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Thomas Junker

DIE EVOLUTION
DES MENSCHEN

Verlag C.H.Beck


Zum Buch

Für die Evolutionsbiologie sind Menschen eine Tierart unter vielen, mit Eigenschaften, die sich als Anpassungen an frühere und heutige Umweltbedingungen erklären lassen. Diese Sichtweise ist zunächst ungewohnt, sie hat aber ihre Vorteile. Besonders deutlich wird dies bei Themen wie Aggression und Sexualität, Kultur und Moral.

Charakteristisch für die evolutionsbiologische Forschung ist, dass sie die Frage nach der Natur des Menschen in lösbare Teilprobleme zerlegt: Wie sind Menschen entstanden? Wer waren ihre Vorfahren? Warum gibt es überhaupt Menschen? Wie lassen sich ihr Körperbau, Aussehen und Verhalten im Einzelnen erklären? Warum sehen die Menschen der verschiedenen Erdteile und Länder anders aus? Warum unterscheiden sich Frauen und Männer in Merkmalen wie Größe und Behaarung? Warum in ihrem Verhalten? Warum werden Menschen krank, warum sterben sie? Warum gibt es Kunst und Kultur?

Bei der Beantwortung dieser Fragen hat man in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. Doch wie reicht die evolutionsbiologische Methode? Anders gefragt: Wie formbar ist die biologische Natur der Menschen durch Gesellschaft und Kultur? Um die Reichweite der biologischen Erklärungen beurteilen zu können, muss man sie testen. Dieser Test ist ein Leitmotiv des Buches: Beispielhaft zeigt es, wie erfolgreich die Evolutionsbiologie menschliche Eigenschaften bereits heute erklären kann, wo offene Fragen sind und wo sie noch an Grenzen stößt.

Über den Autor

Thomas Junker ist Professor für Biologiegeschichte an der Universität Tübingen. Bei C.H.Beck sind von ihm lieferbar: Geschichte der Biologie. Die Wissenschaft vom Leben (2004); Der Darwin-Code. Die Evolution erklärt unser Leben (zus. mit Sabine Paul; 32010); Die 101 wichtigsten Fragen: Evolution (2011); Die verborgene Natur der Liebe. Sex und Leidenschaft und wie wir die Richtigen finden (2016).

Inhalt

Das evolutionäre Erbe

Homo sapiens? – Pan sapiens!

Was spricht für die Primaten-Abstammung der Menschen?

Der anatomische Vergleich heute lebender Tierarten

Der Vergleich von Proteinen und DNA

Die molekulare Uhr

Fossilfunde

Von Affen zu Menschen

Der letzte gemeinsame Vorfahre

Die aufrecht laufenden Menschenaffen

Die ersten Menschen

Afrika und die Eroberung der Welt

Krieg oder Liebe?

Urheimat im Kaukasus

Out of Africa

Neandertaler und Cro-Magnons

Wer sind unsere Vorfahren?

Anpassungen und Umwelt

Der Sinn des Lebens

Fehlernährung und Übergewicht

Das Othello-Syndrom

Sexuelle Strategien

Warum Sexualität?

Kampf und Kooperation der Geschlechter

Cosi fan tutte?

Die Don-Juan-Strategie

Die Evolution des menschlichen Paarungssystems

Ein soziales Tier

Nutzen und Kosten des Gemeinschaftslebens

Verwandtenselektion und Bündnisse auf Gegenseitigkeit

Familienbande: ein zweischneidiges Schwert

Die Erfindung des Feigenblattes

Wissen ist Macht

Schädelmessungen

Leonardo’sche Intelligenz

Machiavelli’sche Intelligenz

Fleisch, Feuer und die Entstehung der Menschen

Kultur und Kunst

Das zweite Vererbungssystem

Kultur bei Schimpansen und Menschen

Die ältesten Belege: Steinwerkzeuge

Kommunikation durch Sprache

Geheimwaffe Kunst

Die Neolithische Revolution

Kulturelle oder genetische Expansion?

Die biologische Zukunft der Menschheit

Weiterführende Literatur

Übersichtswerke zur Evolution des Menschen

Geschichte der Anthropologie

Das evolutionäre Erbe

Homo sapiens? – Pan sapiens!

Von Affen zu Menschen

Afrika und die Eroberung der Welt

Anpassungen und Umwelt

Sexuelle Strategien

Ein soziales Tier

Wissen ist Macht

Kultur und Kunst

Die Neolithische Revolution

Register

Das evolutionäre Erbe

Für die Evolutionsbiologie sind Menschen eine Tierart unter vielen, mit Eigenschaften, die sich als Anpassungen an frühere und heutige Umweltbedingungen erklären lassen. Diese Sichtweise ist zunächst ungewohnt, sie hat aber ihre Vorteile. Scheinbar selbstverständliche menschliche Verhaltensweisen, deren Erkenntnis durch Gewohnheit, Wunschdenken und gesellschaftliche Glaubenssätze erschwert wird, lassen sich aus der distanzierten, vergleichenden Perspektive ganz anders verstehen. Besonders deutlich wird dies bei Themen wie Aggression und Sexualität, Kultur und Moral, es lässt sich aber allgemein beobachten.

Die Tatsache, dass Menschen Fähigkeiten haben, die sich bei anderen Tieren nur in Ansätzen finden – Sprache, Kunst und Wissenschaft beispielsweise –, widerspricht dem nur auf den ersten Blick. Aus biologischer Sicht haben Menschen eben einzigartige Merkmale – so wie auch alle anderen Lebewesen auf ihre spezielle Art besonders und einzigartig sind. Nichtsdestoweniger stellt sich die Frage, ob sich die außergewöhnlichen Eigenschaften der Menschen tatsächlich mit den allgemeinen evolutionären Mechanismen erklären lassen oder ob die Methode hier an Grenzen stößt.

Die Evolutionsbiologie versucht diese Schwierigkeiten zu überwinden und Antworten auf die Frage nach der Natur der Menschen zu geben, indem sie sie in lösbare Teilprobleme zerlegt: Wie sind Menschen entstanden? Wer waren ihre Vorfahren? Warum gibt es überhaupt Menschen? Wie lassen sich ihr Körperbau, Aussehen und Verhalten im Einzelnen erklären? Warum sehen die Menschen der verschiedenen Erdteile und Länder anders aus? Warum unterscheiden sich Frauen und Männer in Merkmalen wie Größe und Behaarung? Warum in ihrem Verhalten? Warum werden Menschen krank, warum sterben sie? Warum gibt es Kunst und Kultur?

Bei der Beantwortung dieser Fragen hat man in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. Dies liegt zum einen an neuen, innovativen Herangehensweisen und theoretischen Konzepten. Zum anderen stehen mehr empirische Daten und verbesserte Analysemethoden zur Verfügung. So wurden zahlreiche Fossilien gefunden, die zwar nicht lückenlos sind – nicht sein können –, die aber die allgemeine Entwicklung recht gut dokumentieren. Die vergleichenden Untersuchungen von Proteinen und Erbmaterial (DNA) von verschiedenen heute lebenden Arten und Populationen haben das Verständnis der Abstammungsverhältnisse und Wanderungen enorm verbessert. Spektakuläre Erkenntnisfortschritte ergaben sich auch durch die Möglichkeit, Erbmaterial und Proteine aus mehrere zehntausend Jahre alten Knochen direkt zu analysieren («ancient DNA»; Paläoproteomik). Und schließlich ermöglicht es die vergleichende Verhaltensforschung an Schimpansen, Bonobos und anderen Primaten, die Entstehung und Funktion typisch menschlicher Verhaltensweisen aus einer übergreifenden Perspektive zu betrachten.

Die neuen, teils spektakulären Funde und Erkenntnisse könnten den Eindruck vermitteln, dass sich unser Wissen über die Evolution der Menschen in einem ständigen Umbruch befindet. Dieses Gefühl wird dadurch verstärkt, dass Wissenschaftler und Journalisten das Neue an den aktuellen Forschungsergebnissen besonders betonen, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu erregen. Man kann verstehen, warum sie glauben, dies tun zu müssen. In der Öffentlichkeit entsteht so aber leicht die Vorstellung, dass die biologischen Wissenschaften vom Menschen zwar viele spannende Details liefern, dass ihnen aber alles in allem ein stabiles Wissensfundament fehlt. Dieser Eindruck täuscht.

Die Erkenntnisse zur Evolution der Menschen wurden durch die neuesten Funde zwar im Detail modifiziert, zugleich aber in den Grundzügen bestätigt. Beispiele für bewährte Befunde sind die nahe Verwandtschaft von Menschen und anderen Menschenaffen, die allgemeinen Abstammungslinien von den gemeinsamen Vorfahren mit den Schimpansen über die noch affenartigen Australopithecinen bis zu den ersten echten Menschen vor rund zwei Millionen Jahren und bis zu unserer eigenen Art Homo sapiens vor mehr als 200.000 Jahren. Ob dieses Modell in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten durch ein anderes ersetzt werden muss, wird man sehen. Wahrscheinlich ist es nicht, denn die unterschiedlichen Puzzlesteine aus den verschiedenen Wissenschaften ergeben bei allen verbliebenen Leerstellen schon heute ein vergleichsweise stimmiges Bild der evolutionären Entstehung der Menschen.

Wie weit reicht die Methode der Evolutionsbiologie? Eine Grenze sind kulturell erworbene, d.h. erlernte Verhaltensweisen (wobei die Fähigkeit zu lernen und damit zur Kultur selbst eine biologische Anpassung ist). In einigen Fällen lässt sich relativ leicht unterscheiden, ob ein Verhalten genetisch oder kulturell determiniert ist. So ist die Tatsache, dass man in Großbritannien auf der linken, in anderen Ländern auf der rechten Straßenseite fährt, erlernt und nicht durch ein britisches Linksfahr-Gen bestimmt. Andererseits basieren Hunger, Durst, Schlafbedürfnis und andere grundlegende Gefühle auf einem genetischen Programm und können durch Erziehung nur oberflächlich modifiziert werden. In wieder anderen Fällen sind der kulturelle und der genetische Anteil eng verwoben. Sprachen beispielsweise muss man über viele Jahre erlernen – dies funktioniert aber nur, weil wir die entsprechenden biologischen Anlagen mitbringen. Allgemein formuliert, führt dies zu der heiß diskutierten Frage: Wie formbar ist die biologische Natur der Menschen durch die Gesellschaft, durch Erziehung und geistige Beeinflussung?

Um die Reichweite der evolutionsbiologischen Erklärungen beurteilen zu können, muss man sie testen. Dieser Test ist ein Leitmotiv des Buches: Beispielhaft zeigt es, wie erfolgreich die Evolutionsbiologie menschliche Eigenschaften bereits heute erklären kann, wo offene Fragen und ungelöste Probleme sind und wo sie noch an Grenzen stößt.

Homo sapiens? – Pan sapiens!

Am 14. Februar 1747 machte der berühmte Botaniker Carl Linnaeus seinem Ärger in einem Brief an den Sibirienforscher Johann Georg Gmelin Luft: «Ich frage Sie und die ganze Welt nach einem Gattungsunterschied zwischen dem Menschen und dem Affen, d.h., wie ihn die Grundsätze der Naturgeschichte fordern. Ich kenne wahrlich keinen und wünschte mir, dass jemand mir nur einen einzigen nennen möchte. Hätte ich den Menschen einen Affen genannt oder umgekehrt, so hätte ich sämtliche Theologen hinter mir her; nach kunstgerechter Methode hätte ich es wohl eigentlich gemusst» (Gmelin 1861: 55).

Was war geschehen? Zwölf Jahre zuvor hatte Linnaeus in der ersten Auflage seines Systems der Natur ein äußerst ehrgeiziges Programm vorgestellt. Er wollte, wie er später schrieb, nicht weniger als «ALLES, was auf der Erde vorkommt» benennen und einordnen (1751: 1). Alles – dazu zählten für ihn nicht nur alle Arten von Pflanzen, Mineralien und Tieren, sondern selbstverständlich auch die Menschen. Die Art Homo sapiens (vernünftiger Mensch), wie er sie nannte, bekam den ersten Rang zugewiesen, wurde aber zu den vierfüßigen Tieren (‹Quadrupedia›) gestellt. In den folgenden Jahren änderte Linnaeus die eine oder andere Zuordnung und führte für die vierfüßigen Tieren den heute üblichen Namen ‹Säugetiere› (‹Mammalia›) ein. Aber an dem Punkt, der ihm die meiste Kritik eingetragen hatte, ließ er sich nicht beirren: Die Menschen blieben Teil des Systems der Natur und sie standen nahe bei den Affen.

Aus heutiger Sicht mag man die Aufregung der Zeitgenossen von Linnaeus belächeln, schließlich hatte er nur ein Ordnungssystem geschaffen, das sich zudem lediglich auf gut abgrenzbare körperliche Merkmale bezog. Höhere geistige Fähigkeiten, beispielsweise die Sprache, soll nur der Mensch haben, davon war Linnaeus wie fast alle Naturforscher seiner Zeit überzeugt. In vielerlei Hinsicht war sein System also ein noch unsicherer erster Schritt. Zugleich markierte es aber den Beginn einer weltanschaulichen Revolution, deren Konsequenzen erst langsam ins Bewusstsein der Menschen traten. Von nun an waren sie ein Teil der Natur, eine Tierart unter vielen. Die uralte Frage nach der Natur des Menschen konnte nicht nur, nein sie musste mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht werden: Die Biologie würde von nun an selbst eine Anthropologie sein, eine Lehre vom Menschen.

Und heute? Welche Chancen hätte der Vorschlag, den Menschen einen Affen zu nennen, oder umgekehrt? Molekulargenetische Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen mehr als 98 Prozent ihrer DNA und fast alle Gene mit Schimpansen gemeinsam haben (mit Mäusen beispielsweise sind es rund 80 Prozent). Tierarten mit einem so geringen genetischen Abstand werden normalerweise in einer einzigen Gattung vereint. Die Menschen wären dann, wie Jared Diamond vor einigen Jahren anregte, neben Schimpansen und Bonobos die dritte Schimpansenart, Pan sapiens (Diamond 1998; Nature 2005).

Linnaeus hat die Ähnlichkeiten zwischen Menschen und anderen Primaten nicht mit ihrem gemeinsamen evolutionären Ursprung erklärt, sondern er glaubte, dass jede Art getrennt erschaffen worden sei. Einige seiner Zeitgenossen waren da weniger zögerlich, und bald begann man über Menschen als abgewandelte Affen und umgekehrt zu spekulieren. Durchgesetzt hat sich die Evolutionstheorie aber erst ein Jahrhundert später, als Charles Darwin zeigen konnte, wie sich die Eigenschaften der Lebewesen im Wechselspiel von Vererbung und Auslese verändern. Das natürliche System wurde so zur Grundlage für den Stammbaum der Organismen. Denn gemeinsame Abstammung, schrieb Darwin, sei «die einzige sicher bekannte Ursache von Ähnlichkeit bei Lebewesen» (1859: 456). Der Schluss von Ähnlichkeit auf Verwandtschaft ist nicht in allen Fällen zutreffend, bei Wahl geeigneter Merkmale und Methoden aber sehr wohl geeignet, zuverlässige Stammbäume zu erstellen.

Was spricht für die Primaten-Abstammung der Menschen?

Primaten sind eine Ordnung der Säugetiere mit rund 230 heute lebenden Arten. Feuchtnasenaffen (Strepsirhini) und Koboldmakis (Tarsiiformes) hat man früher als Halbaffen (Prosimiae) zusammengefasst. Die sogenannten echten Affen werden in die Neuweltaffen Amerikas (Platyrrhini, Breitnasenaffen) sowie in die Altweltaffen Afrikas und Asiens (Catarrhini, Schmalnasenaffen) unterteilt. Zu den Altweltaffen zählen die Schwanzaffen (Cercopithecoidea) sowie die Menschenaffen einschließlich der Menschen (Hominoidea). ‹Primaten› ist also der wissenschaftliche Name für eine Tiergruppe, die man im Deutschen umgangssprachlich als ‹Affen› bezeichnet. In diesem Sinne stammen die Menschen selbstverständlich von Affen bzw. von Menschenaffen ab, aber nicht von heutigen Arten, sondern von äffischen Vorfahren, die vor Millionen von Jahren lebten und längst ausgestorben sind.

Abb. 2: Stammbaum der heute lebenden Primaten

Die Ursprünge der Primaten reichen mehr als 65 Millionen Jahre (MJ) in die Zeit der Dinosaurier zurück. Aus Fossilfunden und molekularbiologischen Daten weiß man, dass die gemeinsamen Vorfahren der sogenannten echten Affen (im Gegensatz zu den Halbaffen) vor rund 40 MJ in Afrika lebten. Von dort stammen auch die Neuweltaffen, die Südamerika entweder über den Atlantischen Ozean oder über die damals nicht völlig eisbedeckte Antarktis erreichten. Vor etwa 28 MJ trennten sich dann in Afrika die größeren, schwanzlosen Menschenaffen von den Schwanzaffen (Meerkatzen, Paviane u.a.). Bemerkenswert vollständige Fossilien früher Menschenaffen haben sich von Arten der Gattung Proconsul in Ostafrika erhalten (20–​17 MJ alt). Obwohl es sich bei Proconsul wohl nicht um den direkten Vorfahren heutiger Menschenaffen handelt, vermittelt er doch einen Eindruck, wie dieser ausgesehen haben mag (Stewart & Disotell 1998).

Die meisten Primaten sind an das Leben in tropischen Wäldern angepasst. Das flache Gesicht, bei dem die Augen sich an der Vorderseite des Kopfes befinden, ermöglicht räumliches Sehen – lebenswichtig für Arten, die sich durch Hangeln, Klettern und Springen auf Bäumen und Ästen fortbewegen. Wenige Primaten wie Dscheladas, Husarenaffen und Menschen leben in offenem Gelände, wo sie auf dem Boden laufen müssen. Und nur Menschen sind schlechte Kletterer, da ihre Füße durch die Anpassung an ausdauerndes Laufen auf zwei Beinen die Greiffähigkeit verloren haben.

Der anatomische Vergleich heute lebender Tierarten

Bereits die Naturforscher des 18. Jahrhunderts wussten, dass der menschliche Körper bis ins Detail mit dem anderer Säugetiere und vor allem mit dem der Primaten übereinstimmt. Und obwohl einige Wissenschaftler ihren ganzen Ehrgeiz daransetzten, einen absoluten Unterschied zu finden – in der Zahl und Anordnung der Knochen, im Aufbau des Gehirns oder in anderen Eigenschaften –, erwies sich jeder dieser Funde als trügerisch. So hat man eine Weile vermutet, dass Menschen der Zwischenkieferknochen fehlt, in dem bei Säugetieren die oberen Schneidezähne verwurzelt sind. Kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe konnte zeigen, dass Menschen auch in dieser Hinsicht mit den anderen Tieren übereinstimmen (Junker & Hoßfeld 2009: 113–​18). Das Ergebnis der Suche nach einer qualitativen anatomischen Einzigartigkeit der Menschen war insgesamt negativ. Was man fand, waren quantitative Abweichungen – in den Proportionen von Armen und Beinen, in der Behaarung und Pigmentierung der Haut oder in der relativen Größe des Gehirns.

Der Vergleich von Proteinen und DNA

Die Frage war also nicht mehr, ob, sondern wie Menschen mit den anderen Menschenaffen verwandt sind. Da sich die großen Menschenaffen in ihrer äußeren Erscheinung, der Art der Fortbewegung und im Verhalten doch recht deutlich von Menschen unterscheiden, vermutete die Mehrheit der Biologen bis in die 1990er Jahre, dass Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans untereinander näher verwandt sind als mit den Menschen, und vereinte sie in der Familie der Pongiden. Die Stammlinie, die zu den Menschen führt, hätte sich also zuerst abgespalten. Es war einer der großen Erfolge der Molekularbiologie, dass sie durch den Vergleich von Proteinen und DNA sowohl die Abstammungsverhältnisse als auch die annähernden Zeitpunkte der Aufspaltungen bestimmen konnte. Eine der ältesten Kontroversen in der Primatenforschung war damit beigelegt.

Abb. 4:  Die Vorstellungen über die Verwandtschaftsverhältnisse der Menschenaffen haben sich durch Untersuchungen an Proteinen und Erbmaterial (DNA) grundlegend verändert. Links das traditionelle Schema, bei dem Menschen eine lange, unabhängige Evolution durchlaufen. Rechts das neue Modell, bei dem Menschen und Schimpansen nahe verwandt sind (nach Foley 2000).

Das inzwischen allgemein akzeptierte Ergebnis war, dass Menschen am nächsten mit Schimpansen verwandt sind, dann mit Gorillas und schließlich mit Orang-Utans (Pilbeam & Young 2004). Die Ähnlichkeiten zwischen den anderen Menschenaffen, die Biologen in die Irre geführt hatten, sind also Folge ihrer ähnlichen Lebensweise und nicht Resultat naher stammesgeschichtlicher Verwandtschaft. Bei Menschen dagegen sind abweichende Merkmale entstanden, weil sie sich an andere ökologische Bedingungen – an das Leben in Baum- und Grassavanne – angepasst haben.

Obwohl die allgemeine genetische Differenz zwischen Menschen und Schimpansen mit ein bis zwei Prozent erstaunlich gering ist, gibt es doch auffällige körperliche und Verhaltensunterschiede. Eine Erklärung für diese Diskrepanz ist, dass auch wenige genetische Veränderungen weitreichende Folgen haben können, wenn sie die Genregulation, d.h. das Timing und den Grad der Genaktivität, betreffen (Haygood et al. 2007).

Tabelle: Klassifikation der Menschenaffen
aufgrund molekularbiologischer Daten

Überfamilie Hominoidea (Menschenaffen)

  Familie Hylobatidae
  (kleine Menschenaffen)

Gattung Hylobates

(Gibbons, Siamangs)

  Familie Hominidae (große Menschenaffen,
  Hominiden)

    Unterfamilie Ponginae

Gattung Pongo (Orang-Utans)

    Unterfamilie Gorillinae

Gattung Gorilla (Gorillas)

    Unterfamilie Homininae

      Tribus Panini

Gattung Pan (Schimpansen, Bonobos)

      Tribus Hominini (Homininen)

         Subtribus

        Australopithecina

        (Australopithecinen)

Gattungen Sahelanthropus,
Orrorin, Ardipithecus,
Australopithecus,
Paranthropus

         Subtribus Hominina

        (Menschen)

Gattung Homo

Die molekulare Uhr

Der Vergleich von Proteinen und DNA hat darüber hinaus noch einen unschätzbaren Vorteil: Man kann nicht nur die relativen Verwandtschaftsverhältnisse feststellen, sondern auch den ungefähren Zeitpunkt, an dem sich die Gruppen getrennt haben. Die sogenannte molekulare Uhr basiert auf der Hypothese, dass die genetischen Veränderungen (Mutationen) in den untersuchten DNA-Abschnitten über einen bestimmten Zeitraum mit einer gleichmäßigen Rate erfolgt sind. Wenn zudem der absolute Zeitpunkt einer der Verzweigungspunkte durch unabhängige Daten aus der Paläontologie oder der Archäologie bekannt ist, lassen sich die anderen Aufspaltungen bestimmen.