Vom Kalten Krieg
zum Mauerfall
C.H.Beck
Mit dem Fall der Mauer vor 25 Jahren ging ein Zeitalter zu Ende. Heinrich August Winklers „Geschichte des Westens“ stellt die dramatischen Ereignisse von 1989 in einen großen weltgeschichtlichen Zusammenhang und schildert meisterhaft die Jahrzehnte vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Untergang der Sowjetunion. Der Band macht deutlich, wie nahe uns die Epochenwende von 1989 bis 1991 immer noch ist: Damals wurden die Grundlagen unserer Gegenwart gelegt.
Niemals zuvor oder danach war der transatlantische Westen so sehr eine Einheit wie in den viereinhalb Jahrzehnten, in denen der Ost-West-Konflikt die Achse der Weltpolitik bildete. Während die Welt mehr als einmal am atomaren Abgrund stand, lösten sich in der „Dritten Welt“ die Kolonien von ihren europäischen Kolonialherren und suchten eigene Wege in die politische Unabhängigkeit. Der Vietnamkrieg, „1968“ mit den Studentenunruhen im Westen und dem „Prager Frühling“ im Osten, die Abrüstungsverhandlungen und der Streit um die Nachrüstung, die Verwerfungen der Weltwirtschaft in den siebziger Jahren, Solidarność und die Systemkrise der Sowjetunion – auf höchstem Niveau schildert Heinrich August Winkler all jene Ereignisse, die gleichsam die Vorgeschichte unserer Gegenwart bilden. Der Westen entschied zwar auf allen Ebenen den „Wettkampf der Systeme“ für sich. Doch Winkler zeigt auch sehr deutlich, daß aus den Umwälzungen der Jahre 1989 bis 1991 eine Welt ohne Gleichgewicht hervorging. Ein abschließender Band, der Anfang 2015 erscheinen soll, wird diese „Zeit der Gegenwart“ darstellen.
„Eine Darstellung, wie man sie klüger, genauer und umfassender kaum denken kann. Ein Meisterwerk.“
Ulrich Herbert, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Heinrich August Winkler, geb. 1938 in Königsberg, studierte Geschichte, Philosophie und öffentliches Recht in Tübingen, Münster und Heidelberg. Er habilitierte sich 1970 in Berlin an der Freien Universität und war zunächst dort, danach von 1972 bis 1991 Professor in Freiburg. Seit 1991 war er bis zu seiner Emeritierung Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein berühmtes Werk „Der lange Weg nach Westen“ (62005), eine deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, hat sich mehr als 90.000 mal verkauft und wurde in sechs Sprachen übersetzt.
Für Dörte
Vorwort
Einleitung
1. Anfänge des Kalten Krieges:
1945–1949
Die Ausgangslage: Die Weltmächte und Europa nach dem Zweiten Weltkrieg
Zerfall einer Zweckallianz: Die Entstehung des Ost-West-Konflikts
Jenseits von Ost und West: Die Kolonialmächte geraten in Bedrängnis
Kraftproben: Jugoslawienkrise, Berliner Blockade, Gründung der NATO
Zwei Staatsgründungen: Die Teilung Deutschlands
Gewichtsverlagerungen: Stalins Atombombe, Maos Revolution und der Westen am Ende der vierziger Jahre
Die Renaissance der Menschenrechte: Die Vereinten Nationen reformieren das Völkerrecht
2. Vom Koreakrieg zur Kubakrise:
1949–1963
Fehlschlag einer Aggression: Der Koreakrieg 1950–1953
Von Truman zu Eisenhower: Die USA 1950–1956
Von Stalin zu Chruschtschow: Die Sowjetunion und der Ostblock 1949–1955
Beginn eines Booms: Die westeuropäischen Demokratien 1950–1955
Entscheidungsjahr 1956: Entstalinisierung, ungarische Revolution, Suezkrise
Der Sputnik, die EWG und die Rückkehr de Gaulles: Die Weltmächte und Europa 1957/58
Von Chruschtschows Berlin-Ultimatum zur Wahl Kennedys: Ost versus West 1958–1960
«Wind of change»: Die Entkolonialisierung Afrikas
Von der Schweinebucht zur Berliner Mauer: Die Weltmächte auf Konfliktkurs
Kanzlerdämmerung: Das Ende der Ära Adenauer
Paris versus London: Die EWG bleibt das Europa der Sechs
Öffnung nach links: Italien reformiert sich
Am Rande des Abgrunds: Die Kubakrise und ihre Folgen
3. Von der Konfrontation zur Entspannung:
1963–1975
Der globale Westen: Kanada, Australien, Neuseeland und die «innere Dekolonialisierung»
Risse im Weltkommunismus: Von Chruschtschows Sturz zur Breschnew-Doktrin
Zwischen «Great Society» und Vietnamkrieg: Johnsons Amerika
De Gaulles Schatten über Europa: Krisenjahre für NATO und EWG
Von Erhard zur Großen Koalition: Die Bundesrepublik im Umbruch
1968: Die transnationale Revolte
Vietnam und kein Ende: Die erste Amtsperiode des Präsidenten Richard Nixon
Kurskorrekturen: Frankreich unter Georges Pompidou 1969–1973
Von Wilson zu Heath: Großbritannien im Übergang zu den siebziger Jahren
Machtwechsel in Bonn: Willy Brandts neue Ostpolitik
Anschläge, Reformen, Schulden: Italien 1969–1973
Reform des Agrarmarkts und Norderweiterung: Die Europäische Gemeinschaft 1969–1973
Moskau, Warschau, Ost-Berlin: Repression und Regimewandel im Ostblock
Weltpolitik im Schatten von Watergate: Von Nixon zu Ford
Nach dem Boom: Struktur- und Wertewandel in den siebziger Jahren
Krisenpolitik: Westeuropa im Zeichen der Rezession
Weltmacht auf Widerruf: Der Niedergang der sowjetischen Wirtschaft
Diktaturendämmerung: Regimewechsel in Portugal, Griechenland und Spanien
Außerhalb der Blöcke: Die neutralen Staaten Europas
Grenzgarantie versus Menschenrechte: Die umkämpfte Helsinki-Schlußakte von 1975
4. Von der Entspannung zur Konfrontation:
1975–1985
Rezession und Regierungswechsel: Der transatlantische Westen 1975/76
Der Klassenfeind als Gläubiger: Der Ostblock 1975–1979
Moral und Interesse: Die ersten Jahre des Präsidenten Jimmy Carter
Terror, Krisen, Lernprozesse: Westeuropa 1976–1979
Kampfansage an den Westen: Die Islamische Revolution in Iran 1978/79
Der zweite Ölpreisschock, die sowjetische Invasion in Afghanistan und die Folgen: Das Ende der Präsidentschaft Jimmy Carters
Zwischen Mudjahedin und Solidarność: Das Ende der Ära Breschnew
Stärke auf Pump: Die USA unter Ronald Reagan 1980–1984
Konflikt statt Konsens: Die «Thatcher Revolution» in Großbritannien 1979–1985
Der Bruch mit dem Kapitalismus schlägt fehl: Frankreich unter Mitterrand 1981–1985
Mehr Kontinuität als Wende: Die Bundesrepublik im Übergang von Schmidt zu Kohl
Reform und Korruption: Italien in der Ära Craxi
Eurosklerose, Süderweiterung, neue Dynamik: Die Europäische Gemeinschaft in der ersten Hälfte der achtziger Jahre
Entfesselte Märkte: Die Globalisierung der Arbeitsteilung und die Krise des Sozialstaats
5. Abschied vom Kalten Krieg:
1985–1991
Perestrojka, Glasnost, Demokratie: Michail Gorbatschows Versuch, die Sowjetunion zu reformieren
Die Weltmächte kommen sich näher: Das Ende der Ära Reagan
Zwang zum Wandel: Westeuropa in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre
Südosteuropäische Sonderwege: Jugoslawien, Albanien und Rumänien in den achtziger Jahren
Pro und contra Perestrojka: Die Spaltung des Ostblocks
Weltmächte im Wandel: Die USA und die Sowjetunion in der ersten Hälfte des Jahres 1989
Frühsommer 1989: Zehn Wochen, die die Welt veränderten
Zerfall eines Imperiums: Die Sowjetunion, Polen und Ungarn von Juli bis Oktober 1989
Der Fall der Berliner Mauer: Symbol einer friedlichen Revolution
Von der «samtenen Revolution» zum Blutbad von Bukarest: Die Umwälzungen in der Tschechoslowakei, in Bulgarien und Rumänien
Die Rückkehr der deutschen Frage: Von Kohls «Zehn Punkten» zur Volkskammerwahl in der DDR
Von Panama nach Bagdad: Außereuropäische Herausforderungen der USA
Gorbatschow in der Gefahrenzone: Die Sowjetunion im Jahr 1990
Die Lösung der deutschen Frage: Von der Währungsunion zur Wiedervereinigung
Der Sturz der «Eisernen Lady»: Das Ende der Regierung Thatcher
Transformationskrisen: Ostmitteleuropa nach der friedlichen Revolution
Antwort auf eine Annexion: Der Golfkrieg von 1991
Der Balkan im Aufruhr: Das Ende des Kommunismus in Albanien und der Beginn der jugoslawischen Nachfolgekriege
Rechtsruck, Putsch und Untergang: Die Auflösung der Sowjetunion
Das Scheitern eines Großversuchs: Rückblick auf den Sowjetkommunismus
Welt ohne Gleichgewicht: Die Jahre 1989–1991 als globale Zäsur
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Anmerkungen
Personenregister
Ortsregister
Historische Darstellungen bedürfen eines zeitlichen Fluchtpunkts. Als Fluchtpunkte bieten sich vor allem Zäsuren an, die eine klare Gliederung der zeitlichen Abläufe in ein Davor und Danach erlauben. Beim zweiten Band meiner «Geschichte des Westens» war dies das Ende des Zweiten Weltkriegs. Beim dritten und vorletzten Band des Gesamtwerks ist es das Ende des Ost-West-Konflikts, der beherrschenden Konstellation der Nachkriegszeit, in den Jahren 1989 bis 1991, und damit ebenfalls eine weltgeschichtliche Epochenwende.
Doch wie die vorangegangenen beiden Bände hat der dritte neben dem zeitlichen auch einen normativen Fluchtpunkt. Es ist die Frage nach der Entwicklung jener Ideen, die in ihrer Gesamtheit das normative Projekt des Westens ausmachen. An ihrer Spitze stehen die unveräußerlichen Menschenrechte, die weltgeschichtliche Errungenschaft der beiden atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts, der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789. Im Juni 1945, zwei Monate bevor der Zweite Weltkrieg auch in Asien zu Ende ging, bekannten sich die Vereinten Nationen, die Nachfolgerin des Völkerbundes, in ihrer Charta zu diesen Ideen. Gut drei Jahre später, am 10. Dezember 1948, verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
Einen völkerrechtlich verbindlichen Charakter besaß die Erklärung nicht. Dennoch entfaltete die Idee der Menschenrechte fortan globale Wirkungen. In den 1970er Jahren wurde das vollends unübersehbar: Die Vereinigten Staaten machten sich unter Präsident Jimmy Carter erneut zum Bannerträger der Menschenrechte. Im Ostblock beriefen sich Dissidenten und Bürgerrechtsbewegungen auf die Helsinki-Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975, in der sich die Sowjetunion und ihre Verbündeten zu bestimmten Grundfreiheiten bekannt hatten. Für die weltweite Wirkung des innenpolitischen Kampfes gegen lateinamerikanische und südostasiatische Diktaturen und die Rassendiskriminierung des südafrikanischen Apartheidregimes war entscheidend, daß er von international agierenden Nicht-Regierungs-Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch aufgegriffen und im Zeichen der universellen Geltung der Menschenrechte geführt wurde. Die Umwälzungen in Ostmittel- und Südosteuropa von 1989/90 bedeuten in dieser Perspektive einen weiteren großen Schritt in Richtung der Globalisierung der Menschenrechte.
Daß die Frage nach der Entwicklung des normativen Projekts des Westens sinnvoll nur in einem transnationalen Rahmen gestellt werden kann, versteht sich infolgedessen von selbst. Und wenn eine Geschichte des Westens auch noch längst keine Globalgeschichte ist, so berührt sie sich mit einer solchen doch darin, daß sie sich anders als in einem globalen Kontext gar nicht schreiben läßt. Eben deshalb handelt dieser Band nie nur von der inneren Entwicklung der Nationen des Westens und den Beziehungen dieser Nationen untereinander, sondern stets auch von den weltpolitischen Gegenspielern des Westens, von Mächten also, die auf den Westen einwirkten und umgekehrt von diesem nachhaltig beeinflußt wurden, sowie von Weltregionen, die lange von westlichen Mächten beherrscht wurden und sich davon erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts befreien konnten.
Der Abschluß des dritten Bandes gibt mir vielfältigen Anlaß, zu danken. Ich nenne zunächst die Humboldt-Universität zu Berlin, die mir nach dem Ende meiner regulären Lehrtätigkeit im Frühjahr 2007 großzügig einen Raum mitsamt dem technischen Inventar zur Verfügung stellte, und die Stiftungen, die es mir in den letzten drei Jahren erlaubten, die Arbeitskraft von zwei studentischen Hilfskräften und meiner langjährigen Mitarbeiterin Monika Roßteuscher, M. A., für jeweils zehn Stunden in der Woche in Anspruch zu nehmen: die Robert Bosch Stiftung, die Gerda Henkel Stiftung, die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung und die Hans Ringier Stiftung.
In den Jahren 2011 bis 2014, in denen ich am dritten Band der «Geschichte des Westens» arbeitete, waren mir die guten Dienste von Angela Abmeier, Sarah Bianchi, Kieran Heinemann, Dario Prati und Monika Roßteuscher eine große Hilfe. Frau Gretchen Seehausen hat aus meiner handschriftlichen Vorlage eine druckfertige PC-Fassung gemacht und dabei manchen Fehler korrigiert. Was die Unterstützung meines Projekts durch die Humboldt-Universität angeht, erwähne ich stellvertretend meine Kollegen Michael Borgolte, Peter Burschel und Alexander Nützenadel sowie, im Hinblick auf die administrative Betreuung, Frau Gisela Grabo. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank.
Wie bei den vorangegangenen beiden Bänden war der Cheflektor des Verlages C.H.Beck, Detlef Felken, ein bewundernswert gründlicher Leser und Kommentator des Textes. Wichtige Hinweise ergaben sich aus der kritischen Durchsicht des Manuskripts durch Herrn Alexander Goller, der auch das Register erstellte. Frau Janna Rösch und Herr Jan Dreßler halfen beim Korrekturenlesen. Ihnen allen bin ich zu großem Dank verpflichtet. Gewidmet ist der Band meiner Frau. Ohne ihre kontinuierlichen Denk- und Schreibanstöße gäbe es ihn nicht.
Berlin, im März 2014 |
Heinrich August Winkler |
Der dritte Band der «Geschichte des Westens» handelt von der Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Untergang des Sowjetimperiums, also von 1945 bis 1991. Viereinhalb Jahrzehnte lang stand die Welt im Zeichen der Bipolarität zwischen Washington und Moskau. Daß der Kalte Krieg, von dem man seit 1947 sprach, in Europa kalt blieb, hatte seine Hauptursache im «Gleichgewicht des Schreckens», der Angst vor der wechselseitigen nuklearen Vernichtung – einer Angst, von der sich die Menschheit seit dem Abwurf der ersten beiden Atombomben über Hiroshima und Nagasaki im August 1945 nicht mehr befreien konnte.
Der Gegensatz zwischen West und Ost, der die Zeit von 1945 bis 1991 prägte, war nicht immer gleich intensiv. Einer Phase der Konfrontationen, die spätestens mit der Berliner Blockade 1948/49 begann und mit der Beilegung der kubanischen Raketenkrise im Herbst 1962 endete, folgte eine Ära der Entspannung, die in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre von neuen Konfrontationen, beginnend mit der Stationierung modernisierter, auf Mitteleuropa gerichteter sowjetischer Mittelstreckenraketen, abgelöst wurde. Es bedurfte einer «Revolution von oben», des radikalen Regimewandels in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow, um den Ost-West-Konflikt zu überwinden und jene neue Weltordnung zu ermöglichen, von der der amerikanische Präsident George H. W. Bush erstmals im September 1990 sprach.[1]
Nie zuvor hatte der transatlantische Westen so sehr eine Einheit gebildet wie in den viereinhalb Jahrzehnten zwischen 1945 und 1990. Wem innerhalb des Westens die Rolle der Hegemonialmacht zufiel, war nie zweifelhaft. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren eine der beiden Supermächte und, als der Kalte Krieg zu Ende ging, die Supermacht schlechthin. Von den größeren Staaten Europas war keiner den USA ebenbürtig. Deutschland, das den Zweiten Weltkrieg entfesselt hatte, war besiegt und wurde von den Siegermächten geteilt. Großbritannien war eine Siegermacht, aber durch den Krieg materiell so geschwächt, dass es 1945 fraglich war, wie lange es sein überseeisches Kolonialreich noch würde behaupten können. Erst recht galt das für Frankreich, das unter dem Trauma der Niederlage von 1940 litt und sich eben deshalb lange Zeit verzweifelt dagegen wehrte, ein vermeintliches Attribut seines Großmachtstatus wie den Besitz von Kolonien aufzugeben. Der Prozeß der Dekolonialisierung, der mit der Entlassung Indiens und Pakistans in die Unabhängigkeit im Jahr 1947 begann und sich bis in die siebziger Jahre hinzog, war für alle europäischen Kolonialmächte schmerzhaft – am schmerzlichsten aber wohl für ein kleines Land wie Portugal, das sich denn auch erst nach einer Revolution im Mutterland von den afrikanischen Überresten seiner früheren Größe verabschiedete.
Spätestens 1945 wurde das 20. Jahrhundert zum «amerikanischen Jahrhundert» und eben dadurch auch zum «transatlantischen Jahrhundert». Die Selbstzerstörung Europas in zwei Weltkriegen verhalf den USA zu dem Rang, der ihnen mit dem Sieg über die Achsenmächte zugewachsen war. Die Vereinigten Staaten waren die unbestrittene Führungsmacht des Atlantischen Bündnisses und der einzige vollsouveräne Nationalstaat des Westens. Die europäischen Nationalstaaten konnten ihre relative Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit, so paradox es klingt, nur durch supranationale Integration sichern. Im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft, der späteren Europäischen Union, verwandelten sie sich, indem sie Teile ihrer Hoheitsrechte gemeinsam ausübten oder auf übernationale Institutionen übertrugen, in Nationalstaaten eines neuen, des postklassischen Typs. Der Nationalismus hatte in Europa, anders als in der Dritten Welt, seine Integrationskraft und damit seine historische Legitimation eingebüßt. Die nationalen Loyalitäten wurden zunehmend durch transnationale Bindungen wie den Gegensatz zum Kommunismus sowjetischer Prägung und die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der westlichen Demokratien überlagert. Auch und gerade auf ideologischem Gebiet war das «American Century», wie der Historiker Akira Iriye feststellt, ein transnationales Jahrhundert.[2]
Nicht minder transnational war der lang anhaltende Boom, der aus den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg eine Zeit bislang ungekannter Prosperität und des Massenkonsums machte. Die Weltwährungsordnung, die im Juli 1944, rund ein Jahr vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, von Vertretern von 44 Regierungen der Anti-Hitler-Koalition in Bretton Woods im amerikanischen Bundesstaat New Hampshire vereinbart wurde, schuf den institutionellen Rahmen der internationalen monetären Zusammenarbeit der Nachkriegszeit. Das System von Bretton Woods mit seinen drei Säulen, dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen, dem GATT, beruhte auf einem gemischten Gold-Dollar-Standard mit dem US-Dollar als Reservewährung und war wesentlich weniger starr als der frühere reine Goldstandard oder der zwischen 1925 und 1931 praktizierte Gold-Devisen-Standard. Bretton Woods gab der Globalisierung der Weltwirtschaft kräftigen Auftrieb. Freilich handelte es sich dabei um eine fragmentarische Globalisierung: Die Sowjetunion und die von ihr abhängigen Staaten weigerten sich, dem von den USA dominierten Weltwährungssystem beizutreten.[3]
Als die Vereinigten Staaten im März 1973 unter dem Eindruck wachsender Defizite in der Zahlungsbilanz den Dollarkurs freigaben, bedeutete dies das Ende des Weltwährungssystems von Bretton Woods. Sechs Monate später, im Oktober 1973, zog die Organisation Erdölproduzierender Staaten, die OPEC, durch eine massive Erhöhung der Rohölpreise einen Schlußstrich unter die knapp drei Jahrzehnte, in denen niedrige Ölpreise im Wortsinn das Schmiermittel der Weltkonjunktur gewesen waren. Das Ende der exorbitanten Wachstumsraten aber war nicht das Ende der materiellen Erwartungen, die sich in der langen Ära der Nachkriegsprosperität herausgebildet hatten. Um ihren gewohnten Lebensstandard aufrechtzuerhalten, finanzierten viele private Haushalte ihren Konsum mehr als bisher über Kredite; viele Regierungen erhöhten die Staatsschulden, um der Bevölkerung allzu harte Einschnitte zu ersparen und die sozialen Errungenschaften der «fetten Jahre» zu erhalten. Der Weg in den «Schuldenstaat» begann, nicht nur in der westlichen Welt, in den siebziger Jahren.
Der zweite Ölpreisschock, ausgelöst durch die Iranische Revolution von 1979, traf die Staaten des Ostblocks bei weitem härter als die Industriestaaten des Westens, die sich nach 1973 technologisch modernisiert und damit die Energiekosten gesenkt hatten. Unter den Ursachen des Zerfalls des Sowjetimperiums war das immer deutlichere technologische, ökonomische und damit letztlich auch militärische Zurückbleiben hinter dem Westen eine der wichtigsten. Dennoch wäre es eine grobe Vereinfachung, die innere Krise der Staaten des «sozialistischen Lagers» in vulgärmarxistischer Manier allein aus der Verschlechterung ihrer materiellen Leistungskraft abzuleiten und die Epochenwende der Jahre 1989 bis 1991 zu einem bloßen Epiphänomen der Krise der Weltwirtschaft seit den siebziger Jahren herabzustufen.
Was die kommunistischen Systeme in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa in den achtziger Jahren zusätzlich schwächte, war der Auftrieb, den die Dissidenten und Bürgerrechtsgruppen des Ostblocks durch die Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Helsinki von 1975 erhielten – jenes Dokument, in dem die Sowjetunion und ihre Verbündeten sich im Austausch gegen die westliche Anerkennung der Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen zur Respektierung wesentlicher Grundrechte wie der Gedanken-, der Religions-, der Meinungs- und Überzeugungsfreiheit verpflichten mußten. Von den Autoren der Prager «Charta 77» bis zu den Aktivisten der unabhängigen polnischen Gewerkschaft «Solidarność» konnten sich fortan alle, die den «real existierenden Sozialismus» in Frage stellten, auf diese Urkunde berufen.
Der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Europa markiert eine tiefe historische Zäsur. Eric Hobsbawm lässt mit dem Untergang der Sowjetunion 1991 das «Zeitalter des Extreme» und mit ihm das «kurze 20. Jahrhundert» enden, das 1914 mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges begonnen hatte.[4] Die Zeit der totalitären Systeme und Ideologien war nicht weltweit, aber auf dem alten Kontinent abgelaufen und mit ihr das Phänomen, das dem 20. Jahrhundert mehr als jedes andere seinen Stempel aufgedrückt hatte. Der ostmitteleuropäische Teil des alten Westens, der am Ende des Zweiten Weltkriegs der sowjetischen Interessensphäre und damit dem späteren Ostblock zugeschlagen worden war, konnte jetzt selbst über seine politische und gesellschaftliche Entwicklung entscheiden und sich auf eine Zukunft innerhalb der Europäischen Union und des Atlantischen Bündnisses vorbereiten. Das geteilte Deutschland schloß sich im Einvernehmen mit den einstigen «Großen Vier» und den europäischen Nachbarn wieder zu einem Staat zusammen. Die Vereinigten Staaten wurden, wenn auch nur vorübergehend, zu einer Weltmacht ohne Widerpart: Amerikanischer konnte das «amerikanische Jahrhundert» nicht mehr werden.
Das «Ende der Geschichte» aber, wie Francis Fukuyama meinte, markierte der Untergang des Sowjetkommunismus nicht.[5] Die unipolare Konstellation erwies sich als Durchgangsstadium zu einer neuen Multipolarität. Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Berliner Mauer erscheint es höchst fraglich, ob man noch von einer globalen Vorherrschaft des transatlantischen Westens sprechen kann. Auf einem anderen Blatt steht die Zukunft des normativen Projekts des Westens, der Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie. Aber das ist eine andere Geschichte. Von ihr wird im vierten und letzten Band dieser Geschichte des Westens die Rede sein, der von der Zeit der Gegenwart handelt.
Das Jahr 1945 markiert eine der großen Zäsuren in der Geschichte des Westens, ja der Weltgeschichte überhaupt. Der Erste Weltkrieg hatte zur Auflösung von drei Vielvölkerreichen geführt: des habsburgischen, des osmanischen und, wenn auch nur teilweise und vorübergehend, des russischen. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zeichnete sich die Herausbildung zweier imperialer Gebilde neuen Typs ab: des amerikanischen und des sowjetischen «Lagers». Das Erbe der Vielvölkerreiche hatten 1918 in Europa Staaten angetreten, die sich, mit der bedingten Ausnahme des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, als Nationalstaaten verstanden, aber alle mehrere Nationalitäten in sich schlossen. Die Partikularisierung der europäischen Staatenwelt gehört zu den herausragenden Merkmalen der Zwischenkriegszeit. Die zweite Nachweltkriegszeit stand hingegen im Zeichen der Polarisierung Europas. Die Nationalstaaten verloren an Bedeutung gegenüber den Blöcken, die sich seit 1947 zu verfestigen begannen: den von den Vereinigten Staaten geführten westlichen Demokratien und den «Volksdemokratien» mit der Sowjetunion als Vormacht.
1945 gab es nur noch zwei Weltmächte: die USA und die Sowjetunion. Großbritannien und Frankreich besaßen zwar weiterhin ausgedehnte Kolonialreiche in Afrika und Asien. Ebenso wie die Republik China verfügten sie über ein Vetorecht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und damit über den Status einer Großmacht. Gemessen an den Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken aber waren sie Großmächte minderen Ranges, was für das 1940 besiegte Frankreich noch sehr viel mehr galt als für das Vereinigte Königreich. Der Zweite Weltkrieg hatte beide Länder wirtschaftlich und finanziell nachhaltig geschwächt und ihre imperiale Stellung untergraben.
Die einstigen «Achsenmächte» Deutschland und Japan waren 1945 die beiden Parias der Weltpolitik. Ob sie sich nochmals zu selbständigen Machtfaktoren entwickeln würden, war 1945 offen. Ihr ehemaliger Partner Italien hingegen profitierte davon, daß er im Herbst 1943, nach dem Sturz Mussolinis, die Seiten gewechselt und sich den Alliierten angeschlossen hatte. Von einem Großmachtstatus aber konnte Rom nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch träumen. Von den beiden Weltmächten war die westliche die ungleich stärkere: Die USA waren, anders als die Sowjetunion, ein unzerstörtes Land; ihre Volkswirtschaft florierte; sie waren einstweilen die einzige Nuklearmacht und hatten im August 1945 durch den Abwurf von Atombomben über Hiroshima und Nagasaki aller Welt vor Augen geführt, welch ungeheure Zerstörungskraft im Besitz dieser neuen Waffen lag.
In Europa verlief die Demarkationslinie zwischen Ost und West quer durch den alten Okzident. Sie teilte das besiegte und besetzte Deutschland in zwei Teile. Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn gehörten dem Bereich an, in dem die Rote Armee das Sagen hatte, desgleichen die drei baltischen Republiken, die die Sowjetunion sich 1940 im Zeichen des Hitler-Stalin-Pakts völkerrechtswidrig einverleibt hatte und die sie seitdem als Bestandteil ihres Territoriums betrachtete. Ebenso wie Polen, Böhmen und Mähren, die Slowakei und Ungarn bildeten Litauen, Lettland und Estland historisch einen Teil des lateinischen Westens. In den orthodox geprägten Ländern Bulgarien und Rumänien hatte die Sowjetunion bereits vor Kriegsende ihr wohlgesonnene Regierungen an die Macht gebracht. Im ebenfalls orthodoxen Griechenland hatte Stalin dagegen im Oktober 1944 Großbritannien und damit dem Westen den ausschlaggebenden Einfluß zugestanden.
Parteigänger der Sowjetunion in Gestalt kommunistischer Parteien waren 1945 auch an den Regierungen westlicher Länder, nämlich Frankreichs, Italiens, Belgiens und Dänemarks, beteiligt. Aber auf eine kommunistische Machtübernahme deutete hier nichts hin. Stalin war vollauf mit der Befestigung der sowjetischen Macht in dem Teil Europas beschäftigt, den ihm die Westmächte auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 de facto überlassen hatten. Über diese Zone hinauszugreifen und so die Gefahr einer Konfrontation mit der anderen Weltmacht heraufzubeschwören lag nicht in Stalins Interesse. Der «Generalissimus» (ein Titel, den der sowjetische Diktator seit Ende Juni 1945 führte) glaubte zudem, sich Zeit lassen zu können. Die amerikanische Präsenz in Europa schien eine zeitlich begrenzte zu sein. So jedenfalls hatte sich Franklin Delano Roosevelt, der am 12. April 1945 verstorbene Präsident der USA, geäußert, als er in Jalta zu Protokoll gab, daß die Truppen seines Landes nach Kriegsende nur noch zwei Jahre lang auf dem alten Kontinent verbleiben würden.
Roosevelts Nachfolger, der bisherige Vizepräsident Harry S. Truman, war auf diesen Zeitplan nicht festgelegt, wich aber zunächst von der außenpolitischen Linie seines Vorgängers nicht ab. Wie dieser setzte er darauf, die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion über das Kriegsende hinaus fortzuführen. Einen isolationistischen Rückschlag wie nach dem Ersten Weltkrieg brauchte Truman nicht zu fürchten. Mit 89 gegen 2 Stimmen billigte der amerikanische Senat am 28. Juli 1945 den Beitritt der Vereinigten Staaten zu den Vereinten Nationen. Die USA traten damit endgültig aus dem Schatten des historischen Nein heraus, mit dem dasselbe Verfassungsorgan am 19. November 1919 den Völkerbund, das große Projekt des Präsidenten Woodrow Wilson, zu Fall gebracht hatte.
Anders als die Außenpolitik war Trumans innere Politik nach Kriegsende heftig umstritten. Im September 1945, wenige Tage nach der Kapitulation Japans, unternahm der Präsident den Versuch, auch als Sozialpolitiker in die Fußstapfen seines großen Vorgängers zu treten. Er legte dem Kongreß eine Reihe von Gesetzentwürfen vor, die unter anderem eine Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes von 40 auf 65 Cents pro Stunde, öffentliche Investitionen zur Erreichung der Vollbeschäftigung, Bundesmittel zur Förderung von Wohnungsbau und Slumsanierung sowie eine Ausdehnung bestehender Sozialleistungen vorsahen. Kurz darauf forderte Truman den Kongreß auf, Bundesmittel zum Ausbau des Erziehungs- und Gesundheitswesens zu bewilligen.
Doch mit den meisten seiner Vorstöße drang der Präsident nicht durch. Republikaner und konservative Demokraten verweigerten sich den wichtigsten Vorlagen der Regierung. Bei den Zwischenwahlen vom November 1946 gewannen die oppositionellen Republikaner mit der zugkräftigen Parole «Had Enough?» (Habt ihr genug davon?) Mehrheiten in beiden Häusern des Kongresses: eine bemerkenswerte Parallele zu den «off-year elections» von November 1918, die im Schatten des zu Ende gehenden Ersten Weltkriegs stattgefunden hatten.
Die «Grand Old Party» nutzte ihre neugewonnene Macht, um Errungenschaften aus der Zeit von Roosevelts «New Deal» zu beseitigen und den Einfluß der Gewerkschaften zurückzudrängen. Den Höhepunkt des sozialpolitischen «backlash» bildete das Taft-Hartley-Gesetz vom Juni 1947. Es verbot das Prinzip des «closed shop», wonach Gewerkschaften ein Unternehmen verpflichten konnten, nur organisierte Arbeitnehmer einzustellen, erlaubte es den Arbeitgebern, Gewerkschaften wegen gebrochener Verträge und streikbedingter Schäden zu verklagen, untersagte es den Gewerkschaften, Geld für politische Kampagnen zu spenden, und ermächtigte den Präsidenten, einem von den organisierten Arbeitnehmern beschlossenen Streik eine «Abkühlphase» (cooling-off period) von 60 Tagen, in besonderen Fällen von weiteren 80 Tagen, vorzuschalten. Außerdem mußten Gewerkschaftsführer, deren Verbände die Dienste des National Labor Relations Board in Anspruch nehmen wollten, zuvor eidlich versichern, daß sie keine Kommunisten seien. Truman legte sein Veto ein, hatte damit aber keinen Erfolg: Senat und Repräsentantenhaus setzten sich mit Zweidrittelmehrheiten darüber hinweg.
Das Taft-Hartley-Gesetz war aus der Sicht seiner Befürworter ein Stück Rückkehr zur Normalität – einer amerikanischen Normalität, von der sich die USA angeblich unter der 13 Jahre währenden Präsidentschaft Franklin Delano Roosevelts verabschiedet hatten, indem sie sich europäischen Vorstellungen von «Welfare state» annäherten. Roosevelts «New Deal» war eine Antwort auf die Herausforderung der Weltwirtschaftskrise gewesen. Überwunden wurde die Große Depression erst durch die Globalisierung des New Deal im Zweiten Weltkrieg – ein gigantisches, weithin kreditfinanziertes Rüstungsprogramm, zu dem auch die großzügigen, inzwischen beendeten Lieferungen nach dem Lend-Lease-Gesetz von 1941 an die Anti-Achsen-Mächte, obenan Großbritannien und die Sowjetunion, gehörten. 1944 erreichte die Industrieproduktion der USA 235 Prozent des Vorkriegsstandes. Der immense Bedarf Europas an amerikanischem Kapital und amerikanischen Produkten sorgte dafür, daß die USA nach dem Zweiten Weltkrieg, im Gegensatz zur Zeit nach dem Ersten, nicht in eine Nachkriegsdepression abstürzten. Eine zusätzliche Belebung der Konjunktur durch staatliche Wohlfahrtsausgaben erschien den Kritikern Trumans infolgedessen verfehlt, ja gefährlich. Die Kongreßwahlen von 1946 gaben ihnen die Möglichkeit, ihre Auffassungen in die Tat umzusetzen und den Präsidenten in seine Schranken zu weisen.
Die Gewerkschaften nannten den Taft-Hartley Act ein Gesetz zur Versklavung der Arbeit. Das war er nicht. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder stieg von etwa 14,3 Millionen im Jahr 1947 auf rund 17 Millionen im Jahr 1952. Aber der politische Einfluß der konkurrierenden beiden Spitzenverbände, der American Federation of Labor (AFL) und des Congress of Industrial Organizations (CIO), ging nach 1947 zeitweilig zurück, vom Einfluß kleinerer Arbeitnehmerverbände ganz zu schweigen. Die Wendung nach links, die die Vereinigten Staaten unter Roosevelt genommen hatten, war nicht von Dauer.
Während in den USA die Kriegskonjunktur nahtlos in einen Nachkriegsboom überging, befanden sich in der Sowjetunion Industrie und Landwirtschaft nach dem Mai 1945 in einem desolaten Zustand. Zu den Zerstörungen der Kriegszeit kamen die Folgen einer verheerenden Dürreperiode im Jahr 1946. Erst seit 1947 konnte man von einem tatsächlichen Wiederaufbau sprechen, wobei der vierte Fünfjahresplan von 1946 dafür sorgte, daß die Schwer- und Investitionsgüterindustrien wie vor dem Krieg sehr viel höhere Wachstumsraten aufwiesen als die Konsumgüterbranchen. Der Sieg über den äußeren Feind war mit terroristischen Mitteln erfochten worden, die an der Front wie in der Heimat alle trafen, die den rigorosen Weisungen und Vorgaben von oben nicht bedingungslos folgten. Nach dem militärischen Triumph über Hitler-Deutschland fanden sich neue Gründe, am Staatsterrorismus festzuhalten. So wurden während der Hungersnot 1946/47, der vermutlich 2 Millionen Menschen zum Opfer fielen, 12.000 Vorsitzende von Kolchosen vor Gericht gestellt und Tausende von Bauern in Lager eingeliefert, weil sie auf den abgeernteten Feldern Getreideähren für den eigenen Verbrauch eingesammelt hatten.
In den Gebieten, die von den Deutschen besetzt worden waren, ließ das sowjetische Innenministerium, das NKWD, Zehntausende von Menschen als Kollaborateure verhaften. Soldaten der Roten Armee, die sich den Deutschen ergeben hatten, galten als Verräter. Über 600.000 von ihnen wurden nach der Demobilmachung im Juni 1945 in die «Arbeitsarmee» des NKWD eingegliedert oder in das Lagersystem des GULag verbracht. Dasselbe Schicksal erwartete ehemalige «Ostarbeiter», die von den Nationalsozialisten nach Deutschland verschleppt worden waren, und «Repatrianten» aus den ehedem polnischen Gebieten der Sowjetunion und dem Baltikum.
In der westlichen Ukraine und dem Baltikum tobten nach 1945 regionale Bürgerkriege. Tschekisten jagten, töteten oder deportierten alle, die sich der Sowjetherrschaft widersetzten oder von vornherein als «Konterrevolutionäre» galten, darunter zahllose Angehörige der bürgerlichen Intelligenz. Antikommunistische Partisanen brachten ihrerseits Tausende von Sowjetfunktionären um. Um den Widerstand der baltischen Völker zu brechen, wurden außerdem Sowjetbürger in großer Zahl aus den zentralen Regionen nach Litauen, Lettland und Estland umgesiedelt. Allein nach Estland, das etwa eine Million Einwohner zählte, kamen auf diese Weise zwischen 1945 und 1949 180.000 russische Sowjetbürger.
Eine «Rückkehr zur Normalität» gab es nach 1945 auch in der Sowjetunion, sofern man bereit ist, die Verfassungswirklichkeit der Vorkriegszeit als «normal» zu betrachten. Das zu Beginn des Krieges geschaffene Staatskomitee für Verteidigung wurde aufgelöst, das formell höchste Staatsorgan, der Oberste Sowjet, im Februar 1946 neugewählt. Die gesamte Regierungsgewalt lag fortan wieder beim Rat der Volkskommissare, der im März 1946 in «Ministerrat» umbenannt wurde. Die Zahl der Ministerien wuchs von 18 im Jahr 1937 auf 58 im Jahr 1947, wobei die Ressorts sich immer mehr spezialisierten und meist nur für einzelne Wirtschaftszweige zuständig waren. Stalin behielt das Amt des Vorsitzenden des Ministerrates, das er im Juni 1941 übernommen hatte, bei und blieb Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Er befand sich auf dem Höhepunkt seiner Macht und konnte, wenn er wollte, jede Entscheidung an sich ziehen. Doch das tat er nicht. Er zog sich vielmehr, wie Helmut Altrichter schreibt, «je älter er wurde, mehr und mehr aus dem politischen Tagesgeschäft zurück und überließ viele, ja die meisten Dinge ihrer Eigengravitation».
Der Personenkult um Stalin nahm nach 1945 teilweise groteske Züge an. Die unbestreitbaren Verdienste des Diktators um den Sieg im «Großen Vaterländischen Krieg» ließen die Erinnerung an seine fatale Fehleinschätzung Hitlers vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 rasch verblassen. Der Mann an der Spitze von Partei und Staat galt nunmehr als unfehlbar. Er war inzwischen auch der oberste Schiedsrichter in wissenschaftlichen Kontroversen. Nachdem er sich 1948 für die umstrittene Theorie des Biologen Trofim D. Lyssenko von der Veränderbarkeit des Erbguts durch äußere Einwirkungen ausgesprochen hatte, galt diese Auffassung als sakrosankt. Außer Stalin durfte niemand so populär sein, daß er ihm gefährlich werden konnte. Das galt auch für hochangesehene Marschälle der Sowjetunion wie Georgi Schukow. Als dieser auf der Siegesfeier am 27. Juni 1945 anläßlich der Verleihung des Titels «Generalissimus» an Stalin bemerkte, daß auch so «verrufene Persönlichkeiten wie Franco und Tschiang Kai-schek» sich als «Generalissimus» titulieren ließen, war sein Abstieg vorgezeichnet. Ein Jahr später wurde der Marschall als Oberkommandierender des Heeres abgelöst und auf den Posten des Chefs des Militärbezirks Odessa abgeschoben. Daß die Rote Armee mit der Degradierung Schukows an innenpolitischem Gewicht verlor, war eine von Stalin gewollte Wirkung.
Für das kulturelle Leben der Sowjetunion begann rund ein Jahr nach Kriegsende eine Phase der verschärften Repression. Während des Krieges war im Zeichen des «Sowjetpatriotismus» der ideologische Purismus etwas eingedämmt worden. Diese Zeit war nun abgelaufen. Unter der Ägide des Leningrader Parteisekretärs Andrej A. Schdanow wurden seit dem September 1946 Wissenschaftler wie der Ökonom Eugen Varga und der Historiker Nikolai Rubinstein, aber auch der Komponist Dmitri Schostakowitsch wegen «objektivistischer, formalistischer oder kosmopolitischer Tendenzen» zur Rechenschaft gezogen und gerügt.
Von der Rückkehr zur strikten Ideologie des «Marxismus-Leninismus-Stalinismus» blieb, bis zu einem gewissen Grad, die orthodoxe Kirche ausgespart. Sie hatte sich während des Krieges zu einer Säule des Regimes entwickelt, was Stalin zu honorieren bereit war, indem er die bewährte Zusammenarbeit zu seinen Bedingungen fortsetzte. Zum dreißigjährigen Jubiläum der Oktoberrevolution im November 1947 rief der Moskauer Patriarch Alexius I. zu Gebeten für die «göttlich beschützte russische Macht und für die Behörden unter der Leitung des weisen Führers» auf, den «der Wille Gottes erwählt und eingesetzt» habe. Die Kirche bedankte sich auf diese Weise für die am 15. August 1945 erteilte offizielle Erlaubnis, ihre Gotteshäuser mit Hilfe der örtlichen Sowjets wiederaufzubauen und Kultgegenstände in eigener Produktion herzustellen. Daß die Sowjetmacht sich weiterhin zum Atheismus bekannte und die Entkirchlichung der Gesellschaft vorantrieb, überging der orthodoxe Klerus mit Schweigen. Anders hätte sich das Nachkriegsarrangement mit dem kommunistischen Regime auch nicht bewerkstelligen lassen.[1]
Die Absicht, die er gegenüber den Staaten seines Einflußbereichs in Südost- und Ostmitteleuropa verfolgte, hat Stalin im April 1945 gegenüber zwei führenden Kommunisten aus Jugoslawien, Josip Broz Tito und Milovan Djilas, den Aufzeichnungen des letzteren zufolge präzise umrissen: «Dieser Krieg ist nicht wie in der Vergangenheit; wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, so weit seine Armee vordringen kann. Es kann gar nicht anders sein.»
Ganz so neuartig, wie Stalin meinte, war das Vorhaben, besiegten oder eroberten Staaten das eigene gesellschaftliche und politische System aufzuerlegen, nicht. Napoleon hatte im Rahmen seines «Grand Empire» zu Beginn des 19. Jahrhunderts nichts anderes getan. Damals freilich hatte der Systemexport eine Erweiterung bürgerlicher Freiheiten bedeutet. Die Staaten, die 1944/45 dem sowjetischen Einflußbereich einverleibt wurden, standen hingegen meist auf einer höheren gesellschaftlichen und politischen Entwicklungsstufe als Rußland. Die Besetzung durch die Rote Armee brachte den betroffenen Ländern infolgedessen nicht mehr Freiheit, sondern das Gegenteil: die Abschaffung früherer Freiheiten. Auf einem anderen Blatt standen die von der Sowjetunion erzwungenen Eingriffe in die bestehende Eigentumsordnung. Soweit sie auf die Beseitigung krasser Ungleichheiten in der Verteilung von Grund und Boden zielten, waren sie ein Beitrag zur gesellschaftlichen Modernisierung der nunmehr von Moskau abhängigen Länder.
Nach dem Ersten Weltkrieg hatten die Westmächte und vor allem Frankreich alles getan, um aus den Staaten Ostmittel- und Südosteuropas einen «Cordon sanitaire», einen Sicherheitsgürtel, zwischen dem bolschewistischen Rußland und dem Deutschen Reich zu machen. Gegenüber der Sowjetunion war diese Politik sehr viel erfolgreicher gewesen als gegenüber Deutschland: Mit Ausnahme der Tschechoslowakei hatten die Staaten des sogenannten «Zwischeneuropa» eine entschieden antikommunistische und antisowjetische Politik verfolgt. Stalin war entschlossen, die Wiederkehr einer solchen Konstellation unter allen Umständen zu verhindern. Der von der Roten Armee besetzte Teil Europas sollte zu einem unlösbar mit der Sowjetunion verbundenen Vorfeld werden – zu einem Schutzschild, der das Ursprungsland des Kommunismus wirksam vor Expansionsbestrebungen der «imperialistischen» Westmächte abschirmte und ihm zugleich die Möglichkeit gab, seine Position in Europa längerfristig weiter auszubauen.
Daß Stalin Tito und Djilas gegenüber so offen über seine Ziele sprach, mag auch daran gelegen haben, daß Jugoslawien ein Sonderfall war. Hier war die «Befreiung vom Faschismus» sehr viel weniger das Werk der Roten Armee als das der einheimischen, kommunistisch geführten Partisanenbewegung gewesen. Bereits im Mai 1945 zog die Sowjetunion ihre militärischen Verbände aus Jugoslawien ab. Die kommunistische Machtergreifung organisierte die von Tito geführte Kommunistische Partei Jugoslawiens fortan in eigener Regie. Im November 1945 fanden manipulierte Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung statt, die der kommunistisch gesteuerten Volksfront in beiden Kammern, dem Bundesrat und dem Nationalitätenrat, Mehrheiten um die 90 Prozent einbrachten. Die neue Verfassung der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien vom 31. Januar 1946 lehnte sich eng an das Vorbild der sowjetischen Verfassung von 1936 an und verschaffte der faktischen Alleinherrschaft der Kommunisten den Schein einer rechtlichen Legitimation.
Noch schneller ging die kommunistische Machteroberung in Albanien vor sich. Dort hatte eine von Tito aktiv unterstützte kommunistische Partisanenarmee nach dem Abzug der deutschen Truppen das Land im Herbst 1944 unter ihre Kontrolle gebracht. Im Dezember 1945 ließ sich die von dem Kommunisten Envar Hodscha geführte Demokratische Einheitsliste durch «Wahlen» an der Macht bestätigen. Am 11. Januar 1946 wurde die Albanische Volksrepublik proklamiert. War Albanien von 1939 bis 1943 ein Satellitenstaat des faschistischen Italien gewesen, so verwandelte es sich nun in einen Satellitenstaat des kommunistischen Jugoslawien. Die Rote Armee hatte an dieser Entwicklung keinen direkten Anteil.
In den Ländern Europas, in denen der Einfluß der Sowjetunion sich unmittelbar und nicht zuletzt durch militärische Präsenz äußerte, vollzog sich der Weg der Kommunisten an die Macht in anderen Formen. Stalin legte, um die Westmächte nicht ohne Not zu provozieren, Wert auf eine demokratische Fassade. Die kommunistischen Parteien mußten die Schlüsselstellungen des Staatsapparates besetzen, nach außen hin aber den Schein breiter, antifaschistischer Bündnisse mit nichtkommunistischen Kräften bewahren. Auf diesem «mittleren Weg» sollten Regime neuen Typs, sogenannte «Volksdemokratien», entstehen, die sich vom Sowjetsystem sichtbar unterschieden, aber eine Politik verbürgten, deren Richtlinien in Moskau bestimmt wurden.
Bei den am wenigsten westlich geprägten Ländern seines Einflußbereichs glaubte Stalin die Umgestaltung der Machtverhältnisse 1944/45 besonders zügig betreiben zu können. Bulgarien und Rumänien bildeten einen Teil des orthodoxen Europa und waren von den politischen Ideen des Westens darum in der Vergangenheit weniger stark durchdrungen worden als die Länder des östlichen Mitteleuropa, die allesamt historisch zum lateinischen Okzident gehörten. Die beiden südosteuropäischen Länder waren denn auch nicht zufällig die ersten Staaten, in denen Stalin vollendete Tatsachen schuf. In Sofia wurde bereits am 9. September 1944, noch vor der Gewährung des Waffenstillstands seitens der Roten Armee, durch einen Militärputsch der kurz zuvor gegründeten Vaterländischen Front eine prosowjetische Regierung unter dem früheren Ministerpräsidenten Kimon Georgiew eingesetzt, in der die Kommunisten sich die besonders wichtigen Ressorts des Innern und der Justiz sicherten.
Auf ihr Betreiben hin wurden in einem Hochverratsprozeß Anfang Februar 1945 96 Angehörige des bisherigen zivilen und militärischen Staatsapparats zum Tode verurteilt und hingerichtet. Im Zuge der politischen Säuberung ergingen bis März 1945 weitere 2680 Todesurteile; etwa 2000 Personen wurden zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt. Im November 1945 stimmten 88 Prozent der Wähler für die Einheitsliste der kommunistisch gesteuerten Vaterländischen Front. Eine Volksabstimmung erbrachte am 8. September 1946 eine überwältigende Mehrheit für die Abschaffung der Monarchie. Eine Woche später wurde die Volksrepublik Bulgarien ausgerufen. Bei der Wahl zur Verfassunggebenden Nationalversammlung setzte sich die Vaterländische Front gegenüber den oppositionellen Kräften, der Bauernpartei unter Nikola Petkoff und den Sozialdemokraten, durch. An die Spitze der Regierung trat am 23. November 1946 der frühere Generalsekretär der Kommunistischen Internationale, Georgi Dimitroff.
In Rumänien hatten die Kommunisten seit der Besetzung durch die Rote Armee im August und September 1944 ihren Einfluß auf die Arbeiterschaft, auch die ländliche, beträchtlich zu steigern vermocht. Sie waren an allen Regierungen der Übergangszeit beteiligt, seit dem November 1945 mit drei Ministern. Eine unter ihrer aktiven Beteiligung aufgebaute Patriotische Miliz wurde von der Roten Armee mit Waffen ausgerüstet. Unter massivem sowjetischen Druck erteilte König Michael im März 1945 dem mit den Kommunisten kooperierenden Führer der «Front der Pflüger», Petru Groza, den Auftrag zur Bildung einer neuen Regierung des sogenannten Demokratischen Blocks, in der die Kommunisten zwar noch in der Minderzahl, aber mit dem Innen- und dem Justizministerium im Besitz der entscheidenden Machtpositionen waren. Zu den ersten innenpolitischen Maßnahmen der neuen Regierung gehörte eine Bodenreform, in deren Zug der Landbesitz der Deutschen und ihrer rumänischen Kollaborateure sowie alle landwirtschaftlichen Betriebe über 50 Hektar enteignet wurden.