Dan Jones
Spiel der Könige
Das Haus Plantagenet
und der lange Kampf um Englands Thron
Aus dem Englischen
von Heike Schlatterer
C.H.Beck
Klug, brutal und machtbewusst: Das Haus Plantagenet herrschte vom Ende der normannischen Könige über die Zeit der Kreuzzüge und des Schwarzen Todes bis zum Beginn des Hundertjährigen Krieges über England und halb Frankreich. Eleonore von Aquitanien, die berühmteste Frau des Mittelalters, war gleich zweimal Königin. Richard Löwenherz zog in den heiligen Krieg gegen Sultan Saladin. Unter seinem hinterhältigen Bruder Johann Ohneland entstand die Magna Carta, die bis heute Teil der britischen Verfassung ist. Und unter Heinrich III. trat zum ersten Mal das englische Parlament zusammen. Der letzte König der Hauptlinie der Dynastie, Richard II., war die Vorlage für Shakespeares gleichnamiges Drama, ein Förderer der Künste und ein politischer Versager. Spannend wie in einem guten Film und mit souveräner Kenntnis von Quellen und Forschung lässt Dan Jones eine Dynastie lebendig werden, die wie keine andere Stoff für Sagen, Legenden und Dramen geboten hat, deren Erbe aber bis heute höchst real ist.
«Fesselnd und lesbar … und zugleich mit aller akademischen Akribie erforscht. Das Ergebnis ist eine unterhaltsame, oft erschütternde Reise durch eine blutige, unsichere Zeit, in der viele der Grundlagen des englischen Königtums und des anglo-amerikanischen Verfassungsdenkens ausgebildet wurden.» The Washington Post
Dan Jones, Historiker und Journalist, wurde in Großbritannien und den USA durch historische Bestseller und Fernsehdokumentationen zur Geschichte der Frühen Neuzeit und des Mittelalters bekannt. Bei C.H. Beck erschien von ihm «Die Templer: Aufstieg und Untergang von Gottes heiligen Kriegern» (2019).
Vorwort
ERSTER TEIL: Das Zeitalter der Katastrophen – 1120–1154
Das Weiße Schiff
Die Suche nach einem Erben
Der Untergang
Ehrgeiz
Eine skandalumwitterte Ehefrau
Heinrich der Eroberer
ZWEITER TEIL: Das Zeitalter des Reichs – 1154–1204
Geburten und Wiedergeburt
L’Espace Plantagenet
Unheiliger Krieg
Die Regelung der Nachfolge
Das Adlernest
Heinrichs Triumph
Eine Welt in Flammen
König Richard
Held des Ostens
Verrat
Ein unerwarteter Umweg
Die Rückkehr von Richard Löwenherz
Johann Ohneland ganz oben
Johann «Weichschwert»
Triumph und Katastrophe
Johann Ohneland auf dem Tiefpunkt
DRITTER TEIL: Das Zeitalter der Opposition – 1204–1270
Die Plünderung des Wracks
Ein grausamer Herrscher
Der Anfang vom Ende
Auf nach Bouvines
Die Magna Carta
Die Sicherung des Erbes
Endlich die Krone
Heiliges Königtum
Die Bestimmungen von Oxford
Die Schlacht von Lewes
Aus der Gefangenschaft nach Evesham
Der Leopard
VIERTER TEIL: Das Zeitalter des Artus – 1270–1307
Endlich König
Ein neuer Artus
Letzter Widerstand
Die Burgen des Königs
Der Preis der Eroberung
Die Vertreibung der Juden
Der vakante schottische Thron
Die Eroberung Schottlands
Die Krise spitzt sich zu
Rückfall
FÜNFTER TEIL: Das Zeitalter der Gewalt – 1307–1330
Der König und sein Bruder
Der im Zaum gehaltene König
Menschenjagd
Versprechen und Katastrophe
Neue Favoriten
Der Bürgerkrieg
Die Tyrannei des Königs
Mortimer, Isabella und Prinz Eduard
Endspiel
Falsche Dämmerung
SECHSTER TEIL: Das Zeitalter des Ruhms – 1330–1360
Ein königlicher Staatsstreich
Ruhmreicher König eines verarmten Reiches
Neue Earls, neue Feinde
Der Beginn des Hundertjährigen Krieges
Eduard in unruhigem Fahrwasser
Dominanz
Tod einer Prinzessin
Der Hosenbandorden
Jahrzehnt des Triumphs
SIEBTER TEIL: Das Zeitalter der Revolution – 1360–1399
Familienangelegenheiten
Wechselfälle des Schicksals
Das Gute Parlament
Neuer König, alte Probleme
England in Aufruhr
Die Rückkehr der Krise
Verrat und Trauma
Die Neuerfindung des Königtums
Richard der Rächer
Richard außer Rand und Band
Richard allein
Epilog
Bildteil
Anhang
Karten
Stammtafeln
Französische Könige, 1060 bis 1422
Weiterführende Literatur
Erster Teil: Das Zeitalter der Katastrophen, 1120–1154
Zweiter Teil: Das Zeitalter des Reichs, 1154–1204
Dritter Teil: Das Zeitalter der Opposition, 1204–1270
Vierter Teil: Das Zeitalter des Artus, 1270–1307
Fünfter Teil: Das Zeitalter der Gewalt, 1307–1330
Sechster Teil: Das Zeitalter des Ruhms, 1330–1360
Siebter Teil: Das Zeitalter der Revolution, 1360–1399
Nachweis der Abbildungen
Personenregister
Für JJ, VJ und IJ
Denn ein vernunftbegabter Mann sollte bedenken,
dass Fortuna wankelmütig ist und sich das Rad
des Schicksals stets weiterdreht …
Ein Fürst muss Vorsicht walten lassen und darf niemals vergessen, dass der gnädige
Schöpfer … leidgeprüft und geduldig ist …
Er ist aber auch streng in seinen Strafen
und in der Rache, die er den Verstockten
und Böswilligen angedeihen lässt,
und normalerweise verhängt
er sie bereits auf Erden.
GERALD VON WALES,
EXPUGNATIO HIBERNICA
(DIE EROBERUNG IRLANDS)
Wer waren die Plantagenets? Die im Buch beschriebenen Personen haben den Namen nicht geführt, mit einer einzigen Ausnahme: Gottfried, Graf von Anjou, ein gutaussehender, streitlustiger junger Mann mit roten Haaren. Der 1113 geborene Gottfried trug gern einen Zweig mit gelb blühendem Ginster am Helm und schmückte seinen Schild mit Löwen. Von der lateinischen Bezeichnung für Ginster (planta genista) leitet sich der Name Plantagenet ab, die schreitenden Löwen, die den Kopf dem Betrachter zuwenden, wurden zum symbolträchtigen Wappentier der englischen Könige, auf Standarten vor riesigen Armeen in die Schlacht getragen, in den kühlen schottischen Lowlands genauso wie in den staubigen Ebenen des Nahen Ostens. Darin steckt eine gewisse Ironie: Gottfried war nie in England, zeigte kaum Interesse an diesem Teil seines Reichs und starb 1151, drei Jahre bevor sein ältester Sohn die englische Krone erbte.
Dennoch hat der Name Plantagenet einen machtvollen Klang. Gottfrieds Nachfahren herrschten mehr als zwei Jahrhunderte lang als Könige über England, angefangen bei Heinrich II., der 1154 gekrönt wurde, bis zu Richard II., der 1399 von seinem Cousin Henry Bolingbroke abgesetzt wurde. Die Plantagenets waren die am längsten herrschende Königsdynastie in England, und während sie regierten, entstanden einige der grundlegenden charakteristischen Merkmale, die wir heute mit England verbinden: Die Grenzen des Reichs wurden festgelegt. Die Beziehungen zu den Nachbarn – in erster Linie zu Schottland, Wales, Frankreich und Irland, aber auch zu den Niederlanden, zum Papsttum und zu den iberischen Reichen, aus denen später Spanien hervorging – wurden etabliert. Rechtsgrundsätze und Regierungseinrichtungen, die bis heute bestehen, wurden in ihren Grundformen angelegt – einige freiwillig, andere durch Zufall oder unter Zwang. Eine reiche Mythologie nationaler Geschichtsschreibung und Legenden entstand, und auch die Verehrung zweier Heiliger – Eduard der Bekenner und der heilige Georg – stammt aus dieser Zeit. Die englische Sprache entwickelte sich von einem unkultivierten, ziemlich rauen lokalen Dialekt zur Sprache der Parlamentsdebatten und der poetischen Dichtung. Burgen, Paläste, Kathedralen und Denkmäler wurden errichtet, von denen viele heute noch stehen und vom Genie der Männer künden, die sie einst erdachten, erbauten und gegen Angriffe verteidigten. Helden wurden geboren, starben und wurden zu Legenden; ebenso die Übeltäter, deren Namen immer noch in den Geschichtsbüchern widerhallen. (Denn manche dieser Übeltäter trugen die Königskrone.) Einige der berühmtesten und dramatischsten Schlachten der europäischen Geschichte wurden in dieser Zeit ausgetragen, etwa die Schlacht bei Bouvines und die Schlacht von Bannockburn, die Seeschlachten von Sluis und Winchelsea, die Schlacht bei Crécy und bei Poitiers. Zwischen dem Zeitalter der Normannen, in dem Kriegskunst eine Kunst der Belagerung war, und dem aufkommenden 15. Jahrhundert, in dem offene Feldschlachten üblich waren, wurde die Militärtaktik revolutioniert; und die Engländer mit ihren tapferen Kriegern und todbringenden berittenen Bogenschützen waren der Schrecken Europas. Gegen Ende der Plantagenet-Ära begannen die Engländer, die Kriegsführung auf offener See zu verfeinern. Die Seekriegstaktik hinkte etwas hinter der für Landkriege her, doch Mitte des 14. Jahrhunderts gab es so etwas wie eine englische Marine, die zum Schutz der Küsten und zum Angriff auf feindliche Schiffe eingesetzt werden konnte. Selbstverständlich kam es während der Herrschaft der Plantagenets auch zu Akten der Grausamkeit, des Gemetzels, der Brutalität und Dummheit. Dennoch war bis 1399, dem Jahr, in dem dieses Buch endet, aus dem kühlen und feuchten Inselreich, das Wilhelm, der Bastard aus der Normandie, im Jahr 1066 erobert hatte, ein hoch entwickeltes Reich geworden, das zu den bedeutendsten der Christenheit zählte. Die Grundlage dafür bildeten die Macht und das Ansehen der Königsfamilie.
Der Weg dahin wird in diesem Buch beschrieben. Doch das Buch soll auch unterhalten. Es bietet ein Stück erzählte Vergangenheit mit einigen der großen Ereignisse aus der Geschichte Englands in der Zeit zwischen dem Sinken des Weißen Schiffs 1120 und der Absetzung von Richard II. 1399. Dazu gehören der Bürgerkrieg zwischen Stephan und Mathilde; die Ermordung Thomas Beckets durch die Ritter Heinrichs II.; die Revolte der Königssöhne in den Jahren 1173 und 1174; die Kriege Richards I. gegen Saladin während des Dritten Kreuzzugs; der Krieg der Barone gegen König Johann und die Anerkennung der Magna Carta; die glücklosen Bemühungen Heinrichs III. in einer späteren Auseinandersetzung mit dem Adel, unter anderem mit seinem Schwager (und seiner Nemesis) Simon de Montfort; die Feldzüge Eduards I. in Wales und Schottland; die spezielle Beziehung Eduards II. zu Piers Gaveston und seine erzwungene Abdankung; der von Eduard III. provozierte Hundertjährige Krieg, in dem er zusammen mit seinem Sohn, dem Schwarzen Prinzen, kämpfte und den König von Frankreich gefangen nahm, und die anschließende Stiftung des Hosenbandordens, um die militärische Überlegenheit Englands zu feiern; die enorme Zahl der Todesopfer, die der Schwarze Tod in Europa forderte; die heroische Haltung Richards II. gegenüber Wat Tylers Rebellen während des Bauernaufstands von 1381, gefolgt von Richards Tyrannei und seinem endgültigen Sturz, als er von Bolingbroke entthront wurde. Alle diese Geschichten sind schon für sich genommen aufregend; sie sind aber auch Teil des historischen Kanons, der England nach wie vor, trotz der kulturellen Umbrüche im 21. Jahrhundert, als Nation und Volk definiert. Die Könige aus dem Haus Plantagenet erfanden nicht nur England als politische, administrative und militärische Einheit. Sie trugen auch dazu bei, unsere Vorstellung von England zu prägen – eine Vorstellung, der nach wie vor eine große Bedeutung zukommt.
Es ist ein dickes Buch geworden – und es hätte noch viel umfangreicher werden können. Zur leichteren Lektüre habe ich den Text in sieben Abschnitte unterteilt. Teil I, «Das Zeitalter der Katastrophen», beschreibt, in welch schlechter Verfassung sich England gegen Ende der normannischen Herrschaft befand, die unter Wilhelm dem Eroberer begonnen hatte und sich unter der Regierung seiner beiden Söhne Wilhelm Rufus und Heinrich I. fortsetzte. Nach dem Tod Heinrichs tobte in England und in der Normandie ein brutaler und lähmender Bürgerkrieg. Zwei Erben erhoben Anspruch auf den Thron: König Stephan, der Enkel Wilhelms des Eroberers, und Heinrichs Tochter Mathilde. Es dauerte fast zwei Jahrzehnte, bis der Krieg zugunsten Mathildes entschieden war. In dieser Zeit zerfiel England praktisch in zwei Herrschaftsbereiche mit zwei Höfen und zwei konkurrierenden Regierungen. Die öffentliche Ordnung lag darnieder, das Land wurde von Söldnern heimgesucht und verwüstet. Erst mit der Thronbesteigung von Mathildes Sohn, ihrem ältesten Kind mit Gottfried Plantagenet – ein unberechenbarer, jähzorniger, aber intelligenter Junge namens Heinrich FitzEmpress –, wurde das Reich wieder geeint und gut regiert. Heinrich FitzEmpress wurde Heinrich II., und durch eine gelungene Kombination aus Glück, ungeheurer persönlicher Energie, großem militärischem Geschick und Eigensinn konnte sich Heinrich als König etablieren und wurde Herr über ein Flickwerk von Territorien, das sich von den Grenzen Schottlands bis zu den Rändern der Pyrenäen erstreckte.
Heinrichs II. Herrschaft über seine ausgedehnten Gebiete, die sich allmählich, wenn auch nicht gezielt zu einem Reich zusammenfügten, ist Thema von Teil II, «Das Zeitalter des Reichs». Darin werden Heinrichs beeindruckende Eroberungen geschildert, das katastrophale Zerwürfnis mit seinem einstigen besten Freund, Erzbischof Thomas Becket, und die Auseinandersetzungen des Königs mit seinen aufmüpfigen Kindern und seiner außergewöhnlichen Frau, Eleonore von Aquitanien. Die Revolte der eigenen Kinder stellte nach Ansicht einiger Zeitgenossen die göttliche Strafe für Beckets Tod dar. «Das Zeitalter des Reichs» betrachtet auch Heinrichs revolutionäre Reformen des englischen Rechts, der Justiz und Verwaltung – Reformen, die England Rechtsverfahren und Regierungsprinzipien gaben, die Jahrhunderte überdauerten.
Trotz der Leistungen und Eroberungen während seiner Herrschaft ist Heinrich II. einer der weniger bekannten Könige aus dem Haus Plantagenet. Ganz anders dagegen sein dritter Sohn Richard I., auch Richard Löwenherz genannt, der das Plantagenet-Reich 1189 erbte, als in Europa eine enorme Kreuzzugbegeisterung herrschte. Richard – der dafür, dass er schon wenige Jahrzehnte nach seinem Tod Heldenstatus erlangte, überraschend wenig Zeit in England verbrachte – widmete sein Leben der Verteidigung und Erweiterung der Macht des Hauses Plantagenet. Seine Eroberungen führten ihn im Dritten Kreuzzug bis nach Sizilien, Zypern und ins Königreich Jerusalem, bevor er, nach einer kostspieligen unfreiwilligen Zwischenstation in Deutschland, nach England zurückkehrte, um sein Erbe gegen den französischen König Philipp II. «Augustus» zu verteidigen. «Das Zeitalter des Reichs» endet im Jahr 1204, als Richards Bruder König Johann eine demütigende Niederlage gegen Philipp erlitt, die Normandie verlor und Schande über das militärische Vermächtnis der Familie brachte. Die Regierungsentscheidungen unter Johann sollten das Verhältnis zwischen England und Frankreich fast hundertfünfzig Jahre lang prägen.
Die Auswirkungen von Johanns militärischem Versagen werden in Teil III betrachtet, «Das Zeitalter der Opposition». Nach dem Verlust der Normandie waren die Könige von England gezwungen, sich dauerhaft in England niederzulassen, wodurch Johann schon bald in Konflikt mit seinen Baronen, Kirchenleuten und keltischen Nachbarn geriet. «Das Zeitalter der Opposition» beginnt mit den dunklen Tagen von Johanns Regierung, in denen die militärischen Erfolge über Wales, Schottland und Irland von der außerordentlichen Grausamkeit des unfähigen Königs überschattet wurden. Wie Johann das komplizierte Regierungssystem nutzte und ausnutzte, das ihm sein Vater Heinrich II. hinterlassen hatte, provozierte eine der größten Verfassungskrisen der englischen Geschichte. 1215 brach ein langer Bürgerkrieg aus, dem die Frage zugrunde lag: Wie kann ein Reich einen tyrannischen König disziplinieren? Eine Frage, die auch mit einem gescheiterten Friedensvertrag namens Magna Carta nicht zu beantworten war. Doch diese brachte einige wichtige Prinzipien und Richtlinien der englischen Regierung zum Ausdruck und wurde zur einenden Grundlage, auf die spätere Gegner der Krone ihre Kritik stützten, während der Herrschaft von Johanns Sohn Heinrich III. und zu Beginn der Regierung seines Enkels Eduard I. Es war stets die Magna Carta, auf die sich für das restliche 13. Jahrhundert alle Gegner der Krone in Krisenzeiten beriefen. Anführer der Gegner war ein Mann namens Simon de Montfort. Die Kriege Heinrichs III. und Eduards gegen de Montfort brachten «Das Zeitalter der Opposition» schließlich zu einem Ende.
Teil IV beginnt im Jahr 1260 gegen Ende einer langen Periode eines immer wieder aufflackernden Bürgerkriegs zwischen den Königen der Plantagenets und ihren Baronen. Königlicher Held dieser Zeit war Eduard I., ein groß gewachsener und erbarmungsloser Mann, von dem man sagte, er könne so wütend werden, dass er einen Mann im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode erschreckt habe. Unter Eduards kriegerischer Führung mussten die Engländer schließlich aufhören, sich gegenseitig zu bekämpfen, und sich ihren Nachbarn zuwenden: Schottland und Wales. Die brutalen Bemühungen Eduards I., nicht nur über England, sondern über ganz Britannien zu herrschen, sind Thema von «Das Zeitalter des Artus». Mit der Herausbildung eines neuen Mythos für das englische Königtum wuchs die Beliebtheit der Artussagen, und eine regelrechte Jagd nach Reliquien setzte ein. Eduard präsentierte sich als Erbe von Artus (ursprünglich ein legendärer walisischer König), der die Britischen Inseln einen und ein neues Zeitalter königlicher Herrschaft einläuten wollte. Trotz des immer wieder aufflackernden Widerstands seiner Barone, die über das noch junge politische Organ des Parlaments eine politische Opposition zu organisieren begannen, kam Eduard seinen Zielen relativ nahe. Der Einfluss seiner Politik auf Englands Beziehungen zu Schottland und Wales ist auch heute noch zu erkennen.
Eduard I. zählt zweifellos zu den großen Königen der Plantagenets, auch wenn er persönlich nicht unbedingt sympathisch war. Sein Sohn Eduard II. hingegen war in jeder Hinsicht der Schlimmste von allen. Teil V, «Das Zeitalter der Gewalt», erzählt die traurige Geschichte eines Königs, der die grundlegenden Aufgaben des Königtums nicht verstand und dessen Herrschaft von einem erschreckenden außenpolitischen Versagen gekennzeichnet war. Sie mündete in der kompletten Isolierung der politischen Klasse und einem mörderischen Bürgerkrieg. Eduards katastrophale Beziehungen zu seinen Günstlingen Piers Gaveston und Hugh le Despenser dem Jüngeren hatten verheerende Folgen für die englische Politik, ähnlich wie das brutale Gebaren seines Cousins Thomas of Lancaster, der kompromisslos Krieg gegen den König führte, bis er schließlich 1322 hingerichtet wurde. Durch Lancasters Fehde und Eduards Unzulänglichkeiten sank das Ansehen des Königtums derart, dass Eduard II. schließlich von seinen eigenen Untertanen abgesetzt wurde. Die englische Geschichte in den Jahren 1307 bis 1330 trieft von Blut. Teil V versucht zu erklären, wie es dazu kam – und wie «Das Zeitalter der Gewalt» schließlich ein Ende fand.
Der bedeutendste aller Plantagenet-Könige war Eduard III. Eduard erbte den Thron als jugendlicher Marionettenkönig, gelenkt von seiner Mutter, Isabella von Frankreich, und ihrem Liebhaber Roger Mortimer, die für die Absetzung Eduards II. verantwortlich waren. Doch er konnte ihren Einfluss bald abschütteln. Die darauffolgenden glanzvollen drei Jahrzehnte seiner Regierung werden in Teil VI, «Das Zeitalter des Ruhms», beschrieben. In diesen Jahren expandierten die Plantagenets in jeder Hinsicht. Dank der Feldherrentalente Eduards, seines Sohnes, des Schwarzen Prinzen, und seines Cousins Henry Grosmont konnte England in der Eröffnungsphase des Hundertjährigen Krieges Frankreich und Schottland (und einigen anderen Feinden, darunter Kastilien) mehrere vernichtende Niederlagen zufügen. Siege zu Land bei Halidon Hill (1333), Crécy (1346), Calais (1347), Poitiers (1356) und Najéra (1367) begründeten den Ruf der englischen Truppen – die auf den tödlichen Langbogen setzten – als erfolgreichste Kriegsmaschinerie in Europa. Die Erfolge in den Seeschlachten bei Sluis (1340) und Winchelsea (1350) gaben ihnen zusätzliches Selbstvertrauen auf dem unsicheren Kriegsschauplatz zu Wasser. Eduard und seine Söhne stellten nicht nur die militärische Macht der englischen Könige wieder her, sondern förderten gezielt einen nationalen Mythos, der die Artussage mit einer neuen Verehrung des heiligen Georg und der Wiederbelebung ritterlicher Tugenden durch den Hosenbandorden verknüpfte. Damit schufen sie eine Kultur, die die Angehörigen des englischen Adels bei gemeinsamen Kriegszügen miteinander verband. 1360 hatte die Herrschaft der Plantagenets ihren Höhepunkt erreicht. Die politische Harmonie im eigenen Land wurde durch die Dominanz außerhalb des Landes ergänzt. Eine neue Glanzzeit schien sich anzubahnen.
Doch dann schwand die englische Vormachtstellung genauso plötzlich, wie sie gekommen war. Teil VII zeichnet nach, wie schnell sich das Rad des Schicksals – eine beliebte mittelalterliche Metapher für die Wechselfälle des Lebens – drehen kann. Ab 1360 begann Eduards Herrschaft zu zerfallen, und mit der Thronbesteigung seines Enkels Richard II. im Jahr 1377 bahnte sich eine Krise der Herrschaft an. Richard hatte viele gravierende Probleme geerbt. Der Schwarze Tod, der ab Mitte des 14. Jahrhunderts mit einer Pestwelle nach der anderen die Bevölkerung Europas dezimierte, stellte die wirtschaftliche Ordnung Englands auf den Kopf. Zwistigkeiten unter den Söhnen des betagten Königs sorgten für eine uneinheitliche Außenpolitik, während Frankreich unter Karl V. und Karl VI. wieder aufblühte und begann, England erneut Richtung Ärmelkanal zurückzudrängen. Richard II. mag schlechte Karten gehabt haben, doch er ging auch fahrlässig mit seinem Erbe um. Das Königtum der Plantagenets und der königliche Hof lieferten zwar ein glanzvolles Spektakel und ließen die Kunst aufblühen; unter anderem machten sich in jener Zeit die ersten großen mittelalterlichen Autoren – Geoffrey Chaucer, John Gower und William Langland – ans Werk. Aber Richard war ein misstrauischer, gieriger, gewalttätiger und gehässiger König, der einige der größten Männer in seinem Reich vor den Kopf stieß. 1399 hatte das Reich genug von ihm, und er wurde von seinem Cousin Henry Bolingbroke abgesetzt.
An dieser Stelle endet auch das Buch. Theoretisch könnte man es noch weiter fortsetzen. Direkte Nachkommen Eduards III. regierten England bis 1485, als Heinrich Tudor Richard III. in der Schlacht von Bosworth besiegte und dadurch den Thron besteigen konnte. Tatsächlich kam der Name «Plantagenet» für die Königsdynastie erst während der Rosenkriege in Gebrauch, als die Unterlagen des englischen Parlaments, die sogenannten Parliament Rolls, einen «Richard Plantaginet» aufführten, «gemeinhin Duc of York genannt», der sein Recht auf den Königsthron geltend mache. In der Folge verliehen Eduard IV. und Richard III. den Beinamen einigen ihrer illegitimen Kinder – eine Referenz an die königliche Abstammung außerhalb des Familienstammbaums; die Verwendung des Namens verwies auf eine Verbindung zu einer alten und legendären königlichen Blutlinie, die in eine Zeit fast jenseits der menschlichen Vorstellung zurückreichte.
Für mich liegt die Zeit der Plantagenets in England jedoch zwischen den Jahren 1254 und 1400, und zwar aus den folgenden drei Gründen:
Erstens war dies die einzige Phase im englischen Mittelalter, in der die Krone relativ reibungslos von einer Generation an die nächste übergeben wurde, ohne gravierende Erbfolgekonflikte oder Kriege um die dynastische Legitimation. Abgesehen von Arthur von Bretagne und Prinz Ludwig von Frankreich, die zu Beginn und gegen Ende von König Johanns harter Regierung berechtigte, aber letztlich hoffnungslose Ansprüche erhoben, gab es während der Plantagenet-Jahre keine rivalisierenden Anwärter auf die englische Königskrone. Das lässt sich weder für die normannische Herrschaft sagen, die mit König Stephan endete, noch für das Jahrhundert nach der Absetzung Richards II., als die Dynastie der Plantagenets in die beiden Seitenlinien jüngerer Söhne zerfiel, die Familien Lancaster und York.
Zweitens habe ich mich für den Zeitraum von 1254 bis 1399 einfach deshalb entschieden, weil er für mich eine der aufregendsten und spannendsten Phasen in der Geschichte des Mittelalters darstellt, in der sich einige der größten Ereignisse in der Geschichte unseres Landes zutrugen. Und drittens habe ich mein Buch aus praktischen Überlegungen auf diesen Zeitraum begrenzt. So gern ich die Geschichte der Plantagenets bis zum grausigen Ende der Dynastie unter Heinrich Tudor weitererzählt hätte – in einem Buch, das leicht genug ist, um es auch im Bett zu lesen, wäre dies einfach nicht möglich gewesen. Eines Tages wird ein zweiter Band die Geschichte zum Abschluss bringen.
Es war mir eine Freude, dieses Buch zu schreiben. Ich hoffe, es ist auch eine Freude, es zu lesen. Bei meiner Arbeit haben mich viele Menschen unterstützt. Ohne meine unvergleichliche Agentin Georgina Capel wäre das alles nicht möglich gewesen. Außerdem möchte ich Dr. Helen Castor für ihre außergewöhnlich großzügige, weise und ermutigende Art danken, in der sie fast jeden Aspekt des Buches ausführlich mit mir diskutierte. Ben Wilson und Dr. Sam Willis halfen mir bei allen Fragen in Zusammenhang mit Schiffen und Seeschlachten. Richard Partington lieferte nützliche Hinweise zu Eduard III. Walter Donohue, Paul Wilson und Toby Wiseman kommentierten das Manuskript in seinen verschiedenen Phasen. Alle Fehler gehen natürlich auf mein Konto. Meine Lektorin bei Harper Press, Arabella Pike, war so geduldig wie immer und spornte mich mit ihren Beobachtungen und Bemerkungen zum Text an. Ihr Team, darunter Kerry Enzor, Sophie Ezra, Steve Cox und Caroline Hotblack, war ebenfalls sehr hilfsbereit und tolerant. Die Mitarbeiter der British Library, der London Library, den National Archives, den London Metropolitan Archives und der Guildhall Library waren außergewöhnlich freundlich, ebenso die Aufsichten, Führer und Mitarbeiter in den unzähligen Burgen, Kathedralen und auf den Schlachtfeldern, die ich bei der Recherche für meine Reise durch drei Jahrhunderte europäischer Geschichte besuchte.
Vor allem möchte ich jedoch Jo, Violet und Ivy Jones danken, die sich mit meiner unaufhörlichen Schreiberei abfinden mussten, es ist daher völlig klar, dass ich ihnen auch dieses Buch widme.
Battersea, London |
Dan Jones |
Januar 2012 |
ERSTER TEIL
1120–1154
Es war, als ob Christus
und seine Heiligen
geschlafen hätten.
Angelsächsische Chronik
Der Prinz war betrunken. Genauso wie die Besatzung und die Passagiere des Schiffs, auf dem er sich befand. Am 25. November 1120 amüsierten sich fast zweihundert junge und schöne Abkömmlinge der führenden Familien Englands und der Normandie an Bord eines prächtigen, weiß gestrichenen Langschiffs. Das Schiff hatte ein wohlhabender Kaufmann für die Fahrt von der Normandie nach England zur Verfügung gestellt. Nun hob und senkte es sich auf dem Wasser, begleitet vom Gelächter der Feiernden im Hafen von Barfleur. Eine über hundert Kilometer lange Überfahrt auf der im Spätherbst unruhigen See des Ärmelkanals lag vor ihnen. Dennoch wurde das am Rand der geschäftigen Hafenstadt vertäute Schiff mit zahlreichen Weinfässern beladen, und Passagiere wie Besatzung wurden ausgelassen zum Trinken ermuntert.
Der Prinz war Wilhelm Aetheling. Er war der einzige eheliche Sohn Heinrichs I., König von England und Herzog der Normandie, und dessen Frau Matilda von Schottland, einer gebildeten, fähigen Königin, die von den angelsächsischen Königen von Wessex abstammte, die England vor der Eroberung durch die Normannen regiert hatten. Wilhelm war nach seinem Großvater benannt, nach Wilhelm dem Eroberer. Sein Beiname «Aetheling» war ein traditioneller angelsächsischer Titel für den Thronerben. Wilhelm war ein privilegierter, geselliger junger Mann, dem man seine königliche Abstammung mütterlicher- und väterlicherseits anmerkte. Vermutlich entsprach er voll und ganz dem uralten Klischee vom vergötterten und verwöhnten ältesten Sohn. Ein normannischer Chronist berichtet, Wilhelm sei «in goldbestickte seidene Gewänder» gekleidet gewesen, «umgeben von einer Schar Bediensteter und Wachen», und habe «ein beinahe himmlisches Strahlen» an sich gehabt; ein junger Mann, dem von allen Seiten «außerordentliche Verehrung» entgegengebracht worden sei, weshalb er zu «übermäßiger Arroganz» geneigt habe.
Wilhelm war umringt von zahlreichen jungen Adligen, darunter sein Halbbruder Richard von Lincoln und seine Halbschwester Matilda, Gräfin von Le Perche. Beide waren illegitime Nachkommen Heinrichs und gehörten zu einer ganzen Schar von insgesamt vierundzwanzig Kindern, die der bemerkenswert virile König gezeugt hatte. Außerdem waren mit von der Partie: Wilhelms Cousin Stephan von Blois, der ebenfalls ein Enkel Wilhelms des Eroberers war; Richard, der sechsundzwanzig Jahre alte Earl of Chester, und seine Frau Maud; Geoffrey Ridel, ein englischer Richter; Othver, der Tutor des Prinzen, und mehrere andere Cousins, Freunde und königliche Amtsträger. Zusammen bildeten sie eine goldene Generation anglonormannischer Adliger, die zu Recht in großem Stil reisten.
Der Eigner des Weißen Schiffs war Thomas Fitzstephen. Sein Großvater Airard hatte ein Langschiff zur Invasionsflotte des Eroberers beigesteuert; Fitzstephen dachte wohl, die Beförderung zukünftiger Könige nach England liege in der Familie. Er hatte beim König um die Ehre gebeten, die königliche Gesellschaft sicher von Barfleur zur englischen Südküste zu bringen. Heinrich hatte ihn mit der Überfahrt des Prinzen und dessen Begleitung beauftragt, doch mit der ehrenvollen Aufgabe war auch eine Warnung verbunden: «Ich vertraue euch meine Söhne Wilhelm und Richard an, die ich liebe wie mein eigenes Leben.»
Wilhelm war in der Tat eine kostbare Fracht. Mit seinen siebzehn Jahren war er bereits ein begüterter und erfolgreicher junger Mann. Er war 1119 mit Matilda verheiratet worden, der Tochter Fulkos V., des Grafen von Anjou und zukünftigen Königs von Jerusalem. Die Verbindung sollte die seit Generationen bestehenden Feindseligkeiten zwischen den Normannen und Angevinen (so wurden die Bewohner der Grafschaft Anjou genannt) beenden. Nach der Hochzeit hatte Wilhelm seinen Vater Heinrich ein Jahr lang durch die Normandie begleitet und die Kunst des Regierens erlernt. Unter anderem war er mit dabei gewesen, als Heinrich mit Ludwig VI., genannt «der Dicke», dem politisch gewieften König von Frankreich – in den Quellen aufgrund seiner Leibesfülle mit einem Schwein verglichen –, einen Friedensvertrag ausgehandelt hatte, den der Chronist William von Malmesbury als «brillant und sorgfältig abgestimmt» beschrieb. Wilhelm sollte in der hohen Kunst der königlichen Herrschaft unterrichtet werden. Offenbar mit Erfolg, denn in offiziellen Dokumenten wurde er als rex designatus bezeichnet, als designierter König, was darauf schließen lässt, dass er in die Position des Nebenkönigs an der Seite seines Vaters aufgestiegen war.
Der Höhepunkt in Wilhelms jungem Leben hatte sich nur wenige Wochen vor dem Ablegen des Weißen Schiffs ereignet. Wilhelm hatte vor dem korpulenten Ludwig gekniet und ihm die Treue als neuer Herzog der Normandie geschworen. Diese semisakrale Zeremonie besiegelte, dass Heinrich das Herzogtum an seinen Sohn übergeben hatte. Wilhelm wurde damit als eine der führenden Figuren Europas anerkannt. Zudem markierte die Zeremonie in gewisser Weise den Übergang vom Jugendlichen zum Mann.
Eine Ehefrau, ein Herzogtum und der unaufhaltsame Aufstieg zum König: Wilhelm hatte allen Grund zu feiern – und das tat er auch. Als das schwache Licht des Novembernachmittags einer klaren, kalten Nacht wich, blieb das Weiße Schiff im Hafen von Barfleur vertäut, und der Wein floss reichlich.
Es war ein stattliches Schiff – mit Platz für mehrere Hundert Passagiere, einer Besatzung von fünfzig Mann und einem großen Frachtraum. Das war wohl durchaus beachtlich, der normannische Chronist Ordericus Vitalis bezeichnete es als «hervorragend ausgerüstet und bereit für den königlichen Dienst». Das Weiße Schiff war lang und tiefgängig, hatte erhöhte Aufbauten und war mit Schnitzereien an Bug und Heck verziert, es besaß einen hohen Mast in der Mitte, ein rechteckiges Segel und Öffnungen in der Bordwand für die Ruder auf beiden Seiten. Das Steuerruder befand sich nicht in der Mitte des Hecks, sondern seitlich; der Kapitän musste sich daher sehr gut mit den örtlichen Gegebenheiten auskennen und zur Hafenseite hin blind navigieren.
Ein günstiger Wind wehte aus südlicher Richtung und versprach eine schnelle Überfahrt. Die Besatzung und die Passagiere auf Wilhelms Schiff verabschiedeten am Abend das Schiff des Königs. Eigentlich sollten sie ihm folgen, doch das Zechgelage an Bord war so unterhaltsam, dass das Weiße Schiff noch lange nach Einbruch der Dunkelheit im Hafen blieb. Als Priester eintrafen und das Schiff mit Weihwasser segnen wollten, wurden sie unter Johlen und Gelächter weggeschickt.
Im Laufe des Abends wurde immer ausgelassener gefeiert und auch geprahlt. Das Weiße Schiff hatte kaum Fracht und verfügte über fünfzig Ruderer. Der angetrunkene Kapitän behauptete, sein Schiff sei mit geblähtem Segel und kräftigem Rudereinsatz so schnell, dass es den Vorsprung von König Heinrichs Schiff leicht aufholen könne und England noch vor dem König erreichen werde.
An Bord machten sich nun einige Passagiere Gedanken, dass eine Überfahrt bei hoher Geschwindigkeit mit einer betrunkenen Besatzung nicht unbedingt die sicherste Art war, den Ärmelkanal zu überqueren. Aethelings Cousin Stephan von Blois erklärte, er habe eine Magenverstimmung, ging von Bord und suchte sich ein anderes Schiff, das ihn nach Hause bringen sollte. Einige andere schlossen sich ihm an, beunruhigt über das ausgelassene und eigensinnige Verhalten der königlichen Gesellschaft und der Besatzung. Doch allen Bedenken zum Trotz rüsteten die betrunkenen Seeleute das Schiff für die Abfahrt.
Gegen Mitternacht lichtete das Weiße Schiff in einer klaren Neumondnacht die Anker und nahm Kurs auf England. Es flog «geschwinder als ein geflügelter Pfeil und sauste über die gekräuselte Oberfläche der Tiefe», schrieb William von Malmesbury. Doch das Schiff kam nicht sehr weit. Tatsächlich kam es nicht einmal über den Hafen von Barfleur hinaus.
Ob es nun an der ausgelassenen Feier an Bord lag, an einem simplen Navigationsfehler oder am Zorn des Allmächtigen, weil man sein Weihwasser zurückgewiesen hatte, jedenfalls rammte das Weiße Schiff nur wenige Minuten nach dem Ablegen einen scharfen Felsen, bekannt als Quillebeuf, der am Ausgang des Hafens aus dem Wasser ragt und dort auch heute noch zu sehen ist. Die Kollision riss ein fatales Loch in den hölzernen Bug. Zersplitterte Planken wurden ins Meer geschleudert. Eiskaltes Wasser drang ins Schiff.
An Bord hatten alle nur einen Gedanken: Wilhelm zu retten. Während die Besatzung versuchte, das eindringende Wasser aus dem Schiff zu schöpfen, wurde ein Rettungsboot zu Wasser gelassen. Aetheling stieg zusammen mit einigen Begleitern und Ruderern ins Boot, das ihn ans rettende Ufer von Barfleur bringen sollte.
Schreckliche Szenen müssen sich abgespielt haben: Das Gebrüll der betrunkenen Besatzung, die sich mühte, das havarierte Schiff zu retten, die Schreie der Passagiere, die durch die Wucht des Aufpralls ins Meer geschleudert worden waren. Die prächtigen Gewänder der adligen Männer und Frauen saugten sich schnell mit Wasser voll und wurden schwer, es war unmöglich, das rettende Ufer zu erreichen oder sich auch nur über Wasser zu halten. Über den Wellen hallten die Schreie der Ertrinkenden.
Als das kleine Rettungsboot den Hafen ansteuerte, hörte Wilhelm unter den panischen Rufen die Stimme seiner älteren Halbschwester Matilda heraus. Sie schrie um ihr Leben – im sicheren Wissen, in der Kälte und Dunkelheit zu ertrinken. Das war mehr, als Aetheling ertragen konnte. Er befahl den Männern im Boot, umzukehren und Matilda zu retten.
Eine fatale Entscheidung. Die Gräfin war nicht die Einzige, die ums Überleben kämpfte. Auch andere, die im eiskalten Wasser paddelten, sahen das Rettungsboot und versuchten, an Bord zu klettern und sich in Sicherheit zu bringen, was aber nur bewirkte, dass auch das Rettungsboot kenterte und sank. Matilda wurde nicht gerettet, und auch Wilhelm Aetheling ertrank, der Herzog der Normandie und designierte König von England. Der Chronist Heinrich von Huntingdon schrieb dazu: «Anstatt eine goldene Krone zu tragen, wurde sein Kopf von den Felsen des Meeres zertrümmert.»
Nur ein Einziger überlebte den Untergang des Weißen Schiffs, ein Metzger aus Rouen, der in Barfleur an Bord gegangen war, um ausstehende Schulden einzutreiben, und von den Feiernden einfach mitgenommen wurde. Als das Schiff sank, wickelte er sich zum Schutz gegen die Kälte in Widderfelle und klammerte sich die ganze Nacht lang an ein Wrackteil. Am Morgen wankte er klatschnass ans Ufer und erzählte seine Geschichte. Später wurden mit der Flut einige Leichen ans Ufer gespült, doch die meisten wurden nie gefunden.
Es dauerte eine Weile, bis die Nachricht vom Untergang des Schiffes nach England gelangte. Heinrichs Schiff, bemannt mit einer nüchternen Besatzung und umsichtig gesteuert von einem aufmerksamen Kapitän, erreichte unbeschadet die englische Küste, wo sich der König und sein Haushalt den Vorbereitungen auf Weihnachten widmeten. Als die schreckliche Nachricht aus Barfleur bekannt wurde, herrschte am Königshof blankes Entsetzen. Heinrich wurde zunächst in Unkenntnis gelassen. Adlige wie Amtsträger fragten sich bestürzt, wer dem König sagen sollte, dass drei seiner Kinder, darunter sein geliebter Erbe, «den Ungeheuern der Tiefe zum Fraße dienten», wie es William von Malmesbury formulierte.
Schließlich wurde ein kleiner Junge zu Heinrich geschickt, um die Nachricht zu überbringen. Er warf sich dem König zu Füßen und berichtete weinend von der Tragödie. Laut Ordericus Vitalis sank Heinrich I. «zu Boden, überwältigt von Kummer». Es heißt, er habe nie wieder gelächelt.
Der Untergang des Weißen Schiffs löschte eine ganze Generation der anglonormannischen Elite nahezu komplett aus. Der Tod von Wilhelm Aetheling – und das glückliche Überleben seines Cousins Stephan von Blois – sollte die gesamte Politik des westlichen Europa drei Jahrzehnte lang durcheinanderwirbeln.
Der Verlust seines Erben war nicht nur eine persönliche Tragödie für Heinrich I. Wilhelms Tod bedeutete für die normannische Dynastie eine politische Katastrophe. Oder wie Heinrich von Huntingdon schrieb: Wilhelms «sichere Aussicht auf den künftigen Königsthron war von größerer Bedeutung als das aktuelle Königtum seines Vaters». Durch Wilhelms Heirat war der Friede zwischen der Normandie und Anjou gewährleistet. Mit Wilhelms Huldigung von Ludwig VI. befand sich das gesamte anglonormannische Reich im Frieden mit Frankreich. Sämtliche Pläne und Bemühungen Heinrichs zur Sicherung seiner Länder und seines Vermächtnisses hatten auf dem Überleben seines Sohnes gegründet.
Ohne ihn war alles vergebens.