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Thomas Junker

DIE EVOLUTION
DES MENSCHEN

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Warum gibt es Menschen? Wie lassen sich ihre körperlichen Merkmale und typischen Verhaltensweisen – von der Sexualität und Aggression bis zur Intelligenz und Kunst – erklären? Das Buch zeigt, wie diese uralten und zugleich höchst aktuellen Rätsel durch die neuesten Erkenntnisse der Evolutionsbiologie gelöst werden können.

Über den Autor

Thomas Junker lehrt als apl. Professor Geschichte der Biowissenschaften an der Fakultät für Biologie der Universität Tübingen. Bei C.H.Beck sind erschienen: Geschichte der Biologie. Die Wissenschaft vom Leben (2004), Der Darwin-Code. Evolution entschlüsselt unser Leben (zusammen mit Sabine Paul, 2010) sowie Die 101 wichtigsten Fragen: Evolution (2011).

Inhalt

Die Deutungsmacht der Evolutionsbiologie

Homo sapiens? – Pan sapiens!

Welche Beweise gibt es für die Primaten-Abstammung der Menschen?

Von Affen zu Menschen

Der letzte gemeinsame Vorfahre – ein Schimpanse?

Die aufrecht laufenden Menschenaffen

Die ersten Menschen

Afrika und die Eroberung der Welt

Krieg oder Liebe?

Urheimat im Kaukasus

Die Eroberung der Welt

Neandertaler und Cro-Magnons

Ein neues Modell

Das evolutionäre Erbe: Fast Food und Othello-Syndrom

Der Sinn des Lebens

Fehlernährung und Übergewicht

Das Othello-Syndrom

Machiavelli und Leonardo da Vinci: Intelligenz als Anpassung

Schädelmessungen

Leonardo’sche Intelligenz

Machiavelli’sche Intelligenz

Fleisch, Feuer und die Entstehung der ersten Menschen

Sexualität und Strategien der Reproduktion

Warum Sexualität?

Kampf und Kooperation der Geschlechter

Cosi fan tutte?

Die Don-Giovanni-Strategie

Die Evolution des menschlichen Paarungssystems

Gesellschaft und Macht

Nutzen und Kosten sozialer Gruppen

Verwandtenselektion und Bündnisse auf Gegenseitigkeit

Familienbande: Ein Feind der Menschheit?

Die Erfindung des Feigenblattes

Kultur: Das zweite Vererbungssystem

Was ist Kultur?

Schimpansen- und Menschen-Kulturen

Die ältesten Belege: Steinwerkzeuge

Kommunikation und Sprache

Kunst: Die Notwendigkeit des Luxus

Die Neolithische Revolution

Europa: Kulturelle oder genetische Expansion?

Die biologische Zukunft der Menschheit

 

Weiterführende Literatur

Register

Die Deutungsmacht der Evolutionsbiologie

Man kann Menschen nur verstehen, wenn man sie als Produkte der Evolution sieht. Liebe, Eifersucht und Hass, Freundschaft und Verrat, Angst und Mut, Aggression und Kooperation – die menschlichen Emotionen und Verhaltensweisen sind Teil ihrer Natur. Betrachtet man den inneren Bau, die physiologischen Vorgänge und das Aussehen des menschlichen Körpers, so sind die biologischen Notwendigkeiten nicht zu übersehen; ignoriert man sie aus Nachlässigkeit oder unter Zwang, kommt es zu Schädigungen und Krankheiten. Vererbung und Anpassung, Geschichte und Umwelt sind die elementaren Ursachen, aus denen sich Entstehung und Funktion der Merkmale aller Lebewesen erklären lassen. Wie bei jedem Tier, so müssen auch beim Menschen Fühlen, Denken und Verhalten bis ins Detail mit dem Körper abgestimmt sein.

Für die Evolutionsbiologie sind Menschen eine Tierart unter vielen, mit Eigenschaften, die sich als Anpassungen an eine frühere oder die heutige Umwelt erklären lassen. Diese Sichtweise ist vielfach ungewohnt und auf den ersten Blick kontraintuitiv, weil sie konventionellen Denkschablonen widerspricht. Zugleich hat sie eine ganze Reihe unschätzbarer Vorteile. So ermöglicht es die distanzierte, vergleichende Betrachtung, einen objektiven, d.h. wissenschaftlichen Standpunkt auch bei Fragen einzunehmen, bei denen individuelle und gesellschaftliche Illusionen weithin dominieren. Besonders deutlich wird dies bei den Themen Sexualität, Kultur, Moral und Aggression, es lässt sich aber auch in vielen anderen Bereichen beobachten.

Die Evolutionsbiologie kann Antworten auf die Fragen nach der Natur der Menschen und nach der Rolle der Kultur geben, da sie diese in lösbare Teilprobleme zerlegt: Was sind Menschen, und wie sind sie entstanden? Warum gibt es überhaupt Menschen? Wie lassen sich Körperbau, Aussehen und Verhalten im Einzelnen erklären? Warum unterscheiden sich die Menschen der verschiedenen Erdteile und Länder? Warum unterscheiden sich Frauen und Männer in Merkmalen wie Größe und Behaarung? Warum in ihrem Verhalten? Warum werden Menschen krank, warum sterben sie? Warum legen sie so viel Wert auf ihre Freiheit?

Die Erforschung der Evolution der Menschen hat in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. Dies liegt zum einen an der Weiterentwicklung des darwinistischen Forschungsprogramms und seiner Ausdehnung auf neue Themenfelder durch Soziobiologie und Verhaltensökologie. Zum anderen haben sich die empirischen und methodischen Voraussetzungen sehr verbessert: So wurden zahlreiche Fossilien gefunden, die zwar nicht lückenlos sind – nicht sein können –, aber die grobe Entwicklung recht gut dokumentieren. Die vergleichenden Untersuchungen von Proteinen und Erbmaterial (DNA) bei verschiedenen heute lebenden Affen und Menschen haben das Verständnis der Abstammungsverhältnisse und Wanderungen enorm verbessert. Die Daten aus dem Humangenomprojekt und analogen Genomprojekten anderer Arten haben zu weiteren, teilweise spektakulären Erkenntnisfortschritten geführt und versprechen auch für die Zukunft eine Fülle neuer Einsichten. Und schließlich hat die vergleichende Verhaltensforschung an Schimpansen, Bonobos und anderen Primaten viele überkommene Vorstellungen zur Sonderstellung der Menschen ins Wanken gebracht.

Wie weit reicht die Methode der Evolutionsbiologie? Eine Grenze sind kulturell erworbene, d.h. erlernte Verhaltensweisen (wobei die Fähigkeit zu Lernen und damit zur Kultur selbst eine biologische Anpassung ist). In einigen Fällen lässt sich relativ leicht unterscheiden, ob ein Verhalten genetisch oder kulturell determiniert ist. So ist die Tatsache, dass man in Großbritannien auf der linken, in anderen Ländern auf der rechten Straßenseite fährt, erlernt und nicht durch ein britisches Linksfahr-Gen bestimmt. Andererseits basieren Hunger, Durst, Schlafbedürfnis und andere grundlegende Gefühle auf einem genetischen Programm und können durch Erziehung nur oberflächlich modifiziert werden. In wieder anderen Fällen sind der kulturelle und der genetische Anteil eng verwoben. Warum etwa bekleiden sich Menschen auch in Situationen, in denen es die äußere Umwelt nicht erfordert? Allgemein formuliert führt dies zu der heiß diskutierten Frage: Wie formbar ist die biologische Natur der Menschen durch die Gesellschaft, durch Erziehung und geistige Beeinflussung?

Um die Reichweite und Deutungsmacht der evolutionsbiologischen Erklärungen beurteilen zu können, muss man sie testen. Dieser Test ist das Leitmotiv des Buches: Beispielhaft zeigt er, wie erfolgreich die Evolutionsbiologie menschliche Eigenschaften bereits heute erklären kann, wo offene Fragen und ungelöste Probleme sind und wo sie (noch?) an Grenzen stößt.

Dank

Das Manuskript zu diesem Buch wurde zum Beginn des Sommersemesters 2006 fertig gestellt, als ich eine Heynehaus-Gastprofessur am Institut für Wissenschaftsgeschichte der Universität Göttingen wahrnahm. Es ist mir eine Freude, Nicolaas A. Rupke für die Einladung zu danken. In den letzten Jahren hatte ich Gelegenheit, verschiedene Thesen des Buches bei Vorträgen und in meinen Seminaren an den Universitäten Tübingen und Göttingen vorzustellen. Für die Einladungen sowie den Studentinnen und Studenten sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Ebenso den Freunden und Bekannten, mit denen ich einige der Themen diskutieren konnte; stellvertretend seien nur Matthias Junker, Uli Kutschera, Walter Mann, Katharina Queck, Suzan Tosunlar, Andrea und Eckhart Wolscht genannt. Mein besonderer Dank aber geht an Sabine Paul für vielfältige wissenschaftliche und persönliche Ermutigungen. Ohne ihre beharrliche Unterstützung und ihre wertvollen Anregungen wäre das Buch nicht zu dem geworden, was es ist.

Homo sapiens? – Pan sapiens!

Am 14. Februar 1747 machte der berühmte Botaniker Carl Linnaeus seinem Ärger in einem Brief an den Sibirienforscher Johann Georg Gmelin Luft: «Ich frage Sie und die ganze Welt nach einem Gattungsunterschied zwischen dem Menschen und dem Affen, d.h. wie ihn die Grundsätze der Naturgeschichte fordern. Ich kenne wahrlich keinen und wünschte mir, dass jemand mir nur einen einzigen nennen möchte. Hätte ich den Menschen einen Affen genannt oder umgekehrt, so hätte ich sämtliche Theologen hinter mir her; nach kunstgerechter Methode hätte ich es wohl eigentlich gemusst» (Gmelin 1861: 55).

Was war geschehen? Zwölf Jahre zuvor hatte Linnaeus in der ersten Auflage seines Systems der Natur ein äußerst ehrgeiziges Programm vorgestellt. Er wollte, wie er später schrieb, nicht weniger als «ALLES, was auf der Erde vorkommt», benennen und einordnen (1751: 1). Alles – dazu zählten für ihn nicht nur alle Arten der Pflanzen, der Mineralien und der Tiere, sondern selbstverständlich auch die Menschen. Die Art Homo sapiens (vernünftiger Mensch), wie er sie nannte, bekam den ersten Rang zugewiesen, wurde aber zu den vierfüßigen Tieren (‹Quadrupedia›) gestellt und musste sich die Ordnung Anthropomorpha (die Menschengestaltigen) mit Affen und Faultieren teilen. Ab der zehnten Auflage des Systems der Natur (1758) ersetzte er den Namen ‹Quadrupedia› durch ‹Mammalia› (Säugetiere), und aus den Anthropomorpha wurden die Primaten, von lateinisch: die Ersten. Die Faultiere entfernte er aus der direkten Nähe der Menschen (und ersetzte sie durch die Fledermäuse), aber an dem Punkt, der ihm die meiste Kritik eingetragen hatte, ließ er sich nicht beirren: Die Menschen blieben Teil des Systems der Natur, und sie standen nahe bei den Affen.

Aus heutiger Sicht mag man die Aufregung der Zeitgenossen von Linnaeus belächeln, schließlich hatte er nur ein Ordnungs-System geschaffen, das sich zudem lediglich auf gut abgrenzbare körperliche Merkmale bezog. Höhere geistige Fähigkeiten, beispielsweise die Sprache, hat nur der Mensch, davon war Linnaeus wie fast alle Naturforscher seiner Zeit überzeugt. In vielerlei Hinsicht war sein System also ein noch unsicherer erster Schritt. Zugleich markierte es aber den Beginn einer weltanschaulichen Revolution, deren Konsequenzen erst langsam ins Bewusstsein der Menschen treten. Von nun an waren sie ein Teil der Natur, eine Tierart unter vielen. Die uralte Frage nach der Natur des Menschen konnte nicht nur, nein, sie musste mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht werden. Philosophen und Theologen verstanden diese Kampfansage sehr wohl: Die Biologie würde von nun an selbst eine Anthropologie sein, eine Lehre vom Menschen.

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Abb. 1: Im Jahr 1699 erschien die erste wissenschaftliche Untersuchung eines Schimpansen durch den Arzt Edward Tyson.

Und heute? Welche Chancen hätte der Vorschlag, den «Menschen einen Affen zu nennen, oder umgekehrt»? Molekulargenetische Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen mehr als 98 Prozent ihrer DNA und fast alle Gene mit Schimpansen gemeinsam haben (mit Mäusen beispielsweise sind es rund 80 Prozent). Tierarten mit einem so geringen genetischen Abstand werden normalerweise einer einzigen Gattung zugerechnet. Die Menschen wären dann, wie Jared Diamond vor einigen Jahren anregte, neben Schimpansen und Bonobos die dritte Schimpansenart, Pan sapiens (Diamond 1998; Nature 2005). Linnaeus hätte sich über diese späte Rechtfertigung seiner Ideen durch die modernen Biowissenschaften wohl gefreut.

Linnaeus hat die Ähnlichkeit zwischen Menschen und Affen nicht als Folge materieller Verwandtschaft und Evolution gedeutet, sondern er glaubte, dass jede Art getrennt erschaffen worden ist. Einige seiner Zeitgenossen waren da weniger zögerlich, und bald begann man über Menschen als abgewandelte Affen, und umgekehrt, zu spekulieren. Durchgesetzt hat sich die Evolutionstheorie aber erst ein Jahrhundert später, als Charles Darwin zeigen konnte, wie sich die Eigenschaften der Lebewesen im Wechselspiel von Vererbung und Selektion verändern. Das natürliche System wurde zur Grundlage für den Stammbaum aller Organismen. Gemeinsame Abstammung, schrieb Darwin, sei «die einzige sicher bekannte Ursache von Ähnlichkeit bei Lebewesen» (1859: 456). Der Schluss von Ähnlichkeit auf Verwandtschaft ist nicht in allen Fällen zutreffend, bei Wahl geeigneter Merkmale und Methoden aber sehr wohl geeignet, zuverlässige Stammbäume zu erstellen.

Welche Beweise gibt es für die Primaten-Abstammung der Menschen?

Primaten sind eine Ordnung der Säugetiere mit rund 230 heute lebenden Arten. Feuchtnasenaffen (Strepsirhini) und Koboldmakis (Tarsiiformes) hat man früher als Halbaffen (Prosimiae) zusammengefasst. Die so genannten echten Affen werden in die Neuwelt-Affen Amerikas (Platyrrhini, Breitnasenaffen) sowie in die Altwelt-Affen Afrikas und Asiens (Catarrhini, Schmalnasenaffen) unterteilt. Zu den Altwelt-Affen zählen die Schwanzaffen (Cercopithecoidea) sowie die Menschenaffen einschließlich der Menschen (Hominoidea). ‹Primaten› ist also der wissenschaftliche Name für eine Tiergruppe, die man im Deutschen umgangssprachlich als ‹Affen› bezeichnet. In diesem Sinne stammen die Menschen selbstverständlich von Affen bzw. Menschenaffen ab, aber nicht von heutigen, sondern von fossilen Arten.

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Abb. 2: Stammbaum der heute lebenden Primaten

Die Ursprünge der Primaten reichen mehr als 65 Millionen Jahre (MJ) in die Zeit der Dinosaurier zurück. Aus Fossilfunden und molekularbiologischen Daten weiß man, dass die gemeinsamen Vorfahren der sog. echten Affen (im Gegensatz zu den Halbaffen) vor rund 40 MJ in Afrika lebten. Von dort stammen auch die Neuwelt-Affen, die Südamerika entweder über den Atlantischen Ozean oder über die damals nicht völlig eisbedeckte Antarktis erreichten. Vor etwa 28 MJ trennten sich dann in Afrika die größeren, schwanzlosen Menschenaffen von den Schwanzaffen (Meerkatzen, Paviane u.a.). Bemerkenswert vollständige Fossilien früher Menschenaffen haben sich von Arten der Gattung Proconsul in Ostafrika erhalten (20–17 MJ alt). Obwohl es sich bei Proconsul wohl nicht um den direkten Vorfahren heutiger Menschenaffen handelt, vermittelt er doch einen Eindruck, wie dieser ausgesehen haben mag (Stewart & Disotell 1998).

Die meisten Primaten sind an das Leben in tropischen Wäldern angepasst. Das flache Gesicht, bei dem die Augen sich an der Vorderseite des Kopfes befinden, ermöglicht räumliches Sehen – lebenswichtig für Arten, die sich durch Hangeln, Klettern und Springen auf Bäumen und Ästen fortbewegen. Wenige Primaten wie Dscheladas, Husarenaffen und Menschen leben in offenem Gelände, wo sie auf dem Boden laufen müssen. Und nur Menschen sind schlechte Kletterer, da ihre Füße durch die Anpassung an ausdauerndes Laufen auf zwei Beinen die Greiffähigkeit verloren haben.

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Abb. 3: Künstlerische Rekonstruktion von Proconsul (nach Bonis 2001–02)

Anatomische Beweise

Bereits die Naturforscher des 18. Jahrhunderts wussten, dass Menschen in ihren anatomischen Strukturen bis in kleine Details mit den Menschenaffen übereinstimmen. Und obwohl einige Wissenschaftler ihren ganzen Ehrgeiz daransetzten, einen absoluten Unterschied zu finden – in der Zahl und Anordnung der Knochen, im Aufbau des Gehirns oder in anderen Eigenschaften –, erwies sich jeder dieser vermeintlichen Funde als trügerisch. So hat man eine Weile vermutet, dass Menschen der Zwischenkieferknochen fehlt, in dem bei Säugetieren die oberen Schneidezähne verwurzelt sind. Kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe konnte zeigen, dass Menschen auch in diesem Detail mit den anderen Tieren übereinstimmen (Junker 2004 a: 42–3). Das Ergebnis der Suche nach einer qualitativen anatomischen Einzigartigkeit der Menschen war insgesamt negativ. Was man fand, waren quantitative Abweichungen – in den Proportionen von Armen und Beinen, in der Behaarung und Pigmentierung der Haut oder in der relativen Größe des Gehirns.

Molekularbiologische Beweise

Die Frage war also nicht mehr, ob, sondern wie Menschen mit den anderen Menschenaffen verwandt sind. Da sich die großen Menschenaffen in ihrer äußeren Erscheinung, der Art der Fortbewegung und im Verhalten von Menschen doch recht deutlich unterscheiden, vermutete die Mehrheit der Biologen bis in die 1990er Jahre, dass Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans untereinander näher verwandt sind als mit den Menschen, und vereinte sie in der Familie der Pongiden. Die Stammlinie, die zu den Menschen führt, hätte sich also zuerst abgespalten. Es war einer der großen Erfolge der Molekularbiologie, dass sie durch den Vergleich von Proteinen und DNA sowohl die Abstammungsverhältnisse als auch die annähernden Zeitpunkte der Aufspaltungen eindeutig bestimmen konnte. Eine der ältesten Kontroversen in der Primatenforschung war damit beigelegt.

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Abb. 4: Die Vorstellungen über die Verwandtschaftsverhältnisse der Menschenaffen haben sich durch Untersuchungen an Erbmaterial (DNA) grundlegend verändert. Links das traditionelle Schema, bei dem Menschen eine lange, unabhängige Evolution durchlaufen. Rechts das neue Modell, bei dem Menschen und Schimpansen nahe verwandt sind (nach Foley 2000).

Das inzwischen allgemein akzeptierte Ergebnis war, dass Menschen und Schimpansen am nächsten miteinander verwandt sind, dann mit Gorillas und schließlich mit Orang-Utans (Pilbeam & Young 2004). Die Ähnlichkeiten zwischen den anderen Menschenaffen, die Biologen in die Irre geführt hatten, sind also Folge ihrer ähnlichen Lebensweise und nicht Resultat naher genetischer Verwandtschaft. Bei Menschen dagegen sind abweichende Merkmale entstanden, weil sie sich an andere ökologische Bedingungen – an das Leben in Baum- und Gras-Savanne – angepasst haben.

Die molekulare Uhr

Der DNA-Vergleich hat darüber hinaus noch einen unschätzbaren Vorteil: Man kann nicht nur die relativen Verwandtschaftsverhältnisse feststellen, sondern auch den ungefähren Zeitpunkt, an dem sich die Gruppen getrennt haben. Die sogenannte molekulare Uhr basiert auf der Hypothese, dass die genetischen Veränderungen (Mutationen) in dem untersuchten DNA-Abschnitt über einen bestimmten Zeitraum mit einer gleichmäßigen Rate erfolgt sind. Wenn zudem der absolute Zeitpunkt einer der Verzweigungspunkte durch unabhängige Daten aus Paläontologie oder Archäologie bekannt ist, lassen sich die anderen Aufspaltungen datieren.

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Vincent M. Sarich und Allan C. Wilson hatten in ihrer ersten entsprechenden Untersuchung von 1967 die Trennung zwischen Menschenaffen und anderen Altweltaffen auf 30 Millionen Jahre geschätzt, was etwa 5 Millionen Jahre für die Aufspaltung zwischen afrikanischen Menschenaffen (Schimpansen und Gorillas) und Menschen entsprechen würde. Bis dahin hatten viele Paläoanthropologen eine unabhängige Evolution der menschlichen Stammlinie von 15 bis zu mehr als 30 Millionen Jahre für durchaus plausibel gehalten. Neuere Untersuchungen brachten Korrekturen im Detail, der Grundgedanke hat sich aber bewährt. So haben molekulare Daten nicht nur die konventionelle Klassifikation hinfällig gemacht, die zwischen Menschen und (anderen) Menschenaffen unterschied, sondern auch die Zeitvorstellungen revolutioniert. Daraus wiederum ergaben sich bedeutsame Konsequenzen für eine ganze Reihe von Vorstellungen über die Evolution der Menschen.

So macht es, um nur ein Beispiel zu nennen, die längere gemeinsame Geschichte mit den anderen Menschenaffen sehr viel wahrscheinlicher, dass sich auch bei geistigen Fähigkeiten Übereinstimmungen und nicht ein weitgehend isolierter Sonderweg der Menschen beobachten lässt. Die Methode, durch DNA-Vergleiche evolutionäre Stammbäume zu rekonstruieren, ist inzwischen so weit entwickelt, dass sich eine bisher unüberwindliche Grenze schmerzlich bemerkbar macht: Man benötigt intakte DNA, und die ist bei Fossilien nur in seltenen Fällen gegeben.

Paläontologische Beweise

An anatomischen, physiologischen und anderen biologischen Ähnlichkeiten kann man erkennen, dass Menschen zu den Primaten und innerhalb der Primaten zu den Menschenaffen gehören. Die Molekularbiologie hat diese Verwandtschaft bestätigt und präzisiert: Menschen sind afrikanische Menschenaffen, am nächsten verwandt mit den Schimpansen. Inwieweit passen nun die fossilen Funde – die dritte wichtige Gruppe von Beweisen – ins Bild? Der Vergleich der Daten aus Anatomie, Molekularbiologie und Paläontologie ist höchst aufschlussreich, da sie unabhängig voneinander gewonnen werden. Stimmen sie überein, spricht dies für eine erhöhte Sicherheit der Schlussfolgerungen, widersprechen sie sich, gewinnt man Hinweise auf mögliche Irrtümer. Auf diese Weise konnte beispielsweise die These der Paläontologen widerlegt werden, dass der auf bis zu 20 Millionen Jahre geschätzte fossile Affe Ramapithecus aus Pakistan zu den direkten Vorfahren der Menschen gehört.

Auf der anderen Seite sind Fossilien unerlässlich, um die Stammbäume der Molekularbiologen zu überprüfen, zu eichen und zu präzisieren. So war es eine Sensation, als man vor wenigen Jahren einen relativ gut erhaltenen Homininen-Schädel fand, der auf 7 Millionen Jahre datiert wurde. Details der Zähne und Kiefer sowie eine digitale Rekonstruktion des Schädels von Sahelanthropus tchadensis machen wahrscheinlich, dass es sich um einen aufrecht gehenden Homininen und nicht um einen Vorfahren der Gorillas handelt (Brunet et al. 2002; Zollikofer et al. 2005). Es sieht also danach aus, als müsste die grobe Einschätzung der Molekularbiologen, dass der letzte gemeinsame Vorfahre von Menschen und Schimpansen vor 5 bis 8 Millionen Jahre lebte, eher nach oben korrigiert werden.

Die detaillierte Rekonstruktion von Stammbäumen anhand von Fossilien ist generell schwierig. Dies liegt zum einen an der schon von Darwin beklagten Lückenhaftigkeit der fossilen Überlieferung. Reste von Lebewesen bleiben ja nur erhalten, wenn sie von Sediment überlagert und so vor der weiteren Verwitterung geschützt werden. Dann finden sich meist nur die härtesten Körperteile – Zähne und Knochen –, während die Haut, innere Organe oder Muskeln kaum Spuren hinterlassen. Und schließlich sind Paläontologen darauf angewiesen, dass die fossilienführenden Schichten zugänglich sind, d.h. in der Regel, dass sie sich nah an der Oberfläche befinden müssen. Zum anderen ist es oft unklar, welche genaue Position ein Fossilfund im Stammbaum einnimmt. Die Paläontologie ist unerlässlich für die Erforschung der Evolution der Menschen, in ihren Ergebnissen hinkt sie aber aus den genannten Gründen oft hinter der vergleichenden Anatomie und Molekularbiologie her.

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Abb. 5: Der im Jahr 2002 der Öffentlichkeit vorgestellte Schädel von Sahelanthropus tchadensis ist seinen Entdeckern zufolge der älteste bisher bekannte Fund eines Homininen.

1871, als Darwins Descent of ManPithecanthropus erectusHomo erectus(Sinanthropus pekinensis)Homo heidelbergensis