Der historisch-archäologische Führer

Herausgegeben von
Holger Sonnabend und Christian Winkle

Boris Dreyer

ORTE DER VARUSKATASTROPHE
UND DER RÖMISCHEN
OKKUPATION IN GERMANIEN

Der historisch-archäologische Führer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

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ISBN 978-3-8062-2956-1

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Inhalt

Einleitung

1.  Historische Zusammenhänge und Aktionsorte der Hauptpersonen

2.  Stätten der Varusniederlage

3.  Stätten römischer Herrschaft

4.  Stätten der Germanicusfeldzüge

5.  Stätten der römischen Präsenz in Germanien seit Tiberius

6.  Stätten der Erinnerung und der Glorifizierung

Anhang

Ausgewählte Erinnerungsorte der Varuskatastrophe und der römischen Präsenz in Germanien unter Augustus

Zeitleiste

Literaturverzeichnis

Register

Orte

Personen

Abbildungsnachweis

Einleitung

Kaum ein Thema aus der Antike fesselt das öffentliche Interesse in Deutschland so wie die Varusniederlage. Das ist im Prinzip schon seit rund 500 Jahren der Fall, seitdem die Schriften des Tacitus bekannt wurden. Damals haben deutsche Humanisten, allen voran Ulrich von Hutten, begierig mit dem „klassischen Stoff“ belegen wollen, dass die geschundenen deutschsprachigen Zeitgenossen als Glieder des habsburgischen Weltreiches auf ehrwürdige „Vorfahren“ zurückblicken konnten: die Germanen.

Aber weder die Germanen noch die angesprochenen Werke verdienen diese einseitige Instrumentalisierung: Bei den Werken handelt es sich um die „Germania“ des Tacitus, die im Jahre 98 n. Chr. erschien, sowie um die „Annalen“, die die Geschichte des römischen Kaiserreiches vom Tode des Augustus an (14 n. Chr.) beschrieben. In den ersten beiden Büchern waren die Germanicusfeldzüge von 14–16 n. Chr. thematisiert. Das Bild, das hier von den „Germanen“ gezeichnet wird, ist keineswegs einheitlich positiv. Dem Autor ging es auch gar nicht um eine Glorifizierung. Vielmehr wollte Tacitus – wenn man sein Ansinnen überhaupt unter einem Motto zusammenfassen kann – in der „Germania“ ein Sittenbild entwerfen, das er seinen verweichlichten Zeitgenossen in Rom als unverbraucht entgegenhalten konnte. In den ersten beiden Büchern der „Annalen“ ging es ihm um die Darstellung des Grundgegensatzes zwischen (dem glänzenden Prinzen) Germanicus und dem gerade installierten (dunklen) Herrscher Tiberius (14–37 n.Chr.).

Eine Traditionslinie zwischen den Stämmen, die seit Caesar rechts des Rheins und nördlich der Donau unter dem Oberbegriff Germanen zusammengefasst werden, lässt sich nach den Umwälzungen der sog. Völkerwanderung ohnehin nicht ziehen.

Als „ein Volk“, das unter seinem Führer Arminius geeint und erfolgreich gegen die Römer kämpfte, kann man die Germanen überhaupt nicht bezeichnen. Als sich der Einfluss des Arminius auf dem Höhepunkt befand, wehrte sich nicht einmal die Mehrheit aller Stämme unter seiner Führung gegen die römische Herrschaft. Immer hat es eine starke Opposition gegen Arminius gegeben. Gleichwohl zieht der Historiker Tacitus für die Leistung des Arminius am Ende seines gewaltsam beendeten Lebens die Summe, dass er unstreitig „der Befreier Germaniens“ gewesen sei (Tac. Ann. 2,88,2).

Karte 1 Lage der Germanenstämme nach Tacitus, Germania.

In der Tat übte und übt diese Figur und ihre Leistung nicht nur auf Zeitgenossen, sondern auch auf die Nachwelt ungetrübte Faszination aus – das Jubiläumsjahr zur Feier der 2000. Wiederkehr der Katastrophe belegt dies durch eine Anzahl von Festakten, Ausstellungen und Publikationen. Zieht man die Feierlichkeiten des Jahres 1909, also vor hundert Jahren, zum Vergleich heran, so ist doch bezeichnend, wie unterschiedlich die Erinnerung an diesen „nationalen Helden“ ausfallen kann.

Der Fortschritt der Erkenntnis ist nicht nur hinsichtlich der Bewertung des Gesamtphänomens der Varuskatastrophe und der römischen Expansion in Germanien durchaus beeindruckend, sondern auch in der Einzelinterpretation. Wenn 1966 Harald von Petrikovits vor allem von der Archäologie „für die Zukunft am ehesten neue Indizien“ (H. v. Petrikovits 1966, S. 179) erwartete, kann man feststellen, dass sich gerade hier viel getan hat. Wenngleich sich seine Forderungen nicht alle erfüllt haben, so sind doch aufgrund von archäologischen Neufunden sowohl die Phase der römischen Okkupation als auch die Umstände der Niederlage des Varus heute wesentlich klarer zu beschreiben als noch in den 1960er Jahren – auch indem sich archäologische Befunde und literarische Darstellungen gegenseitig bestätigen und ergänzen.

Es ist ein begrüßenswertes Anliegen dieser Reihe, archäologische Befunde einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und zugleich historisch einzuordnen. So werden wir versuchen, auf der Basis der literarischen und archäologischen Quellen die Geschehnisse des Jahres 9 n. Chr. zu erklären und in den Gesamtkontext der römischen Okkupation einzubetten. Hierauf ist der Fokus gelegt, weniger auf die ausführliche Erörterung der reichhaltigen Literatur zu diesem spannenden Thema. Weiter kann es hier nicht das Ziel sein, alle Theorien über den Verlauf und „den Ort“ der Niederlage eingehend durchzudiskutieren, zumal viele dieser Theorien inzwischen wegen der Neufunde „auf der Strecke“ geblieben sind.

Dementsprechend empfiehlt sich folgende Gliederung: Zunächst werden die Hauptakteure der Varusniederlage, der römischen Okkupation und der Germanicusfeldzüge, Arminius und Varus, vorgestellt, wobei ihre heute nachvollziehbaren Wirkungsstätten auf dem Gebiet der Germania Magna betrachtet werden. Es folgt eine Erörterung der Varuskampfstätten, in der die literarischen Aussagen über den Verlauf der Niederlage dargestellt und im Anschluss die heute aufgrund der neuen Funde plausiblen Örtlichkeiten diskutiert werden.

Wir erörtern dann die Stätten der römischen Herrschaft, an denen sich der germanische Widerstand in den Jahren nach 9 n. Chr. entlud, sowie die Örtlichkeiten der Germanicusfeldzüge, die im Wesentlichen nach dem ausführlichen Bericht des Tacitus zu rekonstruieren sind. Darauf werden die Folgen des römischen Rückzugs auf den Rhein und die Donau sowie die Glorifizierung der Arminiuserfolge dargelegt. Die wichtigsten Orte mit Dauerausstellungen zum Thema werden am Ende aufgelistet.

Bei der Entstehung dieses Buches habe ich von einem interdisziplinären Seminar profitiert, das im Wintersemester 2013/14 in Erlangen von meinen Kolleginnen Michaela Konrad (Bamberg), Doris Mischka (Erlangen) und mir mit Studierenden aus Bamberg und Erlangen abgehalten wurde. Mein Dank gilt allen Beteiligten. Zudem danke ich Frau Constanze Holler, Frau Nicola Weyer und Herrn Dr. Jürgen Kron vom Theiss-Verlag für die Unterstützung bei der Veröffentlichung. Die Korrekturlesungen übernahm dankenswerterweise Frau Christina Sponsel, die Registerarbeit freundlicherweise Frau Daniela Eckstein (beide Erlangen).

Erlangen, August 2014

Boris Dreyer

1. Historische Zusammenhänge
und Aktionsorte der Hauptpersonen

Arminius

Die Hauptperson auf germanischer Seite ist sicherlich Arminius (s. Abb. 1). Sein Nachruhm steht im diametralen Gegensatz zu den verlässlichen Nachrichten über sein Leben (P. Kehne 2009), besonders für die Zeit vor und nach der „Kernzeit seines Wirkens“ zwischen 9 und 16 n. Chr. Die verlässlichsten Informationen bietet Tacitus anlässlich der schon angeführten Gesamtwürdigung im zweiten Buch der „Annalen“ (Tac. Ann. 2,88,2): „Er wurde 37 Jahre alt, für 12 Jahre hatte er die Führung inne, und noch bis heute wird er bei den barbarischen Stämmen besungen.“ Probleme ergeben sich dann, wenn es darum geht, diese Zahlen richtig anzusetzen. Tacitus bietet diese Notiz über Arminius unter dem Jahr 19 n.Chr., im Zusammenhang mit dem Bericht über das Schicksal des Marbod nach der Vertreibung aus seinem Königreich, nachdem er im Kampf gegen die Koalition des Arminius den Kürzeren gezogen hatte. Da alle Ereignisse in Germanien nach dem römischen Rückzug auf den Rhein Ende 16 n. Chr. weder räumlich noch zeitlich exakt einzuordnen sind, haben wir auch hier Schwierigkeiten, das Todesjahr als Ausgangspunkt der Rechnung des Tacitus korrekt anzusetzen. Arminius’ Tod wird sich wohl zwischen 19 und 21 n. Chr. ereignet haben. Dann ist er zwischen 19 und 17 v. Chr. geboren worden (das Jahr Null hat es nicht gegeben). Bei inklusiver Rechnung, die bei antiken (römischen) Kalkulationen immer möglich ist, wäre er zwischen 18 und 16 v. Chr. geboren. Diese Alternative führt jedoch für seine Dominanz unter den germanischen Stämmen zu unwahrscheinlichen Daten. Aber auch bei exklusiver Rechnung scheiden einige Möglichkeiten eher aus: So erscheint das Jahr 19 n. Chr. als Todesjahr eher unwahrscheinlich, weil er dann im Jahr 7 n. Chr. die Führung der germanischen Stämme übernommen hätte, als die römische Herrschaft noch fest etabliert war. Folglich haben sich das Jahr 21 und das Jahr 20 als Todesdatum etabliert, die beide auf das Jahr 9 bzw. 8 n. Chr. zurückführen, als Arminius nach seiner Rückkehr nach Germanien die Führung der Stämme übernahm (H. von Petrikovits 1966).

Er ist in eine adlige Familie der Cherusker, der „Hirschleute“, hineingeboren worden, die zwischen Weser und Elbe siedelten. Seine Familie war mit anderen adligen Familien des Stammes verbunden, welche die Geschehnisse auf germanischer Seite in den entscheidenden Jahren maßgeblich bestimmten:

Die Familie hatte zu jenen führenden Familien gehört, die sich im Jahre 8 v. Chr. zusammen mit den Adligen der anderen Stämme zwischen Rhein und Weser Tiberius unterworfen hatten, als dieser seinem verstorbenen Bruder im Oberkommando über die Rheinlegionen nachfolgte. Als Unterpfand der Treue hatten diese Familien junge Familienmitglieder zu stellen – so auch die beiden Söhne des Segimer, die später Flavus und Arminius genannt wurden.

Die Römer behandelten die Geiseln in der Regel gut, denn sie waren darauf angewiesen – gerade in Gegenden, in denen halbnomadische Stammesgesellschaften, auch wenn sie unterworfen waren, sonst kaum kontrolliert werden konnten –, dass privilegierte Kommunikationspartner mit großem Einfluss in diesen Gebieten die Interessen Roms wahrnahmen. Man hatte also um diese jungen Geiseln zu werben, sie von den Vorteilen die römischen Lebensweise zu überzeugen. Ebendiese geschah auch mit Arminius und seinem Bruder, der vermutlich den Weg nach Rom fanden und römisch erzogen wurden. Zur Erziehung gehört die Rhetorik, die Arminius später in den heimatlichen Versammlungen den Standesgenossen überlegen machte. Beide Brüder schienen sich voll und ganz der römischen Kultur ergeben zu haben, wenn man von den römischen Namen her Rückschlüsse vornehmen darf, obwohl die Herkunft des Namens Arminius (< Armenius?) nicht sicher geklärt werden kann. Außerdem sprachen sie Latein und dienten im Heer. Velleius Paterculus, der äußert, dass er Arminius aus dem Militärdienst persönlich kannte, wird ihn höchstwahrscheinlich im Rahmen der Tiberiuskommandos zwischen 5 und 8 n. Chr. kennengelernt haben. Es ist also durchaus möglich, dass er ihm bereits in Germanien, nach dem immensum bellum begegnet ist. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass ein Zusammentreffen erst später, im Rahmen des abgebrochenen Angriffs auf das Marbodreich und dann während des Pannonischen Aufstandes 6 bis 9 n. Chr., stattgefunden hat. Velleius, eine unserer wichtigsten Quellen über diese Zeit, wusste daher, dass Arminius für einen Germanen ungewöhnlich intelligent war (Vell. Pat. 2,118,2). Seine Darstellung ist stark vom typisch römischen Überlegenheitsgefühl gegenüber Barbaren und vom Wissen um die Niederlage des Jahres 9 n. Chr. geprägt.

„Es gab damals einen jungen Mann aus vornehmem Geschlecht, der tüchtig im Kampf und rasch in seinem Denken war, ausgestattet mit einem beweglicheren Geist als er den Barbaren üblicherweise eigen ist. Er hieß Arminius und war der Sohn des Segimer, eines Fürsten jenes Volkes. In seiner Miene und in seinen Augen spiegelte sich sein feuriger Geist.“

Arminius konnte wie sein Bruder militärische Erfahrung sammeln. Gerade die Erfahrungen als Rekrut und dann als Befehlshaber einer Auxiliareinheit in Pannonien waren folgenreich, da er die Schwächen einer römischen Armee im Partisanenkampf unter ungünstigen geographischen und klimatischen Bedingungen studieren konnte.

Gegen Ende des Pannonischen Aufstandes, als die Niederwerfung nur noch eine Frage der Zeit war, wurde Arminius etwa im Jahre 8 n. Chr. versetzt, vermutlich nach Xanten. Er hatte inzwischen eine wichtige Funktion zu übernehmen, als Nachkomme einer adligen Familie des wichtigsten der unterworfenen Stämme rechts des Rheins. Die Cherusker sollten einen ähnlichen privilegierten Status erhalten wie die Haeduer im von Caesar besiegten Gallien oder später die Remer in der Belgica.

Er wurde Verbindungsmann im Stabe des Varus, des neuen Oberkommandeurs in Germanien, der seit 7 n. Chr. einen neuen, verschärften Kurs der Provinzialisierung in den geplanten germanischen Provinzen durchführen sollte.

Inzwischen hatte sich aber in Germanien angesichts des neuen Kurses, der die sanftere Politik der Lockungen ablöste, viel Unzufriedenheit angestaut. Wem würde Arminius folgen, dem Ruf der Landesgenossen oder dem nahezu magnetischen Sog seiner Karriere in römischen Diensten? Er gehörte im Jahre 8 n. Chr. zum römischen Establishment, nachdem er von Augustus in den Ritterstand erhoben worden war. Bei seiner Rückkehr an den Rhein führte er als ritterlicher Präfekt eine Auxiliareinheit, in der eigene Landsleute vor allem seines Stammes, aber auch benachbarter Stämme Aufnahme fanden. In dieser Funktion war er wohl in Xanten stationiert.

Hier dienten die Auxilien als ortserfahrene Einheiten, die zugleich als Unterpfand der Treue von den unterworfenen Stämmen eingezogen worden waren. Derartige Maßnahmen sollten die noch junge römische Herrschaft unterstützen, da sich die Kontrolle der germanischen Stämme zumindest direkt nach der Unterwerfung aufgrund der geographischen und klimatischen Bedingungen als besonders schwierig erwies.

In Xanten war die römische Armee (mit etwa drei Legionen) in der Nähe der Mündung der Lippe in den Rhein stationiert. Das Legionslager befand sich auf dem Fürstenberg, den Augustus zwischen 16 und 12 v. Chr. als idealen Ort ausersehen hatte. In der Nähe gründete später Kaiser Trajan (98–117 n. Chr.) eine Kolonie (Colonia Ulpia Traiana [CUT]), die in der mittleren Kaiserzeit nach Köln (Colonia Claudia Ara Agrippinensium) und Trier (Augusta Treverorum) zur drittgrößten Stadt nördlich der Alpen avancierte.

Arminius hatte in Xanten eine besondere Rolle als Berater der römischen Vertreter in Germanien übernommen. Er wurde zur Vertrauensperson des Varus, der ab 7 n. Chr. den Oberbefehl über die niedergermanische Armee in Xanten und in den anvisierten germanischen Provinzen übernommen hatte, zusammen mit Asprenas als Legaten in Mainz mit mindestens zwei Legionen. Varus vertraute ihm mehr als allen anderen Germanen in seiner Umgebung, die ihn auch wegen ihrer persönlichen Feindschaft gegenüber Arminius warnen wollten – mit fatalen Auswirkungen im Jahre 9 n. Chr.

Varus

Als Varus auf Befehl des Augustus in Germanien das Oberkommando übernahm, hatte er nicht nur eindeutige Aufträge im Gepäck und eine lange erfolgreiche Karriere hinter sich. Er befand sich auch in einer wichtigen Stellung, da er nunmehr in einem noch nicht vollständig herrschaftlich erschlossenen und durchorganisierten Gebiet mit nicht weniger als fünf Legionen über eine große Macht verfügte. Es handelte sich um eine Vorzugsposition, die Augustus nach der Etablierung seiner Monarchie in der Regel nur Mitgliedern seiner Familie zu gewähren gewillt war.

Seit 27 v. Chr. hatte er nach dem Sieg im Bürgerkrieg seine umfassende militärische Macht zum Ausbau einer auf Dauer ausgerichteten monarchischen Stellung genutzt: Mit dem Auftrag der Befriedung und Verteidigung hatte Augustus, wie er von da an ehrenhalber hieß, für die Befriedung der Provinzen und die Verteidigung der Grenzen zu sorgen. Er erhielt dafür den Befehl (imperium proconsulare) auf Zeit – später gar eine übergeordnete Befehlsgewalt (imperium proconsulare maius) – über unbefriedete Grenzen und Gebiete, in denen Legionen stationiert waren. Seine exklusiven „außenpolitischen“ Kompetenzen, die aus republikanischen Traditionen hergeleitet und durch privilegierte Amtsbefugnisse in Rom abgestützt waren (Konsulat, ab 23 v. Chr. tribunicia potestas), waren an den Erfolg gekoppelt. Folglich konnten Niederlagen gegen auswärtige Gegner und Unruhen in den Provinzen die Macht des ersten Mannes (des princeps) in ihren Grundfesten erschüttern.

Die Reihen der senatorischen Familien, welche das Geschick der Republik bestimmt hatten, waren in den 100 Jahren römischer Bürgerkriege sowie nach zwei Pogromen unter Sulla und unter den Triumvirn Antonius, Lepidus und Octavian (Augustus) erheblich ausgedünnt worden. Gleichwohl war Augustus klug genug, mit dem inzwischen ziemlich handzahmen Senat Frieden zu schließen, da dieser seiner Alleinherrschaft als republikanisches Relikt Legitimation verleihen und zugleich das kompetente personale Reservoire zur Verwaltung dieses riesigen Reiches stellen konnte. Im Zuge der Einigung mit dem Senat erhielt dieses altehrwürdige Gremium ab 27 v. Chr. formal auch alle Kompetenzen zurück (so z.B. das Budgetrecht) und verwaltete die befriedeten Provinzen, in denen allerdings dann auch keine Legionen standen.

Seine Mitglieder, die demselben Stand entstammten wie der Princeps Augustus, verfügten jedoch über die ihrem Stand und ihrer Stellung entsprechende Autorität; folglich drohte dem ersten römischen Monarchen immer noch Gefahr gerade aus diesem Stand, wenn ein Senator Kontrolle über Truppen und Ressourcen erhielt. Der Zugang zu wichtigen Provinzen war ihnen daher verwehrt – zu diesen zählte die für die Verpflegung Roms wichtige Provinz Ägypten, die daher auch nur von einem Mitglied des Ritterstands verwaltet wurde.

Karte 2 Römische Provinzen unter Augustus (Stand 14 n. Chr.).

Diese stets präsente Gefahr erklärt auch, warum der Princeps für heikle Aufgaben und große Kommandos nur Mitglieder der eigenen Familie einsetzte: Seine Stiefsöhne, die Söhne seiner Gattin Livia, Tiberius und Drusus, hatten etwa die mit großem Truppenaufgebot betriebene Eroberung des Voralpenraums übernommen. Beide übernahmen wichtige Aufgaben gerade im Norden, bei der Eroberung und Sicherung der Germania Magna sowie Pannoniens.

Varus war schon zu Beginn der militärischen Karriere der Adoptivsöhne in der engsten Umgebung des Augustus und des Tiberius anzutreffen. Als Quaestor Augusti wurde er 22 v. Chr. in Tenos und in Pergamon geehrt und begleitete Augustus vielleicht auf dessen Orientreise (22–19 v. Chr.). Danach wird er irgendwann Praetor gewesen sein. Als Legat des Tiberius ist er dann 15 v. Chr. bei der Heeresgruppe belegt, die von Südwesten her den Stämmen des Voralpenlandes auf den Leib rückte. Er war Befehlshaber der 19. Legion in Dangstetten, der Beschriftung einer Bleischeibe nach zu schließen (H.U. Nuber 2009).

Von Süden her rückte derweil Drusus, der jüngere Bruder des Tiberius, vor. Der bereits im Jahre 16 v. Chr. eingeleitete und gut vorbereitete Feldzug erreichte daher auch bald sein Ziel, die Gebiete bis zur Donau zu unterwerfen. Ein Monument (tropaeum Alpium in La Turbie, Frankreich) kündete ebenso wie entsprechende Münzbeschriftungen stolz von den unterworfenen Völkern und den Ehren für Tiberius und Drusus. Einen Anteil am Erfolg hatte sicherlich auch Varus, der dafür vielleicht das neu eroberte Gebiet auch verwaltete, bis er gemeinsam mit Tiberius im Jahre 13 v. Chr. den Konsulat bekleidete. Schon dies zeigt, dass er der Familie des Princeps nahestand.

Durch seine Ehen wurde diese Nähe in eine feste Form gegossen: Seine zweite Frau, Vipsania Marcella, war die Tochter des Agrippa, welcher der engste Vertraute des Augustus war und bis 13 v. Chr. (also bis zu seinem Tode) beste Chancen auf die Nachfolge in der Position des Augustus hatte. In der dritten Ehe war Varus mit Claudia Pulchra, der Tochter des Marcus Valerius Messalla Barbatus Appianus und der Claudia Marcella der Jüngeren, verheiratet. Varus hatte damit in der Folge zwei Großnichten des Augustus geehelicht. Seine Schwester war darüber hinaus mit Asprenas liiert, der ebenfalls in enger Verbindung zum Princeps stand und als Legat Varus nach Germanien folgte. Asprenas bewährte sich nach der Niederlage des Varus und dem Untergang seiner drei Legionen (der 17., 18. und 19. Legion), indem er mit den verbliebenen zwei Legionen den Rhein so lange sicherte, bis Tiberius diese Aufgabe (bis 12 n. Chr.) übernahm. Eine weitere Schwester hatte sehr wahrscheinlich Sextus Appuleius zum Ehemann, der ein Neffe des Augustus war und in einer wichtigen Übergangsphase als Vertrauter des Princeps im Jahre 29 v. Chr. den Konsulat bekleidete, als es darum ging, die oben angesprochene Einigung mit dem Senat nach dem Sieg des Augustus im Bürgerkrieg auszuhandeln.

Es versteht sich, dass Varus daher ohnehin ein guter Kandidat für wichtige Aufgaben im Reich war, bei denen er sich auch bewährte: Um 9–8 v. Chr. hatte er die Statthalterschaft in Africa Proconsularis inne, in der nach Asia wichtigsten Provinz des Senats (s. Abb. 2). Darauf wurde er zwischen 7/6 und 5/4 v. Chr. zur Lösung schwieriger Aufgaben als kaiserlicher Statthalter in Syrien (legatus Augusti pro praetore provinciae Syriae) eingesetzt, wo er bereits über nicht weniger als drei Legionen verfügte. Als Herodes seinen Sohn Antipatros wegen Mordversuchs anklagte, war er der Richter. Er griff in die Erbauseinandersetzungen der drei Söhne des Herodes nach dessen Tod ein und sandte diese nach Rom, wo Augustus die Entscheidung fällte. Bis dahin hielt er alle Optionen offen, indem er verhinderte, dass der Schatz des Verstorbenen konfisziert wurde. Einen Aufstand in Palästina warf er in sechs Monaten blutig nieder und ließ 2000 Aufständische kreuzigen. Gleichwohl ließ Velleius Paterculus prinzipiell – auch hinsichtlich seiner Rolle als Statthalter von Syrien – kein gutes Haar an ihm, mit dem Wissen um seine Rolle bei der Niederlage in Germanien:

„Die Ursache der Katastrophe sowie die Person des Heerführers machen es erforderlich, dass ich hierbei kurz verweile. Quintilius Varus stammte aus einer angesehenen, wenn auch nicht hochadligen Familie. Er war von milder Gemütsart, ruhigem Temperament, etwas unbeweglich an Körper und Geist, mehr an müßiges Lagerleben als an den Felddienst gewöhnt. Dass er wahrhaft kein Verächter des Geldes war, beweist seine Statthalterschaft in Syrien: Als armer Mann betrat er das reiche Syrien, und als reicher Mann verließ er das arme Syrien. Als er Oberbefehlshaber des Heeres in Germanien wurde, bildete er sich ein, die Menschen dort hätten außer der Stimme und den Gliedern nichts Menschenähnliches an sich, und die man durch das Schwert nicht hatte zähmen können, die könne man durch das römische Recht lammfromm machen.“ (Vell. Pat. 2,117,1–3)

Die Tätigkeit vieler römischer Statthalter wurde von ihren innenpolitischen Gegnern auf diese Weise überspitzt beschrieben. So können wir diese beliebte Formel angemessen einordnen, wenngleich dies Varus nicht von allen egoistischen Motiven freisprechen soll. In jedem Fall übte Velleius Paterculus mit dieser Wertung auch Einfluss auf moderne Forscher aus. So hat auch Theodor Mommsen das Unglück der drei Legionen in Germanien im Jahre 9 n. Chr. insbesondere auf die Unfähigkeit der militärischen Führung zurückgeführt.

Augustus wird Varus jedoch nicht mit den schwierigen Verhältnissen in Syrien betraut haben, wenn er ihn für unfähig gehalten hätte. Auch der Umgang mit der Erhebung in Palästina und die Zusammenarbeit mit Augustus bei der Lösung der Erbschaft des Herodes haben ihn in den Augen des Augustus eher für die anstehenden Aufgaben am Rhein in einer für das Reich schwierigen Zeit empfohlen. Die gleichzeitige Einsetzung des Asprenas in Mainz scheint vielmehr für den Princeps eine ideale Lösung für die genauen, wenn auch schwierigen Aufgaben gewesen zu sein, die er Varus mitgab und die eine enge Abstimmung erforderten.

Diese ist auch dadurch belegt, dass Varus allein – vom Princeps abgesehen – gesichert die Erlaubnis hatte, in seinem eigenen Namen Spenden an die Soldaten vorzunehmen:

Neben Münzen, die den Gegenstempel „IMP“ und „AVC“ für den Princeps aufweisen, tragen viele Kupfermünzen aus der Zeit seiner Tätigkeit in Germanien einen Gegenstempel mit dem Kürzel „VAR“ (= Varus). Derartige Stempel sind Ausweis von Zuwendungen an die Soldaten, die zugleich an den Spender erinnern und damit die Loyalität bekräftigen sollten. Wenn andere Personen als der Princeps die Erlaubnis hatten, ihren eigenen Namen aufzuprägen, dann nur solche, denen der Princeps vertrauen konnte.

Als Varus erneut als legatus Augusti pro praetore provinciae für die geplanten Provinzen im Gebiet zwischen Rhein und Elbe von Augustus ausgesandt wurde, steckte das Reich in einer Krise, die einen Politikwechsel zur Folge hatte. Bislang hatte man die unterworfenen germanischen Stämme eher mit den Vorzügen der römisch-mittelmeerischen Städtekultur behutsam locken wollen.

Cassius Dio, ein Historiker severischer Zeit, der weit nach den hier beschriebenen Ereignissen, um 200 n. Chr., seine römische Geschichte abfasste, aber immerhin für diesen Bericht über die römische Herrschaft in Germanien und die Niederlage des Varus einen guten zeitgenössischen Bericht zur Verfügung hatte, beschreibt die römische Politik vor Varus’ Oberkommando, die wir im Weiteren noch näher erörtern werden (s. Cass. Dio 56,18):