Verlag C.H.Beck
Dass Aung San Suu Kyi einmal zur Inkarnation der Hoffnung ihrer Landsleute in Myanmar auf Menschenrechte und eine lebenswerte Zukunft werden würde, hat der einstigen Generalstochter niemand an der Wiege gesungen:Sie studierte in Indien und England, ihre ersten beruflichen Schritte führten sie nach New York zu den Vereinten Nationen; und als sie schließlich den Tibetologen Michael Aris heiratete und mit ihm und ihren Kindern seit Mitte der 70er Jahre in Oxford lebte, deutete nur noch wenig auf eine Rückkehr hin. Sie blieb aber ihren Ursprüngen stets verbunden. Als 1988 ihre Mutter erkrankte und sie zu ihr eilte, erlebte siedie erbarmungslose Unterdrückung ihrer Landsleute durch brutale Militärs. Sie solidarisierte sich mit den Zielen der Opposition und stand bald an der Spitze der Bewegung, die Freiheit und Demokratie forderte. Während das Leben von kritischen Journalisten, Wissenschaftlern, aber auch von Schülern und Studenten der Junta nichts galt, wagte sie es nicht, dieser ebenso zarten wie energischen Frau körperliche Gewalt anzutun, weil sie die Tochter eines einstigen Vorkämpfers für die Unabhängigkeit des Landes war. Stattdessen versuchte sie,Aung San Suu Kyi durch langjährige Hausarreste zu brechen, hatte aber nicht mit der unnachgiebigen, fest in ihrem Glauben verwurzelten Persönlichkeit gerechnet, die von der Weltgemeinschaft mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt wurde. Wenn heute in Myanmar politisches Tauwetter herrscht und es eine Hoffnung auf Frieden und Respekt der Menschenrechte gibt, so ist diesmaßgeblich Aung San Suu Kyi zu verdanken. Ihre wechselvolle und dramatische Biographieerzählt dieses eindrucksvolle Buch, das zugleich einen fundierten Überblick und eine gründliche Analyse der Geschichte und Probleme ihres Heimatlandes bietet.
Andreas Lorenz, Jahrgang 1952, war Asienkorrespondent des SPIEGEL und vieler deutschsprachiger Zeitungen. Im Rahmen seiner langjährigen Arbeit in Fernost hat er sich profunde Kenntnisse der komplizierten politischen, ethnischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in dem Vielvölkerstaat Myanmar erworben.
Für Jutta und die Kids
Vorwort
Einleitung: Aung San Suu Kyi – Brücke zwischen Ost und West
Tauwetter in Myanmar
Ikone der Freiheit
Goldenes Land, armes Land
1. Eine Jugend als Tochter eines berühmten Vaters und einer strengen Mutter 1945–1964
Geburt in turbulenten Zeiten
Tod im Teich
Umzug in die Villa am See
Erziehung zur Disziplin
Mit SuuSuu ist nicht zu spaßen
Ein Mädchen verschwindet
«Wir fühlten uns wie im Himmel»
Eine neue Heimat bei Sherlock Holmes
2. Von der Kolonialprovinz zum unabhängigen Staat
Unter Kontrolle der britischen Krone
Die Söhne der Erde werden unruhig
«Burma ist nicht Indien»
Der Garuda-König
3. Aung San: Vom wirren Studenten zum Unabhängigkeitshelden
Herkunft und Ausbildung
Die Stimme des Pfauen
Die Thakins
«Die Sterne vom Himmel holen»
Ein Pakt mit dem Teufel
Der Siegeszug der Japaner
«Nun werden wir wie Hunde behandelt»
Aung San wechselt die Fronten
Der Held und die Liebe
Tod am Torpfosten
Verhandlungen in 10 Downing Street
Sandalen im Blut
4. Ein Leben in Oxford, New York und im Himalaja 1964–1988
Die unschuldige Suu Burmese
Leben in einer algerischen Baubrigade
Eine Drei mit Folgen
Von der Universität zur UNO
Die Liebe und 187 Briefe
Puppy und Mini Moke
Ein Leben als Hausfrau und Mutter
«Let’s visit Burma»
Kyoto: Glocken in samtener Nacht
5. Rückkehr in die Heimat 1988–1991
Ein Diktator auf dem Weg zum Sozialismus
Der Putsch des Militärs
Eine Leiche wird gekidnappt
Das Massaker an der Weißen Brücke
Die Stunde der Dame aus Oxford
«Wir brauchen einen Anführer»
Furcht vor Anarchie und Chaos und die Gründung einer neuen Partei
Krach im eigenen Lager
Der Tod der Mutter
Königliche Schlacht
Sehnsucht nach Oxford
Das Duell mit dem Hauptmann
Die Schlinge zieht sich zu
«Die sind darauf aus zu töten»
6. Reise in eine andere Welt 1991–1995
Erster Hausarrest
«Wir hatten alle Zeit der Welt»
Wahlkampf in einer Diktatur
Ein Leben mit eiserner Disziplin
Bild des Jammers
Eine überraschende Ehrung
Der General und die Verfassung
Treffen im Gästehaus Nr. 1
7. «Über unserem Land liegt ein Fluch» 1995–2000
Familienschicksale
Zaunreden am Wochenende
Repression ohne Ende
Die taffe Politikerin
Das Ende einer Freundschaft
Sanktionen als Bestrafung
Die richtige Stimmung im Volk
«Die Augen sind gelb»
Zuckerbrot und Banane
Eine Hiobsbotschaft aus England
Das Schicksal der Vettern
8. Blumen für Buddha 2000–2010
Der Fauxpas des Diplomaten
«Die Chemie stimmt nicht»
Ärger mit dem Bruder
Der Sturz des greisen Diktators
Es braut sich etwas zusammen
«Wir bekamen es mit der Angst zu tun»
Das Blutbad von Depayin
«Ich musste das Motorrad machen»
Der Aufstieg und Fall des Spitzels
«Sie können uns per Fax erreichen»
Zwei Mitbewohnerinnen erzählen
«Love me tender»
Der Aufstand der Mönche
Ein Sturm schweißt zusammen
Der Anwalt
Ein Mormone, der gerade richtig kommt
Der Bericht des Kochs
Eine Partei zwischen Baum und Borke
9. «Ihr habt die Gewehre und die Macht» 2010–2014
Neue Freiheit
Die Junta in anderem Gewand
Moderne Zeiten in Yangon
Die Aufteilung des Kuchens
Der Triumph der Lady
Alltag im Pseudoparlament
Die Friedensnobelpreisträgerin in ihrer neuen Rolle
Die Partei der Onkel
Der Kampf um eine bessere Verfassung
Ein wild gewordener Mönch
Die Lady laviert
10. Zwischen zwei kämpfenden Wasserbüffeln
Die Rebellen mit dem Ochsen
Der König des Goldenen Dreiecks
Wie der Bambus im Wind
Der Tod eines tapferen Kommunisten
Die Armee der Studenten
Kampf um Hügel 771
Eine zweite Panglong-Konferenz?
11. «Wir können nicht in Furcht leben»
Die Lehre von der liebenden Güte
Buddhismus als Waffe
«Ich tue das für meinen Vater»
Wenn die Uhren stehen bleiben
«Tu es nicht»
«Ich war frei, weil ich keine Angst hatte»
12. Ein Mensch zwischen Himmel und Erde
Wandel über Nacht
Das Pech der Generäle
Keine andere Wahl
Die Zeit drängt
Dank
Anmerkungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Personenregister
Ortsregister
Das erste Mal sah ich sie persönlich im Mai 1996 bei einer ihrer Zaunreden in der University Avenue 54, das letzte Mal im Juni 2014 in der Kantine des Parlaments in der neuen Hauptstadt Naypyidaw. Sie saß an einem Tisch mit Abgeordneten der ethnischen Minderheiten. Als ich sie fotografieren wollte, stellte sich ein Parlamentsbeamter in den Weg: «No photos.» Aung San Suu Kyi hatte die Szene beobachtet, schüttelte fast unmerklich den Kopf und lächelte.
Aber auch sie selbst schottet sich ab, lässt sich nur selten interviewen, auch schriftliche Fragen hat sie für dieses Buch nicht beantwortet. Sie ist bekannt dafür, dass sie ihre Privatsphäre streng abschirmt. «Zu viel zu tun, zu wenig Zeit», schrieb sie in einer E-Mail. Wie also eine Biografie über eine Person schreiben, von der fast jeder Mensch auf dieser Welt schon einmal etwas gehört hat, die in jüngerer Zeit aber nur wenig von sich preisgibt?
Ich habe deshalb versucht, so viele Quellen wie möglich zusammenzutragen und viele Zeitzeugen und Wegbegleiter Aung San Suu Kyis zu befragen. Auch bei öffentlichen Auftritten habe ich sie oft beobachtet. Um Aung San Suu Kyi kennenzulernen und zu verstehen, reicht es nicht aus, ihren eigenen Werdegang zu beschreiben. Ihre Person ist nicht ohne die Geschichte ihres Vaters Aung San, des Nationalhelden, und auch nicht ohne die jüngere Geschichte ihres Landes zu erklären. Zum besseren Verständnis der Personen und ihres Handelns gehört auch die Problematik der Minderheiten, denn Myanmar ist ein Vielvölkerstaat, in dem die Mehrheit der Burmanen nicht bei allen wohlgelitten ist.
Damit sind wir bei Namen: Die britischen Kolonialherren haben das Land «Burma» genannt, weil sich die Mehrheit der Einwohner selbst als «Bamar» bezeichneten. Die ethnischen Minderheiten wie etwa die Mon oder die Karen blieben dabei unberücksichtigt. In Deutschland ist neben «Burma» und den «Burmesen» auch die übersetzte Form gebräuchlich: «Birma» und «Birmesen», die «Birmesisch» sprechen.
Die Militärjunta hat den offiziellen Staatsnamen am 18. Juni 1989 geändert: Aus der «Union Burma» wurde die «Union Myanmar». Myanmar ist ein Begriff, den die Menschen in der Schriftsprache schon immer für ihr Land benutzt haben. Die Generäle wollten sich damit von der Kolonialmacht absetzen und ihre Eigenständigkeit beweisen. Die Sache wurde kompliziert – und politisch. Weil das Regime die Namensänderung durchgesetzt hatte, ohne das Volk zu fragen, weigerten sich viele zu folgen. Die prominenteste Gegnerin: Aung San Suu Kyi. Sie sagt auf Englisch weiter «Burma» und «Burmese». Auch die USA machten nicht mit, für sie blieb Myanmar bis Mitte 2014 Burma. Das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» hat ebenfalls die alte Schreibweise beibehalten, die BBC verwendet erst seit 2014 Myanmar.
Auch Rangun (im Englischen: «Rangoon») bekam einen anderen Namen: «Yangon». Aus der Tempelstadt Pagan wurde Bagan, aus dem Volk der Arakan das Volk der Rakhine, aus dem Fluss Irrawaddy der Ayeyarwady.
Persönlich finde ich Burma bzw. Birma sympathischer als das Myanmar der Junta. Doch dieser Begriff setzt sich in Literatur und politischer Praxis immer mehr durch. Für die UNO und das Berliner Auswärtige Amt gelten Myanmar und Yangon.
Deshalb benutze ich in diesem Buch beide Begriffe: Burma und Rangun für die Zeit vor der offiziellen Namensänderung, Myanmar und Yangon für die Zeit nach 1989. Die Bezeichnungen in Zitaten oder Quellen ändere ich nicht. Allerdings werden die Menschen bei mir nicht zu Myanma oder Myanmaresen, und sie sprechen auch nicht Myanma, Myanmaresisch oder Myanmarisch. Diese Begriffe halte ich für zu kompliziert und zu ungebräuchlich. Sie bleiben Burmesen, die Burmesisch sprechen. Ist vom Volk der «Bamar» die Rede, also nicht von den Staatsbürgern des Landes, nenne ich sie «Burmanen». Aung San Suu Kyi ist also Burmesin als Staatsbürgerin und Burmanin als Angehörige der Mehrheitsethnie. Auch der mächtige Irrawaddy wird aus diesem Grund nicht zum Ayeyarwady, das Volk der Karen nicht zu den Kayin.
Persönliche Namen sind in Myanmar ebenfalls kompliziert. Es gibt keine Vor- und Nachnamen. «Aung San» stammt zum Beispiel von ihrem Vater, «Suu» von ihrer Großmutter und «Kyi» von ihrer Mutter. Vor die Namen gehören Anreden: «Daw» (Dame) bei Frauen, «U» (Onkel) bei Männern; «Ma» werden jüngere Frauen genannt, «Ko Ko» jüngere Männer. Wenn also von «Ma Suu» gesprochen wird, ist Aung San Suu Kyi gemeint. «Daw» und «U» erwähne ich nur beim ersten Mal, es sei denn, die Anrede ist in die Geschichte eingegangen, wie etwa beim früheren UNO-Generalsekretär U Thant oder beim Expremierminister U Nu.
Einige feste englische Begriffe wie etwa das «Rangoon General Hospital» oder die «University Avenue» habe ich belassen.
Wenn sie durch ihr Land fährt, werfen ihr Anhänger Blumen und Obst zu. Oft bleibt der Konvoi in der Menge stecken, weil so viele Menschen sie von Nahem sehen, sie begrüßen, sie berühren wollen – fast wie ein göttliches Wesen oder zumindest wie einen Popstar.
Kinder singen ihr zu Ehren, Studenten brechen in Tränen aus, wenn sie die Gelegenheit bekommen, ihr eine Frage zu stellen. Der 72-jährige leitende Redakteur der Parteizeitung «D-Wave», Pyapon Ni Lone Oo, schiebt nach unserem Gespräch in Yangon stolz einen dünnen Band mit eigenen Gedichten über den Tisch, in denen er seine Chefin anhimmelt: «Oh, Du Rose, Du die volksliebende Herzblume!» Ein privater Moment in der Öffentlichkeit, ein Spaziergang, ein Einkaufsbummel auf dem Markt sind ihr nicht mehr möglich, ohne dass Menschen herbeiströmen, die sie bewundern.
Im Zentrum Yangons bieten Händler T-Shirts, Becher oder Taschen mit ihrem Porträt feil. Manche Galerien organisieren Ausstellungen von Künstlern, die immer wieder nur eine Frau malen: Aung San Suu Kyi. Ihr Foto findet sich auf Kalendern, Schulheften und Buchdeckeln. Vor der Parteizentrale der «National League for Democracy» (NLD) in der West Shwegondaing Road sind ganze Stapel mit DVDs ihrer Auftritte zu kaufen, daneben Aung-San-Suu-Kyi-Tassen, -Tüten, -Beutel und -Schlüsselanhänger, kleine Statuen und Büsten.
All das erscheint in Yangon wie ein Wunder: Noch vor wenigen Jahren saß Aung San Suu Kyi im Hausarrest. Damals wagte es niemand, ihren Namen laut auszusprechen, schüttete die staatliche Presse Hohn und Spott über sie aus, dichtete ihr Liebesaffären an, warf ihr Nähe zu den Kommunisten und Vaterlandsverrat vor.
Seit 1989 hatte die Militärjunta sie dreimal eingesperrt, ihre Anhänger verhaftet und gefoltert – oft für lächerliche oder konstruierte Vergehen. Es gab in der Regel weder Richter, die sie verurteilten, noch Anwälte, die sie verteidigten. Der Geheimdienst und das Militär allein hatten die Macht, Freiheit zu nehmen und sie wieder zu geben. 2010 zählten Menschenrechtler 2189 politische Häftlinge in 42 Gefängnissen und über 100 Arbeitslagern, im Juli 2014 saßen nach wie vor 70 politische Aktivisten hinter Gittern.[1]
Wer heute in Yangon mit Oppositionspolitikern, kritischen Journalisten oder Wissenschaftlern spricht, begegnet kaum jemandem, der nicht im Gefängnis saß oder ins Exil geflüchtet ist. Unter der burmesischen Junta herrschten weitaus schlimmere Verhältnisse als in anderen Diktaturen dieser Welt: Sie unterdrückte nicht nur die Erwachsenen, sie zwang auch Kinder in ihre Armee. Und sie stahl der Jugend die Chance auf Wissen und Bildung, indem sie auf Monate Schulen und Universitäten verriegelte, weil sie Unruhen der Teenager befürchtete. Nur die KP Chinas hat das während der Kulturrevolution (1966–1976) geschafft.
Über 15 Jahre lang war Aung San Suu Kyi die wichtigste Gefangene der Generäle. Jetzt ist sie frei und sogar Abgeordnete des Parlaments. Über ihre Reden und Auftritte berichten die heimischen Medien. 2010 war das Unerwartete geschehen: Die Militärs, die Myanmar jahrzehntelang mit eiserner Faust regiert hatten, rückten plötzlich beiseite. In jenem Jahr durften die Bürger zum ersten Mal nach 20 Jahren wieder wählen, und der langjährige Junta-Chef, Senior-General Than Shwe, trat von der politischen Bühne ab. Statt seiner führt Exgeneral Thein Sein mit einer quasizivilen Regierung als Staatspräsident das Land.
Niemand kennt so recht den Grund für das Umschwenken des Militärs. Aung San Suu Kyi glaubt, die fatale wirtschaftliche Lage des Landes sei die Ursache gewesen. Womöglich befürchteten die Generäle aber auch, das gleiche Schicksal zu erleiden wie Diktatoren in anderen Regionen der Welt. Indem sie rechtzeitig ein klein wenig nachgaben, konnten sie die Kontrolle über das Land und die Geldtöpfe behalten.
Der neue Mann an der Spitze, ein unscheinbarer Herr mit halbrunder Goldrandbrille und schütterem Haar, war einst Infanterie-Generalleutnant, mehr ein Schreibtischsoldat als ein Schlachtenlenker. Er hat eine erstaunliche Verwandlung hinter sich, war er doch seit 1997 Mitglied des Militärregimes, das seine politischen Gegner brutal unterdrückte. Später leitete er die Regierungspartei «Union Solidarity and Development Party» (USDP) und wurde schließlich Premierminister.
Kaum im Amt, ließ er 2010 nicht nur Aung San Suu Kyi, sondern auch Hunderte weitere Dissidenten frei – und schuf so die Voraussetzungen für ein Ende der Isolierung Myanmars und seiner rund 51 Millionen Einwohner. Die USA und die EU strichen Sanktionen. Politiker wie US-Präsident Barack Obama oder Bundespräsident Joachim Gauck, Konzernchefs und die Vertreter von Hilfsorganisationen geben sich seither in der neuen Hauptstadt Naypyidaw die Klinke in die Hand – und alle wollen mit der «Lady» sprechen, wie Aung San Suu Kyi in ihrer Heimat oft genannt wird.
Sie selbst darf seither wieder ins Ausland reisen, ohne fürchten zu müssen, nicht in ihre Heimat zurückkehren zu dürfen. Sie wird mit Ehrendoktortiteln, Medaillen und Ehrungen überhäuft, nachdem sie bereits 1991 den Friedensnobelpreis und ein Jahr zuvor den nach dem lange verbannten russischen Regierungskritiker und Atomwissenschaftler benannten Sacharow-Preis «für geistige Freiheit» des Europäischen Parlaments erhalten hatte. 2014 empfing sie während ihres Berlinbesuchs den Internationalen Willy-Brandt-Preis der deutschen Sozialdemokraten.
Kein Zweifel: Nur wenige Politiker und Politikerinnen dieser Welt begeistern die Menschen so wie Aung San Suu Kyi. Die Jazzvirtuosen Herbie Hancock und Wayne Shorter spielten das Stück «Aung San Suu Kyi», es gewann 1997 als beste Instrumentalkomposition den Grammy. Die irische Rockgruppe U2 widmete ihr 2000 ein Lied («Walk on»). Die US-Schauspieler George Clooney und Brad Pitt, die Sänger Madonna und Bono warben für ihre Freilassung. Der französische Regisseur Luc Besson setzte ihr 2011 mit dem Film «The Lady» – in der Hauptrolle der malaysische Star Michelle Yeoh – ein Denkmal. Aung San Suu Kyi selbst hat sich den Streifen übrigens nie angesehen.
«Beauty and the Beast in Burma» überschrieb die «New York Review of Books» einen Artikel des britischen Journalisten und Historikers Timothy Garton Ash über die Gegner in diesem Kampf um die Macht in Myanmar – hier eine schöne Oppositionspolitikerin und dort grobe Generäle.[2]
Aung San Suu Kyi fasziniert, weil sie Ost und West auf unnachahmliche Weise verbindet. Sie war mit einem Engländer verheiratet, sie hat in Oxford studiert und in New York gearbeitet. Sie spricht das Englisch der Oberklasse, zum Teil altmodisch und literarisch wie in ihrer Dankesrede für den Friedensnobelpreis – und ist doch Buddhistin durch und durch, philosophiert gerne über die sechs buddhistischen Leiden oder die zehn Tugenden. Eine Brücke zwischen westlicher Demokratie und östlichem Buddhismus zu schlagen, das Wertesystem der Oxford-Universität, nämlich den Respekt «für das Beste in der menschlichen Zivilisation», auf ihr Land zu übertragen – das ist ihr großes Lebensziel.
Obwohl sie so lange im Ausland gelebt hat, ist sie tief verwurzelt in ihrer Heimat. So trägt sie stets den burmesischen Longyi, den langen Rock. Bewunderer zeichnen Aung San Suu Kyi gern als zierlich-fragile, gleichwohl unbeugsame Asiatin mit der Aura der gewaltlosen Entschlossenheit, eine Inkarnation fernöstlicher Duldsamkeit, die Schmerz, Unbill und Erniedrigung für ein hehres Ziel auf sich nimmt.
Die Verbindung zwischen Ost und West, zwischen Asien und Europa brachte sie in ihrer Rede vor dem englischen Parlament mit einem Zitat aus einem Gedicht des englischen Dichters Arthur Hugh Clough (1819–1861) selbst zum Ausdruck: Wenn das Tageslicht anbreche, scheine es durch die östlichen Fenster, «aber zum Westen hin, schau, wie hell das Land ist»![3]
Obwohl sie bereits über 40 Jahre alt war, als sie sich der Politik zuwandte, ist sie schon zu Lebzeiten eine Lichtgestalt. Sie steht in einer Reihe mit dem Südafrikaner Nelson Mandela und dem Dalai Lama, dem religiösen Oberhaupt der Tibeter. Wer von ihr spricht, denkt an den amerikanischen Prediger Martin Luther King oder den tschechischen Dissidenten und späteren Präsidenten Václav Havel.
Aung San Suu Kyi – für viele eine Lichtgestalt. Die Asiatin verkörpert Hoffnung für Millionen.
Es scheint, als verkörpere sie persönlich all die Hoffnungen auf ein besseres Leben in Myanmar. Bewunderer nennen sie «Ikone der Freiheit». Der Sprecher des britischen Unterhauses, John Bercon, erhob sie 2012 zum «Gewissen eines Landes» und zur «Heldin der Menschheit».[4] Sie selbst lehnt Beweihräucherung ab. Eine Ikone stehe oder hänge irgendwo herum, sie aber arbeite hart. Wenn sie «Ikone» genannt werde, könnte leicht der Eindruck entstehen, dass sie nur zum Anschauen da sei, beteuert sie immer wieder.
Ihre Popularität weiß sie wohl zu nutzen, wie eine Spendenaktion an einem Abend im Februar 2014 zeigt. Auf einem leeren Gelände gegenüber der alten Pferderennbahn Yangons stehen 70 Reihen Plastikstühle, blau-grüne Lichterketten funkeln in den Bäumen. Zwei große Porträts von Aung San Suu Kyi rahmen eine Bühne ein. Dazwischen steht sie selbst, in einem blaugrauen langen Rock, einer rosa Bluse und einem rosa Schal. Im Haar hat sie auf der einen Seite weiße Blüten und auf der anderen Seite eine rosa Rose. Aung San Suu Kyi und ihre NLD haben zu einem Benefizkonzert eingeladen, dessen Erlös in Krankenhäuser und Gesundheitsstationen auf dem Land fließen soll. 20 Minuten lang beklagt die Gastgeberin, die wie immer frei spricht, wie arg es um die medizinische Versorgung im Lande steht. Sponsoren, meist von Pharmaunternehmen und Apotheken, klettern mit Umschlägen in der Hand auf die Bühne. Händeschütteln, ein gemeinsames Foto. Von der Firma «Frozen Frolic Yoghurt» gibt es eine Million Kyat (rund 720 Euro). Dann hämmert die Gruppe «Bobo» schweren Myanmar-Rock, und Aung San Suu Kyi ergreift die Flucht. Erst zieht sie sich einige Sitzreihen nach hinten zurück, dann verschwindet sie ganz in der Dunkelheit.
Ein paar Kilometer weiter, in der Innenstadt, drängen sich Zuschauer in der Galerie «Sixtyfive». Hier sind zum ersten Mal Zeichnungen des populären Karikaturisten Pe Thein zu sehen, die zuvor nicht veröffentlicht werden durften: Zwei zeigen Aung San Suu Kyi, wie ihr, gefangen in einem Vogelkäfig, zahlreiche Medaillen entgegengestreckt werden.
Ohne ihren Vater, den Nationalhelden Aung San, wäre sie wahrscheinlich nicht so berühmt geworden. Bevor der General 1947 von politischen Rivalen erschossen wurde, hatte er erfolgreich für die Unabhängigkeit Burmas gekämpft. Damit steht Aung San Suu Kyi in einer Reihe mit anderen prominenten Töchtern Asiens wie Indira Gandhi (Indien), Benazir Bhutto (Pakistan), Sheikh Hasina Wajed (Bangladesch) oder Megawati Sukarnoputri (Indonesien), die alle den politischen Ehrgeiz ihrer Väter geerbt hatten und deren Werk vollenden wollten.
Bis 2015 hat sie es im Gegensatz zu diesen Frauen nicht in ein Regierungsamt geschafft, und es ist offen, ob sie es jemals tun wird. Sie hat für ihr Ziel, ein besseres Myanmar, große Opfer gebracht: So versagte sie es sich, ihren sterbenden Mann in seinen letzten Stunden zu begleiten und ihre halbwüchsigen Söhne zu erziehen – die große Sache war ihr wichtiger. Als «fast fanatisch in der Pflichterfüllung gegenüber ihrem Land» hat ihr politischer Weggefährte U Kyi Maung diese Haltung beschrieben.[5] Ihre Heimat hat es nicht zuletzt ihr zu verdanken, dass sie im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit blieb.
Schon in früheren Zeiten hatte Burma mit seinen unzähligen Tempeln und Pagoden, mit den auf Spenden wartenden Mönchen und Nonnen, mit seinen Teakholz ziehenden Elefanten und seinen schimmernden Reisfeldern die Europäer fasziniert. «Dies ist Burma – und es wird wie kein anderes Land sein, das Du kennst», schwärmte der britische Autor Rudyard Kipling beim Anblick der Shwedagon-Pagode. Kiplings Gedicht «Road to Mandalay» (gesungen von Frank Sinatra und Robbie Williams) beschreibt die Sehnsucht eines britischen Soldaten nach einem märchenhaften Land und einer geheimnisvollen Frau. George Orwells «Tage in Burma» handelt von der tragischen Liebe eines britischen Holzhändlers in der Ortschaft Kyauktada.
Die Einheimischen nennen ihre Heimat gerne «Das goldene Land». Der Schönheit dieser Bilder steht die große Härte des Alltags gegenüber. Burmas Bevölkerung litt unter den eigenen Kriegskönigen, später unter den britischen Kolonialherren, dann unter einem der brutalsten Militärregimes der Welt. Obwohl reich an Rohstoffen und Edelsteinen, ist es derzeit eines der ärmsten Länder auf dieser Erde. Nach seiner Unabhängigkeit 1948 tobte ein langer Bürgerkrieg zwischen der Zentralregierung und zahlreichen Rebellenarmeen. Ganze Landstriche sind zu Narco-Regionen verkommen, weil sich Aufständische und Warlords mit dem Handel von Opium und Amphetaminen die Kriegskassen und die eigenen Konten füllen.
Eingekeilt zwischen den Großmächten Indien und China, liegt Burma/Myanmar am Golf von Bengalen, einer strategisch wichtigen Wasserstraße, die Indien und Südostasien miteinander verbindet und durch die chinesische Öltanker und amerikanische Flugzeugträger pflügen. Seine geografische Lage macht das Land zum Objekt der Begierde. An seiner Küste lassen sich Häfen und Horchposten errichten, durch sein Gebiet Gas- und Ölpipelines nach China und nach Thailand legen.
Aung San Suu Kyi hat als Tochter des Armeegründers nie aus ihrer Sympathie für das Militär einen Hehl gemacht. Sie habe eine Schwäche für Uniformen, gab sie einmal zu. Dennoch trieb sie jahrelang die Generäle zur Weißglut. Die ihrerseits haben sie beleidigt, schikaniert und gequält, wo es nur ging. Vor den Parlamentswahlen 1990 wurde sie unter Hausarrest gestellt. Damals gewann die NLD haushoch – doch das Militär weigerte sich, die Macht abzugeben.
Ist sie überzeugt davon, das Richtige zu tun, kann man sie nicht mehr davon abbringen, sagen Freunde und Gegner. Ja, sie könne sogar ziemlich autoritär werden. Einen «Kern aus Stahl» entdeckte der frühere britische Botschafter in Yangon, Andrew Heyn, in dieser zierlichen Frau.[6] Was hat Aung San Suu Kyi geprägt? Woher nahm sie die Kraft, die langen Jahre des Hausarrests durchzustehen und der Verlockung einer Ausreise ins Exil selbst dann nicht nachzugeben, als ihr Mann im fernen England um sein Leben kämpfte? Ist sie «eisig», «hartherzig», eine «schlechte Mutter», wie ihr Kritiker vorwerfen, weil sie sich so viele Jahre nicht um ihre Söhne kümmerte und sich stattdessen für den Kampf gegen die Generäle entschied?[7]
Hat sie gar, wie ihre politischen Gegner sagen, Unglück über Millionen von Burmesen gebracht, als sie als Oppositionsführerin die internationale Gemeinschaft darin bestärkte, nicht mit der Junta zu handeln, Touristen fernzuhalten und im Land nicht zu investieren? Macht sie gar einen kapitalen Fehler, wenn sie sich nun in die Niederungen des politischen Alltags mit seinen Kompromissen und Deals begibt?
Sind die gewaltigen Erwartungen, die so viele Bewohner dieses politisch und ethnisch zerrissenen Landes in sie setzen, überhaupt zu erfüllen? Muss sie ihre Anhängerschaft nicht enttäuschen, wird sie irgendwann womöglich als tragische Figur enden wie der einst populäre polnische Arbeiterführer und spätere glücklose Präsident Lech Wałęsa?
Als sie am 19. Juni 1945 das Licht der Welt erblickt, ist es brütend heiß. Die Temperatur klettert in diesen Tagen bis auf 40 Grad. Der Himmel hängt voller schwerer Wolken, der Monsun zieht unerbittlich über Felder, Kanäle und Flussarme, auch über das Dorf Hmway Saung.
Ihre Mutter Khin Kyi hat hier, in ihrer alten Heimat im Delta des Irrawaddy, hochschwanger vor der japanischen Besatzungsmacht Zuflucht gesucht. Denn ihr Vater, der Unabhängigkeitskämpfer Aung San, gilt in den Augen der Japaner als Verräter, der nichts anderes als den Tod verdient: Zwei Monate vor Aung San Suu Kyis Geburt ist er mit den Truppen der Burmesischen Nationalarmee (BNA) zu den Briten, den früheren Kolonialherren, übergelaufen. Wenn die Japaner seine Frau und die zwei kleinen Söhne erwischen, werden sie sich bitter an ihnen rächen, fürchtet er.
Seine Familie im Hauptquartier der BNA in Thayetchaung ganz im Süden des Landes unterzubringen erwies sich als zu riskant. In Rangun zu bleiben war ebenso gefährlich. Also sind Khin Kyi, die Kinder, ihre Schwester und fünf Soldaten in der Nacht zum 18. März aus Rangun herausgeschlüpft, um sich, als einfache Bauern verkleidet, auf dem Land zu verstecken. Das Glück ist ihnen hold. Auf dem Twantay-Kanal, der von Rangun ins Irrawaddy-Delta führt, beschießt ein japanisches Kampfflugzeug Boote, die nur wenige Meter von ihnen entfernt liegen. In der Stadt Pyapon wimmelt es von japanischen Soldaten. Am Ufer des Dorfes Kyatphamwezaung gibt sich eine Wache mit der Auskunft Khin Kyis zufrieden, sie wolle hier frischen Fisch kaufen.
Familienglück in Rangun 1947: Aung San Suu Kyi (im Vordergrund) mit Mutter Khin Kyi, den Brüdern Aung San Oo und Aung San Lin und ihrem Vater Aung San
Kurz vor Aung San Suu Kyis Geburt ist die größte Gefahr vorüber. In Rangun donnern am 15. Juni Salutschüsse: Die Allierten feiern mit einer großen Parade ihren Sieg über die Japaner, obwohl die noch in verschiedenen Ecken des Landes erbittert kämpfen. Am 3. Mai waren die letzten Soldaten des Kaisers Hirohito aus der Stadt geflohen, fünf Tage später gab die deutsche Wehrmacht im fernen Europa den Zweiten Weltkrieg für verloren und kapitulierte. In Rangun herrscht Chaos. Die Hafenviertel sind zerstört, Plünderer marodieren durch die Straßen. Nun bereitet sich London darauf vor, seine Kolonie wieder in den Griff zu bekommen. Aung San schreibt seiner Frau eine Notiz: Komm nach Rangun zurück, die Japaner sind verschwunden, die Stadt ist sicher. Darauf macht sich die Gruppe auf den Heimweg. Das Mitglied der Familie, das in diesen turbulenten Tagen geboren wird, heißt Aung San Suu Kyi. Ihr Name bedeutet übersetzt: «Eine seltsame Ansammlung glänzender Siege».
Es war ein behütetes und privilegiertes Leben, in das sie trotz der wirren Zeiten hineingeboren wurde. Ihr Vater Aung San diente nun den britischen Kolonialherren als De-facto-Premierminister. Ihn verehrte das Volk als kühnen Kämpfer für die Unabhängigkeit. Die Familie zog in ein großes Haus in der Tower Lane, einer schmalen gewundenen Straße oberhalb des Kandawgyi-Sees, der zu dieser Zeit noch Royal Lake hieß. Es war eine gute Gegend. In dem großer Garten pflanzte Aung San Gemüse und Salat an, und in einem Teich quakten Frösche. Beim Einzug ahnte niemand, welches Unglück der Familie bevorstand.
Um ins Haus zu kommen, musste die kleine Aung San Suu Kyi viele Treppenstufen hochklettern. Hinter der Tür lag der große Eingangsbereich. Links, vor einem Bücherregal, aß die Familie an einem großen Holztisch. Auf der anderen Seite befand sich das Wohnzimmer, wo Gäste empfangen wurden. In der Mitte des Foyers führte eine Treppe in den ersten Stock zum Arbeitszimmer des Vaters, zum Bad und dem Schlafzimmer der Eltern. Die Räume waren tagsüber abgedunkelt, damit sie in der Hitze kühl blieben. Eine schmale Wendeltreppe wand sich hinauf in ein winziges Turmzimmer, in dem der Vater meditierte. Vom kleinen Fenster war die Shwedagon-Pagode, das Wahrzeichen und religiöse Zentrum Burmas, zu sehen.
Aung San Suu Kyi hatte zwei Brüder: Aung San Oo, der Älteste, war zwei Jahre alt, als sie geboren wurde. Aung San Lin kam ein Jahr vor ihr zur Welt. Eine jüngere Schwester, Aung San Chit, lebte nur wenige Tage. Sie starb am 26. September 1946. Die drei Kinder wohnten ebenfalls im ersten Stock in einem großen Zimmer mit hohen Wänden. Sie schliefen in Holzbetten mit Moskitonetzen.
Aung San Suu Kyi erinnert sich, wie sie als Sechsjährige auf der Veranda stand und fasziniert dem Regen zuschaute, der in der Monsunzeit auf die Erde prasselte: «Ich schaute, wie sich der Himmel verdunkelte, und hörte den Erwachsenen mit ihren gefühlsseligen Geschichten zu, die sie angesichts der dunstigen Schwaden dicker Regenwolken erzählten.» Und sie beobachtete, dass Regen, der in «glitzernden Kristallstäben» herabfiel, bei den Erwachsenen «Sehnsucht nach der Vergangenheit» auslöste und ein solch grauer Monsuntag für sie «Ausdruck unerklärlichen Leids» war.[1]
Mit Leid wurde Aung San Suu Kyi schon in früher Kindheit konfrontiert. Die erste Tragödie erlebte sie freilich nicht bewusst: Sie war erst zwei Jahre und einen Monat alt, als Attentäter ihren Vater und sechs weitere Politiker erschossen, darunter auch ihren Onkel U Ba Win, den Bruder Aung Sans.
»Ich erinnere mich an ihn, wie er mich jedesmal auf den Arm nahm, wenn er nach der Arbeit nach Hause kam», sagte sie, war sich aber nicht sicher, ob dies ihre eigene Erinnerung war oder ob sie es nur von Erzählungen wusste.[2] Später fiel ihr ein, dass sie sich einmal geweigert hatte, ihrem Vater einen Kuss zu geben, weil der einen Schnupfen hatte. Ein anderes mal nahm er sie mal nicht auf den Arm und sie verlangte: «Bitte, heb dieses Kind hoch.» Als er scherzte: «Welches Kind denn?», krähte sie: «Dieses Kind, dieses Kind.»
Außer diesen Erinnerungen an ihren Vater blieb ihr eine Puppe, die er im Januar 1947 aus London mitgebracht hatte. Und da war ein weißer Schal ihrer Mutter, den sie beim Reinemachen aus dem Kleiderschrank holte. Auf ihm war ein großer Blutfleck getrocknet. Ihre Mutter, berichtete sie ihrer Freundin Ma Thanegi, trug diesen Schal am Tag des Attentats. Als sie den Stoff wieder in den Händen hielt, rief sie aus: «Da war so viel Blut! Da war so viel Blut!»[3]
Die zweite Tragödie geschah fast sechs Jahre später, und Aung San Suu Kyi brauchte Jahrzehnte, um sie zu verwinden. Es war der 16. Januar 1953. Aung San Suu Kyi spielte mit ihrem Lieblingsbruder Aung San Lin im Garten. Er war ein Kumpel, mit dem man Unsinn machen konnte, einer, den sie bewunderte und innig liebte – im Gegensatz zum älteren Aung San Oo, einem Eigenbrödler, der sich nicht mit einem kleinen Mädchen abgab. Bis heute ist das Verhältnis zwischen Aung San Oo und Aung San Suu Kyi gespannt.
An diesem Januartag stapfte Aung San Suu Kyi die Stufen hinauf ins Haus, ihr Bruder blieb draußen und spielte weiter am Teich. Als sein Spielzeuggewehr in das trübe Wasser fiel, versuchte er es herauszufischen. Eine Sandale blieb dabei im Schlamm stecken. Ihm gelang es dennoch, das Gewehr zu erwischen, er rannte nach oben und gab es seiner Schwester. Dann flitzte er wieder zum Teich, um die Sandale zu holen. Nach einer Weile trieb er mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Es ist nicht klar, wer ihn so gefunden hat: seine Schwester oder einer der Hausangestellten. Später berichtete Aung San Suu Kyi, dass sie sich nur daran erinnerte, wie sie nach dem Spielen zurück ins Haus gelaufen war. Von da an war die Erinnerung ausgelöscht.
Sein Tod traf die Schwester hart. «Ich stand ihm sehr nahe, näher als irgendjemandem anderen», sagte sie. «Wir teilten ein Zimmer, wir spielten immer gemeinsam. Sein Tod war ein schrecklicher Verlust für mich.» Doch zerbrochen sei sie an dem Unglück nicht. «Ich war nicht völlig am Boden zerstört durch das Ereignis. Ich war traurig …» Die Familie habe sie wohl aufgefangen, um ihren Kummer verarbeiten zu können.[4] Noch als erwachsene Frau vermisste Aung San Suu Kyi ihren älteren Bruder, vor allem, wenn sie selbst in schwierigen Situationen steckte.
Aung San Suu Kyis Mutter wollte nicht mehr in dem Haus in der Tower Lane bleiben, zu viele schlimme Erinnerungen lasteten auf der Villa mit dem Türmchen. Zunächst zogen die drei in ein Haus in der sogenannten Halpin-Nachbarschaft von Rangun, einem guten Wohnviertel mit vielen Bäumen und Villen aus der Kolonialzeit. Dann schenkte die Regierung Khin Kyi die Villa eines reichen Händlers in der University Avenue 54, romantisch gelegen am Inya-See – der besten Gegend Ranguns. Die Nachbarn waren Diplomaten, Politiker, Generäle, reiche Geschäftsleute. Das sollte sich bis heute nicht ändern.
Heute heißt die Tower Lane «Bogyoke Aung San Museum Road». Aus dem ersten Heim Aung San Suu Kyis hat die Regierung ein Museum gemacht. Viele Einrichtungsgegenstände sind Originale, denn die Mutter hatte alles hinter sich gelassen. Nur wenige Meter entfernt hat sich die deutsche Botschaft eingemietet. Und ganz in der Nähe, am See, steht ein goldfarbenes Denkmal des Vaters von Aung San Suu Kyi.
«Die Regierung verwöhnte uns», erinnert sich U Aye Win, ein Cousin von Aung San Suu Kyi. Sein Vater U Ba Win, der älteste Bruder von Aung San, war bei dem Attentat ebenfalls ums Leben gekommen. Ba Win diente damals als Handelsminister. Auch seine Familie erhielt eine große Villa in der University Avenue geschenkt, kaum mehr als einen Steinwurf von Aung San Suu Kyis Haus entfernt, etwas weiter weg vom See. «Jede Witwe erhielt außerdem 100.000 Rupien von der Regierung», berichtet er.[5] Umgerechnet waren das rund 82.000 D-Mark, eine Menge Geld für die damaligen Verhältnissen.
Aung San Suu Kyis Mutter kümmerte sich fortan allein um die Kinder. Doch sie sah ihre Rolle nicht nur als Witwe und Hausfrau, sondern erwog, wieder als Krankenschwester zu arbeiten. Die Regierung unter Premierminister U Nu befand allerdings, dass die Witwe einer so wichtigen Persönlichkeit wie Aung San etwas Besseres verdient hatte. So wurde sie zur Direktorin der Nationalen Wohltätigkeitsorganisation für Frauen und Kinder befördert.
Aung San Suu Kyis Mutter, die ursprünglich Lehrerin hatte werden wollen und eine Vorkämpferin der Emanzipation war, stieg damit zu einer wichtigen Persönlichkeit in den ersten Jahren der Unabhängigkeit auf. Ab 1953 führte sie die Soziale Planungskommission, war damit so etwas wie die Sozialministerin Burmas. Sie leitete Delegationen zur Weltgesundheitsorganisation (WHO) und übernahm für kurze Zeit den Abgeordnetensitz ihres Mannes in dessen Wahlkreis im Westen Ranguns. Später organisierte sie den Frauenverband in der Regierungspartei AFPFL. Sie unterstützte den damaligen Premierminister U Nu und rührte im Norden Burmas als Wahlkämpferin die Werbetrommel für ihn. 1960 ernannte die Regierung sie zur Botschafterin in Indien und Nepal. Als die Woman’s Society of Christian Service der Methodistischen Kirche von Rangun 1962 ein internationales Kochbuch herausgab, zu dem Diplomatinnen und Botschaftergattinnen Kochrezepte beisteuerten, erschienen darin Rezepte unter anderem für Curryhühnchen und Kokosnussreis von «Mrs Aung San», die nun als Diplomatin in New Delhi lebte.
Sieben Jahre später zog sich Khin Kyi aus dem politischen Leben zurück, sie wollte die diktatorische sozialistische Regierung unter General Ne Win nicht länger nach außen vertreten. Die Militärjunta rückte sie in ihrer Propaganda später in die Nähe der Kommunisten, um ihrer Tochter zu schaden. In gewisser Weise hatte sie sogar recht. Ihr Schwager Than Tun war der Chef der Kommunistischen Partei Burmas. Die Kommunisten hätten sie zu überreden versucht, nach einem Umsturz Staatspräsidentin zu werden, hieß es auf einer Pressekonferenz am 5. August 1989. Khin Kyi habe auf ihren schlechten Gesundheitszustand verwiesen und abgelehnt.
Sollten die Kommunisten jemals erwogen haben, Khin Kyi an die Spitze des Staates zu stellen, zeigt dies, wie groß der politische und gesellschaftliche Stellenwert der Witwe Aung Sans geworden war.
Ihre Kinder behandelte sie strikt und versuchte ihnen Werte wie Disziplin, Selbstlosigkeit und Aufrichtigkeit, für die ihr Mann eingestanden hatte, zu vermitteln. Sie war wohl keine Frau von großer Herzlichkeit, keine, die sich auf den Boden hockte, um mit ihrer Tochter ein Puppenhaus einzurichten, wie sich Aung San Suu Kyi erinnert: «Sie konnte sehr streng sein … sehr diszipliniert … alles zur richtigen Zeit … in der richtigen Weise. Sie war eine Perfektionistin.»[6]
Niemals durfte sich das Mädchen in Gegenwart ihrer Mutter an eine Stuhllehne anlehnen. Wenn sie Gäste empfing, musste die Tochter adrett und gut gekämmt erscheinen, ihre Kleidung makellos sein. Das Gleiche galt, wenn Aung San Suu Kyi das Haus verlassen wollte. Das Verhältnis zwischen ihr und ihrer Mutter war ihrer Erinnerung nach «förmlich».[7]
Ein Licht auf die Disziplin und den Ordnungssinn der Mutter wirft ihre Reaktion auf die Nachricht vom Tod ihres Sohnes, die ihr im Büro während einer Konferenz übermittelt wurde: Sie ließ nicht alles stehen und liegen, eilte nicht sofort nach Hause, brach nicht verzweifelt zusammen. «Sie blieb und beendete ihre Arbeit», berichtete Aung San Suu Kyi in einem Interview.[8] Trotz dieser zuweilen verstörenden Eigenschaften ihrer Mutter spricht Aung San Suu Kyi sehr positiv über sie, über ihre Aufrichtigkeit, ihren Mut und ihre Selbstbeherschung.
Khin Kyi erzog das Mädchen zu einem sozialen Menschen, immer musste es mit anderen teilen. Als ein Minister, Angehöriger der ethnischen Minderheit der Karen, unter dem Verdacht verhaftet wurde, mit den Rebellen paktiert zu haben, und seine Familie aus der Dienstwohnung ausziehen musste, nahm Khin Kyi die Leute wie selbstverständlich in der University Avenue auf.
«Sie war fröhlich, lebhaft, süß. Sie lächelte oft. Auf den Familientreffen unterhielten wir uns in der Regel», sagt ihr Cousin Aye Win über seine kleine Verwandte. Auch er berichtet von den strengen Vorschriften, die in der University Avenue galten. So gab es für das Mädchen keinen Mittagsschlaf, und gelesen wurde nie im Liegen, sondern stets aufrecht.[9]
Als kleines Mädchen hatte Aung San Suu Kyi oft Angst, wofür Khin Kyi kein Verständnis hatte. «Sie wurde immer sehr wütend auf mich, wenn ich Angst zeigte» – etwa, wenn sie ein dunkles Zimmer betreten musste, in dem sie böse Geister vermutete.[10] Dann presste sie sich an einen Erwachsenen und schrie: «Mach das Licht an, mach das Licht an!»
Als sie elf Jahre alt war, bemühte sie sich, ihre Furcht zu überwinden. Sie ließ vor dem Zubettgehen ihre Milch auf dem Küchentisch stehen («zu heiß») und tappte dann im Dunkeln aus dem Schlafraum im ersten Stock wieder nach unten, um sie zu holen. Nach zehn Tagen bereitete ihr der Ausflug ins Ungewisse keine Probleme mehr.[11]
Wie jedes Kind versuchte Aung San Suu Kyi, die Grenzen auszuloten. Sie drückte sich vor Schularbeiten, tobte und versteckte sich. «Ich hatte keine Freude am Arbeiten oder Lernen.» Das sollte sich später ändern. Schon früh hatte sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie durch Haus oder Garten stromerte, anstatt am Schreibtisch oder am Piano zu sitzen. Ihr war immer bewusst, dass sie etwas versäumte, was sie eigentlich hätte tun sollen.
Wie viele Mädchen ihres Alters spielte Aung San Suu Kyi mit Puppen: «Ich hatte ein paar haarlose, großäugige Puppen aus rosa Plastik», schrieb sie einmal in einer Zeitungskolumne, «die ständig auseinanderfielen und Beulen bekamen.» Gingen sie kaputt, mussten sie repariert werden, denn neue zu kaufen kam nicht in Frage: Die Mutter legte Wert auf Sparsamkeit. Das Gleiche galt für ein Kaleidoskop, in das Aung San Suu Kyi gerne schaute: Als es eines Tages zerbrach, durfte es nicht ersetzt werden. Bruder Aung San Oo versuchte, so gut es ging, es für seine kleine Schwester zu reparieren.
Abends, nach der Arbeit, legte sich ihre Mutter oft auf ihr Bett, um sich auszuruhen. Die kleine Suu hüpfte herum und, jedes Mal am Fußende angekommen, bombardierte sie Khin Kyi mit Fragen, etwa: «Warum heißt Wasser ‹Wasser›?»
Später sorgte die Mutter dafür, dass das Mädchen nicht herumfaulenzte. «Ich musste immer etwas zu tun haben, entweder nähen oder sticken oder Klavier üben», erzählte sie ihrer Freundin Ma Thanegi.[12] Kaum hatte sie lesen gelernt, tauchte Aung San Suu Kyi in die Welt der Bücher ein. Ihr ganzes Leben sollte sie ein Bücherwurm bleiben. Vor allem Krimis haben es ihr angetan. Sie war neun Jahre alt, als ein Cousin ihr den Londoner Detektiv Sherlock Holmes nahebrachte, genauer: die Kurzgeschichte von Sir Arthur Conan Doyle: «Der blaue Karfunkel», ein Rätsel um einen in einer Weihnachtsgans versteckten gestohlenen Diamanten.
Kurz danach fiel ihr ein amerikanischer Comic mit Bugs Bunny in die Finger, und sie kam zu dem Schluss, dass ein Detektiv, der wie im «Blauen Karfunkel» nach sorgfältiger Untersuchung eines schäbigen alten Hutes in der Lage war, auf den physischen und geistigen Zustand, auf die finanzielle Lage und auf die Eheprobleme des ehemaligen Besitzers zu schließen, viel interessanter war als ein flippiger Hase.
Aung San Suu Kyi las bei jeder Gelegenheit. Da ihr im fahrenden Auto beim Lesen schlecht wurde, griff sie sofort zum Buch, wenn die Ampel auf Rot schaltete. Wenn es grün wurde, klappte sie das Buch zu und wartete ungeduldig bis zur nächsten Ampel. Der britische Autor Rudyard Kipling wurde einer ihrer Lieblingsautoren. Nach dessen 1901 erschienenem Roman «Kim» sollte sie eines Tages ihren zweiten Sohn nennen.
Später verschlang sie die Romane um den Privatdetektiv Philip Marlowe, die Inspektoren Grant and Dalgliesh, den belgischen Ermittler Hercule Poirot und den Pariser Kommissar Jules Maigret. Sie ließ kaum einen Krimi der Schriftstellerinnen Dorothy Sayers, P. D. James oder Ruth Rendell aus. Aber auch Spionageromane von Len Deighton und John le Carré faszinierten sie.
Und sie machte sich Gedanken darüber, was ihre Helden eigentlich aßen, wenn sie mal keine Maulwürfe oder Mörder jagten. In einem Roman, fiel ihr auf, mochte Maigret keine Kalbsleber, in einem anderen konnte es für ihn nichts Besseres geben als Kalbsleber «à la bonne femme». Und der Agent des britischen Auslandsgeheimdienstes MI 6, George Smiley? Hatte der jemals überhaupt etwas gegessen?
Wenn Khin Kyi im Büro oder auf Reisen war, passten eine Großtante und der Großvater U Pho Hnyin auf die Kinder auf. Diesen alten Mann, der sehr nachsichtig und liebevoll war, liebte und bewunderte Aung San Suu Kyi: «Während meiner Kindheit war er die wichtigste männliche Person in meinem Leben.»[13]
Pho Hnyin war Christ, wie auch seine Tochter Khin Kyi ursprünglich Baptistin gewesen war und in eine christliche Schule ging. Unklar ist, ob Khin Kyi eine Angehörige der Karen-Minderheit oder eine Burmanin war. Erst mit der Heirat mit Aung San wechselte sie zum Buddhismus, zu ihrem Begräbnis bat ihre Tochter allerdings den Christlichen Rat der Kirchen, Pfarrer zu schicken, die für ihre Mutter beteten.[14] Als Pho Hnyin im hohen Alter nicht mehr sehen konnte, las ihm Aung San Suu Kyi aus der Bibel vor.
Christen waren im buddhistischen Burma keine Seltenheit, die britischen Kolonialherren hatten nicht nur Soldaten und Beamte, sondern auch Missionare im Tross. Zu Weihnachten pflegte Santa Claus im roten Mantel und mit weißem Wattebart durch die Straßen Ranguns zu wandern, auf Weihnachtspartys wurden Dinge für wohltätige Zwecke versteigert und verlost. Einmal gewann Aung San Suu Kyi eine Flasche Whisky, die damals selten und teuer war, und wunderte sich, warum sich plötzlich eine Zahl älterer Herren um sie scharte. Ihre Mutter riet ihr, die Flasche zu verschenken – und sie konnte nicht verstehen, warum die Männer so glücklich davonzogen.
Ihre Mutter schickte sie ins Saint Francis Convent, eine private katholische Mädchenschule in der U-Htun-Myat-Straße in der Nähe der Tower Lane am östlichen Ende des heutigen Kandawgyi-Sees. Dass sie in eine christliche Schule kam, war damals nichts Außergewöhnliches. Ranguns wohlhabende Familien versuchten in den fünfziger Jahren und auch später, ihre Kinder in protestantischen oder katholischen Schulen unterzubringen – selbst wenn sie überzeugte Buddhisten, Hindus oder Muslime waren. Denn diese Schulen, in denen oft Briten oder Amerikaner unterrichteten, standen für gute Erziehung. Die Kinder lernten Englisch, und die Abschlüsse ermöglichten ein Studium in England.
Heute beherbergt das verwitterte Gebäude aus roten Ziegeln die staatliche Grundschule Nr. 4, eine Mauer trennt sie vom Konvent. Nach dem Putsch 1962 wurde die Schule verstaatlicht, und die ausländischen Schwestern mussten ausreisen.
Auch die Methodist English High School gleich neben der Methodistischen Kirche von Rangun war in den fünfziger Jahren eine wichtige Institution. Die Schulglocke hängt links am Eingangstor – so wie damals, als Aung San Suu Kyi hier zum ersten Mal das Gebäude betrat. An einer Bücher- und Lehrmaterialkammer vorbei ging es einige Stufen hoch in einen grün gestrichenen Flur. Links an der Wand standen auf grünen Tafeln in weißer Schrift Verhaltensmaßregeln für die Schüler. An der Kopfseite hing eine Uhr, darunter waren die Pokale der Sportmannschaften ausgestellt.
Die Schülerinnen trugen weinrote Röcke und weiße Blusen, die Jungen weiße Hemden und Hosen, dazu eine weinrote Krawatte. Noch heute erscheinen die burmesischen Schüler in Uniformen zum Unterricht, allerdings nicht in weinroten, sondern in grünen Longyis. Die Lehrerinnen und Lehrer unterrichten in den gleichen Farben.
In der Methodist English High School mussten die Schüler sogar auf dem Schulhof Englisch sprechen. «Wer dabei erwischt wurde, Burmesisch zu reden, musste eine kleine Strafe zahlen: zehn Pya» (damals rund acht Pfennig), berichtet Daw Nyunt Nyunt, die mit Aung San Suu Kyi einige Jahre in eine Klasse ging.[15]
Nyunt Nyunt ist Ärztin, hat unter anderem im Frauen- und Kinderkrankenhaus in Ranguns Bezirk Okkalapa gearbeitet. Später war sie in der staatlichen Blutbank beschäftigt. Sie trägt eine große Brille, hat ihr Haar im Nacken zusammengebunden. Nyunt Nyunt ist stolz darauf, mit einer so berühmten Persönlichkeit wie Aung San Suu Kyi zur Schule gegangen zu sein. Als deren Mutter 1988 starb, besuchte sie mit anderen ehemaligen Schülerinnen die Villa in der University Avenue 54, um zu kondolieren. «Als Aung San Suu Kyi hörte, dass wir da waren, kam sie extra zu uns herunter», erinnert sie sich.