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Heinrich August Winkler

GESCHICHTE DES WESTENS

Die Zeit
der Gegenwart

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

Seit dem Ende des Kalten Krieges ist die Welt nicht übersichtlicher und auch nicht friedlicher geworden. Die Erweiterung und Krise der Europäischen Union, der 11. September, die Kriege in Afghanistan und Irak, die globale Finanzkrise, der „arabische Frühling“, der Konflikt um die Ukraine und die Bedrohung durch den „Islamischen Staat“ – das sind nur einige Themen des Bandes „Die Zeit der Gegenwart“, mit dem Heinrich August Winkler seine „Geschichte des Westens“ abschließt. Nirgendwo sonst wird so kenntnisreich und fesselnd das politische Geschehen der Gegenwart dargestellt wie in diesem einzigartigen Werk.

„Ein faszinierendes Panorama der globalen Politikgeschichte.“

Ulrich Herbert, Die Zeit

„Ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung.“

Rheinische Post

„Kenntnisreich, detailliert und stilistisch brillant.“

Rundfunk Berlin-Brandenburg

Über den Autor

Heinrich August Winkler, geb. 1938 in Königsberg, studierte Geschichte, Philosophie und öffentliches Recht in Tübingen, Münster und Heidelberg. Er habilitierte sich 1970 in Berlin an der Freien Universität und war zunächst dort, danach von 1972 bis 1991 Professor in Freiburg. Seit 1991 war er bis zu seiner Emeritierung Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein berühmtes Werk „Der lange Weg nach Westen“ (62005), eine deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, hat sich mehr als 90.000 mal verkauft und wurde in sechs Sprachen übersetzt. Bei C.H.Beck ist auch erschienen: „Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie“ (42005).

Für Dörte

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1. Vom Triumph zur Tragödie:
1991–2001

Von Maastricht nach Schengen: Die Europäische Union zwischen Vertiefung und Erweiterung

Weltmacht ohne Widerpart: Die USA unter Clinton (I)

Von Srebrenica nach Dayton: Die USA, Europa und die Beendigung des Bosnienkrieges

Von Bonn bis zum Baskenland: Westeuropa nach der Epochenwende

Ein System bricht zusammen: Italien 1991–1995

Bewährungsproben: Ostmitteleuropa auf dem Weg nach Westen

Abgrenzung vom Westen: Das Rußland Boris Jelzins

Aufbrüche, Anschläge, Affären: Die USA unter Clinton (II)

Modernisierer und Traditionalisten: Die Sozialdemokraten an der Macht

Von Amsterdam nach Nizza: Der Euro und das Ringen um die Reform der EU

Wettlauf nach Westen: Die Beitrittskandidaten der EU um die Jahrtausendwende

Intervention ohne Mandat: Der Kosovokrieg in der Kontroverse

«Wir sind alle Amerikaner»: Von der Präsidentenwahl von 2000 zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001

2. Vom «Krieg gegen den Terror» zur Weltfinanzkrise:
2001–2008

Von Kabul nach Bagdad: Bushs «war on terror» und die Spaltung des Westens

Pax Americana: Ein «informal Empire» stellt seine Grundlagen in Frage

Die Linke verliert an Boden: Westeuropa zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Erweiterung vor Vertiefung: Die Europäische Union 2001–2008

Belgrad, Kiew, Moskau: Das Europa jenseits der Europäischen Union

Vorboten der großen Krise: «Altes» und «neues» Europa in der zweiten Hälfte der Nullerjahre

Multipolarität statt Machtmonopol: Die USA in der zweiten Amtszeit von George W. Bush

Eine Blase zerplatzt: Vom Beginn der Weltfinanzkrise zur Wahl Barack Obamas

3. Das Ende aller Sicherheit:
2008–2014

Die überforderte Weltmacht: Obamas Amerika

Berlin, London, Paris: Drei Staaten im Kampf mit der Krise

Währungsunion in der Zerreißprobe: Die EU unter dem Druck des Schuldenproblems

Enttäuschte Hoffnungen: Der «arabische Frühling»

Signale an den Westen: Der Präsidentenwechsel in Iran und die Folgen

Repression und Ambition: Rußland und China

Schwellenländer im Abschwung: «Frei» und «unfrei» in der nichtwestlichen Welt

Freiheit versus Sicherheit: Der Westen vor neuen ­Herausforderungen

Putin auf Konfliktkurs: Ost-West-Konfrontation um die Ukraine

Folgen einer Wahl: Ein Staatenverbund sucht seine Machtbalance

Die Globalisierung des Terrors: Der Westen im Krisenjahr 2014

Vom normativen Projekt zum normativen Prozeß:
Rückblick und Ausblick

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Anmerkungen

Personenregister

Ortsregister

Vorwort

Der dritte, im Herbst 2014 erschienene Band meiner «Geschichte des Westens» befaßte sich mit der Zeit des Kalten Krieges – den viereinhalb Jahrzehnten zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Untergang der Sowjetunion. Der vierte und letzte Band beginnt dort, wo der dritte endet: im Jahr 1991. Er handelt von dem knappen Vierteljahrhundert, das seitdem vergangen ist, also von der jüngsten Zeitgeschichte, die sich auch als Geschichte der Gegenwart bezeichnen läßt.

Die Gegenwart ist der flüchtigste aller zeitlichen Fluchtpunkte. Die Gegenwart, von der dieser Band handelt, reicht bis in das Jahr 2014 – das Jahr, in dem in vielen Ländern der 100. Wiederkehr des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren, der alliierten Landung in der Normandie, des «D-Day», vor 70 Jahren und des 25. Jahrestags des Falls der Berliner Mauer und damit der friedlichen Revolutionen von 1989 gedacht wurde. 2014 erlebte die Welt aber auch eine neue Konfrontation zwischen West und Ost, ausgelöst durch die völkerrechtswidrige Einverleibung der Krim, einer Autonomen Republik im Staatsverband der Ukraine, in die Russische Föderation: ein Ereignis, dem spätere Historiker möglicherweise den Rang einer weltgeschichtlichen Zäsur zuerkennen werden. Sicher ist einstweilen nur, daß sich alle getäuscht haben, die nach 1989/90 ihre Hoffnung auf eine fortschreitende «Verwestlichung» Rußlands im Zeichen gemeinsamer Wertvorstellungen gesetzt hatten.

Als ein Jahr der Zäsuren könnte 2014 aber auch aus anderen Gründen in die Geschichte eingehen. Das Vordringen einer islamistischen Terrorgruppe, des Islamischen Staates, in Syrien und im Irak hat schon jetzt dramatische Verschiebungen der Konfliktfronten im Nahen und Mitt­leren Osten zur Folge. Im Zeichen der Abwehr des sunnitischen Extremismus bahnt sich ein taktisches Zusammengehen zweier ehemaliger «Erzfeinde», des schiitischen Iran und der USA, an: eine Revolution in den zwischenstaat­lichen Beziehungen in dieser Weltregion. Die fortschreitende Globalisierung des Terrors wirft auch ein neues Licht auf die Anschläge in New York und Washington vom 11. September 2001: Sie erscheinen verstärkt als Beginn eines Zeitalters der allgemeinen Un­sicherheit, ja als der wahre Beginn des 21. Jahrhunderts. Den Charakter einer historischen Zäsur hat vermutlich auch das expansive Ausgreifen Chinas im Ost- und Südchinesischen Meer und damit im pazi­fischen Raum – einer Weltreligion, die für die USA künftig strategisch noch wichtiger werden dürfte als Europa.

Was für diese Konflikte, ­Krisen und Prozesse gilt, trifft auch auf andere Probleme zu, von denen in diesem Band die Rede ist: Viele Entwicklungen sind noch im Fluß; ihr Ende ist nicht absehbar, der zeitliche Abstand zu ihnen gering. Wichtige Quellen ­stehen, was die allerjüngste Vergangenheit angeht, noch nicht zur Verfügung; es gibt nur wenige, im engeren Sinn historische Abhandlungen zu dieser Zeit. Alle Urteile zur Gegenwartsgeschichte stehen infolgedessen mehr, als das für weiter zurückliegende Epochen gilt, unter dem Vorbehalt des Vorläufigen und Subjektiven.

Einer Darstellung der jüngsten Vergangenheit auszuweichen ist dennoch kein überzeugender Ausweg aus diesem Dilemma. «Ohne letztlich praktische Forschungsabsicht kann es in der Staatslehre weder fruchtbare Fragen noch wesentliche Antworten geben», heißt es in der posthum erschienenen «Staatslehre» des von Hitler in die Emigration gezwungenen, schon 1933 verstorbenen deutschen Juristen Hermann Heller. Einen Beitrag zur Ortsbestimmung der Gegenwart zu leisten sollte nach meiner Überzeugung eine der «letztlich praktischen Forschungsabsichten» der Geschichtswissenschaft sein, und das vor allem dann, wenn diese sich mit der Zeitgeschichte beschäftigt.

Ausgangspunkt, Leitmotiv und normativer Fluchtpunkt meiner «Geschichte des Westens» ist die Frage nach dem, was ich das normative Projekt des Westens nenne: den Werten und Maßstäben, die sich in einem Teil Europas, dem «lateinischen», von der Westkirche geprägten Teil des alten Kontinents, unter historisch einzigartigen Bedingungen über Jahrhunderte hinweg entwickelt und in den amerikanischen und französischen Menschenrechtserklärungen des späten 18. Jahrhunderts ihren klassischen Ausdruck gefunden haben. Der transatlantische Westen hatte damit das Thema, an dem er sich fortan abarbeiten mußte.

Die Geschichte des Okzidents in den zweihundert Jahren zwischen den magischen Jahren 1789 und 1989 war nicht nur, aber zu wesentlichen Teilen eine Geschichte von Kämpfen um die Aneignung oder Verwerfung der Menschheitsideen, die das Erbe der beiden atlantischen Revolutionen von 1776 und 1789 ausmachen. Dies ist der erste von drei Gesichtspunkten, von denen ich in meiner Darstellung ausgehe. Ich betrachte die Geschichte des Westens aber auch, zweitens, als eine Geschichte von Verstößen gegen die eigenen Werte und drittens als eine Geschichte der permanenten Selbstkorrektur oder einer produk­tiven Selbstkritik.

Der große Demokratisierungsschub, der von den friedlichen Revolutionen von 1989 ausging, hat die Kämpfe um die Aneignung oder Verwerfung der Ideen von 1776 und 1789 innerhalb des Westens zu einem gewissen, wenn auch keineswegs vollständigen und endgültigen Abschluß gebracht. Weltweit aber geht die Auseinandersetzung um den universellen Geltungsanspruch der unveräußerlichen Menschenrechte weiter. Sie verspricht, eines der großen Themen des 21. Jahrhunderts, vielleicht ihr beherrschendes Thema zu werden.

In den Geschichts- und Sozialwissenschaften ist das Interesse an normativen Fragen wie der Entwicklung der Theorie und Praxis der Menschenrechte und der Demokratie in den letzten Jahren in einem Maß gewachsen, das es nahelegt, von einem «normative turn» zu sprechen. Neu ist dieses Forschungsinteresse freilich durchaus nicht. So hat, um nur ein Beispiel aus der Blütezeit des Historismus zu nennen, Johann Gustav Droysen in seiner in den 1850er Jahren entstandenen «Historik» die Bedeutung einer historischen «Interpretation nach den sittlichen Mächten und Ideen» betont und in diesem Zusammenhang das Wort vom «ethischen Horizont» eines Volkes und einer Zeit geprägt.

Die westlichen Demokratien verfügen ungeachtet aller inneren Gegensätze über einen solchen gemeinsamen Horizont, und es gehört zu ihrem Selbstverständnis, daß sie aus ihrem Werthorizont einen Welthorizont zu machen streben. Doch von der Erreichung dieses Zieles, einer Globalisierung ihrer Normen, sind sie noch weit entfernt. Zu ­einem guten Teil hat sich der Westen diesen Befund selbst zuzuschreiben: Seine politische Praxis tendiert häufig dazu, sein normatives Projekt zu dementieren. Eben davon war in dieser «Geschichte des ­Westens» immer wieder die Rede, und darüber wird auch im letzten Band mehr als einmal zu sprechen sein.

Nachdem auch der letzte Band geschrieben ist, habe ich erneut zu danken. Die Robert Bosch Stiftung, die Gerda Henkel Stiftung, die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung, die Hans Ringier Stiftung und die ZEIT Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius haben es mir ermöglicht, die sachkundige Hilfe meiner langjährigen Mitarbeiterin Monika Roßteuscher sowie die von Sarah Bianchi, Dario Prati, Kieran Heinemann und Angelo D’Abundo in Anspruch zu nehmen. Monika Roßteuscher, Angela Abmeier, Gretchen Seehausen, Kieran Heinemann und Angelo D’Abundo haben mein handschriftliches Manuskript in die Form einer druckfertigen PC-Fassung gebracht. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Das Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, an dem ich von 1991 bis 2007 lehrte, hat mir einen Raum mitsamt dem technischen Gerät zur Verfügung gestellt, wofür ich stellvertretend meinen Kollegen Michael Borgolte, Alexander Nützenadel und Peter Burschel sowie, was die administrative Betreuung angeht, Frau Gisela Grabo zu Dank verpflichtet bin.

Auf der Seite des Verlages C.H.Beck hat sein Cheflektor Detlef Felken auch diesen Band mit gleichbleibender freundlicher Aufmerksamkeit gelesen. Alexander Goller hat mir viele wertvolle Hinweise gegeben und das Register erstellt. Frau Janna Rösch, Frau Simone Gundi und Frau Bettina Braun waren eine unentbehrliche Hilfe beim Korrektur­lesen. Für alles dies bin ich dankbar.

Danken möchte ich schließlich einer «sine qua non»: Ohne meine Frau hätte ich das Vorhaben, das mich in den letzten zwölf Jahren beschäftigt hat, gar nicht in Angriff nehmen und bewältigen können. Was die «Geschichte des Westens» ihren Fragen, Denkanstößen und kritischen Kommentaren verdankt, weiß nur ich. Ihr ist deshalb auch der vorliegende letzte Band gewidmet.

Berlin, im November 2014

Heinrich August Winkler

Einleitung

Der Untergang des Sowjetimperiums in den Jahren 1989 bis 1991 war fraglos ein tiefer weltgeschichtlicher Einschnitt. Doch historische ­Zäsuren bedeuten nie einen völligen Kontinuitätsbruch. Nach der Epochenwende der Jahre 1989 bis 1991 zeigte sich vielmehr rasch die ­Beharrungskraft älterer, lange Zeit eher latent nachwirkender Traditionen: in Rußland etwa in Gestalt der schroff antiwestlichen Ausrichtung der orthodoxen Kirche und eines Großmachtdenkens, das aus der Zeit des Zarenreichs stammt, auf dem Balkan in einer zerstörerischen Renaissance von Nationalismen, die der jugoslawische Vielvölkerstaat unter Tito nur autoritär und oberflächlich überwunden hatte. Relativiert wird die Zäsur der Jahre 1989 bis 1991 auch dadurch, daß vieles von dem, was in den neunziger Jahren als umstürzend neu empfunden wurde, schon sehr viel früher begonnen hatte. Daß das Ende des Ost-West-Konflikts einen gewaltigen Globalisierungsschub zur Folge hatte, steht außer Frage. Aber er setzte nur fort, was mit der Internationa­lisierung der Produktion und der Arbeitsteilung, ausgelöst durch die forcierte Industrialisierung von Ländern der Dritten Welt, der asiatischen «Tigerstaaten» wie Singapur, Südkorea, Taiwan und Malaysia, begonnen hatte. Dasselbe gilt von der Deregulierung der internatio­nalen Finanzmärkte, die in den frühen achtziger Jahren voll einsetzte: Der Zusammenbruch des europäischen Kommunismus gab einem Prozeß Auftrieb, der schon in vollem Gange war, als die friedlichen Revolutionen von 1989 das definitive Ende der Nachkriegszeit einleiteten.

Weit hinter 1989 zurück reicht auch die wachsende Staatsverschuldung in den westlichen Industrieländern, an ihrer Spitze den USA. Unter der Präsidentschaft Ronald Reagans waren es vor allem die gigantischen Rüstungsausgaben, die die Haushaltsdefizite anschwellen ließen. Die Konsolidierung des Bundesetats unter Bill Clinton war nur von kurzer Dauer. Der «Krieg gegen den Terror», mit dem Präsident George W. Bush die Anschläge vom 11. September 2001 beantwortete, wurde ebenso auf Pump finanziert wie einige Jahrzehnte zuvor unter Lyndon B. Johnson der Vietnamkrieg. Was die amerikanische Volkswirtschaft zusätzlich bedrohte, war die unter Clinton begonnene großzügige Förderung von Wohneigentum in den Händen einkommensschwacher ­Familien über nur scheinbar günstige «subprime loans». Sie trieben die Verschuldung der privaten Haushalte in bisher ungekannte Höhen – eine Politik, die entscheidend zum Ausbruch der Weltfinanzkrise im Herbst 2008 beitrug.

Zu diesem Zeitpunkt gehörte die unipolare Konstellation, wie sie sich nach der Auflösung des Ostblocks herausgebildet hatte, bereits der Vergangenheit an. Inzwischen waren die Volksrepublik China, Indien und Brasilien zu «global players» aufgestiegen; China war mittlerweile der größte Käufer amerikanischer Staatsanleihen, also der Gläubiger der USA; Rußland hatte unter der autoritären Herrschaft Wladimir Putins seinen Status als Großmacht wieder festigen können und trat zunehmend neoimperial auf. Die Welt war wieder multipolar geworden. Die Vereinigten Staaten hatten durch den unter fadenscheinigen Gründen begonnenen Irakkrieg von 2003 ihr moralisches Ansehen weltweit aufs Spiel gesetzt und wichtige europäische Verbündete gegen sich aufgebracht. Dazu kam eine andere Seite des «Kriegs gegen den Terror»: die im vermeintlichen Interesse der nationalen Sicherheit der USA betriebene systematische Ausspähung befreundeter Staaten, aber auch der eigenen Bevölkerung durch die National Security Agency (NSA).

Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Berliner Mauer, dem Symbolereignis der friedlichen Revolutionen von 1989, erscheint das transatlantische Verhältnis auf den ersten Blick durch Spannungen, Widersprüche und Asymmetrien bestimmt zu sein. Viele Amerikaner sehen in den Europäern wirklichkeitsfremde und selbstsüchtige Profiteure des amerikanischen Anti-Terror-Kampfes. In Europa hat sich dagegen die Vorstellung verbreitet, die Vereinigten Staaten hätten ihre Freiheitsideale einem fast schon wahnhaften Sicherheitsbedürfnis geopfert. Aus der Luft gegriffen sind diese wechselseitigen Vorwürfe durchaus nicht.

Zu einem innerwestlichen Gegengewicht zu der immer noch mächtigsten Nation der Welt, den USA, ist Europa aber nicht geworden. Die Weltfinanz- und Schuldenkrise hat den Konstruktionsfehler einer der größten Errungenschaften der EU, der gemeinsamen Währung, sichtbar gemacht: das Fehlen einer koordinierten Haushalts-, Finanz- und Wirtschaftspolitik. Statt den Zusammenhalt der Europäer zu fördern, hat die Währungsunion zu einer Renaissance nationaler Ressentiments zwischen «starken» und «schwachen» Mitgliedern der Eurozone geführt. Ihrem Ziel, in wichtigen Fragen der Außen- und Sicherheits­politik mit einer Stimme zu sprechen, ist die Europäische Union kaum näher gekommen.

Der nichtwestlichen Welt präsentiert sich der Westen heute als ein häufig uneiniges Gebilde. Die westlichen Demokratien vertreten einen schrumpfenden Teil der Weltbevölkerung. Ihre weltwirtschaftliche Bedeutung ist ebenso rückläufig wie ihr geopolitischer Einfluß. Und doch gibt es etwas, was den Westen im Innersten zusammenhält und mehr denn je seine globale Anziehungskraft ausmacht: das normative Projekt der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 in Gestalt der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie. Wenn sich Europäer und Amerikaner streiten, handelt es sich meist um einen Disput um unterschied­liche Auslegungen dieser gemeinsamen Werte. Das Projekt der atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts war klüger als die in männlichen und rassischen Vorurteilen befangenen Verfasser der ersten Menschenrechtserklärungen. Es bildete immer auch ein Korrektiv zur Praxis des Westens, auf das sich alle berufen konnten, denen einige oder sogar alle Menschenrechte vorenthalten wurden.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, beschlossen am 10. Dezember 1948 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen, enthielt Versprechungen, die mangels völkerrechtlicher Verbindlichkeit gegenüber den Mitgliedstaaten der neuen Weltorganisation nicht eingeklagt werden konnten. Gleichwohl blieb dieser Beschluß nicht folgenlos. Die westlichen Demokratien machten sie zur Waffe im ideo­logischen Kampf gegen die kommunistischen Diktaturen. Die letzteren konnten auf die Postulate von 1948 verweisen, wenn sie den Kolonialismus europäischer Mächte und die Rassendiskriminierung in den USA anprangerten. Den antikolonialen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt und der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten lieferte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte eine ­Legitimation ihres Kampfes gegen Unterdrückung und Ausbeutung. Die Dissidenten des Ostblocks konnten seit der Helsinki-Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975 ihre Regierungen damit konfrontieren, daß diese sich durch ihre Unterschriften zumindest auf dem Papier erneut zu wesentlichen Grundfreiheiten bekannt hatten. Chinesische Bürgerrechtler wie Liu Xiaobo folgen heute dem Beispiel, das ihnen europäische Intellektuelle wie Václav Havel und Andrej Sacharow gegeben haben.

Die subversive Kraft der Ideen von 1776 und 1789 hat sich noch längst nicht erschöpft. Sie hat die westlichen Demokratien zu immer neuen Korrekturen ihrer Politik gezwungen und letztlich aus dem normativen Projekt einen normativen Prozeß gemacht. Wenn die Nationen des Westens mit ihren Abweichungen von den eigenen Werten in Geschichte und Gegenwart schonungslos ins Gericht gehen, können sie auch gegenüber nichtwestlichen Gesellschaften glaubwürdig für ihre größte Errungenschaft eintreten und an dem festhalten, was den Kern des normativen Projekts des Westens ausmacht: dem universellen Charakter der unveräußerlichen Menschenrechte. Solange diese Rechte nicht weltweit umfassend verwirklicht sind, bleiben die Ideen von 1776 und 1789 ein unvollendetes Projekt. Der Westen gäbe sich selbst auf, wenn er sich mit diesem Zustand abfinden würde.

1.
Vom Triumph zur Tragödie: 1991–2001

Von Maastricht nach Schengen: Die Europäische Union zwischen Vertiefung und Erweiterung

Am 9. und 10. Dezember 1991 trafen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft in Maastricht zu einer ihrer denkwürdigsten Sitzungen zusammen. Das Ergebnis der Beratungen war ein qualitativer Sprung in der Geschichte der westeuropäischen Integration: das Vertragswerk von Maastricht, das die Europäische Gemeinschaft auf dem Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion einen großen, auf dem Weg zu einer Politischen Union einen sehr viel kleineren Schritt voranbrachte.

Noch am 6. November 1991 hatte Bundeskanzler Kohl vor dem Deutschen Bundestag erklärt, es sei eine Lehre der jüngeren Geschichte, und zwar nicht nur der Deutschlands, «daß die Vorstellung, man könne eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne Politische Union auf Dauer erhalten, abwegig ist». Die Politische Union war für Kohl nichts anderes als die Vorstufe eines noch ehrgeizigeren Ziels: eines europäischen Bundesstaates oder, wie er es mehrfach formulierte, der Vereinigten Staaten von Europa. Doch mit der Einsetzung von zwei getrennten Regierungskonferenzen – einer zu den Fragen der Wirtschafts- und Währungsunion, einer zu den Fragen der Politischen Union – im Dezember 1990 waren die Weichen in einer Richtung gestellt worden, die sich ein Jahr später nur noch mit einem großen politischen Kraftaufwand hätte korrigieren lassen.

Daß Bundeskanzler Kohl und Staatspräsident Mitterrand sich im Dezember 1990 in einem gemeinsamen Schreiben an den damaligen Ratsvorsitzenden, den italienischen Ministerpräsidenten Andreotti, zu einer «starken und solidarischen Politischen Union» bekannt hatten, die «bürgernah ist und entschlossen den Weg geht, der ihrer föderalen Berufung entspricht», erwies sich als bloße Absichtserklärung. Hinsichtlich des konkreten Inhalts einer Politischen Union gab es keinen deutsch-französischen Konsens, und von einer «föderalen Berufung» der Europäischen Gemeinschaft wollten zwei der Mitgliedstaaten, Großbritannien und Dänemark, nichts wissen. Das Resultat der beiden Regierungskonferenzen war infolgedessen ungleichgewichtig: relativ präzise in Bezug auf die von den meisten erstrebte Währungsunion, sehr viel weniger verbindlich im Hinblick auf die Politische Union.

Das Vertragswerk von Maastricht machte aus der Europäischen Gemeinschaft die Europäische Union. Diese bildete fortan den einheitlichen Rahmen oder das gemeinsame Dach über den drei «Säulen» Europäische Gemeinschaft, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und Zusammenarbeit in der Justiz- und Innenpolitik. Supranationale Zusammenarbeit prägte nur die erste Säule, die außer den neuen Vereinbarungen über die Wirtschafts- und Währungsunion die Verträge über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und EURATOM umfaßte. Die zweite und die dritte Säule betrafen die Bereiche der intergouvernementalen Zusammenarbeit.

Die erste Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion mit den Schwerpunkten Liberalisierung des Kapitalverkehrs und Annäherung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten hatte bereits am 1. Januar 1990 begonnen. Der Beginn der zweiten Stufe, in der eine unabhängige europäische Zentralbank geschaffen werden sollte, wurde auf den 1. Januar 1994, der Beginn der dritten Phase auf den 1. Januar 1999 festgelegt. In dieser letzten Stufe galt es, eine gemeinsame europäische Währung zu schaffen und die Kompetenzen in der Währungspolitik von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft zu übertragen. Die Festlegung des Datums 1. Januar 1999 als Beginn der dritten Phase war ein politisches Zugeständnis von Bundeskanzler Kohl, der damit entgegen den Bedenken des Vizepräsidenten der Bundesbank, Hans Tietmeyer, die Währungsunion faktisch unumkehrbar machte.

Der Vertrag über die Europäische Union, ein Kernbestandteil des Vertragswerks von Maastricht, bekannte sich in Anknüpfung an die Präambel der Römischen Verträge von 1957 zum Ziel eines «immer engeren Zusammenschlusses» (ever closer union) und zum Subsidiaritätsprinzip, wonach die jeweils höhere Ebene nur dann Aufgaben an sich ziehen durfte, wenn die Kräfte der niedereren Ebene nicht ausreichten, um die entsprechenden Funktionen zu erfüllen. Neben die Staatsbürgerschaft trat die Unionsbürgerschaft, verbunden mit dem aktiven und passiven Kommunalwahlrecht nach dem Wohnortprinzip. Ein neu geschaffener Ausschuß der Regionen gab den regionalen und Gebietskörperschaften die Möglichkeit, ihre Interessen geltend zu machen. Dem Europäischen Parlament wurde im Zuge des «Mitentscheidungsverfahrens» für eine Reihe von Materien ein gestaffeltes Vetorecht gegenüber Initiativen des Europäischen Rats zugestanden. Außerdem hing die Ernennung der Kommission nunmehr von der Zustimmung des Europäischen Parlaments ab.

Großbritannien hatte sich das Recht ausbedungen, an der dritten Stufe der Währungsunion nicht teilzunehmen. Ein weiteres «opt-out» sicherte sich das Vereinigte Königreich im Hinblick auf das Sozialkapitel, das infolgedessen in einem eigenen, nur von den übrigen elf Mitgliedern unterzeichneten Abkommen über die Sozialpolitik geregelt wurde. Der britische Premierminister John Major, ein geschworener Gegner des Begriffs «föderal», des verpönten «f-word», und überzeugter Fürsprecher nationalstaatlicher Souveränität, war auch maßgeblich beteiligt an der strikt intergouvernementalen Ausrichtung der Zusammenarbeit in den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik sowie Justiz- und Innenpolitik. Deutschen Vorstellungen von einer Politischen Union hätte es entsprochen, auch in diesen Politikfeldern in stärkerem Maß auf supranationale Zusammenarbeit zu setzen, das Prinzip der Einstimmigkeit im Rat durch Mehrheitsentscheidungen zu ersetzen und dem Europäischen Parlament sehr viel umfassendere Kontrollbefugnisse gegenüber der Kommission einzuräumen, als es der Vertrag über die Europäische Union tat.

Was die Ausgestaltung der gemeinsamen Währung anging, konnte sich die Bundesrepublik Deutschland weitgehend durchsetzen. Der Europäischen Zentralbank (EZB) wurde eine Unabhängigkeit zugesprochen, die jener der Deutschen Bundesbank entsprach; in ihrem obersten Beschlußgremium, dem Zentralbankrat, waren die Präsidenten der Notenbanken der Mitgliedstaaten mit je einer Stimme vertreten. Die Mitgliedstaaten waren verpflichtet, übermäßige Defizite zu vermeiden. Für alle sollten die «Maastricht-Kriterien» gelten: Das geplante und tatsächliche Haushaltsdefizit durfte in der Regel 3 Prozent, der öffentliche Schuldenstand 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu Marktpreisen nicht übersteigen. Die Konvergenzkriterien des 1979 in Kraft getretenen Europäischen Währungssystems in Bezug auf Kosten, Inflationsraten, Zinsen und Staatsdefizite galten weiter. Nur wenn die Mitgliedstaaten auf diesen Gebieten weitere Fortschritte machten, konnte die dritte Phase der Währungsunion, wie geplant, 1999 beginnen. Danach galt das Prinzip der «sovereign debt», wonach jeder Mitgliedstaat das Risiko eines Zahlungsausfalls selbst tragen mußte; der Zahlungsausfall löste, so gesehen, das Inflations- und Wechselkursrisiko ab. Aus dem Prinzip der souveränen Staatsschuld folgte das «no-bail-out-Prinzip»: Eine Haftung für die Schulden anderer Mitgliedstaaten der Währungsunion war ausgeschlossen.

Alle Sicherungen genügten aber nicht, um Bedenken von Experten und Politikern auszuräumen. Die Europäische Währungsunion war, worauf der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Barry Eichengreen bereits 1992 hinwies, ein höchst heterogener Wirtschaftsraum, in dem leistungsstarke Länder mit traditionell hoher Haushaltsdisziplin und Geldwertstabilität weniger leistungsfähigen Ländern gegenüberstanden, die sich mehr als andere an Inflation und Schuldenmachen gewöhnt hatten. Die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung bedeutete sinkende Zinsen, und diese steigerten die Versuchung der staatlichen wie der nichtstaatlichen Wirtschaftssubjekte, höhere Schulden zu machen. Gleichzeitig mußte eine europäische Währungsunion mit stabilen Preisen den Wettbewerbsdruck erhöhen und die Folgen unternehmerischer Fehlentscheidungen verschärfen. Um diesen Gefahren wirksam entgegenzutreten, hätte es einer strikten europäischen Bankenaufsicht, einer echten Fiskalunion und letztlich einer effektiven Politischen Union bedurft, die eine Angleichung der Haushalts- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten notfalls mit automatischen Sanktionen erzwingen konnte. Dieses Junktim aber gab es nicht: Es war preisgegeben worden, als die Bundesrepublik Deutschland, um die Wiedervereinigung nicht mit der Hypothek eines deutsch-französischen Zerwürfnisses zu belasten, 1989/90 de facto dem Vorrang der Währungsunion vor der Politischen Union zugestimmt hatte.

In Deutschland, dem der Abschied von seiner, der stärksten europäischen Währung besonders schwerfiel, waren die Bedenken gegen eine europäische Gemeinschaftswährung entsprechend stark ausgeprägt. Sie wurden von Wirtschaftswissenschaftlern, Juristen und Politikern, vor allem aus den Reihen der Freien Demokraten, aber auch der Grünen, erhoben. In mehreren Verfassungsbeschwerden gegen das am 7. Februar 1992 unterzeichnete, am 2. Dezember 1992 vom Bundestag mit überwältigender Mehrheit ratifizierte Vertragswerk von Maastricht machten die Kläger geltend, daß durch die Übertragung von Souveränitätsrechten auf die supranationale Europäische Union der Deutsche Bundestag entmachtet und das Demokratieprinzip unterhöhlt werde. Überdies würden durch die Verlagerung bestimmter Kompetenzen die deutschen Grundrechte verletzt, da über grundrechtsrelevante Themen nun auf europäischer und nicht mehr auf deutscher Ebene entschieden werde. Die entsprechende Neufassung des Artikels 23 des Grundgesetzes, die den EU-Vertrag legitimierte, sei grundgesetzwidrig, weil sie gegen wesentliche, nach der «Ewigkeitsklausel» des Artikels 79, Absatz 3, unabänderliche Verfassungsprinzipien verstoße.

Das Bundesverfassungsgericht wies in seinem «Maastricht-Urteil» vom 12. Oktober 1993 die Beschwerden mit der Begründung zurück, daß die vom Grundgesetz garantierten Grundrechtsstandards auch für das Gemeinschaftsrecht der EU gälten. Das Demokratieprinzip hindere die Bundesrepublik Deutschland nicht an der Mitgliedschaft in einer supranational organisierten Gemeinschaft. Voraussetzung der Mitgliedschaft sei aber, daß eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflußnahme auch innerhalb des «Staatenverbundes» (eine begriffliche Neuschöpfung des Bundesverfassungsgerichts) gesichert sei. Diese Legitimation erfolge in Rückkopplung des Handelns europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten. Hinzu trete das Europäische Parlament. Dessen stützende Funktion ließe sich verstärken, wenn es nach einem für alle Mitgliedstaaten einheitlichen, repräsentativen Wahlrecht gewählt würde und sein Einfluß auf Politik und Rechtsetzung der Gemeinschaft wachse. Eine Übertragung von Kompetenzen auf die Europäische Union müsse auf bestimmte Bereiche begrenzt bleiben und durch ausdrückliche Ermächtigung des deutschen Gesetzgebers erfolgen; eine einseitige Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen über den Text des EU-Vertrages hinaus dürfe es nicht geben. «Entscheidend ist, daß die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und daß auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt.» Keine weitere Integration ohne gleichzeitige Stärkung der demokratischen Legitimation der Europäischen Union und Aufrechterhaltung der Demokratie in den Mitgliedstaaten: Auf diese knappe Formel ließ sich das «Maastricht-Urteil» des Bundesverfassungsgerichts bringen.

Auch in anderen Mitgliedstaaten stieß die Ratifizierung des Vertragswerks auf Schwierigkeiten. In Großbritannien mußte Premierminister John Major nach einer verbissenen Kampagne der konservativen Maastricht-Gegner, darunter seiner Vorgängerin Margaret Thatcher, die letzte Abstimmung am 23. Juli 1993 mit der Vertrauensfrage verbinden, um eine Mehrheit im Unterhaus sicherzustellen. In Frankreich ließ Staatspräsident Mitterrand, weil er sich einen persönlichen Popularitätsgewinn davon versprach, die Franzosen am 20. September 1992 in einem Referendum über das Vertragswerk abstimmen. Das Ergebnis war eine knappe Mehrheit von 51,1 Prozent Ja-Stimmen: ein Resultat, das freilich eher Unzufriedenheit mit der Person und der Politik des Präsidenten als Unbehagen über den Vertragsinhalt widerspiegelte.

In Dänemark, das als erster Staat das Vertragswerk ratifiziert hatte, fand ebenfalls ein Referendum statt. Es erbrachte am 2. Juni 1992 eine Mehrheit von 50,7 Prozent gegen die Verträge von Maastricht. Nachdem die Gemeinschaft Dänemark auf dem Gipfel von Edinburgh im Mai 1993 in den besonders umstrittenen Punkten – Unionsbürgerschaft, Recht auf Nichtbeteiligung an der dritten Stufe der Währungsunion, also auf Beibehaltung der dänischen Krone, eigenständige Außen- und Verteidigungspolitik – Ausnahmerechte in Gestalt von «opt-outs» zugestanden hatte, wurden die Dänen am 18. Mai 1993 erneut an die Urnen gerufen. Diesmal stimmten sie mit 56,8 Prozent dem überarbeiteten Vertragswerk zu. Der Schock des ursprünglichen Nein wirkte aber nach: Es unterstrich nicht nur die anhaltende Distanz der souveränitätsstolzen Dänen zur Europäischen Union, es machte auch deutlich, daß die Regierungen das Projekt der europäischen Einigung allzu lange als Exekutivdomäne betrachtet und seiner Legitimation durch den Souverän, die Bevölkerung des jeweiligen Mitgliedstaates, keine besondere Beachtung geschenkt hatten. Als das Vertragswerk von Maastricht am 1. November 1993, zweieinhalb Wochen nach dem Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts, in Kraft trat, war noch offen, welche Schlußfolgerungen die Regierungen und die Europäische Union aus diesem Sachverhalt ziehen würden.

Das Vertragswerk von Maastricht war eben erst unterzeichnet, als die dort vorgesehene Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik auf eine erste Probe gestellt wurde. Am 2. April 1992 begann mit dem Angriff der «Tiger», einer serbischen Freiwilligentruppe unter dem Befehl von Željko Ražnatović («Arkan»), auf das grenznahe bosnische Dorf Bijeljina ein neues Kapitel in der Geschichte der jugoslawischen Nachfolgekriege. Am 6. April erkannten die USA und die Europäische Gemeinschaft Bosnien-Herzegowina als unabhängigen Staat an. Tags darauf wurde die «Serbische Republik Bosnien und Herzegowina» ausgerufen. Unmittelbar danach rückten Teile der insgesamt 250.000 Mann starken, von General Ratko Mladić befehligten Armee der «Republika Srpska», unterstützt von der Jugoslawischen Volksarmee, in Ostbosnien ein, wo sie sofort mit der Vertreibung der dort ansässigen nichtserbischen Bevölkerung begannen. Nach der Einnahme der kleinen Stadt Foća, die seit dem 8. April mit Granaten und Artillerie der serbischen Armee beschossen worden war, wurden die bosnischen Männer von den Frauen getrennt, auf die Brücken über die Sutjeska getrieben und erschossen; die Leichen warf man in den Fluß. Ähnliche Verbrechen verübten die Verbände der bosnischen Serben in anderen Orten Ostbosniens. Bis zum Juli 1992 hatten Mladićs Truppen schon zwei Drittel des Territoriums von Bosnien-Herzegowina unter ihrer Kontrolle.

Sarajewo war zu diesem Zeitpunkt längst von bosnisch-serbischen Einheiten umzingelt. Von den umliegenden Bergen aus wurde die Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina nahezu pausenlos mit Granaten beschossen; Scharfschützen zielten willkürlich auf Zivilisten, wo immer sie in ihr Visier gerieten. Am 25./26. August 1992 wurde die Nationalbibliothek, ein Symbol der multikulturellen Vielfalt Bosniens, zerstört; rund 2 Millionen Bücher sowie viele wertvolle Handschriften und Inkunabeln wurden dabei vernichtet.

Von massiven Reaktionen des Westens aber konnte keine Rede sein. In Washington war man der Meinung, die Führung in Sachen Bosnien müsse bei den Europäern liegen: So äußerte sich Ende Juni 1992 Außenminister Baker im Auftrag von Präsident Bush telefonisch gegenüber dem besorgten Bundeskanzler Kohl. Die Europäische Gemeinschaft aber war tief gespalten: Frankreich und Großbritannien wollten sich nicht in einen Konflikt mit Serbien ziehen lassen; in Deutschland wiederum vertraten vor allem die Freien Demokraten weiterhin den Standpunkt, daß das Grundgesetz irgendeine Art von Bundeswehreinsatz außerhalb des Bündnisgebiets ausschließe – eine Position, an der sich nichts änderte, als Hans Dietrich Genscher am 17. Mai 1992 als Außenminister zurücktrat und in diesem Amt von seinem Parteifreund Klaus Kinkel abgelöst wurde. Die Bemühungen von Lord Carrington, dem Vermittler der EG im ehemaligen Jugoslawien, konnten infolgedessen keine praktischen Wirkungen zeitigen.

Dasselbe galt von den Vereinten Nationen. Sie hatten im September 1991 ein Waffenembargo gegen das damals formell noch bestehende Jugoslawien verhängt. Am 30. Mai 1992, drei Tage nach dem «Brotschlangenmassaker», bei dem serbische Scharfschützen 16 Bewohner von Sarajewo getötet hatten, folgte ein Wirtschafts- und Sicherheitsembargo des Sicherheitsrates gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, zu der sich Ende April Serbien und Montenegro zusammengeschlossen hatten. Da das vorangegangene Embargo weiter bestand, aus Sicht der UNO also auch für Bosnien-Herzegowina galt, und Serbien im Unterschied zu Bosnien-Herzegowina militärisch gut ausgerüstet war, bedeutete der Beschluß vom 30. Mai wenig mehr als eine Mißfallensbekundung gegenüber Belgrad. Solidarität erfuhren die muslimischen Bosniaken einstweilen nur von islamischen Staaten, darunter Saudi-Arabien, Kuwait, Malaysia und Indonesien. Von ihnen erhielt die Regierung von Alija Izetbegović Geld in Höhe von mehreren Millionen Dollar, mit denen illegal Waffen gekauft wurden. Überdies kamen etwa 1500 muslimische freiwillige «Dschihad-Kämpfer» nach Bosnien, um ihren bedrohten Glaubensgenossen im Kampf gegen die Christen zu helfen.

Anfang August 1992 sorgte eine Reportage des britischen Fernsehsenders Channel 4 aus Omarska, einem von den bosnischen Serben errichteten Lager für Bosniaken und bosnische Kroaten, die im Zuge der «ethnischen Säuberungen» aus ihren Wohnorten vertrieben worden waren, für weltweites Entsetzen. Die Zahl der Häftlinge belief sich weit über 5000; über 700 wurden ermordet und in Massengräbern verscharrt, zahllose Frauen vergewaltigt; Folterungen und andere Mißhandlungen waren gang und gäbe. Die ausgemergelten Menschen, die die Zuschauer zu sehen bekamen, erinnerten fatal an Bilder aus deutschen Konzentrationslagern, die 1945 von den Alliierten befreit worden waren.

Der britische Premierminister John Major, um diese Zeit Ratsvorsitzender der EG, berief daraufhin für Ende August eine internationale Bosnienkonferenz nach London ein. Sie bestätigte das Recht der Republik Bosnien-Herzegowina auf territoriale Integrität und Selbstverteidigung. Schwere Waffen sollten der Aufsicht der Vereinten Nationen unterstellt und die Leistung von humanitärer Hilfe auf jede Weise sichergestellt werden – das letztere nicht zuletzt deshalb, weil sich nur so der Strom von bosnischen Flüchtlingen nach Mittel- und Westeuropa, vor allem nach Deutschland, eindämmen ließ. Außerdem wurde eine Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen eingesetzt. Cyrus Vance und Lord Owen, die ehemaligen Außenminister der USA und Großbritanniens, erhielten den Auftrag, auf der Grundlage der Londoner Beschlüsse in Genf Verhandlungen mit allen Konfliktparteien aufzunehmen, um zu einer Friedenslösung für Bosnien-Herzegowina zu gelangen.

Im Januar 1993 legten die Vermittler Vance und Owen nach siebenmonatigen Beratungen einen Plan zur Aufgliederung von Bosnien-Herzegowina in zehn Kantone vor, die zwar nicht ethnisch homogen waren, in denen aber jeweils eine Ethnie dominierte. Die Regierung Izetbegović stimmte diesem Vorschlag trotz schwerer Bedenken zu. Zunächst tat das auch der Ministerpräsident der Republika Srpska, Radovan Karadžić. Das Parlament der bosnischen Serben in Pale aber beschloß Mitte Mai, die Zustimmung zu dem Plan von einem Referendum abhängig zu machen, und dieses erbrachte eine Mehrheit gegen die Vorschläge der Vermittler.

Mit dem Vance-Owen-Plan unzufrieden waren auch die Kroaten. Bereits Ende März 1991 hatte sich der kroatische Präsident Franjo Tudjman in Karadjordjevo mit seinem serbischen Kollegen Slobodan Milošević getroffen, um mit diesem unter anderem eine mögliche Aufteilung von Bosnien-Herzegowina zwischen Kroatien und Serbien, also zu Lasten der muslimischen Bosniaken, zu erörtern. Im Juli 1992 hatte die nationalistische Richtung der bosnischen Kroaten um Mate Boban auf dem Territorium von Bosnien-Herzegowina einen eigenen Staat, Herceg-Bosna, ausgerufen; seit Januar 1993 erfreute sie sich der nachdrücklichen Unterstützung Tudjmans. Im Mai 1993 trafen sich Boban und Karadžić in Graz, um über eine Aufteilung von Bosnien-Herzegowina zu sprechen. Danach kam es zum offenen Krieg zwischen Kroaten und Muslimen. Ein Akt des Vandalismus, die Zerstörung der historischen, aus dem 16. Jahrhundert stammenden Brücke über die Neretva in Mostar, dem einstigen Symbol des friedlichen Zusammenlebens von Muslimen, Kroaten und Serben, durch den kroatischen Verteidigungsrat am 9. November 1993 war der weltweit beachtete Höhepunkt des kroatisch-bosniakischen Krieges.

Während die Kroaten gegen die Muslime kämpften, gingen die «ethnischen Säuberungen» der Serben in Ostbosnien weiter. Willkürliche Erschießungen bosnischer Männer waren dabei ebenso an der Tagesordnung wie Vergewaltigungen bosnischer Frauen. Eine vom Generalsekretär der Vereinten Nationen, dem Ägypter Boutros Boutros-Ghali, im Oktober 1993 eingesetzte Kommission kam in einem Zwischenbericht zu dem Ergebnis, daß diese Vergewaltigungen in manchen Regionen den Charakter einer systematisch betriebenen «Politik» trugen. Bereits ein Jahr vor der Einsetzung der Kommission, am 9. Oktober 1992, hatte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, um serbische Bombenabwürfe zu verhindern, ein Verbot aller Flüge über Bosnien-Herzegowina verhängt. Die Umsetzung dieser Entscheidung ließ aber auf sich warten: Erst am 7. April 1993 nahm die NATO Flüge zur Überwachung des Luftraums über Bosnien auf. An ihnen beteiligte sich auch die Bundeswehr mit AWACS-Flugzeugen.

Der entsprechende Beschluß der Bundesregierung vom 2. April blieb nicht unwidersprochen. Die mitregierenden Freien Demokraten wollten die damit verbundenen verfassungsrechtlichen Fragen durch einen Eilantrag vom Bundesverfassungsgericht klären lassen; die SPD erhob in ihrem Eilantrag zusätzlich auch politische Bedenken. Am 8. April lehnte das Karlsruher Gericht den Erlass einer Einstweiligen Anordnung gegen den Beschluß der Bundesregierung mit der Begründung ab, daß ein solcher Rechtsakt einen nicht wieder gutzumachenden Vertrauensverlust bei den Bündnispartnern der Bundesrepublik zur Folge hätte. Das endgültige Urteil in der Frage der «out of area»-Einsätze erging am 12. Juli 1994. Demnach waren humanitäre und militärische Einsätze der Bundeswehr auch außerhalb des Bündnisgebiets aufgrund der Zugehörigkeit der Bundesrepublik zu einem System der kollektiven Sicherheit zulässig. Die Bundesregierung mußte jedoch in der Regel vorab, in Ausnahmesituationen nachträglich, die «konstitutionelle» Zustimmung des Bundestages mit einfacher Mehrheit einholen. Die Anträge der SPD und der Freien Demokraten waren damit abgewiesen. In der Bundestagssitzung vom 22. Juli 1994 erklärte Genschers Nachfolger im Amt des Außenministers, Klaus Kinkel, auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts werde die Bundesrepublik die «bewährte Kultur der Zurückhaltung» in militärischen Fragen beibehalten. Nach der anschließenden Debatte billigte der Bundestag mit überwältigender Mehrheit die Bundeswehreinsätze, deren Zweck es war, Bombenangriffe auf Bosnien-Herzegowina zu verhindern.

Was immer zur Abwehr der serbischen Aggression geschah, ging nicht auf europäisches, sondern auf amerikanisches Betreiben zurück. Das galt für die wirtschaftlichen Sanktionen, die der Sicherheitsrat Ende Mai 1992 verhängte, wie für den Beschluß desselben Gremiums vom Oktober 1992, eine Flugverbotszone über Bosnien-Herzegowina zu errichten. Einen Einsatz amerikanischer Bodentruppen im ehemaligen Jugoslawien aber schloß die Regierung Bush aus. Bushs Nachfolger, der Demokrat Bill Clinton, und sein Außenminister Warren Christopher drängten die europäischen Verbündeten seit März 1993, eine Interventionstruppe von 50.000 Mann aufzustellen, die nach Annahme des Vance-Owen-Planes durch alle Beteiligten für die Aufrechterhaltung der Waffenruhe in Bosnien-Herzegowina sorgen sollte, stießen dabei aber auf den entschiedenen Widerspruch Frankreichs. Von einem stärkeren militärischen Engagement der USA schreckte Clinton einstweilen, nicht anders als sein Vorgänger Bush, zurück.

Es bedurfte zahlloser Verletzungen des Flugverbots über Bosnien-Herzegowina durch die bosnischen Serben und ihres bislang schwersten Angriffs auf Sarajewo, des «Marktmassakers» vom 5. Februar 1994, bei dem 68 Menschen durch Mörserbeschuß getötet wurden, um den ersten Militärschlag gegen die Aggressoren auszulösen. Am 28. April wurden vier serbische Kampfflugzeuge abgeschossen, die in die «No-fly-Zone» eingedrungen waren. Ein Ultimatum der NATO bewirkte, daß die Serben den Beschuß der bosnischen Hauptstadt einstellten und sich aus den Bergen um Sarajewo zurückzogen, so daß der Flughafen der bosnischen Hauptstadt wieder angeflogen werden konnte. Die Mißhandlung der muslimischen Zivilbevölkerung in den verbliebenen bosnischen Enklaven aber dauerte an. Die Errichtung von «sicheren Zonen» in Srebrenica, Tuzla, Žepa, Goražde, Bihać und Sarajewo, die der Sicherheitsrat mit der Resolution 824 vom 6. Mai 1993 verfügt hatte, erwies sich als Vortäuschung falscher Tatsachen: Die Blauhelmtruppen der Vereinten Nationen vermochten mit Ausnahme von Sarajewo nirgendwo Sicherheit zu verbürgen und das Vordringen der bosnischen Serben aufzuhalten. Dagegen gelang es den USA im März 1994, den kroatisch-muslimischen Krieg zu beenden und eine «Konföderation» aus Kroatien und Bosnien-Herzegowina ins Leben zu rufen.

Die Europäische Gemeinschaft, die seit dem Inkrafttreten des Vertragswerks von Maastricht am 1. November 1993 offiziell Europäische Union hieß, hatte so gut wie nichts zu den wenigen Erfolgen beigetragen, die der zögernde Westen 1993/94 in Bosnien erringen konnte. Als die USA darauf drängten, Bosnien-Herzegowina nicht länger unter dem im September 1991 über ganz Jugoslawien verhängten Waffenembargo leiden zu lassen, widersprach der britische Premierminister John Major mit der Begründung, ein solcher Beschluß des Sicherheitsrates könne zum Sturz seiner Regierung führen. Der französische Staatspräsident Mitterrand wollte Serbien, so gut es ging, vor scharfen Sanktionen bewahren. In der Bundesrepublik gab es auch nach der gerichtlichen Beilegung des Streits um die Zulässigkeit von «out of area»-Einsätzen starke Widerstände gegen jedwede Art von Beteiligung der Bundeswehr an Kampfeinsätzen von alliierten Bodentruppen auf dem Balkan unter dem Dach der Vereinten Nationen.

Die Demokratien des Westens hatten angesichts des Krieges in Bosnien-Herzegowina bislang versagt, die Europäer aber noch in viel höherem Maß als die USA. Deswegen war auch kein Ende des Krieges in Sicht, als die Bundesrepublik Jugoslawien Anfang August 1994 ihre Unterstützung für die bosnischen Serben offiziell für beendet erklärte. Die Republika Srpska war inzwischen stark genug, um die «ethnischen Säuberungen» mit den eigenen Verbänden und Freiwilligen aus Serbien so brutal wie eh und je fortzusetzen.