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Peter Schäfer

KURZE GESCHICHTE
DES ANTISEMITISMUS

C.H.Beck

ZUM BUCH

Antisemitismus ist wieder sichtbar, teils offen, teils versteckt hinter «unbedachten» Äußerungen und Israelkritik. Doch wo beginnt der Antisemitismus, und wie neu ist, was wir heute erleben? Der international renommierte Judaist Peter Schäfer beschreibt klar und konzise, wie sich seit der Antike antisemitische Stereotype verbreiteten, zu Verfolgung und Vernichtung führten und auch nach der Schoah virulent sind. Sein umfassender, souveräner Überblick macht eindringlich deutlich, warum der Antisemitismus so alt und zugleich so aktuell ist.

Schon in der vorchristlichen Antike gab es Judenhass, Ghettos und Pogrome, doch erst die neutestamentlichen Schriften schufen mit ihrer Gegnerschaft zum Judentum die Voraussetzungen für Ritualmordlegenden und Verfolgungen im christlichen Mittelalter. Luther rief zur Auslöschung der «Teufelskinder» auf, die Aufklärer fanden das Judentum unvernünftig, Wissenschaftler begründeten den Judenhass rassistisch, und allzu viele waren bereit, sich an der «Endlösung der Judenfrage» zu beteiligen oder wegzuschauen. Man hätte meinen können, dass der Schock des Massenmordes heilsam war, doch rechte wie linke Ideologien und Antizionismus dringen seit Jahren mit antisemitischem Gepäck in die Mitte der Gesellschaft vor und bereiten den Boden für neue Gewalt. Peter Schäfers erhellendes Buch ist Pflichtlektüre für alle, die besser verstehen wollen, warum der Antisemitismus so alt und zugleich so aktuell ist und was er für Juden in der Nachbarschaft, in Israel und überall auf der Welt bedeutet.

ÜBER DEN AUTOR

Peter Schäfer, Professor em. für Judaistik, hat an der Freien Universität Berlin (1983–2008) und der Princeton University gelehrt (1998–2013) und war bis 2019 Direktor des Jüdischen Museums Berlin. Er wurde u.a. mit dem Leibnizpreis der DFG, dem amerikanischen Mellon Distinguished Achievement Award, dem Dr. Leopold Lucas-Preis der Universität Tübingen und dem Reuchlinpreis der Stadt Pforzheim ausgezeichnet. Bei C.H.Beck erschien von ihm bereits «Zwei Götter im Himmel» (2017).

INHALT

VORBEMERKUNG

1: GRIECHISCH-RÖMISCHE ANTIKE – Die Diffamierung der Juden als Menschen- und Fremdenfeinde

Identitätsstiftende Merkmale des jüdischen Ethnos

Persien und das Buch Esther: Ein Plan zur Ausrottung aller Juden

Ägypten: Eine Gegenerzählung vom Exodus

Syrien-Palästina: Eselskult und Menschenopfer

Rom: Hass und widerwillige Bewunderung

Alexandria: Das erste Pogrom der Geschichte

Tacitus: Die Summe des antiken Judenhasses

2: DAS NEUE TESTAMENT – Von innerjüdischer Polemik zu christlichem Antisemitismus

Paulus: Angriff auf das traditionelle Judentum

Das Matthäusevangelium: Die Schuld des ganzen jüdischen Volkes

Das Johannesevangelium: Die Juden als Söhne der Finsternis

3: DIE CHRISTLICHE SPÄTANTIKE – Der jüdische Stachel im Fleische des Christentums

Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels und die Folgen

«Adversus Judaeos»: Die christliche Umdeutung der Hebräischen Bibel

Justin: Dialog mit dem Juden Trypho

Die Göttlichkeit Jesu und seine Menschwerdung

Jüdische Polemik gegen das Christentum

Arius und das Nizänische Glaubensbekenntnis

Chrysostomus: Hasspredigten gegen die Juden

Ambrosius: Die Kirche im Kampf gegen die Juden

Augustinus: Die Juden als «Rest Israels»

Die antijüdische Gesetzgebung der Spätantike

4: DER ISLAM – Juden und Christen als Schutzbefohlene

Muhammad und die Juden: Allianzen und Kriege

Der Koran: Die Religion Abrahams und ihre Entstellungen

Die Ausbreitung des Islam: Jerusalem

Die rechtliche Stellung der Juden

5: DAS CHRISTLICHE MITTELALTER – Schutz, Ausbeutung und Verfolgung

Kirchliche Judengesetzgebung: Vom Schutz zur Unterdrückung

Weltliches Recht: Die Juden als Besitz des Herrschers

Angst vor selbstbewussten Juden

Kreuzzüge und Judenverfolgungen

Die Legende vom jüdischen Ritualmord

Die Pariser Talmudverbrennung von 1242

Der Vorwurf des Hostienfrevels

Das Motiv der Judensau

Pest und Pogrome

Vertreibungen aus West- und Mitteleuropa

6: FRÜHE NEUZEIT – Zwischen Hebraismus und Antisemitismus

Johannes Reuchlin: Die neue Wissenschaft und das Recht der Juden

Martin Luther: Das wahre christliche und das teuflische Judentum

Der späte Luther: Hass und Aufruf zur Vernichtung

Christlicher Hebraismus und Philosemitismus

7: DAS ZEITALTER VON AUFKLÄRUNG, EMANZIPATION UND NATIONALISMUS – Gesellschaftlich akzeptierter Antisemitismus

Aufklärung: Das Judentum als Inbegriff der Intoleranz

Anfänge der Emanzipation

Emanzipation und Nationalismus

Das Kaiserreich als antisemitische Konsensgesellschaft

Juden in Wirtschaft und Gesellschaft des Kaiserreichs

Rassentheorie als Leitdisziplin

Politische Parteien und Verbände im Deutschen Reich

Das antisemitische Europa: Von der Dreyfus-Affäre zu den «Protokollen der Weisen von Zion»

8: VON DEN WELTKRIEGEN BIS ZUR GEGENWART – Vernichtungsantisemitismus und die Wiederkehr des Verdrängten

Weimarer Republik: Im Vorhof zur Hölle

NSDAP: Der Kampf gegen die Juden als Programm

Das «Dritte Reich»: Vom «Judenboykott» bis zur «Kristallnacht»

Krieg und Schoah

Nach der Schoah: Kontinuität und Verdrängung

Aufklärung über die Schoah und die Wiederkehr alter Muster

Kritik an Israel – und wo sie antisemitisch wird

Zurück in die Mitte der Gesellschaft

Islamischer Antisemitismus

Israelboykott: Die Diskussion um den BDS

AUSBLICK

ANHANG

ANMERKUNGEN

Vorbemerkung

1 Griechisch-römische Antike

2 Das Neue Testament

3 Die christliche Spätantike

4 Der Islam

5 Das christliche Mittelalter

6 Frühe Neuzeit

7 Das Zeitalter von Aufklärung, Emanzipation und Nationalismus

8 Von den Weltkriegen bis zur Gegenwart

LITERATUR

PERSONEN- UND ORTSREGISTER

VORBEMERKUNG

Eine kurze Geschichte des Antisemitismus zu schreiben, ist ein kühnes Unterfangen, denn der Antisemitismus hat eine überaus lange Geschichte: Er beginnt in der vorchristlichen Antike und reicht bis in die allerneueste Gegenwart. Er ist, um ein berühmtes Diktum des Historikers Theodor Mommsen abzuwandeln, so alt wie die jüdische Diaspora selbst, das heißt wie die Begegnung von Juden und Nichtjuden in den verschiedenen kulturellen Zentren des antiken Vorderen Orients. Mit anderen Worten: Antisemitismus beginnt in dem Augenblick, in dem die Juden als eine ethnische Gruppe mit eigenen religiösen und kulturellen Gewohnheiten, Ansprüchen, Gebräuchen wahrgenommen werden.

Mit dieser Aussage treffe ich mehrere weitreichende Festlegungen für das Konzept dieses Buches, die ich als bewusste Vorentscheidungen nur kurz begründen werde. Die wichtigste davon ist die Verwendung des Terminus «Antisemitismus». Ich benutze den Begriff für alle ausgeprägten Formen von Judenhass und Judenfeindschaft von den Anfängen bis zur Gegenwart und im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass er anachronistisch ist und erst im 19. Jahrhundert geprägt wurde, um die rassistische Theorie von einem «ewigen Kampf» zwischen der «arischen» und der «semitischen Rasse» zu untermauern. Indem ich ihn für alle Formen des Antisemitismus durch die Geschichte hindurch verwende, gehe ich davon aus, dass diese zwar keineswegs identisch sind, dass sie aber Elemente enthalten, die es erlauben, sie unter einem gemeinsamen Begriff zu fassen. Ihre sowohl unterschiedlichen wie auch verbindenden Aspekte herauszuarbeiten, wird eine wesentliche Aufgabe dieses Buches sein.

Damit entscheide ich mich auch gegen eine Trennung von «Antijudaismus» als der spezifisch christlichen Ausprägung des Antisemitismus und «Antisemitismus» als seiner völkisch-rassistischen modernen Spielart. Weder glaube ich, dass diese beiden Aspekte säuberlich zu trennen sind – ganz im Gegenteil, sie überschneiden und überlappen sich ständig –, noch teile ich die Auffassung, dass das eine (Antijudaismus) irgendwann von dem anderen (Antisemitismus) abgelöst wird. Diese Unterscheidung verbietet sich schon deswegen, weil sie den vorchristlichen Antisemitismus komplett ausblendet. Ich werde beide Termini gleichberechtigt nebeneinander verwenden, allenfalls mit einer stärker religiösen Akzentuierung beim Antijudaismus und einer stärker gesellschaftlichen beim Antisemitismus. Manchmal verwende ich auch beide Begriffe gleichzeitig, wenn ich über den quellenbezogenen Befund (Antijudaismus) hinaus den Blick auch auf das Gesamtbild (Antisemitismus) lenken möchte.

Ich verzichte auch darauf, einen eigenen Begriff zu erfinden. Anhänger einer puristischen Terminologie mögen bei der Lektüre des Buches das Wort «Antisemitismus» durchgehend mit Anführungszeichen versehen. Und schließlich halte ich nichts davon, wie dies heute manchmal gefordert wird, den Begriff Antisemitismus aus der wissenschaftlichen Diskussion zu verbannen: Probleme, die ein Begriff zu erfassen sucht, erledigen sich nicht dadurch, dass man den Begriff verbietet. Dies ist zwar ein bekannter Kunstgriff in umstrittenen Bereichen der Forschung (ein anderes Beispiel ist der Begriff «Magie»), aber letztlich ein unfruchtbares Glasperlenspiel.

Dies bedeutet konkret: Mit dem Beginn des Antisemitismus in der vorchristlichen Antike lehne ich ausdrücklich die These ab, dass es das Christentum mit seinem Vorwurf des Messias- und Gottesmordes war, das den Antisemitismus in die Welt gebracht hat. Ich halte diese These für eine Verkürzung des historischen Sachverhalts, die weder dem Christentum noch dem Antisemitismus gerecht wird. Ebenso wenig schließe ich mich den Forschern an, die den «eigentlichen» Antisemitismus erst im Mittelalter mit der Dämonisierung der Juden und den Anklagen der Blutschuld, der Hostienschändung, des Ritualmords und der Brunnenvergiftung beginnen lassen wollen. Noch viel weniger bin ich der Auffassung, dass es erst die rassistische Variante der Neuzeit war, die es erlaubt, von Antisemitismus zu sprechen. Antisemitismus ist dies alles – und vieles mehr. Deshalb sind auch alle Versuche von vorneherein zum Scheitern verurteilt, das Phänomen des Antisemitismus in die Zwangsjacke einer allgemeingültigen Definition zu zwingen; die seriöse wissenschaftliche Erforschung des Antisemitismus hat gut daran getan, eine solche nicht zu forcieren.

Wie problematisch derartige Versuche sind, zeigt die im Mai 2016 verabschiedete Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die im September 2017 von der deutschen Bundesregierung übernommen wurde:[1]

Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die im Hass auf Juden Ausdruck finden kann. Rhetorische und physische Manifestationen von Antisemitismus richten sich gegen jüdische oder nicht-jüdische Individuen und/oder ihr Eigentum, gegen Institutionen jüdischer Gemeinden und religiöse Einrichtungen.

Diese ausdrücklich als Arbeitsdefinition bezeichnete Definition ist merkwürdig blass und unbestimmt. Was heißt hier «kann»? Gibt es noch andere Wahrnehmungen von Juden, die unter die Kategorie Antisemitismus fallen, sich aber nicht im Hass auf Juden ausdrücken? Ebenso wird nicht genauer erläutert, was mit der Einbeziehung «nichtjüdische[r] Individuen» in die Definition gemeint ist. Hilfreicher ist die an die Arbeitsdefinition angehängte Liste von Beispielen, die eklatante Manifestationen des Antisemitismus illustrieren sollen (wobei aber auch wichtige fehlen oder unterbewertet werden).

Ich möchte daher festhalten, gegen alle Versuche einer vereinheitlichenden Definition: Antisemitismus ist ein variables, vielschichtiges und offenes System, das sich im Laufe seiner Geschichte ständig mit neuen Facetten anreichert und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen immer wieder neu erfindet. «Bewährte» ältere Elemente bleiben dabei als Konstante erhalten und werden durch neu hinzukommende Elemente nicht etwa relativiert, sondern im Gegenteil intensiviert. Das ideologische System des Antisemitismus entwickelt sich dadurch zu einer potenten Kraftmaschine, deren Effizienz und Gefährlichkeit im Laufe der Zeit selten ab- und meistens zunimmt. Diese Entwicklung vollzieht sich nicht in kleinen und kontinuierlichen Schritten, sondern meist in dramatischen Sprüngen. Der Betrachter des Phänomens Antisemitismus braucht umfassende historische Kenntnisse über lange Zeiträume sowie die Fähigkeit, einen multiperspektivischen und nüchternen Blick auf ein emotional hochaufgeladenes Thema zu werfen.

Mit diesem breitgefächerten Ansatz, der historische Veränderungen und Anreicherungen berücksichtigt, votiere ich schließlich gegen die beiden vorherrschenden Erklärungsmodelle des Antisemitismus, die man als «substantialistisch» oder «essentialistisch» und «funktionalistisch» bezeichnet hat. Das substantialistische/essentialistische Modell deutet Antisemitismus gewissermaßen als ein «natürliches» und konstantes Phänomen der Gesellschaften, in denen Juden lebten, weitgehend unabhängig von den jeweils unterschiedlichen historischen Kontexten. Es ist ein Modell, das auf ein im Kern immer identisches «Wesen des Judentums» rekurriert, dem ein monolithischer, in seinem Wesen immer identischer Antisemitismus gegenübersteht. Das funktionalistische Modell stellt dagegen die sich ständig wandelnden historischen Umstände in den Mittelpunkt, aus denen heraus sich variable und immer wieder neue Merkmale des Antisemitismus ergeben.

Beide Modelle hat es in ihrer reinen Form wohl nie gegeben, und beide sind auch methodisch hochproblematisch. Ein ausschließlich funktionalistischer Ansatz läuft Gefahr, seinen Gegenstand in sich ständig ändernde politische und soziale Relationen aufzulösen und ihn damit letztendlich wegzuerklären. Es ist daher auch kein Zufall, dass die Vertreter des funktionalistischen Modells lieber über Politik als über Religion sprechen. Ein exklusiv substantialistischer Ansatz dagegen, der die Ursache des Antisemitismus im innersten Wesen des Judentums sieht, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, letztlich den Juden selbst die Schuld für das zu geben, was ihnen widerfahren ist. Da «Funktion» und «Wesen» nicht säuberlich voneinander zu trennen sind, sondern immer nur in ihrem Bezug aufeinander greifbar werden, kann nur eine Kombination beider Modelle zu historisch abgesicherten Ergebnissen führen.

Dabei liegt es mir aber völlig fern, diese beiden Modelle bzw. die Möglichkeiten ihrer Kombination anhand der geschichtlichen Entwicklung des Antisemitismus zu verifizieren und zu überprüfen, um dann zu einer Theorie des Antisemitismus zu gelangen. Sie sind nichts weiter als theoretische Hilfskonstruktionen, die dazu beitragen, den Blick für historische Prozesse zu schärfen, und in ihrem spannungsreichen Verhältnis zueinander uns davor bewahren (können), einseitig die eine oder andere Richtung zu favorisieren.

Mein Hauptanliegen bei der Planung und Strukturierung des Buches war, so weit wie eben möglich die zur Verfügung stehenden Quellen sprechen zu lassen. Dabei bin ich mir selbstverständlich bewusst, dass immer ich als Autor derjenige bin, der die Quellen ausgewählt und dadurch die entscheidenden Akzente gesetzt hat – Quellen sprechen nie für sich, sondern wirken durch ihre Auswahl und ihre Interpretation. Diese methodische Banalität sei durch den ebenso selbstverständlichen Hinweis ergänzt, dass die Quellenlage sich für die einzelnen behandelten Epochen sehr unterschiedlich gestaltet: Während für die Antike und Spätantike die Quellen spärlich sind, sprudeln sie im Mittelalter und vor allem dann in der Neuzeit in einer Quantität, die die Auswahl immer schwieriger werden lässt. Hier mussten oft aus der Fülle des Materials Entscheidungen getroffen werden, über die man im Einzelfall sicher diskutieren kann.

Das größte Problem neben der Bewältigung der schier unermesslichen Materialfülle war die Eingrenzung des Themas, und zwar sowohl inhaltlich als auch geographisch. Das Buch erhebt den Anspruch, einen Gesamtüberblick über die Entstehung und Entwicklung des Antisemitismus in seinen wichtigsten Manifestationen und Formen von den Anfängen bis zur Gegenwart zu geben. Dabei wird ein besonderer Akzent auf die Grundlegung des Antisemitismus in der Antike gelegt, und zwar sowohl in der klassischen vorchristlichen Antike als auch in der christlichen Theologie des Neuen Testaments und der frühen Kirche in der Spätantike. In dieser Schwerpunktsetzung unterscheidet sich meine Darstellung von den meisten vergleichbaren Unternehmungen, in denen die griechisch-römische Antike oft nur am Rande vorkommt und die christlich-theologische Spielart eher als Sonderfall behandelt wird. Dies bedeutet auch, dass der Religion bzw. christlichen Theologie insgesamt ein viel größeres Gewicht eingeräumt wird, als sowohl christliche Theologen wie auch Neuzeithistoriker – in einer bemerkenswerten Allianz, aber aus unterschiedlichen Gründen – ihr zugestehen wollen. Während den Theologen immer noch und allzu oft daran gelegen ist, die Bedeutung der christlichen Manifestationen des Antisemitismus herunterzuspielen und die Kirchen damit zu exkulpieren, ziehen sich die Neuzeithistoriker gerne auf das Argument zurück, dass der Einfluss der Religion seit der Aufklärung immer weiter zurückgegangen sei und heute so gut wie keine Rolle mehr spiele. Dabei übersehen sie, dass für die Bewertung des religiösen Elements im Antisemitismus nicht der bewusste Rekurs auf die Religion entscheidend ist, sondern das Weiterwirken – bewusst oder unbewusst – der religiösen Stereotype und Vorurteile, die sich im Laufe der Zeit im Christentum herausgebildet hatten. Dieses Weiterwirken ist völlig unabhängig davon, wie christlich oder säkular sich eine Gesellschaft versteht. Mit dieser Hervorhebung des Anteils, den das Christentum an der Entwicklung des Antisemitismus hatte und hat, geht es mir nicht darum, das Christentum an den Pranger zu stellen, sondern deutlich zu machen, dass in der kumulierten Präsenz aller Facetten des Antisemitismus gerade auch seine christlich-religiöse Manifestation bis heute weiterwirkt und nie überwunden wurde.

Zu den schwierigsten Überlegungen bei umfassenden historischen Überblicken, die sich nicht als erschöpfende Information, sondern als Diskussionsbeiträge verstehen, gehört die Entscheidung, was der Autor weglässt. Diese Entscheidung muss ständig getroffen werden und kann niemals alle Leser in gleicher Weise zufriedenstellen. Ohne darauf im Einzelnen einzugehen, sei hier nur hervorgehoben, dass ich die jüdische Auseinandersetzung mit dem Christentum im Mittelalter und insbesondere auch die jüdische Antwort auf den Antisemitismus in der Neuzeit weitgehend ausgeklammert habe. Eine wichtige Ausnahme ist die jüdische polemische Streitschrift Toledot Jeschu («Lebensgeschichte Jesu»), und dies aus folgendem Grunde: Die Toledot Jeschu entstanden in der Spätantike nicht als Antwort auf antisemitische christliche Polemik, sondern sind Teil der direkten Auseinandersetzung zwischen dem entstehenden Christentum und dem sich neu formierenden rabbinischen Judentum. Sie wurden im Laufe der Jahrhunderte immer weiter «angereichert» und dann im Mittelalter, als sie durch Übersetzungen ins Lateinische und später auch Deutsche im Christentum bekannt wurden, zu einem wichtigen Stichwortgeber für christliche antisemitische Angriffe auf das Judentum.

Was die geographische Eingrenzung betrifft, verbot die Schwerpunktsetzung in der Antike und auch die Einbeziehung des klassischen Islam jede Begrenzung des Themas auf Europa oder gar nur auf Deutschland. Der Islam ist aus zwei Gründen ein integraler Bestandteil meines Überblicks: Einmal ist er in seinen Anfängen ohnehin in der Welt der christlichen und jüdischen Spätantike verwurzelt, und zum anderen spielt er in der gegenwärtigen Diskussion des Antisemitismus eine so herausragende Rolle, dass er gerade auch in seiner klassischen Form keinesfalls übergangen werden kann. Ich beginne also mit einem geographisch sehr weit gefassten Raum, begrenze diesen aber zunehmend auf Europa und dann, vor allem in der Neuzeit, auf Deutschland im Sinne der Staaten des Deutschen Bundes, des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und schließlich des NS-Staates. Dabei versuche ich aber, die benachbarten Staaten (Frankreich, Österreich-Ungarn, Polen, Russland) so weit wie möglich einzubeziehen, zumal dort ähnliche Prozesse, aber mit unterschiedlichen Akzentuierungen, zu beobachten sind. Die extremste Manifestation des Antisemitismus, der industriell organisierte Massenmord als Staatsdoktrin, findet sich nur in Deutschland.

Das Buch ist als Sachbuch für ein breiteres Publikum konzipiert und erhebt nicht den Anspruch, ein neuer und eigenständiger Forschungsbeitrag zu sein; meine eigene Forschung zum Thema konzentriert sich auf die Antike/Spätantike und das Mittelalter. Es ging mir ausschließlich darum, eine pointierte – und das bedeutet auch: meine – Sicht des Antisemitismus in seiner geschichtlichen Entfaltung vorzulegen. Die Notwendigkeit und Aktualität eines solchen Buches bedarf in der gegenwärtigen Situation – ich schreibe dies am 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz – keiner besonderen Begründung. Eine Auseinandersetzung mit der inzwischen uferlosen Sekundärliteratur findet grundsätzlich nicht statt; Kenner der Literatur werden aber in Einzelfällen bemerken, dass ich mich für oder gegen eine bestimmte Position in der Forschung äußere. Die Anmerkungen beschränken sich daher im Wesentlichen auf Quellennachweise; im Literaturverzeichnis wird darüber hinaus ausgewählte Sekundärliteratur aufgeführt, die das Weiterstudium erleichtern kann. Diese Auswahl ist ausdrücklich subjektiv und verfolgt nicht das Ziel, repräsentativ oder gar umfassend zu sein. Ich hebe aber gerne einige Forschungsbeiträge und Autoren hervor (genaue Angaben im Literaturverzeichnis), auf die ich mich besonders gestützt habe: David Nirenbergs umfassende Zusammenschau in seinem Opus magnum Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens, vor allem in den Kapiteln über das Neue Testament, die Alte Kirche und das Mittelalter; Glen Bowersock für die historische Einordnung des Islam; Angelika Neuwirth für den Koran; Mark Cohen für den Vergleich des Antisemitismus im Islam und im Christentum; Thomas Kaufmann für Luthers Antisemitismus; Hermann Greive für den modernen Antisemitismus in Deutschland; Friedrich Battenberg als unerschöpfliche Quelle für die Geschichte der Juden Europas im Mittelalter und in der Neuzeit; und Stefanie Schüler-Springorum, die mir die Einsichtnahme in mehrere ihrer noch unveröffentlichten Arbeiten zum modernen Antisemitismus ermöglicht hat.

Mehrere Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Fachgebieten haben das Manuskript des Buches in Teilen oder sogar ganz gelesen und mit ihrer Kritik, ihren Einwänden, ihren hilfreichen Verbesserungen, aber auch mit ihrer Ermunterung nicht gespart. Diese Erfahrung war für mich in einer nicht leichten Zeit eine große Hilfe. Klaus Haacker, Klaus Herrmann, Christoph Markschies, Jürgen Richert und Stefanie Schüler-Springorum haben mir erlaubt, ihre Namen zu nennen, und ich danke ihnen von ganzem Herzen für ihre freundschaftliche und großzügige Unterstützung. Meine kritischste Leserin und Diskussionspartnerin war, gerade bei diesem Thema, meine Frau; vieles von dem, was ich hier formuliert habe, geht auf unsere langen und intensiven Diskussionen zurück. Da sie sich aber das Ritual einer öffentlichen Danksagung verbittet – mit dem schwer zu widerlegenden Argument, dass wir in unserem Alter auch dieses Stadium hinter uns gelassen haben –, belasse ich es bei dieser Bemerkung. Danken möchte ich aber ausdrücklich noch Ulrich Nolte vom Verlag C.H.Beck, der mich ermuntert hat, dieses Buch zu schreiben, und dessen sorgfältige Lektorierung des Manuskriptes eine große Hilfe war.

1

GRIECHISCH-RÖMISCHE ANTIKE

Die Diffamierung der Juden als Menschen-
und Fremdenfeinde

Es besteht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass das Judentum, so wir wie es kennen, erst im Babylonischen Exil im 6. Jahrhundert v. Chr. und in der unmittelbar folgenden nachexilischen Zeit seine bis heute gültige Gestalt gewonnen hat. Der persische König Kyros erlaubte 538 v. Chr. den verbannten Israeliten die Rückkehr aus dem Exil. Die Zeit der persischen Oberherrschaft über die kleine jüdische Provinz Judäa (Jahud) am äußersten westlichen Rande des persischen Großreiches endete mit dem Sieg Alexanders des Großen über Darius III. im Jahr 333 v. Chr. Mit Alexander begann die lange Zeit der griechischen und dann der römischen Oberhoheit über das jüdische Territorium, die das Judentum der Antike über weite Strecken geprägt hat. Durch die Reichsteilung nach Alexanders Tod kam Judäa zunächst unter die Herrschaft der Ptolemäer in Ägypten, dann der Seleukiden in Syrien-Palästina. Die Makkabäeraufstände ab ca. 168/67 v. Chr. führten zur schrittweisen Loslösung der jüdischen Provinz aus dem seleukidischen Staatsverbund, die schließlich in der Errichtung eines selbständigen jüdischen Staates unter der Dynastie der Hasmonäer gipfelte. Als die Römer ihren Einfluss auf den Vorderen Orient ausdehnten und dem Seleukidenreich ein Ende bereiteten (64 v. Chr.), war es auch mit der relativen Selbständigkeit des jüdischen Staates vorbei. Die Römer installierten Herodes den Großen als ihren Vasallenkönig (37–4 v. Chr.) und gliederten Judäa bald nach dem Tod des Herodes als Provinz in das Römische Reich ein. Der erste jüdische Krieg besiegelte mit der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels durch den späteren Kaiser Titus (70 n. Chr.) das Schicksal des jüdischen Staates und des sich auf den Tempelkult gründenden Judentums. Mit dem Entstehen des Christentums und seiner rasanten Ausbreitung in der griechisch-römischen Antike betrat ein neuer Mitspieler die politische Bühne, der das Ende des römischen Imperiums einläuten und die weitere Entwicklung des Judentums in dramatischer Weise beeinflussen sollte.

Der Siegeszug des jungen Alexander eröffnete ein ganz neues Kapitel in der Geschichte des Vorderen Orients. Zwar waren die westlichen Gebiete des persischen Großreiches – darunter auch die Küstenebene des später «Palästina» genannten fruchtbaren Landstrichs zwischen Syrien im Norden und Ägypten im Süden – wirtschaftlich und kulturell schon lange nach Griechenland hin orientiert, doch wurden sie nun auch militärisch und politisch in die umfassende Ökumene des neuen hellenistischen Großreiches integriert. Auch das kleine und politisch unbedeutende Judäa wurde Teil dieser Ökumene, die sich als Zentrum und Speerspitze der zivilisierten Welt verstand. Wer außerhalb dieser Zivilisation stand, die durch einen einheitlichen Wirtschaftsraum, gemeinsame Werte, gemeinsame religiöse Grundüberzeugungen und gemeinsame kulturelle Errungenschaften geprägt war, und ihr auch nicht durch Eroberung und Unterwerfung eingegliedert werden konnte, war ein verachteter Barbar.

Identitätsstiftende Merkmale des jüdischen Ethnos

Das Judentum, das durch die Eroberung Alexanders in diese weltumspannende hellenistische Ökumene eintrat, war – wie auch die anderen Völker des Vorderen Orients – ein Ethnos, also eine Stammes- und Volksgemeinschaft mit besonderen kulturellen, sprachlichen und religiösen Eigenheiten. Seine identitätsstiftenden Merkmale, die sich nach dem Babylonischen Exil herausgebildet hatten und als solche auch von der griechisch-römischen Umwelt wahrgenommen wurden, lassen sich kurz zusammenfassen:

Im Zentrum des jüdischen Selbstverständnisses steht seit der Rückkehr aus dem Exil die Torah – im engeren Sinne, die Fünf Bücher Mose der Hebräischen Bibel –, die Moses nach jüdischer Tradition auf dem Berg Sinai von Gott offenbart wurde. Die Torah ist das Religions- und Staatsgesetz, das alle Belange des jüdischen Volkes regelt. Es ist der normative, das heißt für alle Juden gültige Ausdruck der jüdischen Lebensweise in ihren religiösen und politischen Komponenten, das Gesetz des in Judäa lebenden Volkes, das ihm von Gott gegeben wurde und das es freiwillig angenommen hat. Die jüdischen Schriften der hellenistischen Zeit nennen die Torah daher auch «die väterlichen Gesetze» (ta patria nomima). Jeder Eingriff in diese väterlichen Gesetze gilt als ein Angriff auf den Kern und das Wesen des Judentums.

Eng verbunden mit der Torah als identitätsstiftendem Merkmal des Judentums ist die jüdische Gottesvorstellung. Die Zehn Gebote verkünden Gott als den Gott, der Israel aus Ägypten geführt hat und neben dem sie keine anderen Götter haben dürfen.[1] Das «Höre Israel» (Schema‘ Jisrael), das feierliche Gottesbekenntnis des Judentums, preist Gott als Israels einen und einzigen Gott, den Israel mit seinem ganzen Herzen, seiner ganzen Seele und seiner ganzen Kraft lieben soll.[2] Dieser Gott wird von seinem Volk in seinem einzigen Tempel in Jerusalem durch kultische Handlungen (Tieropfer) und Gebete verehrt. Er ist unsichtbar und braucht keinen Namen, der ihn von anderen Göttern unterscheidet; auch Abbilder von ihm gibt es nicht. Für die religiöse Kultur der Griechen und Römer war dieser Gott befremdlich. So vertraut der Tempelkult mit seinen Tieropfern ihnen war, so wenig konnten sie mit der Vorstellung eines einzigen, bild- und namenlosen und in seinem Wesen unbekannten Gottes anfangen. Ihr Götterpantheon kannte zwar die Idee eines obersten Gottes, aber es war gerade darauf angelegt, sich zu erweitern und auch die Götter anderer Völker zu integrieren. Dass die Juden sich dieser harmonisierenden Tendenz widersetzten, war von Anfang an ein Stein des Anstoßes.

Weitere Identitätsmerkmale, die seit der nachexilischen Zeit immer prominenter hervortraten, waren die Beschneidung, der Sabbat und das Verbot, Schweinefleisch zu essen. Von diesen dreien war die Beschneidung das folgenreichste ethnische Identitätsmerkmal, weil es physisch sichtbar und nur schwer rückgängig zu machen ist. Die Bibel verlangt von jedem männlichen Juden, beschnitten zu werden: «Ein Unbeschnittener, eine männliche Person, die am Fleisch ihrer Vorhaut nicht beschnitten ist, soll aus ihrem Stammesverband abgeschnitten/ausgemerzt werden (karet). Er hat meinen Bund gebrochen» (Genesis 17,14). Aber da die Beschneidung den Bund Gottes mit Abraham und dem aus ihm entstehenden Volke besiegelt, ist sie gleichzeitig auch ein religiöser Akt. Die Griechen (und später auch die Römer) missbilligten die Beschneidung, und es war eines der erklärten Ziele der jüdischen Hellenisten in Jerusalem, sie abzuschaffen. Da die athletischen Wettkämpfe im Stadion, eines der wichtigsten Symbole der griechischen Lebensweise, nackt ausgetragen wurden, propagierten die jüdischen Hellenisten sogar eine operative Prozedur, die darauf abzielte, die Vorhaut wiederherzustellen (in den griechischen Quellen epispasmos genannt). Zu den berüchtigten Gesetzen, die der seleukidische König Antiochus IV. gegen das traditionelle Judentum erließ, gehört daher auch an ganz prominenter Stelle das Verbot der Beschneidung (1. Makkabäer 1,48). Frauen, die ihre Söhne hatten beschneiden lassen, wurden öffentlich in der Stadt herumgeführt und dann mit ihren Kindern von der Stadtmauer gestürzt (2. Makkabäer 6,10). Im Gegenzug ließen die makkabäischen Rebellen, die sich gegen die Seleukiden und ihre «aufgeklärten» jüdischen Parteigänger erhoben, unbeschnittene Jungen zwangsweise beschneiden (1. Makkabäer 1,46).

Der Sabbat als Tag der Ruhe von jeder Arbeit geht nach der Hebräischen Bibel auf den göttlichen Schöpfungsakt zurück. Als Gott die Erschaffung des Himmels und der Erde abgeschlossen hatte, ruhte er am siebten Tag: «Am siebten Tag vollendete Gott das Werk, das er gemacht hatte, und er ruhte am siebten Tag von dem ganzen Werk, das er gemacht hatte» (Genesis 2,2). Israel soll dem Beispiel seines Gottes folgen und ebenfalls am siebten Tag ruhen (Exodus 20,8–11); gleichzeitig soll der Sabbat Israel auch an den Auszug aus Ägypten erinnern (Deuteronomium 5,15). Und auch der Sabbat erreichte seinen vorläufigen Höhepunkt als ethnisches Identitätsmerkmal des Judentums in hellenistischer Zeit. Genau deswegen verbot Antiochus IV. auch die Feier des Sabbats und der anderen jüdischen Festtage (1. Makkabäer 1,45). Die makkabäischen Rebellen weigerten sich zunächst, am Sabbat zu kämpfen. Als die seleukidische Armee sich diesen taktischen Vorteil zunutze machte, lernten die Rebellen ihre Lektion und verzichteten auf den religiösen Grundsatz der Sabbatheiligung in Zeiten der Gefahr für Leib und Leben (1. Makkabäer 2,41).

Auch das Verbot, Schweinefleisch zu essen, ist biblisch verankert: Die Bibel erlaubt, nur die Großtiere zu essen, die sowohl gespaltene Hufe haben als auch Wiederkäuer sind. Da das Schwein zwar gespaltene Hufe hat, aber kein Wiederkäuer ist, gilt es als unrein (Deuteronomium 14,8; Levitikus 11,7). Auch das Tabu des Schweinefleischs wurde seit der hellenistischen Zeit verstärkt als jüdisches Identitätsmerkmal wahrgenommen. Folgerichtig verlangte Antiochus IV. zur konsequenten Durchsetzung seiner Hellenisierungspolitik von den Juden seines Reiches, dass sie nicht nur die Beschneidung und die Feier des Sabbats aufgaben, sondern in ihrem Tempel auch Schweine und andere unreine Tiere opferten (1. Makkabäer 1,47).

Mit diesen ihren Besonderheiten stellten die Juden sich in den Augen ihrer griechischen und römischen Zeitgenossen gegen den umfassenden Anspruch des Hellenismus, mit seiner Zivilisation – seinen kulturellen, wirtschaftlichen und religiösen Errungenschaften – die gesamte Welt (soweit sie durch Alexander erschlossen war) zu vertreten. Die Juden waren keine Barbaren an den Rändern und außerhalb der hellenistischen Ökumene, sondern sie lebten mittendrin – aber sie waren «anders», pochten auf dieses Anderssein und ließen sich nicht in den allgemein akzeptierten hellenistischen Lebens- und Wertekanon einbinden, ja sie behaupteten sogar, dass dieser dem ihrigen unterlegen sei. Damit stoßen zwei unterschiedliche Weltanschauungen aufeinander und treten in Konkurrenz zueinander, aber dies ist für sich genommen weder historisch ungewöhnlich noch ethisch verwerflich. Was an diesem Zusammentreffen erlaubt uns also, die Reaktion der einen (der Griechen und Römer) auf das Verhalten der anderen (der Juden) nicht nur als xenophobisch, sondern als antisemitisch zu bezeichnen?

Persien und das Buch Esther: Ein Plan zur Ausrottung aller Juden

Die Quellenlage[3] führt uns bis ins Ende der persischen Zeit zurück, unmittelbar zum Übergang in die von Alexander dem Großen ausgelöste Hellenisierung des Vorderen Orients. Das biblische Buch Esther, das in seiner ältesten hebräischen Fassung zwar in der Perserzeit spielt, wahrscheinlich aber erst um 300 v. Chr. verfasst wurde und daher schon den neuen hellenistischen Zeitgeist erkennen lässt, ist das älteste Dokument, das über das Thema Antisemitismus Aufschluss gibt. Es erzählt die Geschichte vom persischen König Artaxerxes und seiner jüdischen Gemahlin Esther, die ihr Volk vor dem Untergang rettet: Haman, der königliche Großwesir und Erzfeind der Juden, überredet seinen König zu einem Dekret, mit dem die Vernichtung aller Juden des Reiches verhängt werden soll. Nur die kluge Intervention Esthers und ihres Vertrauten Mordechai vereitelt den ruchlosen Plan Hamans.

In der Beschreibung der Juden, die Haman dem König vorträgt und mit der er das Edikt begründet, wird zum ersten Mal in unseren Quellen der Ton angeschlagen, mit dem die dünne und schwer fassbare Linie überschritten wird, die Judenfeindschaft in einem weiteren und diffusen Sinne von Antisemitismus trennt und der sich als Cantus firmus durch die ganze weitere Geschichte ziehen wird. In der hebräischen Fassung des Estherbuches heißt es noch relativ gemäßigt: «Es gibt ein einziges Volk, das über alle Provinzen deines Reiches verstreut lebt, aber sich von den anderen Völkern absondert. Seine Gesetze sind von denen aller anderen Völker verschieden; auch die Gesetze des Königs befolgen sie nicht» (Esther 3,8). Danach befolgen die Juden als einziges Volk im persischen Vielvölkerstaat nicht die Gesetze des Königs, sondern nur ihre eigenen Gesetze. Deswegen solle der König ein Dekret erlassen, wonach alle Juden in seinem Reich auszurotten sind (Esther 3,9: Das verwendete hebräische Wort le-‘abbedam bedeutet genau dies: ausrotten, vernichten). Die jüngere griechische Fassung des Estherbuches, die aber wahrscheinlich auf ältere hebräische Vorlagen zurückgeht, formuliert deutlich schärfer: Ein «bestimmtes heimtückisches Volk» habe sich unter alle Nationen der Erde gemischt; es stehe durch seine Gesetze «zu jedem anderen Volk in Gegensatz» und missachte ständig die Anordnungen der persischen Könige (Esther 3,13d). Deswegen ist der König zu der Ansicht gelangt, «dass dieses Volk als Einziges sich gegen alle Menschen ohne Ausnahme feindselig verhält, nach absonderlichen und befremdlichen Gesetzen lebt und sich gegen die Interessen unseres Landes stellt und die schlimmsten Verbrechen begeht» (Esther 3,13e). Alle Juden im persischen Reich müssen «samt ihren Frauen und Kindern ohne Gnade und Erbarmen durch das Schwert ihrer Feinde radikal ausgerottet werden» (Esther 3,13 f.).

Hier wird zum ersten Mal in unmissverständlicher Deutlichkeit und Schärfe eine radikale antisemitische, über bloße Judenfeindschaft hinausgehende Vernichtungspraxis begründet: Die Juden unterscheiden sich demnach durch ihre als absonderlich gebrandmarkten Gesetze von allen anderen Völkern und stellen ihre Gesetze über die ihres Landes. Damit beanspruchen sie nicht nur, ein eigenes Volk in der sie umgebenden Volksgemeinschaft zu sein, sondern stellen sich auch gegen alle anderen Menschen, das heißt, sie verlassen den Konsens, den die Menschheit im Interesse eines zivilisierten Zusammenlebens eingegangen ist. Dies bedeute in letzter Konsequenz, dass sie sich eines Verbrechens gegen die Menschheit und Menschlichkeit schuldig machten, das nicht durch individuelle Strafen abgegolten werden könne. Die einzige angemessene Antwort sei die Vernichtung aller Juden, einschließlich ihrer Frauen und Kinder.

Es fällt schwer, in diesen noch in der vorchristlichen Antike einem persischen König in den Mund gelegten Worten nicht ein Modell der monströsen Einstellung zu sehen, die die Geschichte der Juden durch die Jahrhunderte hindurch bis zu ihrem bisherigen Höhepunkt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begleiten sollte. Auf jeden Fall gilt, dass die hier vorgetragenen «Argumente» in ihrem Kern eine zentrale Rolle in der Einstellung der Griechen und Römer zu den Juden spielen werden.

Ägypten: Eine Gegenerzählung vom Exodus

Die ersten historisch verifizierbaren Zeugnisse für Antisemitismus in der griechisch-römischen Welt finden sich im ptolemäischen Ägypten, wo sich Ptolemaios, der General und Freund Alexanders des Großen, in den Wirren nach dessen Tod als Herrscher Ägyptens durchgesetzt hatte. Der Historiker und Geograph Hekataios von Abdera (um 300 v. Chr.) erwähnt in seiner Geschichte Ägyptens beiläufig auch die Juden und berichtet erstmals von einer ägyptischen Gegenerzählung zur biblischen Exodusgeschichte.[4] Während einer schlimmen Pest hätten die Ägypter alle fremdstämmigen Bevölkerungsgruppen aus dem Lande vertrieben, und die meisten von ihnen seien schließlich in dem Gebiet gelandet, das heute «Judäa» genannt wird. Dort hätten sie unter ihrem Anführer Moses eine Kolonie (Jerusalem) gegründet, in der sie nach ihren eigenen Gesetzen leben konnten: «Er [Moses] setzte Opfer und eine Lebensweise fest, die sich von denjenigen der anderen Völker unterscheiden; aufgrund der am eigenen Leibe erfahrenen Vertreibung führte er nämlich eine asoziale/menschenfeindliche (apanthrōpon) und fremdenfeindliche (misoxenon) Lebensweise ein.»[5] Hier wird das fundamentale Anderssein der Juden mit ihrer tief verwurzelten «Menschenfeindlichkeit» (apanthrōpia) und «Fremdenfeindlichkeit» (misoxenia) begründet; beide, zusammen mit dem Vorwurf der «Gottlosigkeit», sollten den weiteren Diskurs in der hellenistischen Zeit und dann auch weit darüber hinaus maßgeblich bestimmen.

Der ägyptische Priester Manetho, der etwas jüngere Zeitgenosse des Hekataios, überliefert in seinen verloren gegangenen Aegyptiaca sogar zwei Versionen der ägyptischen Exodusgeschichte, die nur noch in Zitaten bei dem jüdischen Historiker Flavius Josephus erhalten sind.[6] Die historischen Hintergründe dieser Erzählung sind kompliziert und teilweise auch rätselhaft, aber ihr Kern lässt sich einigermaßen sicher bestimmen: Nach der längeren Fassung wollte ein ägyptischer Pharao mit Namen Amenophis (welcher, ist unklar; manche vermuten Amenophis III., der aber auch mit Amenophis IV. = Echnaton verwechselt wurde) das Land von allen Aussätzigen und anderen «unreinen» Menschen befreien. Er internierte 80.000 von ihnen in einer verlassenen ägyptischen Stadt. Ihr Anführer war ein ägyptischer Priester mit Namen Osarseph, von dem wir später erfahren, dass er niemand anderes ist als Moses. Dieser Osarseph/Moses erließ Gesetze für die Ausgestoßenen, darunter «als erstes das Gesetz, weder die (ägyptischen) Götter anzubeten noch auf eines der in Ägypten am meisten verehrten heiligen Tiere zu verzichten, sondern alle als Opfer darzubringen und zu vernichten; ferner dass sie mit niemandem in Verbindung treten sollten außer mit ihren eigenen Bundesgenossen».[7] Nachdem er viele andere Gesetze erlassen hatte, «die den ägyptischen Bräuchen völlig entgegengesetzt waren»,[8] verbündete Osarseph/Moses sich mit den Bewohnern Jerusalems – die nach Hekataios aus Ägypten vertrieben worden waren – und brachte ganz Ägypten in seine Gewalt. Seine Truppen zerstörten Städte und Dörfer, vernichteten die Götterbilder in den Tempeln und zwangen die Priester, ihre heiligen Tiere zu schlachten und zu braten.[9] Die unheilige Allianz der unreinen Ägypter mit den Juden aus Jerusalem führte zu einer dreizehn Jahre währenden Fremdherrschaft, bis die rechtmäßige Herrschaft des Pharao wiederhergestellt werden konnte.

Eine spätere Version der Erzählung von der Vertreibung der Juden aus Ägypten, die der griechische Historiker Diodorus Siculus wiedergibt, weist deutliche Parallelen mit Manetho und Hekataios auf. Danach seien die Vorfahren der Juden als unreine Aussätzige und «gottlose, den Göttern verhasste Menschen» aus Ägypten vertrieben worden. Sie hätten dann die «Gegend um Jerusalem» besetzt und das «Volk der Juden» begründet. Dieses Volk der Juden zeichne sich durch seinen «Hass gegen die Menschen» (to misos to pros tous anthrōpous) aus, den es an seine Nachkommen vererbt habe. Deswegen hätten sie auch «ganz ausgefallene Bräuche» eingeführt: Sie lehnten die Tischgemeinschaft mit jedem anderen Volke ab und würden anderen Menschen keinerlei Wohlwollen entgegenbringen.[10]

Im Mittelpunkt aller ägyptischen Exodus-Traditionen steht das Thema der Menschen- und Fremdenfeindlichkeit: Die Juden seien gottlos und den Göttern verhasst, und sie hassten alle anderen Menschen. Dieser Hass schlage sich in ihren eigenen Gesetzen nieder, die sie von allen anderen Menschen und Völkern unterschieden und die darauf ausgerichtet seien, die kulturelle und religiöse Identität der anderen Völker zu unterminieren. Die uralte Angst der Ägypter vor der Eroberung durch fremde Völker und Fremdherrschaft wird hier auf die Juden projiziert. Die Juden verkehrten nur untereinander und vermieden den Umgang mit anderen Menschen (wie sich vor allem an ihren Essgewohnheiten zeige). In Wirklichkeit seien sie unrein und verbreiteten schreckliche Krankheiten wie den Aussatz (dieses Motiv sollte im Mittelalter während der Pestwelle von 1348 in Form der jüdischen Brunnenvergiftung wiederkehren).