Cover

Adam Tooze

WELT IM
LOCKDOWN

DIE GLOBALE KRISE
UND IHRE FOLGEN

Aus dem Englischen
von Andreas Wirthensohn

C.H.Beck

ZUM BUCH

Adam Tooze erzählt in seinem atemberaubenden Buch die Geschichte der zwölf Monate vom Januar 2020 bis Januar 2021. Am Anfang gibt Xi Jinping der Weltöffentlichkeit bekannt, dass sich in China ein tödliches neues Virus ausbreitet. Am Ende zieht Joe Biden als Nachfolger von Donald Trump ins Weiße Haus ein. Dazwischen liegen die Schockwellen einer Pandemie, die keinen Kontinent, kein Land und keine Bevölkerung ungeschoren lässt. Der brillante Wirtschaftshistoriker schildert aber nicht nur, wie und warum Staaten und nationale Ökonomien auf jeweils eigene Weise und mit sehr unterschiedlichen Resultaten auf das Geschehen reagiert haben. Er analysiert die Pandemie auch im Kontext der anderen großen Krisen unserer Zeit, von der Finanzkrise über die Klimakrise bis zur Flüchtlingskrise. Welt im Lockdown ist eine tiefenscharfe Diagnose der Gegenwart und ein Buch, aus dem man lernen kann, wie die globalisierte Welt funktioniert, in der wir heute leben.

«Einer der führenden ‹Global Thinkers› unserer Zeit.»

Foreign Policy

ÜBER DEN AUTOR

Adam Tooze ist Autor der hochgerühmten Bücher «Ökonomie der Zerstörung» und ««Crashed» und gilt als einer der führenden Wirtschaftshistoriker unserer Zeit. Nach Stationen in Cambridge und Yale lehrt er heute an der Columbia University. Seine Arbeiten wurden mehrfach preisgekrönt, u.a. mit dem renommierten Wolfson Preis für Geschichte sowie dem Preis Historisches Buch von H-Soz-Kult.

INHALT

EINLEITUNG

ERSTER TEIL: KRANKHEIT X

KAPITEL 1: ORGANISIERTE UNVERANTWORTLICHKEIT

KAPITEL 2: WUHAN, NICHT TSCHERNOBYL

KAPTIEL 3: FEBRUAR: VERGEUDETE ZEIT

KAPITEL 4: MÄRZ: GLOBALER LOCKDOWN

ZWEITER TEIL: EINE GLOBALE KRISE OHNE BEISPIEL

KAPITEL 5: IM FREIEN FALL

KAPITEL 6: NOCH EINMAL:
«WHATEVER IT TAKES»

KAPITEL 7: DIE WIRTSCHAFT AUF DER INTENSIVSTATION

KAPITEL 8: DER WERKZEUGKASTEN

DRITTER TEIL: EIN HEISSER SOMMER

KAPITEL 9: Next Generation EU

KAPITEL 10: CHINA: MOMENTUM

KAPITEL 11: AMERIKAS NATIONALE KRISE

VIERTER TEIL: INTERREGNUM

KAPITEL 12: WETTLAUF UM DEM IMPFSTOFF

KAPITEL 13: SCHULDENERLASS

KAPITEL 14: FORTGESCHRITTENE VOLKSWIRTSCHAFTEN:
DIE GELDHÄHNE AUF!

SCHLUSS

ANHANG

DANKSAGUNG

ANMERKUNGEN

Einleitung

KAPITEL 1
ORGANISIERTE UNVERANTWORTLICHKEIT

KAPITEL 2
WUHAN, NICHT TSCHERNOBYL

KAPTIEL 3
FEBRUAR: VERGEUDETE ZEIT

KAPITEL 4
MÄRZ: GLOBALER LOCKDOWN

KAPITEL 5
IM FREIEN FALL

KAPITEL 6
NOCH EINMAL: «WHATEVER IT TAKES»

KAPITEL 7
DIE WIRTSCHAFT AUF DER INTENSIVSTATION

KAPITEL 8
DER WERKZEUGKASTEN

KAPITEL 9
Next Generation EU

KAPITEL 10
CHINA: MOMENTUM

KAPITEL 11
AMERIKAS NATIONALE KRISE

KAPITEL 12
WETTLAUF UM DEM IMPFSTOFF

KAPITEL 13
SCHULDENERLASS

KAPITEL 14
FORTGESCHRITTENE VOLKSWIRTSCHAFTEN: DIE GELDHÄHNE AUF!

Schluss

PERSONENREGISTER

Für unsere Reisegefährten

EINLEITUNG

Wenn es ein Wort gibt, das die Erfahrung des Jahres 2020 zusammenfasst, dann wäre es Unvorstellbarkeit.

Zwischen Xi Jinpings öffentlichem Eingeständnis des Coronavirus-Ausbruchs am 20. Januar 2020 und Joseph Bidens Amtseinführung als 46. Präsident der Vereinigten Staaten genau ein Jahr später, am 20. Januar 2021, wurde die Welt von einer Krankheit erschüttert, die innerhalb von zwölf Monaten mehr als 2,2 Millionen Menschen tötete und Dutzende Millionen schwer erkranken ließ. Im April 2021, als dieses Buch abgeschlossen wurde, hatte die Zahl der weltweiten Corona-Toten die Marke von 3,2 Millionen überschritten. Die Gefahr, die von der Pandemie ausging, störte die tägliche Routine praktisch aller Menschen auf dem Planeten, brachte einen Großteil des öffentlichen Lebens zum Erliegen, führte zu Schulschließungen, trennte Familien, unterbrach den Reiseverkehr innerhalb und zwischen Ländern und brachte die Weltwirtschaft ins Wanken. Um die Auswirkungen einzudämmen, nahm die staatliche Unterstützung für Haushalte, Unternehmen und Märkte Ausmaße an, wie es sie außerhalb von Kriegszeiten noch nicht gegeben hatte. Es handelte sich nicht nur um die bei weitem schärfste wirtschaftliche Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg, sie war auch qualitativ einzigartig. Nie zuvor hatte es eine kollektive Entscheidung gegeben, wie zufällig und ungleichmäßig sie auch ausfallen mochte, große Teile der Weltwirtschaft stillzulegen. Es war, wie es der Internationale Währungsfonds (IWF) ausdrückte, «eine Krise ohne Beispiel».[1]

Das Virus war der Auslöser. Aber noch bevor wir wussten, was uns da ereilen würde, gab es durchaus Grund zu der Annahme, dass das Jahr 2020 stürmisch werden könnte. Der Konflikt zwischen China und den USA kochte hoch.[2] Ein «neuer Kalter Krieg» lag in der Luft. Das globale Wachstum hatte sich 2019 stark verlangsamt. Der IWF sorgte sich um die destabilisierende Wirkung, die geopolitische Spannungen auf die hoch verschuldete Weltwirtschaft haben konnten.[3] Ökonomen entwickelten neue statistische Indikatoren, um die Unsicherheit zu erfassen, die Investitionen hemmte.[4] Die Daten deuteten stark darauf hin, dass die Ursache der Probleme im Weißen Haus lag.[5] Der 45. amerikanische Präsident, Donald Trump, hatte es geschafft, sich zu einer ungesunden globalen Obsession zu machen. Er stand im November zur Wiederwahl und schien den Wahlvorgang unter allen Umständen diskreditieren zu wollen, selbst wenn er zu einem Sieg führen sollte. Nicht umsonst lautete das Motto der Münchner Sicherheitskonferenz – dem Davos für Sicherheitspolitiker – 2020 «Westlessness».[6]

Neben den Sorgen um Washington lief die Uhr für die endlosen Brexit-Verhandlungen ab. Noch beunruhigender für Europa war gleich zu Beginn des Jahres 2020 die Aussicht auf eine neue Flüchtlingskrise.[7] Im Hintergrund lauerten sowohl die Gefahr einer endgültigen grausamen Eskalation des syrischen Bürgerkriegs als auch das chronische Problem der Unterentwicklung. Die einzige Möglichkeit, dies zu beheben, bestand darin, Investitionen und Wachstum im globalen Süden anzukurbeln. Der Kapitalfluss war jedoch sowohl instabil als auch ungleich verteilt. Ende 2019 stand die Hälfte der Kreditnehmer mit den niedrigsten Einkommen in Afrika südlich der Sahara bereits kurz vor der Zahlungsunfähigkeit.[8]

Und mehr Wachstum war kein Allheilmittel. Es brachte mehr Umweltbelastungen mit sich. 2020 sollte ein entscheidendes Jahr in der Klimapolitik werden. Die 26. UN-Klimakonferenz (COP26) sollte nur wenige Tage nach der US-Wahl im November 2020 in Glasgow tagen.[9] Sie sollte den fünften Jahrestag des Pariser Klimaabkommens markieren. Sollte Trump gewinnen, was zu Beginn des Jahres durchaus möglich schien, würde die Zukunft des Planeten auf dem Spiel stehen.

Das allgegenwärtige Gefühl von Risiko und Angst, das die Weltwirtschaft umgab, bedeutete eine bemerkenswerte Umkehrung. Noch vor nicht allzu langer Zeit schienen der scheinbare Triumph des Westens im Kalten Krieg, der Aufstieg der Finanzmärkte, die Wunder der Informationstechnologie und der sich ausweitende Orbit des Wirtschaftswachstums die Stellung der kapitalistischen Wirtschaft als alles erobernder Triebkraft der modernen Geschichte zu zementieren.[10] In den 1990er Jahren war die Antwort auf die meisten politischen Fragen scheinbar einfach gewesen: «It’s the economy, stupid!»[11] Da das Wirtschaftswachstum das Leben von Milliarden von Menschen veränderte, gab es, wie Margaret Thatcher zu sagen pflegte, «keine Alternative». Das heißt, es gab keine Alternative zu einer Ordnung, die auf Privatisierung, dezenter Regulierung und der Freiheit des Kapital- und Warenverkehrs basierte. Noch im Jahr 2005 konnte Großbritanniens Premierminister Tony Blair erklären, über die Globalisierung zu streiten sei genauso sinnvoll wie darüber, ob auf den Sommer der Herbst folgen sollte.[12]

Im Jahr 2020 standen sowohl die Globalisierung als auch die Jahreszeiten dezidiert in Frage. Die Wirtschaft war nun nicht mehr die Antwort, sondern die Frage. Die offensichtliche Antwort auf «It’s the economy, stupid!» war «Whose economy?», «Which economy?» oder sogar «What’s the economy?». Eine Reihe tiefgreifender Krisen – beginnend in Asien in den späten 1990er Jahren über das atlantische Finanzsystem im Jahr 2008 und die Eurozone im Jahr 2010 bis zu den globalen Rohstoffproduzenten im Jahr 2014 – hatte das Vertrauen in die Marktwirtschaft erschüttert.[13] All diese Krisen wurden überwunden, allerdings mittels Staatsausgaben und Interventionen der Zentralbanken, die fest verankerte Grundsätze über «small government» und «unabhängige» Zentralbanken auf den Kopf stellten. Und wer profitierte davon? Während die Gewinne in private Taschen flossen, wurden die Verluste sozialisiert. Die Krisen waren durch Spekulation ausgelöst worden. Das Ausmaß der Interventionen, die notwendig waren, um sie zu stabilisieren, war historisch. Dennoch wuchs der Reichtum der globalen Elite weiter an. Wen konnte es überraschen, so die mittlerweile gängige Frage, wenn die wachsende Ungleichheit zu populistischen Unruhen führte?[14] Viele Brexiteers und Trump-Wähler wollten einfach nur «ihre» nationale Volkswirtschaft zurückhaben.

Unterdessen raubte Chinas spektakulärer Aufstieg der Wirtschaft in einem anderen Sinne ihre Unschuld. Es war nicht mehr klar, dass die großen Götter des Wachstums auf der Seite des Westens standen. Das, so stellte sich heraus, brachte eine zentrale Annahme ins Wanken, auf der der Washington-Konsens beruhte. Bald würde Amerika nicht mehr die Nummer eins sein. Tatsächlich wurde immer deutlicher, dass die Götter, zumindest die Naturgöttin Gaia, mit dem Wirtschaftswachstum ganz und gar nicht einverstanden waren.[15] Der Klimawandel, der einst nur die Umweltbewegung beschäftigt hatte, wurde zum Sinnbild für ein umfassenderes Ungleichgewicht zwischen Natur und Menschheit. Die Rede von «Green Deals» und Energiewenden war allgegenwärtig.

Dann, im Januar 2020, kam die Nachricht aus Peking. China sah sich mit einer ausgewachsenen Epidemie eines neuartigen Coronavirus konfrontiert. Zu diesem Zeitpunkt war die Sache bereits schlimmer als der Ausbruch von SARS, der einem 2003 Schauer über den Rücken gejagt hatte. Es war der natürliche «Blowback», vor dem Umweltschützer schon lange gewarnt hatten, aber während der Klimawandel uns dazu veranlasste, unseren Geist auf planetarische Dimensionen auszudehnen, und eine Agenda in Form von Jahrzehnten aufzustellen, war das Virus mikroskopisch klein, allgegenwärtig und bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von Tagen und Wochen. Es betraf nicht Gletscher und Meeresfluten, sondern unsere Körper. Es wurde mit unserem Atem übertragen. Es sollte nicht nur einzelne Volkswirtschaften, sondern die gesamte Weltwirtschaft in Frage stellen.

Das Virus, das im Januar 2020 die Bezeichnung SARS-CoV-2 erhalten sollte, war kein schwarzer Schwan, kein radikal unerwartetes, unwahrscheinliches Ereignis. Es war vielmehr ein graues Nashorn, ein Risiko, das so selbstverständlich geworden ist, dass es unterschätzt wird.[16] Als es aus dem Schatten auftauchte, hatte das graue Nashorn SARS-CoV-2 das Aussehen einer vorausgesagten Katastrophe. Es war genau die Art von hochansteckender, grippeähnlicher Infektion, die Virologen vorhergesagt hatten. Es kam von einem der Orte, die sie als Ausgangspunkt erwartet hatten – der Region eines engen Zusammenspiels zwischen Wildnis, Landwirtschaft und städtischer Bevölkerung, die sich über Ostasien erstreckt.[17] Es verbreitete sich, wie vorherzusehen war, über die globalen Verkehrs- und Kommunikationskanäle. Es hatte offen gesagt ohnehin ziemlich lange gedauert.

In den Wirtschaftswissenschaften ist viel über den «China-Schock» diskutiert worden – die Auswirkungen der Globalisierung und des plötzlichen Anstiegs der Importe aus China in den frühen 2000er Jahren auf die westlichen Arbeitsmärkte.[18] SARS-CoV-2 war ein «China-Schock», und zwar ein ziemlich heftiger. Schon zu Zeiten der Seidenstraße waren Infektionskrankheiten quer durch Eurasien von Ost nach West gereist. In früheren Zeiten war ihre Ausbreitung durch das langsame Reisetempo begrenzt gewesen. Im Zeitalter der Segelschifffahrt starben die Krankheitsüberträger meist schon unterwegs. Im Jahr 2020 bewegte sich das Coronavirus mit der Geschwindigkeit des Jets und des Hochgeschwindigkeitszugs. Das Wuhan des Jahres 2020 war eine wohlhabende Metropole mit vielen erst jüngst zugewanderten Bewohnern. Die Hälfte der Bevölkerung wollte die Stadt verlassen, um das chinesische Neujahrsfest zu feiern. SARS-CoV2 brauchte nur wenige Wochen, um sich von Wuhan aus in ganz China und in weiten Teilen der übrigen Welt zu verbreiten.

Ein Jahr später, Ende Januar 2021, taumelte die Welt. In der Geschichte des modernen Kapitalismus hat es noch nie einen Moment gegeben, in dem fast 95 % der Volkswirtschaften auf der Welt gleichzeitig einen Rückgang des Pro-Kopf-BIP zu verkraften hatten, wie es in der ersten Hälfte des Jahres 2020 der Fall war.

Mehr als drei Milliarden Erwerbstätige im Erwachsenenalter wurden in Zwangsurlaub geschickt oder mussten von zu Hause aus arbeiten.[19] Fast 1,6 Milliarden junge Menschen auf der ganzen Welt mussten ihre Ausbildung unterbrechen.[20] Ganz abgesehen von der beispiellosen Erschütterung des Familienlebens schätzte die Weltbank, dass sich der Verlust an Lebenseinkommen aufgrund des entgangenen Humankapitals auf 10 Billionen US-Dollar belaufen könnte.[21] Die Tatsache, dass die Welt kollektiv diesen Stillstand gewollt hat, unterscheidet diese Rezession grundlegend von allen vorherigen. Nachzuzeichnen, wer wo und unter welchen Bedingungen die Entscheidungen getroffen hat, ist eine wichtige Aufgabe dieses Buches.

Es war, wie wir alle erfahren mussten, eine Erschütterung, die weit über alles hinausging, was sich in Statistiken über BIP, Handel und Arbeitslosigkeit erfassen lässt. Die meisten Menschen hatten noch nie eine so schwerwiegende Unterbrechung ihres Alltagslebens erlebt. Sie verursachte Stress, Depressionen und psychische Ängste. Ende 2020 widmete sich der größte Teil der wissenschaftlichen Forschung zum Thema Covid-19 den Auswirkungen auf die psychische Gesundheit.[22]

Wie die Krise erlebt wurde, hing vom jeweiligen Standort und der Nationalität ab. In Großbritannien und den USA wurde das Jahr 2020 nicht nur als Notstand im Gesundheitswesen oder als schwere Rezession erlebt, sondern als Höhepunkt einer ganzen Periode eskalierender nationaler Krisen, die sich in die Begriffe «Trump» und «Brexit» fassen ließen. Wie konnten Länder, die sich einst der globalen Hegemonie rühmten und in Sachen der öffentlichen Gesundheit unangefochten führend waren, bei der Bewältigung der Pandemie so sehr versagen? Das musste Ausdruck einer tiefer liegenden Krankheit sein.[23] Vielleicht war es ihre gemeinsame Begeisterung für den Neoliberalismus? Oder die Kulmination eines jahrzehntelangen Niedergangsprozesses? Oder die Insellage ihrer politischen Kulturen?[24]

In der EU ist «Polykrise» ein Begriff, der im letzten Jahrzehnt in Gebrauch gekommen ist. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker entlehnte ihn von dem französischen Komplexitätstheoretiker Edgar Morin.[25] Juncker wollte damit die Krisenkonvergenz zwischen 2010 und 2016 bezeichnen, die Krise der Eurozone, den Konflikt in der Ukraine, die Flüchtlingskrise, den Brexit und den europaweiten Aufstieg des nationalistischen Populismus.[26]

Der Begriff der Polykrise erfasst das Zusammentreffen verschiedener Krisen, sagt aber nicht viel darüber aus, auf welche Weise sie zusammenwirken.[27] Im Januar 2019 hielt Chinas Präsident Xi Jinping eine viel beachtete Rede über die Pflicht der Kader der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), sowohl schwarze Schwäne als auch graue Nashörner zu antizipieren.[28] Im selben Sommer veröffentlichten Study Times und Qiushi, die beiden Zeitschriften, über die die KPCh ihren eher intellektuellen Kadern doktrinäre Erläuterungen übermittelt, einen Aufsatz von Chen Yixin, der Xis aphoristische Beobachtungen näher erläuterte.[29] Chen ist ein Protegé von Xi Jinping und wurde während der Corona-Krise dazu auserkoren, die Aufräumarbeiten der Partei in der Provinz Hubei zu leiten.[30] In seinem Aufsatz von 2019 stellte Chen die Fragen: Wie wirkten die Risiken zusammen? Wie verwandelten sich wirtschaftliche und finanzielle Risiken in politische und soziale Risiken? Wie haben sich «Cyberspace-Risiken» zu «tatsächlichen sozialen Risiken» zusammengebraut? Wie wurden externe Risiken internalisiert?

Um zu verstehen, wie sich Polykrisen entwickeln, schlug Chen vor, dass sich Chinas Sicherheitsbeamten auf sechs Haupteffekte konzentrieren sollten.

Da China ins Zentrum der Weltbühne gerückt sei, sollten sie sich vor einem «Rückfluss» von Interaktionen mit der Außenwelt schützen.

Gleichzeitig sollten sie auf die «Konvergenz» von oberflächlich betrachtet unterschiedlichen Bedrohungen zu einer einzigen neuen Bedrohung achten. Die Unterschiede zwischen innen und außen, neu und alt könnten leicht verschwimmen.

Neben der «Konvergenz» müsse man sich auch mit dem «Schichtungseffekt» auseinandersetzen, bei dem «sich die Forderungen von Interessengruppen aus verschiedenen Gemeinschaften überlagern und auf diese Weise geschichtete soziale Probleme schaffen: aktuelle Probleme mit historischen Problemen, konkrete Interessenprobleme mit ideologischen Problemen, politische Probleme mit unpolitischen Problemen – sie alle überschneiden und überlagern sich».

Da die Kommunikation rund um die Welt immer einfacher werde, könnten daraus «Verknüpfungseffekte» resultieren. Gemeinschaften könnten sich «über Entfernungen hinweg miteinander verständigen und sich gegenseitig bestärken».

Das Internet ermögliche nicht nur Rückfluss und Verknüpfung, sondern auch die plötzliche Verstärkung von Nachrichten. Die KPCh, so warnte Chen, müsse mit dem «Vergrößerungseffekt» rechnen, bei dem «jede Kleinigkeit zu einem … Strudel werden kann; ein paar Gerüchte … können leicht einen ‹Sturm im Wasserglas› erzeugen und unvermittelt einen echten ‹Tornado› in der Gesellschaft hervorrufen».

Schließlich gebe es den «Induktionseffekt», durch den Probleme in einer Region indirekt eine wohlwollende Reaktion und Nachahmung in einer anderen Region hervorriefen, wobei sich diese Reaktion oft aus bereits bestehenden ungelösten Problemen speise.[31]

Wenngleich im hölzernen Stil der Kommunistischen Partei Chinas präsentiert, passt Chens Liste auf fast unheimliche Weise zu den Erfahrungen des Jahres 2020. Das Virus war ein Beispiel für einen Rückfluss in riesigem Ausmaß, vom ländlichen China in die Stadt Wuhan, von Wuhan in den Rest der Welt. Politiker im Westen wie auch in China hatten mit Konvergenz, Schichtung und Verknüpfung zu kämpfen. Die Black-Lives-Matter-Protestbewegung, die auf der ganzen Welt Resonanz fand, war eine gigantische Demonstration der Vergrößerungs- und Induktionseffekte.[32]

Wenn man den ursprünglichen Kontext außer Acht lässt, könnte man Chens Checkliste für die Parteikader tatsächlich als Leitfaden für unser Privatleben lesen, als eine Selbsthilfeanleitung für die Corona-Krise. Wie viele Familien, wie viele Paare, wie viele von uns, die wir durch Quarantäne eingeschlossen und isoliert waren, waren gegen Vergrößerungs- und Induktionseffekte gefeit? Manchmal hatte man das Gefühl, als würde die unsichtbare Bedrohung durch das Virus die schwächsten Teile unserer Persönlichkeiten und unsere intimsten Beziehungen strapazieren.

Es hat schon weitaus tödlichere Pandemien gegeben. Was im Falle von Corona 2020 dramatisch neu war, war das Ausmaß der Reaktion. Und das wirft eine Frage auf. Der Chefkommentator der Financial Times, Martin Wolf, hat sie so formuliert:

«Warum … ist der wirtschaftliche Schaden einer solchen vergleichsweise milden Pandemie so groß? Die Antwort lautet: Weil es möglich war. Wohlhabende Menschen können leicht auf einen großen Teil ihrer normalen täglichen Ausgaben verzichten, während ihre Regierungen betroffene Menschen und Unternehmen in großem Umfang unterstützen können. … Die Reaktion auf die Pandemie ist ein Spiegelbild der heutigen wirtschaftlichen Möglichkeiten und gesellschaftlichen Werte, zumindest in den reichen Ländern.»[33]

Tatsächlich ist eines der bemerkenswerten Dinge im Jahr 2020, dass auch die Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen bereit waren, einen hohen Preis zu zahlen. Anfang April war der Großteil der Welt außerhalb Chinas, wo das Virus bereits eingedämmt war, an einer beispiellosen Anstrengung beteiligt, das Virus zu stoppen. Ein hager aussehender Lenín Moreno, Präsident von Ecuador, einem der am stärksten betroffenen Länder, hat das so ausgedrückt: «Das ist der echte erste Weltkrieg. … Die anderen Weltkriege fanden auf [einigen] Kontinenten mit sehr wenig Beteiligung von anderen Kontinenten statt … aber das hier betrifft alle. Es ist nicht lokal begrenzt. Es ist ein Krieg, dem man nicht entkommen kann.»[34]

Wenn es ein Krieg war, dem man nicht entkommen konnte, so war es doch ein Krieg, für den man sich entscheiden musste. Und genau das rechtfertigt es tatsächlich, das Jahr 2020 als eine Krise zu bezeichnen. In seiner ursprünglichen Bedeutung beschreibt Krise oder krisis (griechisch) einen kritischen Wendepunkt im Verlauf einer Krankheit. Sie steht mit dem Wort krinein in Verbindung, das «trennen», «entscheiden» oder «beurteilen» bedeutet, wovon wir die Wörter Kritik und Kriterium, den Maßstab für ein Urteil, ableiten.[35] Es scheint daher ein doppelt passender Ausdruck zu sein, um die Auswirkungen eines Virus zu beschreiben, das den Menschen, den Organisationen, den Regierungen auf allen Ebenen, überall auf der Welt, eine Reihe von gewaltigen und äußerst schwierigen Entscheidungen aufzwingt.

Lockdown ist der Begriff, der sich eingebürgert hat, um unsere kollektive Reaktion zu beschreiben. Das Wort selbst ist umstritten. Denn Lockdown suggeriert Zwang. Vor 2020 war es ein Begriff, der mit kollektiver Bestrafung in Gefängnissen assoziiert wurde. Es gab Momente und Orte, an denen das eine zutreffende Beschreibung für die Reaktion auf Covid war. In Delhi, in Durban, in Paris patrouillierten bewaffnete Polizisten durch die Straßen, nahmen Namen und Nummern auf und bestraften diejenigen, die gegen die Ausgangssperre verstießen.[36] In der Dominikanischen Republik wurden erstaunliche 85.000 Menschen, fast 1 % der Bevölkerung, wegen Verstößen gegen den Lockdown verhaftet.[37]

Selbst wenn keine Zwangsgewalt im Spiel war, konnte eine von der Regierung verordnete Schließung aller Lokale und Bars für deren Besitzer und Kunden repressiv wirken. Verfolgt man jedoch den weiteren Verlauf der Ereignisse und konzentriert sich, wie in diesem Buch, auf die wirtschaftliche Reaktion auf die Pandemie, so scheint Lockdown eine einseitige Beschreibung der Reaktion auf das Coronavirus zu sein. Die Mobilität nahm schlagartig ab, lange bevor die Regierung Anordnungen erließ. Auf den Finanzmärkten begann die Flucht in die Sicherheit bereits Ende Februar. Es gab keinen Gefängniswärter, der die Tür zuschlug und den Schlüssel umdrehte. Die Investoren gingen in Deckung. Die Verbraucher blieben zu Hause. Unternehmen schlossen oder verlegten sich auf Heimarbeit. Textilarbeiterinnen in Bangladesch wurden von ihren Arbeitsplätzen ausgesperrt, bevor sie angewiesen wurden, zu Hause zu bleiben. Manchmal folgten staatliche Maßnahmen auf private Entscheidungen. Manchmal nahmen sie diese vorweg. Mitte März handelte die ganze Welt unter dem Zwang der gegenseitigen Beobachtung und Nachahmung. Das Herunterfahren, der Shutdown wurde zur Norm. Diejenigen, die sich außerhalb des nationalen Territorialraums befanden, wie Hunderttausende von Seeleuten, fanden sich in einen schwimmenden Schwebezustand verbannt.

In der Rekonstruktion der Krise sollten wir die Frage, wer was wo und wie entschieden hat und wer wem was auferlegt hat, zunächst offen halten. Damit unterstellt man nicht, dass der Prozess freiwillig oder eine Angelegenheit des individuellen freien Willens war, denn das war er sicherlich nicht. Ziel dieses Buches ist es, die Interaktion zwischen erzwungenen Entscheidungen nachzuzeichnen, die im wirtschaftlichen Bereich unter Bedingungen enormer Ungewissheit auf verschiedenen Ebenen überall auf der Welt getroffen wurden, von den Einkaufsstraßen bis zu den Zentralbanken, von Familien bis zu Fabriken, von Favelas bis zu Tradern, die gestresst an improvisierten Arbeitsplätzen in ihrem Vorstadthaus hockten. Entscheidungen waren von Angst getrieben oder wurden durch wissenschaftliche Vorhersagen erzwungen. Sie wurden durch staatliche Anordnungen oder soziale Konventionen erforderlich. Aber sie konnten auch durch die Bewegung von Hunderten von Milliarden Dollar motiviert sein, die durch winzige, flackernde Bewegungen bei den Zinssätzen angetrieben wurde.

Die weit verbreitete Verwendung des Begriffs «Lockdown» ist ein Indiz dafür, als wie umstritten sich die Politik des Virus erweisen sollte. Gesellschaften, Gemeinschaften, Familien stritten erbittert über Gesichtsmasken, Social Distancing und Quarantäne. Dabei ging es oftmals scheinbar oder tatsächlich um existenzielle Dinge. Es war schwer, das eine vom anderen zu unterscheiden. Das Ganze war ein Beispiel im großen Stil für das, was der Soziologe Ulrich Beck in den 1980er Jahren als «Risikogesellschaft» bezeichnet hat.[38] Als Folge der Entwicklung der modernen Gesellschaft sahen wir uns kollektiv von einer unsichtbaren, nur für die Wissenschaft sichtbaren Bedrohung verfolgt, einem Risiko, das so lange abstrakt und immateriell blieb, bis man erkrankte und die, die Pech hatten, an der sich in der Lunge ansammelnden Flüssigkeit erstickten.

Eine Möglichkeit, auf eine solche Risikosituation zu reagieren, ist der Rückzug in die Leugnung. Das kann durchaus funktionieren. Es wäre naiv, etwas anderes zu glauben. Es gibt viele allgegenwärtige Krankheiten und soziale Übel, darunter viele, die in großem Umfang Leben kosten, die ignoriert und naturalisiert, als «Tatsachen des Lebens» behandelt werden. Mit Blick auf die größten Umweltrisiken, insbesondere den Klimawandel, könnte man sagen, dass unsere normale Herangehensweise Leugnung und vorsätzliche Ignoranz im großen Stil sind.[39] Selbst dringende medizinische Notfälle wie Pandemien, bei denen es um Leben und Tod geht, werden durch Politik und Macht gefiltert. Angesichts des Coronavirus hätten einige eindeutig eine Strategie der Leugnung bevorzugt. Das hat etwas von einem Glücksspiel. Es riskiert eine plötzliche, skandalöse Politisierung. Das Für und Wider wurde immer wieder abgewogen. Oftmals erklärten sich die Befürworter des «Aussitzens» und «Durchstehens» gerne zu Verteidigern des gesunden Menschenverstandes und des Realismus, nur um dann festzustellen, dass ihre kaltblütige Abgeklärtheit in der Theorie überzeugender war als in der Praxis.

Sich der Pandemie zu stellen war das, was die große Mehrheit der Menschen auf der ganzen Welt zu tun versuchte. Das Problem aber ist, wie Beck betonte, dass es leichter gesagt als getan ist, mit modernen Makrorisiken umzugehen.[40] Es erfordert eine Verständigung darüber, was das Risiko ist, das die Wissenschaft in unsere Auseinandersetzungen verstrickt und uns übrige mit der Ungewissheit der Wissenschaft belastet.[41] Es erfordert auch eine selbstreflexive kritische Auseinandersetzung mit unserem eigenen Verhalten und mit der gesellschaftlichen Ordnung, zu der es gehört. Es erfordert die Bereitschaft, sich mit politischen Entscheidungen auseinanderzusetzen, mit Entscheidungen über die Verteilung von Ressourcen und Prioritäten auf allen Ebenen. Das läuft dem in den letzten vierzig Jahren vorherrschenden Wunsch zuwider, genau das zu vermeiden, zu entpolitisieren, Märkte oder das Gesetz zu nutzen, um solchen Entscheidungen aus dem Weg zu gehen.[42] Das ist die grundlegende Stoßrichtung hinter dem, was wir als «Neoliberalismus» oder Marktrevolution kennen – Verteilungsfragen zu entpolitisieren, einschließlich der sehr ungleichen Folgen gesellschaftlicher Risiken, egal ob diese auf strukturelle Veränderungen in der globalen Arbeitsteilung, Umweltschäden oder Krankheiten zurückzuführen sind.[43]

Corona entlarvte grell unseren institutionellen Mangel an Vorbereitung, das, was Beck unsere «organisierte Unverantwortlichkeit» genannt hat. Es offenbarte die Schwäche grundlegender staatlicher Verwaltungsapparate, wie etwa aktueller Einwohnerregister und staatlicher Datenbanken. Um der Krise zu begegnen, bedurften wir einer Gesellschaft, die der Fürsorge einen viel höheren Stellenwert einräumt.[44] Von unerwarteter Seite wurde lautstark nach einem «neuen Gesellschaftsvertrag» gerufen, der die unverzichtbaren Arbeitskräfte angemessen würdigen und die Risiken berücksichtigen sollte, die der globalisierte Lebensstil der Wohlhabendsten mit sich bringt.[45] Wie die Programme für einen Green New Deal, die seit Beginn des Jahrtausends immer wieder auftauchten, sollten solche großen Entwürfe inspirierend wirken.[46] Sie sollten mobilisieren. Sie warfen die Machtfrage auf. Wenn es einen neuen Gesellschaftsvertrag geben sollte, wer sollte ihn schließen?

Viele der Rufe nach großen gesellschaftlichen Reformen hatten 2020 einen seltsamen Beigeschmack. Als die Corona-Krise über uns hereinbrach, war die Linke auf beiden Seiten des Atlantiks, zumindest der Teil, der von Jeremy Corbyn und Bernie Sanders befeuert worden war, gerade dabei, eine Niederlage zu erleiden. Das Versprechen einer radikalisierten und wiedererstarkten Linken, die sich um die Idee des Green New Deal herum organisierte, schien sich in der Pandemie aufzulösen. Es fiel den Regierungen vor allem der Mitte und der Rechten zu, der Krise zu begegnen. Sie bildeten eine seltsame Truppe. Jair Bolsonaro in Brasilien und Donald Trump in den Vereinigten Staaten versuchten es mit Leugnung. Für sie gingen Klimawandelskepsis und Virusskepsis Hand in Hand. In Mexiko schlug die vermeintlich linke Regierung von Andrés Manuel López Obrador (gerne abgekürzt AMLO) ebenfalls einen eigenwilligen Weg ein und weigerte sich, drastische Maßnahmen zu ergreifen. Nationalistische Machthaber wie Rodrigo Duterte auf den Philippinen, Narendra Modi in Indien, Wladimir Putin in Russland und Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei leugneten das Virus nicht, sondern vertrauten vor allem auf ihren Appell an nationale Gefühle und ihre Einschüchterungstaktik, um sich durchzusetzen. Es waren die gemäßigten Führungspersönlichkeiten der politischen Mitte, die am meisten unter Druck standen. Figuren wie Nancy Pelosi und Chuck Schumer in den USA oder Sebastián Piñera in Chile, Cyril Ramaphosa in Südafrika, Emmanuel Macron, Angela Merkel, Ursula von der Leyen und ihresgleichen in Europa. Sie akzeptierten die Wissenschaft. Leugnen war für sie keine Option. Sie wollten unbedingt zeigen, dass sie es besser konnten als die «Populisten». Um der Krise zu begegnen, taten ganz gewöhnliche Politiker am Ende sehr radikale Dinge. Das meiste davon war Improvisation und Kompromiss, aber soweit es ihnen gelang, ihren Antworten einen programmatischen Anstrich zu geben – sei es in Form des NextGeneration-Programms der EU oder Bidens «Build Back Better»-Programms im Jahr 2020 –, stammten sie aus dem Repertoire der grünen Modernisierung, der nachhaltigen Entwicklung und des Green New Deal.

Das Ergebnis war eine bittere historische Ironie. Während die Verfechter des Green New Deal eine politische Niederlage einstecken mussten, bestätigte das Jahr 2020 auf durchschlagende Weise den Realismus ihrer Diagnose. Es war der Green New Deal, der die Dringlichkeit enormer ökologischer Herausforderungen direkt adressiert und sie mit Fragen extremer sozialer Ungleichheit verknüpft hatte. Es war der Green New Deal, der darauf bestand, dass sich Demokratien bei der Bewältigung dieser Herausforderungen nicht von konservativen finanz- und geldpolitischen Doktrinen lähmen lassen durften, die aus den längst vergangenen Schlachten der 1970er Jahre stammten und durch die Finanzkrise von 2008 diskreditiert worden waren. Es war der Green New Deal, der tatkräftige, engagierte, zukunftsorientierte, junge Bürger mobilisiert hatte, von denen die Demokratie eindeutig abhing, wenn sie eine hoffnungsvolle Zukunft haben sollte. Der Green New Deal hatte natürlich auch gefordert, dass ein System, das Ungleichheit, Instabilität und Krisen produzierte und reproduzierte, radikal reformiert werden sollte, anstatt unablässig daran herumzuflicken. Für die Politiker der Mitte war das eine Herausforderung. Aber ein Reiz der Krise bestand darin, dass man langfristige Zukunftsfragen beiseite schieben konnte. 2020 ging es einzig und allein ums Überleben.

Die unmittelbare wirtschaftspolitische Reaktion auf den Corona-Schock knüpfte direkt an die Lehren von 2008 an. Die Fiskalpolitik war noch umfangreicher und schneller. Die Interventionen der Zentralbanken fielen noch spektakulärer aus. Wenn man beides gedanklich miteinander verknüpfte – Fiskal- und Geldpolitik –, bestätigte es die wesentlichen Einsichten ökonomischer Doktrinen, die einst von radikalen Keynesianern vertreten worden waren und von Lehren wie der Modern Monetary Theory (MMT) neu in Mode gebracht wurden.[47] Die Staatsfinanzen sind nicht wie die eines privaten Haushalts begrenzt. Wenn ein monetärer Souverän die Frage, wie die Finanzierung zu organisieren ist, als etwas behandelt, das mehr ist als eine technische Angelegenheit, ist das seinerseits eine politische Entscheidung. Wie Keynes einst mitten im Zweiten Weltkrieg seine Leser erinnerte: «Alles, was wir tatsächlich tun können, können wir uns auch leisten.»[48] Die eigentliche Herausforderung, die wirklich politische Frage bestand darin, sich darauf zu verständigen, was wir tun wollten, und herauszufinden, wie wir es tun sollten.

Die wirtschaftspolitischen Experimente des Jahres 2020 waren nicht auf die reichen Länder beschränkt. Begünstigt durch die von der Fed freigesetzte Dollarschwemme, aber auch gestützt auf jahrzehntelange Erfahrungen mit schwankenden globalen Kapitalströmen, zeigten viele Regierungen der Schwellenländer als Reaktion auf die Krise bemerkenswerte Initiative. Sie setzten ein ganzes Instrumentarium an Maßnahmen ein, das es ihnen ermöglichte, sich gegen die Risiken der globalen Finanzintegration abzusichern.[49] Ironischerweise ließ Chinas größerer Erfolg bei der Viruskontrolle seine Wirtschaftspolitik, anders als 2008, relativ konservativ erscheinen. Länder wie Mexiko und Indien, in denen sich die Pandemie schnell ausbreitete, die Regierungen aber nicht mit einer groß angelegten Wirtschaftspolitik reagierten, wirkten zunehmend unzeitgemäß. 2020 wurden wir Zeugen eines bisher undenkbaren Spektakels, als der IWF eine vermeintlich linke mexikanische Regierung dafür kritisierte, kein ausreichend großes Haushaltsdefizit zu haben.[50]

Es war schwer, sich des Gefühls zu erwehren, an einem Wendepunkt angelangt zu sein. War dies endlich der Tod der Orthodoxie, die seit den 1980er Jahren in der Wirtschaftspolitik vorgeherrscht hatte? War dies das Totenglöcklein des Neoliberalismus?[51] Als kohärente Ideologie des Regierens vielleicht. Die Vorstellung, dass die natürliche Umwelt als Umhüllung wirtschaftlicher Aktivität ignoriert oder den Märkten zur Regulierung überlassen werden könnte, war eindeutig realitätsfremd. Gleiches galt für die Vorstellung, dass sich die Märkte in Bezug auf alle denkbaren sozialen und wirtschaftlichen Schocks selbst steuern könnten. Noch dringlicher als im Jahr 2008 diktierte das Überleben Interventionen in einem Ausmaß, wie es zuletzt im Zweiten Weltkrieg zu beobachten gewesen war.

All dies ließ die doktrinären Ökonomen nach Luft schnappen. Das ist an sich nicht überraschend. Das orthodoxe Verständnis von Wirtschaftspolitik war schon immer unrealistisch. Als Praxis der Macht war der Neoliberalismus immer radikal pragmatisch gewesen. Seine wirkliche Geschichte war die einer Reihe von staatlichen Interventionen im Interesse der Kapitalakkumulation, einschließlich des Einsatzes staatlicher Gewalt, um Widerstände auszuschalten.[52] Wie auch immer die doktrinären Drehungen und Wendungen aussehen mochten: die gesellschaftlichen Realitäten, mit denen die Marktrevolution seit den 1970er Jahren verwoben war – der tief verwurzelte Einfluss des Reichtums auf Politik, Recht und Medien, die Entmachtung der Arbeiter –, blieben allesamt bestehen. Und welche historische Kraft brachte die Deiche der neoliberalen Ordnung zum Bersten? Die Geschichte, die wir in diesem Buch nachzeichnen werden, ist nicht die eines Wiederauflebens des Klassenkampfs oder einer radikalen populistischen Herausforderung. Was den Schaden anrichtete, waren eine Seuche, ausgelöst durch rücksichtsloses globales Wachstum, und das wuchtige Schwungrad der Finanzakkumulation.[53]

Im Jahr 2008 war die Krise durch die Überexpansion der Banken und die Exzesse der Verbriefung von Hypotheken ausgelöst worden. Im Jahr 2020 traf Corona das Finanzsystem von außen, doch die Fragilität, die dieser Schock sichtbar werden ließ, war intern erzeugt. Diesmal waren nicht die Banken das schwache Glied, sondern die Wertpapiermärkte selbst. Der Schock traf das Herz des Systems, den Markt für amerikanische Staatsanleihen, die vermeintlich sicheren Vermögenswerte, auf denen die gesamte Kreditpyramide basiert. Wäre dieser Markt zusammengebrochen, hätte er den Rest der Welt mit sich gerissen. In der dritten Märzwoche 2020 befanden sich auch die City of London und Europa in der Krise. Wieder einmal schusterten die Fed, das US-Finanzministerium und der Kongress ein Flickwerk von Interventionen zusammen, die einen Großteil des privaten Kreditsystems wirksam stützten. Dieser Effekt strahlte durch das dollarbasierte Finanzsystem auf die übrige Welt aus. Was auf dem Spiel stand, war das Überleben eines globalen Netzwerks des marktbasierten Finanzsystems, das Daniela Gabor treffend als «Wall-Street-Konsens» bezeichnet hat.[54]

Das Ausmaß der stabilisierenden Interventionen im Jahr 2020 war beeindruckend. Es bestätigte die grundlegende Aussage des Green New Deal, dass demokratische Staaten, wenn der Wille vorhanden ist, über die nötigen Instrumente verfügen, um Kontrolle über die Wirtschaft auszuüben. Das war freilich eine zweischneidige Erkenntnis, denn wenn diese Interventionen eine Behauptung souveräner Macht waren, so waren sie doch krisengetrieben.[55] Wie 2008 dienten sie den Interessen derjenigen, die am meisten zu verlieren hatten. Diesmal wurden nicht nur einzelne Banken, sondern ganze Märkte für «too big to fail» erklärt.[56] Um diesen Kreislauf von Krise und Stabilisierung zu durchbrechen und Wirtschaftspolitik zu einer echten Übung in demokratischer Souveränität zu machen, wäre eine grundlegende Reform an Haupt und Gliedern erforderlich. Das würde eine echte Machtverschiebung erfordern, doch die Chancen dafür stehen schlecht.

Die Marktrevolution der 1970er Jahre war zweifellos eine Revolution der ökonomischen Ideen, aber sie war weit mehr als das. Der von Thatcher und Reagan geführte Krieg gegen die Inflation war ein umfassender Feldzug gegen eine Bedrohung durch soziale Umwälzungen, die sie als von außen und von innen kommend sahen. Seine Dringlichkeit hatte damit zu tun, dass der Klassenkonflikt in Europa, Asien und den USA in den 1970er und frühen 1980er Jahren immer noch von den globalen Kämpfen der Entkolonialisierung und des Kalten Krieges umrahmt war.[57] Die konservative Kampagne war umso dringlicher, als der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems zwischen 1971 und 1973 das Geld vom Gold löste und die Tür für eine expansive Wirtschaftspolitik öffnete. Was drohte, war nicht der dezente Keynesianismus der Nachkriegszeit, sondern etwas viel Radikaleres. Um dieses Risiko einzudämmen, mussten die Grenzen von Staat und Gesellschaft neu gezogen werden. In diesem Kampf bestand der entscheidende institutionelle Schritt darin, die Kontrolle des Geldes von der demokratischen Politik zu isolieren, indem man sie unabhängigen Zentralbanken unterstellte. Wie Rüdiger Dornbusch vom MIT, einer der einflussreichsten Ökonomen seiner Generation, es im Jahr 2000 formulierte, ging es in den «letzten 20 Jahren, seit dem Aufstieg unabhängiger Zentralbanken, darum, die Prioritäten richtig zu setzen, demokratisches Geld loszuwerden, das immer kurzsichtiges, schlechtes Geld ist».[58]

Das hat eine bittere Implikation. Wenn die Zentralbanken seit 2008 ihren Aufgabenbereich massiv ausgeweitet haben, so geschah dies aus der Not heraus, um die Instabilität des Finanzsystems einzudämmen. Aber politisch war das möglich, ja es konnte sogar ohne großes Aufhebens geschehen, weil die Schlachten der 1970er und 1980er Jahre gewonnen worden waren. Die Bedrohung, die Dornbuschs Generation verfolgte, hatte sich verflüchtigt. Die Demokratie war nicht mehr die Gefahr, die sie in den Kampfjahren des Neoliberalismus gewesen war. In der Wirtschaftspolitik drückte sich das in der verblüffenden Erkenntnis aus, dass es keine Inflationsgefahr gab. Bei allem zentristischen Händeringen über den «Populismus» war der Klassenantagonismus entkräftet, der Lohndruck war minimal, Streiks gab es nicht.

Die massiven wirtschaftspolitischen Eingriffe des Jahres 2020 waren wie die des Jahres 2008 janusköpfig. Einerseits sprengte ihr Ausmaß die Fesseln neoliberaler Zurückhaltung und ihre ökonomische Logik bestätigte die grundlegende Diagnose der interventionistischen Makroökonomie bis zurück zu Keynes. Sie konnten nur als Vorboten eines neuen Regimes jenseits des Neoliberalismus erscheinen. Andererseits wurden diese Eingriffe von oben nach unten vorgenommen. Sie waren politisch nur deshalb denkbar, weil es keine Herausforderung von links gab, und ihre Dringlichkeit war bedingt durch die Notwendigkeit, das Finanzsystem zu stabilisieren. Und sie haben geliefert. Im Laufe des Jahres 2020 stieg das Nettovermögen der Haushalte in den USA um mehr als 15 Billionen Dollar. Ganz besonders profitierten davon die obersten ein Prozent, die fast 40 % aller Aktien besaßen. [59] Die obersten 10 % der Haushalte hielten sogar 84 %.

Wenn das tatsächlich ein «neuer Gesellschaftsvertrag» war, dann war es eine erschreckend einseitige Angelegenheit. Dennoch wäre es falsch, in der Reaktion auf die Krise von 2020 nichts weiter als eine eskalierende Plünderung zu sehen. Politiker der Mitte, die um ihr politisches Überleben kämpften, konnten die massive Wucht der sozialen und wirtschaftlichen Krise nicht ignorieren. Die Bedrohung durch die nationalistische Rechte war ernst. Der Ruf nach mehr gesellschaftlicher Solidarität für eine Wiederherstellung der nationalen Wirtschaft stieß auf echte Resonanz. Obwohl sie in der Minderheit war, wurde die «grüne» politische Bewegung zunehmend zu einer Kraft, mit der man rechnen musste.[60] Während die Rechte mit starken Emotionen spielte, traf die strategische Analyse, die von den Befürwortern des Green New Deal angeboten wurde, im Kern zu, und intelligente Politiker der Mitte wussten das. Die Führung der EU oder der US-Demokraten hatte vielleicht nicht den Mumm für Strukturreformen, aber sie erkannte den Zusammenhang zwischen der Moderne, der Umwelt, dem unausgewogenen und instabilen Wirtschaftswachstum und der Ungleichheit. Die Fakten waren schließlich so eklatant, dass es eines Willensaktes bedurfte, sie zu ignorieren. Das Jahr 2020 war also nicht nur ein Moment des Plünderns, sondern auch ein Moment des reformorientierten Experimentierens. Als Reaktion auf die drohende soziale Krise wurden in Europa, in den USA und in vielen Schwellenländern neue Formen der sozialstaatlichen Fürsorge erprobt. Und auf der Suche nach einer positiven Agenda nahmen sich die Politiker der Mitte der Umweltpolitik und der Frage des Klimawandels an wie nie zuvor. Entgegen der Befürchtung, Covid-19 würde von anderen Prioritäten ablenken, wurde die politische Ökonomie des Green New Deal zum Mainstream. «Grünes Wachstum», «Build back better», «Green Deal» – die Schlagworte variierten, aber sie alle brachten die grüne Modernisierung als gemeinsame Antwort der politischen Mitte auf die Krise zum Ausdruck.[61]

2020 machte deutlich,