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Jörg Lauster

DAS CHRISTENTUM

Geschichte – Lebensformen – Kultur

C.H.Beck


Zum Buch

Das Christentum ist die größte Weltreligion und hat Geschichte und Kultur weltweit tiefgreifend geprägt. Jörg Lauster schildert anschaulich und auf das Wesentliche konzentriert die Geschichte des Christentums, seine zentralen Motive sowie die Bedeutung von Innerlichkeit und Institutionen, Kultus und Kultur, Ethik und Politik. Dabei gelingt es ihm meisterhaft, das Christentum in seiner großen Vielfalt vorzustellen und zugleich zu zeigen, was all die unterschiedlichen Kirchen und Konfessionen bis heute im Innersten zusammenhält.

Über den Autor

Jörg Lauster, geboren 1966, ist Professor für Systematische Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und hatte Gastprofessuren in Venedig, Rom und Chile inne. Bei C.H.Beck erschienen von ihm «Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums» (6. Auflage 2021, C.H.Beck Paperback 2020) sowie «Der heilige Geist. Eine Biographie» (2. Auflage 2021).

Inhalt

I. Das Christentum in der Geschichte

1. Der Anfang: Jesus Christus

Jesus von Nazareth

Das Reich Gottes in Worten und Taten

Das himmlische Leben

Der Sohn Gottes

2. Vom Werden des Christentums

Der Enthusiasmus des Anfangs

Sich-Einrichten in der Welt: Krisen und Kompromisse

Stabilität durch soziale und geistige Formen

Von der Märtyrersekte zur Staatsreligion

3. Der Aufstieg im europäischen Mittelalter

Die Christentümer des frühen Mittelalters

Missionare, Päpste, Klöster und Universitäten

Die Schattenseiten des Mittelalters

4. Aufbrüche in die Moderne

Das neue Selbstbewusstsein der Renaissance

Die Reformation als Revolution

Das Licht der Aufklärung

Die Erweckung der Frommen

5. Die Transformation im 19. Jahrhundert

6. Globales Christentum im 20. und 21. Jahrhundert

Europa

Amerika

Afrika

Asien

II. Lebensformen des Christentums

1. Innerlichkeit: Die kontemplative Dimension

2. Institution: Die Sozialgestalten des Christentums

3. Ritus: Geheimnisse feiern

4. Kultur: Mit Steinen, Tönen, Bildern und Dichtung predigen

Kirchenbau

Musik

Malerei

Literatur

III. Motive des Christentums

1. Das Gesicht des Weltgrundes

2. Glanz und Elend der Menschen

3. Die Gnade in der Welt

4. Erlösung und Vollendung

IV. Das Jenseits als die Kraft des Diesseits

1. Das Heilige in Personen

2. Christliche Weltgestaltung

Leben, Lieben, Sterben

Arbeit und Gerechtigkeit

Mensch und Umwelt im Anthropozän

Die Zukunft der Welt und die Zukunft des Christentums

Dank

Literatur

I. Das Christentum in der Geschichte

Gesamtdarstellungen

1. Der Anfang: Jesus Christus

2. Vom Werden des Christentums

3. Der Aufstieg im europäischen Mittelalter

4. Aufbrüche in die Moderne

5. Die Transformation im 19. Jahrhundert

6. Globales Christentum im 20. und 21. Jahrhundert

II. Lebensformen des Christentums

1. Innerlichkeit: Die kontemplative Dimension

2. Institution: Die Sozialgestalten des Christentums

3. Ritus: Geheimnisse feiern

4. Kultur: Mit Steinen, Tönen, Bildern und Dichtung predigen

III. Motive des Christentums

IV. Christliche Weltgestaltung

Bildnachweis

Personenregister

I. Das Christentum in der Geschichte

1. Der Anfang: Jesus Christus

Das Christentum beginnt mit einem Menschen, der vor zweitausend Jahren gelebt hat. Jesus von Nazareth trat im Alter von etwa dreißig Jahren am Rande des Römischen Reiches in der Gegend um den See Genezareth auf. Er verkündete den nahen Anbruch des Gottesreiches und verstand sich selbst als sichtbares Zeichen dafür, dass die erlösende Gottesherrschaft schon jetzt durch seine Worte und Taten in der Welt zu wirken beginnt. Die frühen Christinnen und Christen erzählten von dieser göttlichen Gegenwart in einem Menschen in vielen wundersamen Begebenheiten. Es gab in der Antike viele Wundertäter und Prediger. Das Erstaunliche ist, dass dieser eine, der sein Leben der Herrschaft Gottes verschrieb und dafür sterben musste, weit über seine Zeit und sein Wirkungsfeld hinaus Anhänger fand. Seit zweitausend Jahren leben Menschen in vielfältigen sozialen Gestalten, religiösen Riten und ideellen Ressourcen aus der Kraft des Anbruchs des Reiches Gottes in Jesus Christus.

Jesus von Nazareth

Die Schriften des Neuen Testaments sind beides zugleich, Gründungsurkunde und Quelle für den Beginn des Christentums. Die ältesten christlichen Zeugnisse sind die Briefe des Apostels Paulus, die er in den Fünfzigerjahren des 1. Jahrhunderts an entstehende christliche Gemeinden schrieb. Sie lassen erkennen, wie sich das frühe Christentum in seiner Begeisterung angefühlt haben muss. Paulus lebt aus der Gewissheit, dass Christus in ihm gegenwärtig ist, er sagt aber so gut wie nichts über das Leben und Wirken Jesu.

Das änderte sich eine Generation nach ihm. Zwischen 70 und 90 n. Chr. entstanden die ersten Evangelien. Die erste Generation von Aposteln, die sich teilweise noch zu den Jüngern Jesu zählten, war gestorben. Der Wunsch, die Anfänge festzuhalten, wuchs. Die frühen Christinnen und Christen wollten wissen, wer Jesus war. Sie wollten zugleich ihr eigenes neues Lebensgefühl als legitime Fortführung eines göttlichen Anfangs verstehen. Die Evangelien sind die wichtigsten und umfassendsten Quellen über das Leben Jesu. Sie wurden allerdings von Menschen überliefert, die nicht einfach aufzeichneten, wie etwas war, sondern bezeugen wollten, wie das, was war, in ihnen fortwirkte. Für sie war Jesus nicht nur ein Mensch aus Nazareth, für sie war er Gottes Sohn. Es ist die schwierige, aber nicht unmögliche Aufgabe wissenschaftlicher Bibelforschung, aus diesen Quellen die Konturen der historischen Persönlichkeit Jesu zu rekonstruieren.

Jesus wurde zwischen 4 v. Chr. und 6 n. Chr. in der galiläischen Stadt Nazareth geboren. Er wuchs dort in einer Handwerkerfamilie mit Geschwistern auf. Die Zeiten waren unruhig. Die jüdische Bevölkerung rang darum, ihre politische und religiöse Eigenständigkeit gegen die hellenistische und römische Kultur zu bewahren. Für das antike Judentum war die Gefährdung politischer Selbstständigkeit eine religiöse Bedrohung, denn sie stellte die göttliche Erwählung und die daran geknüpften Verheißungen an das Volk Israel infrage. Johannes der Täufer steht für eine der vielen Erneuerungsbewegungen. Er trat als apokalyptischer Prediger des bevorstehenden Gerichts auf, vor dem allein Reue und das Bekenntnis der Sünden retten kann. Sichtbares Zeichen dieser Umkehr war die Taufe im Jordan. Jesus war einer seiner Anhänger, bis er selbst 29/30 n. Chr. in den galiläischen Dörfern in der Nähe des Sees Genezareth als Botschafter des kommenden Gottesreiches in Erscheinung trat. Jesus nahm die Erwartungen seiner Zeit auf und prägte sie doch entscheidend um.

Das Reich Gottes hatte, so der Kern seiner Predigt, schon begonnen, es wurde in ihm selbst, in seinen Worten und Taten in der Welt sichtbar. Jesus scharte mit seiner Predigt Anhängerinnen und Anhänger um sich und fand zunächst großen Zulauf. Mit seinem Anspruch geriet er jedoch in Konflikt mit dem traditionsorientierten Judentum, er enttäuschte die Erwartungen der politischen Kreise und erregte Aufsehen bei den römischen Besatzern. Seine Verhaftung war eine logische Folge der durch sein Wirken ausgelösten Feindseligkeiten. Nach kurzem Prozess wurde Jesus im Umfeld des Passafestes um das Jahr 30 in Jerusalem am Kreuz hingerichtet.

Das Reich Gottes in Worten und Taten

Der Anbruch des Reiches Gottes ist das Zentrum des Wirkens Jesu. Die alttestamentlichen Schriften sprachen vom Königreich Gottes und der Gottesherrschaft, um die Hoffnung auf eine Welt kundzutun, die ganz von Gott als ihrem Schöpfer und Regenten durchdrungen ist. Die Erlösung von Mensch und Welt geschieht durch die Herrschaft Gottes, der gleich einem vollkommenen König die Welt lenkt und das Böse überwindet. Das Reich Gottes ist universal. Denn das Heil, das mit der Gottesherrschaft in die Welt kommt, geht über die Erlösung des Individuums hinaus, es erstreckt sich auf das Zusammenleben der Menschen und wirkt bis in die Natur hinein.

Davon künden auch die Worte und Taten Jesu. Vom Kommen des Gottesreiches hat Jesus vor allem in Gleichnissen gesprochen. Er griff darin auf Beispiele aus der ländlichen Alltagswelt zurück. Das Reich Gottes gleicht in seinem Werden dem Wachsen eines Senfkorns, das zunächst als winziges Saatgut in die Erde gelangt und am Ende so große Bäume hervorbringt, dass Vögel darin wohnen können (Mk 4,30–​32). Vieles von der Arbeit des Sämanns ist vergeblich, seine Aussaat fällt auf steinigen Boden oder wird von Vögeln aufgepickt; wo sie aber auf fruchtbaren Boden gerät, bringt sie ganz von selbst reiche Frucht (Mk 4,3–​9.13–​20; Mk 4,28).

Diese Kraft wird konkret sichtbar und physisch erlebbar in den Heilungen kranker Menschen, von denen die Evangelien berichten. Jesu Heilungswunder basieren gemessen an dem heutigen Verständnis von Krankheit auf einem grundsätzlich anderen Weltbild. Krankheit ist nicht vorrangig in körperlichen Ursachen begründet, sondern in der Wirksamkeit von Dämonen. Die Herrschaft Gottes beginnt, wo die Macht der bösen Dämonen gebrochen wird. Ein wiederkehrendes Motiv der Krankenheilungen ist darum der Satz Jesu «Dein Glaube hat dich gesund gemacht» (Mk 5,34, ähnlich Mk 10,52). Der Glaube an die Kraft des Guten, der die Macht des Bösen in der Welt überwindet, ist der Anfang der Gottesherrschaft.

Ein Zeichen der konkret physischen Dimension der göttlichen Wirksamkeit in der Welt sind auch die Gastmähler, zu denen Jesus einlud. Jesus überwand darin die zu seiner Zeit geltenden sozialen Grenzen und nahm sich der Menschen am Rande der Gesellschaft an: Zöllner, Dirnen und Bettler. Das Reich Gottes kennt keine sozialen Hierarchien und Grenzen und eben darum auch keine Ränder. Das Miteinander der Menschen wird sein wie das freudige Beisammensein von Gästen bei einem Gastmahl. Das Motiv der Sättigung spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Gottesherrschaft überwindet real Mangel, Hunger und Durst. Das Johannesevangelium hat später die materielle Erlösungsdimension ins Seelische gewendet. So wie der Körper mit Speise, so wird die Seele mit Ewigkeit gesättigt (Joh 6,30–​34). Im Umfeld der Gastmähler sind auch die jesuanischen Speisungswunder angesiedelt, in denen Jesus mit fünf Broten und zwei Fischen Tausende Menschen satt machen kann (Mk 6,30–​42; ähnlich Mk 8,1–​9). In ihnen schwingt die soziale Dimension vom Nutzen des Teilens mit, vor allem aber sind sie im eigentlichen Sinn Naturwunder. Dazu gehören auch die Erzählungen, in denen Jesus die Macht hat, einen Sturm auf dem See Genezareth zu beenden (Mk 4,35–​41), oder über den See wandelt, ohne unterzugehen (Mk 6,45–​52). Mit diesen Taten setzt Jesus den Naturzusammenhang außer Kraft. Sie gelten darum als das eigentlich Mirakulöse seines Handelns und sind in ihrer historischen Wahrscheinlichkeit auch umstrittener als seine Heilungswunder. Ihre religiöse Botschaft ist dagegen glasklar: «Wer ist der, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind?» (Mk 4,41) Das Reich Gottes durchdringt auch die Natur.

Das zentrale religiöse Motiv der Gottesherrschaft ist die Sündenvergebung. Jesus nimmt darin die Predigt zur Umkehr auf, die Johannes der Täufer verkündete, und wendet sie ins Existenzielle. Sie spielt in den Krankenheilungen eine Rolle (Mk 2,5–​10) und wird in Gleichnissen zum Thema. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15) bringt die Botschaft auf den Punkt. Entgegen den üblichen sozialen Regeln ist auch ein missglücktes oder gescheitertes Leben – selbst wenn es auf eigener Schuld beruht – von Barmherzigkeit getragen. Der Einbruch des Göttlichen zeigt sich, wo Menschen in ihrer Lebensgeschichte Erbarmen erfahren (Lk 7,36–​50). Mitleid ist ein häufig genanntes Motiv (Mk 1,41; 6,34), wenn Jesus sich Menschen zuwendet. «Taten des Mitleids und des Erbarmens» nannte darum Albert Schweitzer das, was die Evangelien vom Anbruch der Gottesherrschaft durch Jesus erzählen (Schweitzer, Gespräche, 109). Jesus ist der gute Hirte (Joh 10), durch den die Gegenwart Gottes in der Welt sichtbar wird. Es ist die Gegenwart eines entgegen allem Widersinn und Bösen in der Welt durchschimmernden grenzenlosen göttlichen Wohlwollens, das die Welt trägt und den Menschen zuspricht: «Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.» (Mt 11,28)

Das himmlische Leben

Der Anbruch der Gottesherrschaft verwandelt die Welt, die Menschen und ihr Handeln. Nicht die Sicherung der eigenen Existenz, sondern die Hinwendung zum Reich Gottes ist das, was in den Evangelien menschliches Leben ausmacht. «Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.» (Mt 6,33) Der Satz steht in der Bergpredigt, einer Sammlung von Aussprüchen Jesu, die der Evangelist Matthäus als Predigt auf einem Berg zusammengestellt hat. Sie ist einer der wichtigsten Texte des Christentums zum Lebenswandel im Angesicht des Reiches Gottes, der Nachfolge Christi. Die einleitenden Seligpreisungen verdeutlichen den fundamentalen Sinneswandel, den Jesus predigte. Die Sanftmütigen, die nach Gerechtigkeit Hungernden, die Friedfertigen sind es, die glückselig sein werden. Die Radikalität gipfelt in dem Verzicht auf Vergeltung: «Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dann biete die andere auch dar» (Mt 5,39) und schließlich in dem Aufruf: «Liebet eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen!» (Mt 5,44) Die Gottesherrschaft durchbricht den Kreislauf menschlicher Selbstdurchsetzung mit der Macht der Liebe. Nicht das Beherrschen, sondern das gegenseitige Dienen bestimmt das Verhältnis der Menschen zueinander (Mk 10,35–​45).

Der neue Lebenswandel ist wichtiger als Hab und Gut. Jesus kritisiert den Reichtum, weil er von der Seele des Menschen Besitz ergreift. Leichter, so ein berühmtes Wort Jesu, geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Himmelreich gelangt (Mk 10,25). Das Reich Gottes ist eine göttlich getragene Ordnung, in der Menschen aufgehoben sind. Der Glaube daran befreit vom Kampf um das Dasein. Darum finden sich in der Bergpredigt nicht nur radikale ethische Forderungen, sondern auch Ermunterungen zu einer gelassenen Besonnenheit:

Darum sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie? (Mt 6,25–​26).

Jesus gleicht darin einem griechischen kynischen Weisheitslehrer. Die Überzeugung einer geradezu kosmischen Geborgenheit mündet ein in die Feststellung: «Denn welchen Nutzen hätte der Mensch, wenn er die ganze Welt gewönne und verlöre sich selbst oder nähme Schaden an sich selbst?» (Lk 9,25) In der Moderne war es ausgerechnet Friedrich Nietzsche, der trotz seines wachsenden Hasses auf das Christentum eine tiefe Ahnung hatte von der Bedeutung des neuen Lebenswandels in der Gottesherrschaft, den Jesus ankündigte. Von Jesu könne man lernen, «wie man leben müsse, um sich ‹im Himmel› zu fühlen, um sich ‹ewig› zu fühlen» (Nietzsche, Antichrist, Nr. 33).

Mahnend werden Jesu Worte, wenn er auf Uneinsichtigkeit, Unbelehrbarkeit und Ablehnung der göttlichen Gegenwart stößt. Das Leben aus der Gewissheit der Gottesherrschaft ist an den Taten zu messen, für die Menschen zur Verantwortung gezogen werden. In der Rede vom großen Weltgericht macht er den Maßstab deutlich, der im Gericht angewandt wird: «Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr auch mir nicht getan.» (Mt 25,45) In den Evangelien tauchen wiederholt Züge Jesu auf, die uns heute, aber vermutlich schon seinen Zeitgenossen, als äußerst sperrig erscheinen mussten. Darin hebt er die Unverträglichkeit seiner Botschaft mit den Gesetzen der Welt hervor: «Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.» (Mt 10,34) Ein Leben aus der Gottesherrschaft bedeutet bedingungslose Ernsthaftigkeit. Dem Christentum ist damit eine tiefe Spannung eingegeben, an der es sich zeit seiner Geschichte abarbeitet. Das Reich Gottes ist das Reich einer erlösenden, das Universum tragenden Barmherzigkeit. Aus ihr kann das Leben höchste Steigerung und Vollendung erlangen, im Widerspruch zu ihr kann es fatal scheitern und zugrunde gehen.

Der Sohn Gottes

Jesus predigte und lebte die Gottesherrschaft. Der damit verbundene Anspruch gab seinen Zeitgenossen, Anhängern wie Gegnern, ja auch seiner eigenen Familie Rätsel auf. «Was ist das?», fragen sich die Menschen im Markusevangelium: «Eine neue Lehre in Vollmacht!» (Mk 1,27) Eines der geheimnisumwittertsten Bilder in Jesu Worten weist in die Richtung, woher Jesus diese neue Vollmacht nahm: «Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz.» (Lk 10,18; vgl. Roloff, Jesus, 73f.) Mit dem Sturz des Satans ist die Macht des Bösen gebrochen, die Wende der Zeit ist eingetreten, das Reich Gottes beginnt. Jesus verstand sich als Propheten und Repräsentanten dieser Erfahrung. Darin sah er seinen besonderen Auftrag. Dass er in der Gewissheit wirkte, Gottes Sohn zu sein, der sterben müsse, um am dritten Tage aufzuerstehen, ist nicht sehr wahrscheinlich. Entgegen der vorherrschenden Tendenz der Verherrlichung Jesu schimmert in den Evangelien an wenigen Stellen durch, wie er an seinem Auftrag und auch an seinen Kräften gezweifelt haben könnte. Vor seiner Festnahme im Garten Gethsemane bittet er im einsamen Gebet darum, dass der Kelch an ihm vorübergehen möge (Mk 14,36). Am Kreuz ruft er schließlich aus: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» (Mk 15,34)

Hörerinnen und Hörer des Evangeliums kannten zu allen Zeiten die Antwort auf diese Frage. Gott hat Jesus nicht verlassen. Die Evangelien lassen nicht den Hauch eines Zweifels daran aufkommen, dass Jesus Gottes Sohn ist. Um das zu verkündigen, wurden sie geschrieben. Sie erzählen dies auf unterschiedliche Weise. Nach Markus wird Jesus in der Taufe der göttliche Geist verliehen, dadurch wird er zu Gottes Sohn (Mk 1,9–​11). Matthäus und Lukas verlegen die Gottessohnschaft noch weiter zurück in das Geburtsgeschehen. In der lukanischen Variante «überschattet» der heilige Geist Maria (Lk 1,35). Die Geburt Jesu wird entsprechend der messianischen Verheißung nach Betlehem verlegt. Hirten und Engel erkennen, dass in dem Geschehen im Stall das göttliche Friedensreich seinen Anfang nimmt. Für Johannes schließlich ist der irdische Jesus identisch mit dem göttlichen Logos, der bereits vor der Schöpfung in Gott existierte. Die Ausführlichkeit, mit der die Evangelien die Passion schildern und als notwendigen Bestandteil eines göttlichen Auftrags interpretieren, macht deutlich, dass für das frühe Christentum hier besonderer Erklärungsbedarf bestand. Wie kann es sein, dass Jesu Anspruch, den Beginn der Gottesherrschaft einzuläuten, mit der Hinrichtung am Kreuz an sein Ende kam? Die Antworten sind vielfältig. Sie reichen von der Aufopferung für eine Idee über die Vorstellung von einem stellvertretenden Sühnopfer bis zur Hingabe für die Freunde. In alledem erscheint Jesu Tod als notwendiger Teil der göttlichen Erlösung.

Trotz ihrer unterschiedlichen Akzentuierung ist allen Evangelien gemeinsam, dass sie in Jesus Gottes Sohn sehen. Sein Leben und sein Sterben folgen von Anfang an göttlicher Führung und sind Teil des universalen göttlichen Heilsplans. In ihm geht in Erfüllung, was die alttestamentlichen Propheten über den Messias weissagten. Darum verleihen die Evangelien Jesus theologische «Hoheitstitel», von denen das griechische christos, der Gesalbte, neben der Bezeichnung als Gottessohn zum wichtigsten wurde. Jesus Christus ist kein Name, sondern ein Bekenntnis: Jesus ist der Gesalbte, der Messias.

Die Evangelien verkünden, wie die Herrschaft Gottes in Jesu Worten und Taten begann und auch nach seinem Tod weiterwirkte. Sie erzählen zum einen vom leeren Grab, zum anderen von Erscheinungen des Auferstandenen. Die Frage, ob Jesus tatsächlich von den Toten auferstanden ist, begleitet die Auferstehungsberichte von Anfang an. Für viele Christinnen und Christen ist bis heute der Glaube an das historische Faktum der Auferstehung Jesu essentiell, weite Teile der modernen Theologie urteilen vorsichtiger oder umgehen das Thema. Verlässlich lässt sich sagen, dass alle Auferstehungserzählungen einen gemeinsamen Kern haben. Jesu Anhängerinnen und Anhänger nahmen auch nach seinem Tod seine Gegenwart wahr und empfingen aus ihr die Kraft, das Leben dem Reich Gottes zu widmen. Es ist ein weitgehender Konsens, die Auferstehung als Symbol für die bleibende Gegenwart Christi zu verstehen.

Die Evangelien umkreisen diese Botschaft mit den Mitteln der literarischen Erzählung. Lukas erschafft in der Geschichte der Emmausjünger eine der tiefsinnigsten: Zwei Jünger verlassen nach den Ereignissen in Jerusalem traurig die Stadt, als sich ein Unbekannter zu ihnen gesellt. Sie erkennen ihn während ihres langen Weges nicht. Erst als er mit ihnen zu Tisch sitzt und das Brot bricht, gehen ihnen die Augen auf. Es ist der auferstandene Christus. Mit der Bitte, die sie zuvor an ihren Weggefährten gerichtet haben, bringt Lukas zum Ausdruck, was die Auferstehung Jesu Christi für das Christentum bedeutet: «Bleibe bei uns, denn es will Abend werden.» (Lk 24,29)

2. Vom Werden des Christentums

Das Christentum wurde aus der Erfahrung geboren, dass Gott durch die Person Jesus Christus in der Welt nicht nur gegenwärtig ist, sondern auch sichtbar wird. Die Überzeugung, dass die erlösende Kraft Gottes fortwirkt, macht das Christentum aus. Das schon angebrochene Reich Gottes ist darum kein bestimmter Zustand, sondern stets ein Werden und eine Aufgabe. Davon handelt die Geschichte des Christentums. Sie besteht nicht allein aus der Abfolge von Ereignissen, sondern auch aus den Versuchen, die Erfahrung des Reiches Gottes in der eigenen Lebensweise zu verwirklichen. Die Geschichte des Christentums ist darum mehr als die Geschichte ihrer Kirchen, sie ist als eine Geschichte des Sinns zu erzählen, den die erlösende Kraft Gottes in der Welt stiftet.

Der Enthusiasmus des Anfangs

Die ersten Christinnen und Christen erlebten die göttliche Kraft nach Jesu Tod in ihrer Gemeinschaft und in sich selbst. Im Laufe von etwa zwei Jahrhunderten nahm die Kraft der Gottesgegenwart Formen an. Das Christentum gewann aus seinen unscheinbaren, fließenden und schwer zu fassenden Anfängen Gestalt.

Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. Es kam aber Furcht über alle, und es geschahen viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden. (Apg 2,42–​47)

Lukas begründete damit das Ideal einer einmütigen, sich gegenseitig helfenden und beständigen Gemeinschaft, die zur Mutter vieler Utopien in der christlichen Kulturgeschichte wurde. Der proklamierte «Liebeskommunismus» verkörpert das Selbstbewusstsein der frühen Christen, dem Auftrag Jesu Christi zu entsprechen und in der Kraft seines Geistes schon jetzt etwas vom Himmel auf dieser Erde wahr werden zu lassen.