurde plötzlich Conrad selbst vermißt. Manfred, erzürnt über jedwede kleinste Verzögerung, zumal er seinen Sohn sich nicht hatte entfernen sehen, schickte einen seiner Bedienten, den jungen Prinzen herbeizuschaffen. Der Domestik blieb nicht lange genug fort, als daß er den Schloßhof zu Conrads Gemach hätte durchmessen können; außer Atem kam er zurückgeeilt, einem Unsinnigen gleich, starren Blicks und mit Schaum vorm Mund. Er sprach kein Wort, deutete jedoch zum Hof.

Die Gesellschaft war wie erschlagen vor Graus und Entsetzen. Der Fürstin Hippolita, ungewiß, was geschehen, aber beängstet um ihren Sohn, schwanden die Sinne. Manfred, weniger besorgt als entrüstet über den Aufschub der Hochzeit und die Narrheit seines Bedienten, fragte gebieterisch, was es sei? Der Gesell gab keine Antwort, deutete aber fürder zum Hof; endlich, nach wiederholtem Nachfragen, schrie er’s heraus: «Oh weh! Der Helm! Der Helm!»

Unterdessen waren einige aus der Gesellschaft in den Hof geeilt, von wannen sogleich ein wirres Gelärm aus entsetzten und bestürzten Aufschreien zu hören war. Manfred, den das Ausbleiben seines Sohnes allgemach in Unruhe setzte, ging nun doch selbst nachsehen, was diese sonderbare Konfusion mochte ausgelöst haben. Matilda verharrte bei ihrer Mutter, bestrebt, ihr Beistand zu tun; Isabella blieb zum nämlichen Behuf, und um deswillen, weil sie den Unmut zu bergen gedachte über einen Bräutigam, für den sie in Wahrheit nur geringe Zuneigung empfand.

Was Manfred zuvörderst erblickte, war eine Gruppe seiner Bedienten, die etwas emporzuheben suchten, welches das Ansehen eines Berges aus schwarzen Federn hatte. Seinen Augen nicht trauend, konnte er den Blick nicht davon wenden.

«Was tut ihr da?» rief Manfred zornmütig; «wo ist mein Sohn?»

Ein Stimmenschwall antwortete: «Ach! Gnädiger Herr! Der Prinz! Der Prinz! Der Helm! Der Helm!»

Bestürzt über diese Klagelaute und voller Furcht vor dem Ungewissen trat er hastig hinzu – aber was offenbarte sich da dem Auge des Vaters! Er sah sein Kind zerschmettert und schier begraben unter einem riesigen Helm, welcher zu hundert Malen größer war als jede für Menschen gemachte Sturmhaube und den eine fügliche Menge schwarzer Federn bedeckte.

Das schaurige Spektakel, die Ungewißheit der Umstehenden, wie dieses Unglück hatte geschehen können, und namentlich die erschreckliche Wundererscheinung selbst benahmen dem Fürsten die Sprache. Doch sein Schweigen währte länger, als sogar Kummer und Schmerz hätten verursachen können. Umsonst wünschte er das, darauf sein Blick verharrte, für eine Vision anzusehen; ohnedem schien er seines Verlustes weniger zu achten als sich in Betrachtungen über den staunenswerten Gegenstand zu versenken, welcher diesen Verlust ausgewirkt. Er berührte, er untersuchte den fatalen Helm; auch die blutenden, verstümmelten Überreste des jungen Prinzen vermochten Manfreds Blick nicht von dem unheilkündenden Gebilde zu wenden.

Alle, die Manfreds parteiische Zärtlichkeit für den jungen Conrad kannten, waren über seine Fühllosigkeit verwundert, ebenso wie sie das Rätsel des Helms bis ins Mark erschütterte. Ohne vom Fürsten den geringsten Befehl erhalten zu haben, schafften sie den entstellten Leichnam in die Halle. Auch den Frauen, die in der Kapelle verblieben, schenkte Manfred keine Beachtung. Im Gegenteil, ohne der unglücklichen Edeldamen, seiner Gemahlin und Tochter, zu erwähnen, lauteten die ersten Worte, die ihm aus den Lippen kamen: «Nehmt euch der Jungfer Isabella an.»

Die Bedienten merkten nicht auf diesen seltsamen Befehl, sondern folgten der Zuneigung für ihre Herrin, deren Zustand dringlich Not hatte, ihr zu Hilfe zu eilen. Sie schafften sie auf ihr Gemach, mehr tot als lebendig und gleichgültig gegen alles, was Sonderbarliches um sie geschah, ausgenommen den Tod ihres Sohnes.