Jens Schröter
JESUS
Leben und Wirkung
C.H.Beck
Was können wir historisch gesichert über Jesus wissen? Diese Frage treibt die historisch-kritische Jesusforschung seit ihren Anfängen um. Das Buch zeigt einleitend, wie diese Frage im Zeitalter der Aufklärung aufkam und welche Antworten darauf seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gefunden wurden. Daran anschließend schildert Jens Schröter Weg und Wirken des galiläischen Juden Jesus von Nazareth auf dem heutigen historischen und archäologischen Forschungsstand. Er beschreibt die zentralen Aspekte des Auftretens Jesu in ihren politischen, sozialen und religiösen Kontexten und geht den Ursachen und Umständen nach, die zu seiner Hinrichtung in Jerusalem geführt haben. Abschließend geht es um die Frage, wie aus dem Wirken Jesu das Christentum als eine neue Religionsgemeinschaft hervorging.
Jens Schröter ist Professor für Neues Testament und antike christliche Apokryphen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat u.a. in Oslo, Rom und Jerusalem gelehrt und ist Mitherausgeber international einschlägiger Buchreihen und Zeitschriften. Bei C.H.Beck erschienen von ihm «Die Entstehung der Bibel» (mit Konrad Schmid, 3. Auflage 2020) sowie «Die apokryphen Evangelien» (2020).
Einleitung
1. Auf der Suche nach dem historischen Jesus
2. Biblische und außerbiblische Quellen
Christliche Quellen
Die Paulusbriefe
Die synoptischen Evangelien
Das Johannesevangelium
Außerkanonische Quellen
Jüdische Quellen: Flavius Josephus
Griechisch-römische Texte
Indirekte Zeugnisse
3. Der geschichtliche Kontext
Das Judentum zur Zeit Jesu
Jüdische Schriften und die Jesusüberlieferung
Jüdische Gruppierungen
Galiläa, eine jüdisch geprägte Region
Herrschaftsverhältnisse
Orte
Wirtschaft und Gesellschaft
4. Grundzüge des Wirkens Jesu
Jesus und Johannes der Täufer
Die Aufrichtung der Gottesherrschaft
Königsherrschaft Gottes
Die Gegenwart als Zeit des Heils
Vollendung in der Zukunft
Die Gleichnisse
Machtvolles Wirken in der Autorität Gottes
Krankenheilungen
Exorzismen und weitere Machttaten
Jesu Auslegung der Tora
Reinheitsgebote
Das Sabbatgebot
Die Antithesen der Bergpredigt
5. Die Erneuerung Israels
Der Zwölferkreis, Nachfolger und Gegner
Das Ethos der Nachfolgegemeinschaft Jesu
Das Ethos der Gottesherrschaft
Radikale Alternative: Akzeptanz oder Ablehnung
Das Selbstverständnis Jesu und die Deutung seiner Person
«Der Sohn des Menschen»
Christus
Sohn Gottes
6. Die Passionsereignisse und der Tod in Jerusalem
Jerusalem und der Tempel
Das letzte Mahl
Verhaftung und Hinrichtung
7. Jesus und die Entstehung des christlichen Glaubens
Zeittafel
Literatur
Übersetzungen
Forschungsgeschichtlich wichtige Darstellungen und Überblicke
Neuere Darstellungen und Sammelbände
Studien zum politischen, sozialen und literarischen Kontext Jesu und der frühen Jesusüberlieferung
Bildnachweis
Personen- und Sachregister
Jesus von Nazareth hat wie keine andere Person der Geschichte die Menschen durch die Jahrhunderte hindurch fasziniert, inspiriert, mitunter auch irritiert. Das trifft auf jeden Fall für den christlich geprägten Kulturraum zu, für den Jesus von einzigartiger Bedeutung ist, es gilt aber auch darüber hinaus. Auch Judentum und Islam haben Jesus in je eigener Weise gedeutet: als Propheten oder als Verbreiter falscher Lehren und Verführer des Volkes. Letzteres ist eine Reaktion auf die Trennungsgeschichte von Judentum und Christentum, die sich in unterschiedlicher Weise auf die gemeinsamen Schriften und Traditionen berufen und Jesus eine je eigene Rolle in ihrer Geschichte zuweisen.
Unter den christlichen Konfessionen besteht, ungeachtet anderer Differenzen, Einigkeit darüber, dass das Bekenntnis zu Jesus Christus die gemeinsame Grundlage des christlichen Glaubens ist. Der Glaube an den Gott Israels, den die Christen mit den Juden teilen, wird durch dieses Bekenntnis entscheidend erweitert und verändert. Auf eben dieses Bekenntnis gründet sich das Christentum als die Weltreligion mit den weltweit meisten Mitgliedern.
Keine andere Person der Geschichte ist so häufig in bildender Kunst und Malerei, in Literatur und Musik dargestellt und gedeutet worden wie Jesus von Nazareth. Seine immense Wirkungsgeschichte hat sich auch in zahlreichen philosophischen und religiösen, kulturellen und sozialen Interpretationen Ausdruck verschafft, die in der rund zweitausendjährigen Geschichte des Christentums entstanden sind. Der christliche Glaube hat eigene Deutungen der Geschichte hervorgebracht, er hat die spätantike und mittelalterliche Philosophie nachhaltig beeinflusst, er hat zu eigenen Ritualen und Frömmigkeitspraktiken geführt, er hat ganze Kulturen und Epochen entscheidend geprägt – vor allem diejenigen des christlichen Abendlandes und der orthodoxen Kirchen Osteuropas, später dann auch diejenigen anderer geographischer und kultureller Regionen.
Kann man angesichts einer derart umfassenden Kultur- und Frömmigkeitsgeschichte überhaupt zu gesichertem Wissen über Jesus gelangen? Lässt sich also die Frage nach dem «historischen Jesus» überhaupt beantworten – oder trifft man stets nur auf Deutungen seiner Person, denen im Lauf der Christentumsgeschichte immer wieder neue hinzugefügt werden? Diese Frage beschäftigt die christliche Theologie, seitdem sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass die Jesusdarstellungen des Neuen Testaments nicht deckungsgleich sind mit der historischen Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen. Maßstab für diese Unterscheidung wurde die kritische Vernunft, die zwischen Jesus einerseits und den Deutungen seiner Person andererseits zu unterscheiden gelehrt hat.
Ein kritischer Umgang mit den biblischen (und auch mit nichtbiblischen) Texten erscheint heute in unserem Kulturkreis selbstverständlich. Das war er aber nicht immer, und das ist er auch heute keineswegs überall. Die biblischen Texte wurden lange Zeit als göttliche Offenbarungen betrachtet, aus denen die menschliche Vernunft Erbauung und Inspiration beziehen, die sie aber nicht kritisieren könne. Es war vor allem die protestantische Theologie des 18. und 19. Jahrhunderts, die ein anderes Verständnis des Verhältnisses von menschlicher Vernunft und biblischen Texten entwickelt hat. Nunmehr wurden diese Texte als von Menschen geschriebene Zeugnisse betrachtet, die deren Sicht auf Gott, den Menschen und dessen Erlösung zu erkennen geben, aber nicht unmittelbar als göttliches Wort oder als göttlich inspiriert gelten und deshalb auch nicht frei von Irrtümern sind. Es handelt sich vielmehr um antike Dokumente, die die Geschichte Israels, des Judentums und des frühen Christentums festhalten und deuten. Sie sind deshalb mit denselben Methoden zu interpretieren wie alle anderen historischen Texte.
Deutungen der biblischen Texte in der Kultur- und Frömmigkeitsgeschichte des Christentums holen diese in ihre jeweilige Gegenwart hinein. Das gilt für bildliche und literarische Darstellungen, aber auch für historisch-kritische Beschreibungen des Lebens und Wirkens Jesu. Sie interpretieren die Zeugnisse über Jesus aus der Perspektive der Gegenwart – im vorliegenden Buch also: aus einer (west)europäischen Sicht vom Anfang des 21. Jahrhunderts. Die Erforschung und Darstellung der Vergangenheit erfolgt immer in spezifischen geistes- und sozialgeschichtlichen Konstellationen und ist von kulturellen und sozialen Werturteilen geprägt. Sie ist zudem abhängig von den jeweils verfügbaren Kenntnissen über die betreffende Person und ihre Zeit. Neue Textfunde oder archäologische Entdeckungen können Bilder der Vergangenheit erweitern und verändern, ebenso wie veränderte Sichtweisen zu neuen Interpretationen historischer Zeugnisse führen können. So haben etwa archäologische Entdeckungen in Galiläa seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts das Bild dieser Region des Wirkens Jesu nachhaltig verändert. Zudem ist in der neueren Forschung deutlich zutage getreten, dass Lehre und Wirken Jesu in den Kontext des Judentums seiner Zeit eingezeichnet werden müssen, um angemessen dargestellt zu werden.
Eine historisch-kritische Jesusdarstellung bewegt sich demnach innerhalb eines Spektrums von Deutungen des Wirkens und Geschicks Jesu. Sie kann unterscheiden zwischen dem, was historischer Prüfung standhält, und dem, was daraus in der Wirkungsgeschichte geworden ist – etwa zwischen dem, was wir über die Geburt Jesu historisch wissen (oder besser: nicht wissen), und der überaus eindrücklichen Wirkungsgeschichte dieser Geburt in der christlichen Frömmigkeitsgeschichte. Eine historisch-kritische Jesusdarstellung kann auch abwegige und problematische Thesen der Forschung (etwa: Jesus sei gar kein «richtiger» Jude gewesen) offenlegen und korrigieren. Eine historisch-kritische Jesusdarstellung kann jedoch nicht den Anspruch erheben, die geschichtliche Wirklichkeit Jesu so zu rekonstruieren, wie sie tatsächlich gewesen ist. Auch wenn dies das Ideal der kritischen Geschichtswissenschaft ist, muss bedacht werden, dass jede historische Darstellung selektiv und aus einer bestimmten Perspektive verfasst ist.
Historisch-kritische Jesusdarstellungen sind der Interpretation der Vergangenheit ebenso verpflichtet wie ihrer eigenen Gegenwart. Jesusbücher des 19. Jahrhunderts sehen deshalb anders aus als solche vom Anfang des 21. Jahrhunderts. In neueren Darstellungen wird wesentlich stärker auf soziale und politische Konstellationen in den Regionen des Wirkens Jesu geachtet, es werden Kenntnisse über das vielfältige Judentum zur Zeit Jesu berücksichtigt und es fließen Einsichten aus der Erzählforschung in die Interpretation der Evangelien ein.
Die folgende Darstellung versteht sich in diesem Kontext. Sie möchte auf der Höhe des aktuellen Forschungsstandes und der Grundlage historisch-kritischer Interpretation biblischer Texte darlegen, was gegenwärtig über Jesus von Nazareth historisch begründet und nachvollziehbar gesagt werden kann. Eine solche Darstellung erhebt weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch gar auf «historische Wahrheit». Sie möchte vielmehr eine Grundlage dafür liefern, sich auch in heutiger Zeit mit dem Wirken Jesu auseinanderzusetzen.
Der Beginn der kritischen Jesusforschung wird zumeist mit dem Hamburger Professor für orientalische Sprachen Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) in Verbindung gebracht. Reimarus war ein Vertreter der sich im Europa des 18. Jahrhunderts durchsetzenden Auffassung, dass Wahrheitsansprüche von Religionen mit Hilfe der kritischen Vernunft zu prüfen und zu relativieren seien. So galt für Reimarus in den biblischen Texten nur das als plausibel, was einer solchen Prüfung standhält. Bei den Jesusdarstellungen der Evangelien unterschied er dementsprechend zwischen der Lehre Jesu einerseits, die er als Appell an die jüdischen Zeitgenossen zur Umkehr und zu einem gottgefälligen Leben auffasste, der Lehre der Apostel andererseits, die daraus das System von einem Erlöser, der vom Tode auferstanden und zum Himmel erhöht worden sei, erstellt hätten. Die Behauptung der Auferstehung Jesu und seiner Erhöhung hielt Reimarus dabei ebenso für eine Erfindung wie die Lehre von Jesu Tod zur Erlösung der Menschen. Er hatte dafür eine sehr pragmatische Erklärung parat: Die Apostel hätten sich diese Lehren ausgedacht, weil sie nicht an ihre Wohnorte und ihre Arbeit zurückkehren, sondern die Verkündigung des Gottesreiches auch nach dem Tod Jesu fortsetzen wollten.
Der programmatische Titel der Schrift, in der Reimarus diese Sicht darlegte, lautet: «Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes». Reimarus hatte diese Schrift jedoch selbst nicht veröffentlicht, um einen Eklat mit der lutherischen Kirche zu vermeiden. Allerdings gab Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) posthum in den Jahren 1774 bis 1778 Teile des Werks unter dem Titel «Fragmente eines Ungenannten» heraus. Mit dem dadurch provozierten «Fragmentenstreit» wollte Lessing, der selbst von einer aufklärerischen Position her die biblischen Schriften interpretierte, eine Diskussion über das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung anstoßen. Lessing unterschied, ähnlich wie Reimarus, wenn auch mit anderer Begründung, zwischen der «Religion Christi» und der «christlichen Religion»: Die Religion Christi sei diejenige Überzeugung, die Christus selbst gehabt habe und die jeder Mensch mit ihm teilen könne. Die christliche Religion nehme dagegen als wahr an, dass Christus mehr als ein Mensch gewesen sei und verehre ihn entsprechend. Das von der christlichen Religion entwickelte System von Glaubenssätzen habe sich im Lauf der Geschichte immer wieder verändert und könne nicht als Erweis ihrer Wahrheit dienen. Dieser könne nur dadurch erbracht werden, dass der natürliche, sittliche Gehalt der christlichen Religion zur Geltung gebracht werde. Erst in dieser Entwicklung hin zu einer natürlichen Religion, die sich von mythischen Vorstellungen früherer Phasen der Menschheitsgeschichte befreit, kommt das Christentum Lessing zufolge zu sich selbst.
Reimarus und Lessing sind frühe Vertreter einer aufgeklärten Sicht, die sich von der kirchlichen Dogmatik – insbesondere in Gestalt der lutherischen Orthodoxie – befreien und Jesus als Menschen wiederentdecken möchte. In den Mittelpunkt rückte dabei insbesondere seine ethische Lehre, wogegen die Behauptung seines göttlichen Wesens problematisch erschien. Damit war die Grundlage dafür gelegt, mit Hilfe der kritischen Vernunft nach Jesus und den Anfängen des christlichen Glaubens zu fragen. Die durch Reimarus und Lessing begründete Unterscheidung zwischen dem Wirken Jesu und dessen Deutung aus der Sicht des christlichen Glaubens wird bis heute vorausgesetzt, wenn auch in anderer Weise und mit anderer Begründung.
Die weitere Entwicklung der historisch-kritischen Jesusforschung lässt sich als Ringen um die Frage beschreiben, was über Jesus mit den Mitteln der historischen Kritik herausgefunden werden kann. Das Spektrum reicht dabei von einer radikalen Skepsis auf der einen bis zu einem großen Zutrauen in die Möglichkeiten historischer Rekonstruktion auf der anderen Seite. Problematisiert wird auch, ob die Frage nach dem «historischen Jesus» überhaupt sachgemäß und sinnvoll sei.
Die radikal skeptische Position vertritt die Auffassung, über Jesus lasse sich nichts historisch Belastbares herausfinden. Die zur Verfügung stehenden Quellen seien Glaubenszeugnisse, keine historischen Dokumente. Eine solche Position wurde im 19. Jahrhundert prominent von dem Tübinger Theologen und Philosophen David Friedrich Strauß (1808–1874) vertreten. In seinem zweibändigen Werk «Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet» von 1835/36 wandte er den Begriff «Mythos» auf die Evangelien und die ihnen zugrundeliegenden Überlieferungen an. Unter «Mythos» verstand Strauß die «absichtslos dichtende Sage», die das Leben Jesu mit mythischen Vorstellungen umgebe und es auf diese Weise religiös deute. Bei den Überlieferungen vom Leben Jesu sei dies vor allem mit Hilfe von Mythen aus dem Alten Testament und dem Judentum geschehen.
Die Position von Strauß taucht in der Jesusforschung überall dort wieder auf, wo die Jesusüberlieferungen als vom christlichen Glauben überformt und deshalb für die historische Rückfrage ungeeignet beurteilt werden. Im 20. Jahrhundert wurde eine solche Sicht prominent von Rudolf Bultmann (1884–1976) vertreten. Für Bultmann war die historische Frage nach Jesus zudem theologisch unergiebig, weil der christliche Glaube nicht auf dem historischen Jesus gründe, sondern auf den Glaubenszeugnissen des ältesten Christentums. Dieses Argument berührt sich mit der Auffassung von Martin Kähler (1835–1912), der in seinem einflussreichen Vortrag «Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus» (1892) argumentiert hatte, «diese ganze Leben-Jesu-Bewegung» sei ein «Holzweg», denn sie verkenne, dass «der wirkliche Christus … der gepredigte Christus» sei. Auch Kähler war der Auffassung, dass keine Quellen existieren, die den Maßstäben der kritischen Geschichtswissenschaft genügen und einer historischen Darstellung Jesu zugrunde gelegt werden könnten.
Die Gegenposition wird von denjenigen Forschern vertreten, die es für möglich und notwendig halten, mit den Mitteln kritischer Geschichtswissenschaft nach Jesus zu fragen. Zu ihnen zählen die Vertreter der sogenannten «liberalen» Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts, aber auch diejenigen Forscher, die etwa seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Jesusdarstellungen auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden historischen Quellen verfasst haben. Gegenüber den Behauptungen, es sei historisch nicht möglich und theologisch unergiebig, nach dem historischen Jesus zu fragen, wird dabei ins Feld geführt, die Evangelien des Neuen Testaments machten selbst deutlich, dass das Wirken Jesu und die Entstehung des christlichen Glaubens nicht voneinander zu trennen seien. Weiter ist in der neueren Jesusforschung darauf verwiesen worden, dass Quellen über Jesus und seine Zeit in ausreichendem Umfang zur Verfügung stünden, um ein historisches Profil Jesu zu zeichnen. Zudem sei es eine notwendige Aufgabe historisch-kritischer Theologie, sich mit den historischen Konturen des Wirkens und der Lehre Jesu zu befassen, um die Frage nach dem Werden des christlichen Glaubens, in dessen Zentrum die Person Jesu steht, nicht von ihren historischen Ursprüngen zu trennen. In diesem Sinn versteht sich auch die folgende Darstellung.
Die frühen Quellen, die von Jesus berichten, sind überwiegend christliche Texte. Es gibt jedoch auch spärliche außerchristliche Zeugnisse. Jesus wirkte innerhalb des Judentums, in einem Randgebiet des Römischen Reiches. Sein Auftreten wurde deshalb zunächst vor allem von seinen Anhängerinnen und Anhängern wahrgenommen und überliefert. Von außen betrachtet erschienen diese Gemeinschaften dagegen zunächst als innerjüdische Gruppierungen (was sie zumindest teilweise auch waren) oder als marginale und skurrile Randerscheinungen, die keine größere Beachtung verdienten. Eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Christentum lässt sich erst ab der Mitte des 2. Jahrhunderts wahrnehmen. Die frühen Quellen sind deshalb überwiegend aus der Binnenperspektive des Glaubens an Jesus als Christus und Sohn Gottes verfasst.
Die Paulusbriefe. Die ältesten christlichen Texte sind die Briefe des Apostels Paulus. Sie sind etwa in den Jahren 50 bis 56 n. Chr. entstanden und richten sich an christliche Gemeinden, in einem Fall an eine Einzelperson (Philemon). Für Paulus ist das irdische Wirken Jesu Bestandteil des Evangeliums vom Sohn Gottes, der von Gott in die Welt gesandt und nach seinem Tod auferweckt und zur Rechten Gottes erhöht wurde. Auf das Wirken Jesu geht Paulus dabei nur selten ein. In einem der ältesten christlichen Bekenntnisse, das Paulus im 1. Korintherbrief zitiert, werden der Tod Christi für unsere Sünden, sein Begräbnis, seine Auferweckung und seine Erscheinungen vor Kephas, dem Zwölferkreis sowie weiteren Zeugen, zuletzt auch vor Paulus selbst, genannt. Vom irdischen Wirken Jesu ist dagegen nicht die Rede.
Gelegentlich kommt Paulus auf dieses im Zusammenhang von Ermahnungen seiner Adressaten zu sprechen. Er beruft sich dabei auf Worte des «Herrn», also des auferweckten und erhöhten Jesus Christus. So zitiert er in 1. Korinther 11,23b–25 die Überlieferung vom letzten Mahl Jesu «in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde». Es handelt sich um eine Version der Einsetzungsworte zum Abendmahl, die auch in den Evangelien nach Markus, Matthäus und Lukas zitiert werden. Paulus führt sie hier an, um die korinthische Gemeinde zur angemessenen Feier des «Herrenmahls» aufzufordern. In 1. Korinther 7,10 beruft er sich auf das Verbot der Trennung von Mann und Frau durch den «Herrn». Dazu gibt es Analogien in den synoptischen Evangelien, wo Jesus ebenfalls die Ehescheidung untersagt (Markus 10,2–12/Matthäus 19,3–9; Matthäus 5,31–32/Lukas 16,18). Paulus zitiert aber kein Jesuswort, sondern formuliert die Weisung mit eigenen Worten. Zudem führt er in 1. Korinther sieben weitere Anweisungen in seiner eigenen Autorität an. In 1. Korinther 9,14 beruft sich Paulus auf ein Wort des Herrn, der angewiesen habe, dass die, die das Evangelium verkünden, auch vom Evangelium leben sollen. Allerdings begründet Paulus in dem Kapitel, warum er von dieser Regel abweicht und das Evangelium ohne materiellen Lohn verkündet. An einigen weiteren Stellen der Paulusbriefe finden sich Analogien zu den synoptischen Evangelien, ohne dass sie als Jesusworte gekennzeichnet wären.
Paulus kannte demnach einige Überlieferungen von Worten Jesu sowie von seiner Passion. Inwieweit er darüber hinaus Kenntnisse vom Wirken Jesu besaß, lässt sich nicht feststellen. Seine eigene Theologie entwickelt er jedenfalls nicht aus der Interpretation dieser Überlieferungen, sondern auf der Grundlage der frühchristlichen Überzeugung über das durch Jesus Christus vermittelte Heil Gottes für alle Menschen. Einige Überlieferungen, die bei Paulus als generelle Unterweisungen begegnen, werden später in den Evangelien unter die Autorität Jesu gestellt.
Die synoptischen Evangelien. Die wichtigsten Quellen für die Rekonstruktion von Wirken und Geschick Jesu sind die Evangelien des Neuen Testaments. Diese sind etwa im Zeitraum von 70 bis 100 n. Chr. entstanden und damit die ältesten Erzählungen über Jesus. Drei von ihnen – die Evangelien nach Markus, Matthäus und Lukas – hängen literarisch untereinander eng zusammen. Sie folgen über weite Strecken demselben Aufbau und überschneiden sich häufig in ihren Inhalten. Sie werden deshalb auch «synoptische» (gemeinsam zu betrachtende) Evangelien genannt. Die wahrscheinlichste Annahme zur Erklärung dieses Phänomens lautet, dass das Markusevangelium als erstes (nämlich um das Jahr 70) entstanden ist und den Verfassern der beiden anderen Evangelien vorgelegen hat. Folgt man dieser Sicht, fällt ins Auge, dass Matthäus und Lukas etliche gemeinsame Passagen aufweisen, die sich im Markusevangelium nicht oder in einer anderen Fassung finden. Dazu gehören z.B. die Gerichtspredigt Johannes des Täufers (Matthäus 3,7–10/Lukas 3,7–9); die Versuchung Jesu durch den Satan (Matthäus 4,1–11/ Lukas 4,1–13); die Seligpreisungen der Armen, Hungernden und Trauernden (Matthäus 5,3–6/Lukas 6,20–21); die Aussendung der Jünger durch Jesus (Matthäus 10,5–16/Lukas 10,2–12); Jesu Rede darüber, dass man nur Gott und nicht die Menschen fürchten soll (Matthäus 10,26–33/Lukas 12,2–9), sowie die Aufforderung, sich nicht um Nahrung und Kleidung zu sorgen, sondern ganz auf Gott zu vertrauen (Matthäus 6,25–33/Lukas 12,22–31). Diese und etliche weitere Texte stimmen in Aufbau und Inhalt, mitunter auch im Wortlaut, recht genau überein.
Vermutlich stammen sie (oder zumindest einige von ihnen) aus einer gemeinsamen Quelle, die selbst durch kein Manuskript bezeugt, sondern nach ihrer Einarbeitung in das Matthäus- und das Lukasevangelium aus der Überlieferung verschwunden ist. Über Umfang, Wortlaut und literarische Gestalt dieser Quelle – die in Ermangelung eines Titels oft einfach mit «Q» abgekürzt wird – ist in der Forschung intensiv diskutiert worden. Es wurde die Vermutung geäußert, diese Quelle weise ein eigenes Jesusbild auf, das von den synoptischen Evangelien abweiche, vor allem, weil sie anscheinend keine Passionserzählung enthielt. Es wurde sogar gemutmaßt, dass diese Quelle näher an Jesus heranführe, weil sie zu einem wesentlichen Teil Sprüche und Reden enthielt – daher wird sie auch als «Spruchquelle» bzw. «Spruchevangelium» bezeichnet –, von denen sich jedenfalls einige auf die Lehre Jesu zurückführen ließen. Bei nüchterner Betrachtung zeigt sich allerdings, dass Umfang, Inhalt und sprachliche Gestalt dieser hypothetischen Quelle nur in Grenzen bestimmt werden können.
Festhalten lässt sich indes, dass Matthäus und Lukas neben dem Markusevangelium Zugang zu weiteren Überlieferungen hatten, die zum Teil aus Reden Jesu bestanden, in denen ein radikales Ethos gefordert und den Gegnern Jesu das Gericht Gottes angekündigt wird. Vermutlich spiegeln diese Überlieferungen ein Milieu wider, in dem Jesus und seine ersten Nachfolger die Aufrichtung der Herrschaft Gottes in Israel verkündeten und dabei sowohl auf Akzeptanz als auch auf Ablehnung und Feindschaft stießen. Diese Texte bereichern damit das Bild der frühen Jesusüberlieferung in entscheidender Weise, auch wenn sich kein literarischer Zusammenhang wie bei den Evangelien rekonstruieren lässt.