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Gregor Schöllgen

Deutsche Außenpolitik

Von 1815 bis 1945

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

 

 

In seiner zweibändigen Geschichte der deutschen Außenpolitik folgt Gregor Schöllgen dem schwierigen Weg Deutschlands von einem passiven Ordnungsfaktor im europäischen Staatensystem zu einem souveränen und integrierten Nationalstaat in der globalisierten Welt. Das 1871 gegründete Deutsche Reich, so sein Befund, war stark und schwach zugleich. Es war zu stark für das Gleichgewicht der Kräfte in Europa – und zu schwach, um dieses Europa von seiner deutschen Mitte aus dominieren zu können. Der dennoch immer wieder unternommene Versuch, dieser halbhegemonialen Stellung zu entkommen, mündete in die Katastrophe zweier Weltkriege. Die Teilung Deutschlands war die Folge. Dass die Deutschen diese akzeptierten, war die Voraussetzung für die neuerliche Vereinigung ihres Landes. Die beiden Bände verfolgen diesen Weg über beinahe zwei Jahrhunderte im Spiegel der Außenpolitik des Deutschen Bundes und des Kaiserlichen Deutschland, der Weimarer Republik und des Dritten Reiches, des geteilten und des wieder vereinigten Deutschland.

Über den Autor

 

 

Gregor Schöllgen, geb. 1952, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Erlangen, ist Mitherausgeber der Akten des Auswärtigen Amtes und des Nachlasses von Willy Brandt sowie Autor zahlreicher zeitgeschichtlicher Bücher. Bei C.H.Beck sind von ihm lieferbar: Ulrich von Hassell (2004), Der Eiskönig (2008).

Inhalt

 

 

Vorwort

1. Prolog: Die Deutsche Frage 1815–1871

2. Der halbe Hegemon 1871–1890

3. Griff nach der Weltmacht 1890–1914

4. Die deutsche Katastrophe 1914–1918

5. Wandel durch Annäherung 1918–1933

6. Im Zeichen des Angriffs 1933–1939

7. Der Untergang 1939–1945

8. Epilog: Die Deutsche Frage 1945–1991

 

 

Anhang

Abkürzungen

Anmerkungen

Quellen und Literatur

Personenregister

Vorwort

 

 

Das Buch ist der erste Teil einer zweibändigen Geschichte der deutschen Außenpolitik vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart. Der zweite Band behandelt die Zeit seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Beide Bände sind in sich geschlossene Darstellungen, die einander ergänzen. Sie sind aus den Quellen gehoben, allen voran den Akten des Auswärtigen Amtes. Diese liegen – mit einer editionsbedingten Ausnahme – für die Zeit des Deutschen Reiches in insgesamt 134 Bänden geschlossen vor. Eine im internationalen Vergleich beispiellose Anstrengung, die auch etwas über die Bereitschaft der 1870 gegründeten Behörde sagt, ihrer Geschichte ins Auge zu sehen.

Dieser erste Teil ist in einigen Partien eine vollständig neu geschriebene Fassung einer erstmals 2005 unter dem Titel «Jenseits von Hitler» erschienenen, seit geraumer Zeit vergriffenen Darstellung. Da sowohl die Quelleneditionen als auch und vor allem die Literatur zum Thema inzwischen alle Dimensionen sprengen, beschränkt sich die Bibliographie auf einige Standardwerke und neuere Titel.

Erlangen, im April 2013

Gregor Schöllgen

1. Prolog: Die Deutsche Frage

1815–1871

Am Anfang stand der Untergang. Überraschend kam er nicht. Denn dass dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation keine Zukunft beschieden war, stand außer Frage. Das «Alte Reich», wie es im Lichte des 1871 gegründeten neuen Reiches genannt werden sollte, hatte seine beste Zeit lange hinter sich. Seit Jahrhunderten mit der Sicherung seiner erodierenden Außengrenzen und immer stärker mit sich selbst beschäftigt, fehlten ihm die Kraft und der Wille zur Behauptung seiner exponierten Stellung in der Mitte des europäischen Kontinents.

Die Frage war nicht ob, sondern wann und durch wen diesem dahinsiechenden, durch die Habsburger verwalteten Reich der Todesstoß versetzt werden würde. Am 6. August 1806 war es so weit. Unter dem Ansturm der von revolutionärem Elan beflügelten französischen Armeen und unter dem ultimativen politischen Druck ihres charismatischen Befehlshabers Kaiser Napoleons I. legte Franz II. die Krone des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nieder. Fortan begnügte er sich mit dem Titel eines Kaisers von Österreich, den er als Franz I. in weiser Voraussicht schon zwei Jahre zuvor angenommen hatte. Mit der Auflösung wurde de jure ein Reich liquidiert, das es de facto schon nicht mehr gab: Wenige Tage zuvor, am 25. Juli 1806, hatten die Fürsten West- und Süddeutschlands die von Napoleon dekretierte so genannte Rheinbundakte ratifiziert und waren damit nicht nur aus dem Reich ausgetreten, sondern hatten auch die Herrschaft des Franzosenkaisers rechts des Rheines anerkannt.

Was folgte, hat die innere und äußere Ordnung Deutschlands, Europas und der Welt innerhalb nicht einmal eines Jahrzehnts so grundlegend verändert wie kaum eine zweite Episode der neueren Geschichte. Zwar konnte schließlich die Macht der Franzosen durch den konzentrierten Druck der übrigen Mächte in der Völkerschlacht von Leipzig Mitte Oktober 1813 und mit dem Einmarsch der siegreichen Armeen in Paris Ende März 1814 gebrochen werden. Doch blieben die Spuren ihrer Herrschaft allenthalben sichtbar. So gesehen ist zu Recht gesagt worden, dass am Anfang «eines modernen Deutschland» Napoleon gewesen sei.[1]

Das Ende des Alten Reiches sowie die unauslöschbaren Spuren, die der große Franzosenkaiser in Deutschland hinterlassen hatte, warfen vor allem die Frage auf, was an dessen Stelle treten sollte. An der geostrategischen Lage Deutschlands hatte sich ja ebenso wenig geändert wie an seiner Bedeutung für die übrigen Akteure des Kontinents, die in dieser Lage gründete: Über Jahrhunderte hinweg war Deutschland das Auf- und Durchmarschgebiet ihrer Armeen, das Schlachtfeld ihrer Kriege und nicht zuletzt das Medium gewesen, auf dessen Kosten man immer wieder zu einer Lösung strittiger Fragen hatte finden können. Aus der Sicht der europäischen Großmächte sollte sich daran möglichst nichts ändern. Für die Deutschen verhielt es sich genau umgekehrt. Ihre prekäre, gefährdete Lage in der Mitte Europas musste in eine stabile, aus eigener Kraft verteidigungsfähige Formation überführt werden. Schon wegen der zweifelhaften Erfahrungen, die sich mit jedem Wandel im Zentrum des Kontinents verbanden, aber auch angesichts der politischen Rahmenbedingungen war das ein außerordentlich ehrgeiziges Ziel.

Hinzu kam, dass am Ende dieses Prozesses nur die Gründung eines deutschen Nationalstaates stehen konnte. Diese Zielsetzung wiederum setzte eine Antwort auf die nicht minder delikate Frage voraus, wer die nationalstaatliche Einigung in die Hand und die zu erwartenden schweren Auseinandersetzungen mit den zahlreichen Gegnern dieses Vorhabens innerhalb und außerhalb Deutschlands auf sich nehmen sollte: Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland, seine nationalstaatliche Einigung und sein Aufstieg zu einer europäischen Großmacht waren Etappen ein und desselben Prozesses. Kein Wunder, dass die europäische Geschichte der auf Napoleon folgenden Jahrzehnte mal mehr, mal weniger stark, immer aber erkennbar auch von diesem Thema beherrscht worden ist.

Dabei ging es zunächst und vor allem um eine grundlegende Änderung der Rahmenbedingungen für die Deutsche Frage. Dass diese äußeren Bedingungen zumal anfänglich kaum von den Deutschen selbst beeinflusst werden konnten, war gewiss. Einmal abgesehen von ihrer Uneinigkeit gab es ein erklärtes Interesse der europäischen Ordnungsmächte, zu denen anfänglich auch Österreich und Preußen, also die beiden konkurrierenden Führungsmächte in Deutschland, selbst zählten, an ebendiesen Rahmenbedingungen festzuhalten. Nach dem, was Europa seit der großen französischen Revolution, also in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten, erlebt und durchlitten hatte, galten die Wahrung des Friedens und namentlich die Vermeidung der Renaissance eines revolutionären und expansiven Frankreichs auch Österreich und Preußen als hohes Gut. Das machte sie einstweilen zu Hütern der neuen Ordnung.

Schon der seit dem Herbst 1814 in Wien tagende Kongress verflocht die Neuordnung Europas und die Neuordnung Deutschlands aufs Engste miteinander. Die Konstruktion war das Werk der siegreichen Koalition über Napoleon, der so genannten Quadrupelallianz aus Großbritannien, Russland, Österreich und Preußen. Den harten Kern dieser Allianz wiederum bildete die Ende September 1815 durch den russischen Zaren Alexander I., Preußens König Friedrich Wilhelm III. sowie den Kaiser von Österreich Franz I. bezeichnenderweise in Paris begründete «Heilige Allianz» dieser drei großen kontinentaleuropäischen Monarchien.

Die Bundesakte vom 8. Juni 1815, in der die künftige Gestalt Deutschlands festgelegt wurde, war zugleich auch ein Bestandteil der einen Tag später unterzeichneten Wiener Kongressakte. Sie trug erkennbar die Handschrift des österreichischen Außenministers Klemens Fürst zu Metternich, in dem viele den eigentlichen Regisseur des Kongresses sahen. Mit der Bundesakte kamen die schließlich 41 «souveränen Fürsten und Freien Städte Deutschlands» überein, «sich zu einem beständigen Bunde zu vereinigen», dessen «Zweck» die «Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten» war.[2] Da sich die Gemeinsamkeit auf die Verteidigung der Außengrenzen beschränkte und es nicht zu einer inneren Ausgestaltung, namentlich zu keiner gemeinsamen Verfassung kam, war der Deutsche Bund aufs Ganze gesehen ein «passiver Ordnungsfaktor im europäischen Staatensystem».[3] Das ließ unter den obwaltenden Umständen wenig Spielraum für eine nationalstaatliche Einigung, zumal die Könige von England, Dänemark und den Niederlanden als Landesherren von Hannover, Holstein und Luxemburg Mitglieder des Deutschen Bundes waren. Vor allem aber installierte der Wiener Kongress um Deutschland herum ein ebenso simples wie wirkungsvolles System der Status-quo-Sicherung.

Dieses System war nicht das Ergebnis hoher Diplomatie, sondern eine geradezu zwangsläufige Konsequenz aus dem großen europäischen Krieg zu Beginn des Jahrhunderts. Denn es lebte im Grunde vom Gegensatz zwischen England und Russland, Österreich und Preußen auf der einen und Frankreich auf der anderen Seite. Dass es diesen Gegensatz gab, dass also Frankreich als ernst zu nehmender Akteur auf der europäischen Bühne präsent blieb, war einer Entscheidung geschuldet, die im Lichte späterer Weichenstellungen nicht selbstverständlich, für die Zeitgenossen dieses frühen 19. Jahrhunderts aber naheliegend war. Anders als ein gutes Jahrhundert später, als das für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges maßgeblich verantwortliche Deutsche Reich 1919 von den Verhandlungen der Pariser Konferenz ausgeschlossen wurde, war Frankreich 1815 in Wien mit von der Partie – und im Übrigen durch seinen Außenminister Charles-Maurice de Talleyrand bestens repräsentiert. Namentlich Großbritannien, das sich in ebendieser Zeit endgültig auf den Weg zur führenden Weltmacht begab, war daran interessiert, dass sich potentielle Spielverderber und Konkurrenten auf dem Kontinent gegenseitig in Schach hielten. Da lag es nahe, Frankreich im Kreis dieser Konkurrenten zu halten, und der geschmeidige Diplomat Talleyrand wusste diese Chance wohl zu nutzen.

Was die englische Strategie angeht, so ist sie als Politik der Balance of Power in die Geschichte eingegangen. Früher oder später haben alle übrigen europäischen Großmächte einmal zu spüren bekommen, was es damit auf sich hatte. Auch Preußen und später dann das unter seiner Führung gegründete Deutsche Reich. Im Falle Preußens lag diese Erfahrung einige Jahrzehnte zurück. Ein halbes Jahrhundert war es her, seit Großbritannien Ende 1761 seine Unterstützung für den mit dem Rücken zur Wand stehenden Preußenkönig Friedrich II. eingestellt hatte. Üppig war sie nie gewesen. An ein unmittelbares militärisches Eingreifen zugunsten Preußens hatte man während dieses 1756 ausgebrochenen, schließlich sieben Jahre währenden Krieges in London ohnehin nie gedacht. Aber die Subsidien, die man Friedrich hatte zukommen lassen, waren diesem doch von einigem Nutzen gewesen, als es ums nackte Überleben ging.

Allerdings interessierte sich England nur insoweit und so lange für das Schicksal Preußens, als dieses gebraucht wurde, um die Franzosen militärisch in Europa zu binden. Denn der Siebenjährige Krieg war nicht nur eine Auseinandersetzung Preußens mit seinen näheren und ferneren Nachbarn namentlich um die 1740 einverleibte österreichische Provinz Schlesien. Im weltpolitischen Zusammenhang ging es vor allem auch um das Kräftemessen zwischen Großbritannien und Frankreich in Kanada und anderen Gegenden der Welt. Und nachdem sich die Briten diesen Teil des amerikanischen Kontinents endgültig gesichert hatten, ließen sie Preußen fallen.

Es lag am unerwarteten Kurswechsel, den die russische Politik nach dem Tod der Zarin Elisabeth I., eine der entschiedensten Gegnerinnen Friedrichs, im Januar 1762 vornahm, dass die aufstrebende Großmacht das überstand. Kein Wunder, dass sich dieses Verhalten der britischen Politik während der Regentschaft König Georges III. tief ins Bewusstsein der Hohenzollern eingebrannt hat. Noch im April 1898 notierte Wilhelm II. – König von Preußen, dritter und zugleich letzter Kaiser des 1871 gegründeten Zweiten Reiches – an den Rand eines Schreibens der deutschen Botschaft in London: «Friedrich der Grosse! Wurde schmählich von Georg im Stich gelassen».[4]

Anlass dieser emotionalen Aufwallung war ein unerwartetes Bündnisangebot der britischen Regierung an die deutsche, von dem noch zu berichten ist. Es musste deshalb als sensationell gelten, weil sich für die britische Gleichgewichtspolitik Bündnisse, also verbindliche Engagements auf dem europäischen Kontinent, an sich verboten. Das lag an der überragenden Bedeutung, die das Kolonialreich – das British Empire – für Großbritannien besaß. Um den überseeischen Aufgaben gerecht werden zu können, mussten sich die Engländer in europäischen Angelegenheiten so weit als irgend möglich zurückhalten. Nur so ließen sich auf der einen Seite die Kräfte auf das Empire konzentrieren und auf der anderen Seite die kontinentaleuropäischen Großmächte politisch gegeneinander in Stellung bringen. Denn das war das Ziel der britischen Gleichgewichtspolitik. Die möglichen Konkurrenten um die führende Stellung in der außereuropäischen Welt mussten sich auf dem europäischen Kontinent mit britischer Hilfe gegenseitig in Schach halten, so dass sie über keine ausreichenden Kräfte verfügten, um die führende Weltmacht jenseits der Meere herausfordern zu können.

Im Grundsatz galt das auch schon für die Jahrzehnte nach dem Wiener Kongress, der mit seiner auch Großbritannien einbindenden Ordnung das äußerste Maß an Verpflichtung darstellte, das man in London zu diesem Zeitpunkt eingehen wollte. Im Kern reduzierte sich diese Verpflichtung auf das solidarische Einstehen für die mit Müh und Not wiederhergestellte gesellschaftliche und politische Ordnung in Europa. Solange diese gewahrt blieb, zeigte sich Großbritannien an den Entwicklungen auf dem Kontinent grundsätzlich desinteressiert. Die rote Linie, die nicht überschritten werden durfte, war ein Krieg, der die Ordnung in Frage stellte und England zum Eingreifen zwang. Solange diese Linie respektiert wurde, gab es für die Briten keine Veranlassung zur neuerlichen Einberufung eines gesamteuropäischen Kongresses und damit zur abermaligen öffentlichen Festlegung der Inselmacht auf auch für sie verbindliche Prinzipien.

Nicht einmal die revolutionären Erschütterungen, von denen Frankreich, Italien und nicht zuletzt Deutschland 1848/49 heimgesucht wurden, brachten die britische Regierung dazu, auf den auch in den folgenden Jahren verschiedentlich unterbreiteten Vorschlag eines europäischen Kongresses einzugehen. Dahinter steckte kein zauderndes Abwarten oder gar Zurückweichen vor einer unübersichtlichen Situation, sondern kühles Kalkül der auch wirtschaftlich führenden Macht Europas, die ihrerseits das Jahr 1848 ohne größere innere Verwerfungen überstanden hatte. Ohne Risiko war dieses Kalkül freilich nicht, denn es eröffnete Spielräume, die andere zu nutzen verstanden – allen voran Frankreich, in gewisser Weise Italien und nicht zuletzt Preußen. Ganz auf den Erhalt der bestehenden Ordnung fixiert, verweigerten sich die britischen Regierungen während der vierziger und fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts der Erkenntnis, dass diese Ordnung längst zu einem Haus ohne Fundament verkommen war: Die Solidarität, der Wille zu gemeinsamem Handeln, war kaum mehr als ein Lippenbekenntnis, seit sich die Mächte Europas 1848 in der maßgeblichen Regie Großbritanniens auf das Minimalziel verständigt hatten, das Ausufern der revolutionären Bewegungen in einen Krieg zu verhindern.

Gewiss, für sich genommen war das eine beachtliche Leistung. Und natürlich gilt auch in diesem Fall, dass man nachher stets klüger ist. Dennoch wird hier für den Betrachter erstmals ein Handlungsmuster erkennbar, das für die britische Politik bis zum vollständigen Zusammenbruch des traditionellen Staatensystems am Ende des Zweiten Weltkrieges charakteristisch bleiben sollte: Noch die Appeasementpolitik der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts war im Kern nichts anderes als der Versuch, durch die Hinnahme von Verstößen gegen die – in diesem Fall 1919 etablierte – europäische Ordnung den großen Krieg und damit ein Eingreifen auf dem Kontinent zu vermeiden.

Insgesamt sind die britischen Regierungen damit immer wieder gescheitert, eben auch im weiten Vorfeld des Ersten Weltkrieges. Es ist müßig zu spekulieren, wann und womit die Entwicklung einsetzte, die schließlich in diese bis dahin größte Katastrophe der neueren europäischen Geschichte mündete; der Weg in diesen ersten Weltkrieg des 20. Jahrhunderts wird in den folgenden Kapiteln nachgezeichnet. Aber sicher ist doch, dass die 1871 gegründete Großmacht Deutsches Reich unter den gegebenen Umständen nicht mit dem Gleichgewicht der Kräfte in Europa harmonierte. Sicher ist auch, dass die Gründung dieses Reiches ohne die faktische Aufkündigung des 1815 beschlossenen Solidaritätsprinzips schwer vorstellbar war, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt und mit dieser Dynamik.

Eben weil die Deutsche Frage seit 1815 vertraglich verbriefter Bestandteil der europäischen Ordnung gewesen ist, ließ sich in die deutschen Angelegenheiten nur Bewegung bringen, wenn diese Ordnung zerstört wurde oder doch jedenfalls im Zustand des Zerfalls war. Wer immer in Deutschland darauf setzte, musste warten können und einen Instinkt für den richtigen Zeitpunkt besitzen. Aus eigener Kraft, gar mit dem Mittel militärischer Gewalt eine Änderung der Rahmenbedingungen für die Gründung eines deutschen Nationalstaates herbeiführen zu wollen, war ein aussichtsloses Unterfangen.

Dass sich diese Rahmenbedingungen änderten, dass namentlich das Prinzip einer «zumindest partielle[n] Solidarität der Großmächte im Rahmen des europäischen ‹Konzerts› zwecks Sicherung des allgemeinen Friedens»[5] zu Grabe getragen wurde, hatte eine Fülle von Ursachen. Zu ihnen gehörten maßgebliche wie die erwähnte britische Europapolitik jener Jahre; zu ihnen gehörten aber auch ursprünglich periphere wie die Orientalische Frage. Wenn es einen Dauerbrenner in der neueren Geschichte Europas gab, dann war es diese. Die Orientalische Frage speiste sich aus mehreren Quellen. Das machte sie so gefährlich. In ihrem Mittelpunkt stand die Zukunft des Osmanischen Reiches. Seit die Türken 1683 zum zweiten Mal vor Wien gescheitert waren, befanden sie sich in der Defensive. Die Orientalische Frage war im Kern die Geschichte ihres Rückzugs vom Balkan, ihrer Vertreibung aus Europa an oder gar hinter die Meerengen. Dieser Grundzug erklärt ihre enorme Bedeutung für die europäische Politik bis zum Ende des Ersten Weltkrieges; und er erklärt die Schlüsselrolle, die Bosporus und Dardanellen dabei spielten.

Denn wer den Zugriff auf die türkischen Meerengen besaß, der kontrollierte sowohl die Ausfahrt aus dem Schwarzen Meer als auch die Zufahrt in dasselbe. Vom Osmanischen Reich einmal abgesehen, hatte keine andere Großmacht ein derart vitales Interesse an dieser Frage wie der zweite große Anrainer: Für Russland war die ungehinderte Passage durch Bosporus und Dardanellen vor allem aus militärischen, aber zusehends auch aus wirtschaftlichen Gründen lebenswichtig. Namentlich der russische Getreideexport lief, sofern nicht der politisch unwägbare Landweg über Deutschland genommen wurde, durch die Meerengen. Im Unterschied zu den Routen, die ihren Ausgang in den russischen Ostseehäfen hatten, garantierten Bosporus und Dardanellen ganzjährig eine eisfreie Fahrt ins Mittelmeer und von dort gegebenenfalls in den Atlantik. Kein Wunder, dass ihre Kontrolle ein Hauptziel der russischen Orientpolitik war.

Allerdings war die Kontrolle der Meerengen nur ein Ziel der russischen Orientpolitik unter anderen, und um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht einmal das vordringliche. Im Grunde hatte Zar Nikolaus I., der Ende 1825 seinem verstorbenen Bruder Alexander I. auf den Thron gefolgt war, nicht weniger im Sinn als ein russisches Protektorat über das Osmanische Reich und damit wiederum die Schaffung einer idealen Ausgangsposition für den von ihm ausdrücklich nicht ausgeschlossenen Fall einer Aufteilung des siechen Imperiums.

Diese Zielsetzung musste mit Englands Interessen kollidieren. Einmal abgesehen von der Bedeutung, die das Osmanische Reich für die Exporte der führenden Industrienation der Erde besaß, galten für die britische Regierung «die Integrität und die Unabhängigkeit» des Osmanischen Reiches als nicht zur Disposition stehende Voraussetzungen für die Ruhe, den Frieden und das Gleichgewicht «im übrigen Europa». An dieser Maxime hatte sich nichts geändert, seit sie im Sommer 1833 vom späteren Außen-, Innen- und Premierminister Henry John Temple, Third Viscount Palmerston, vor dem Unterhaus formuliert worden war,[6] weil sich an der Lageeinschätzung nichts geändert hatte: Mit Blick auf die Sicherung Indiens, den Dreh- und Angelpunkt des britischen Empire, waren stabile Verhältnisse im östlichen Mittelmeerraum einschließlich eines intakten Osmanischen Reiches unabdingbar. Gelegentlich von britischer Seite, zum Beispiel 1844 gegenüber dem russischen Außenminister Karl Robert Graf von Nesselrode, akademisch erörterte Pläne über eine eventuelle Aufteilung der Türkei änderten daran nichts.

Und so kam es, wie es nach Lage dieser Dinge kommen musste. Aus einem vergleichsweise nichtigen Anlass, nämlich der Forderung Russlands nach Restitution der Privilegien der orthodoxen Kirche im Osmanischen Reich, entwickelte sich im Handumdrehen ein rasant eskalierender Konflikt. Seine maßgeblichen Akteure waren hinter den Kulissen Großbritannien und auf der Bühne des Geschehens Russland. Zar Nikolaus I., dem nach der blutigen Niederschlagung der Aufstände in Polen und Ungarn 1831 beziehungsweise 1849 ein einschlägiger Ruf vorauseilte, war es vorbehalten, den entscheidenden Schritt zu tun und mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Donaufürstentümer Moldau und Walachei die türkische Kriegserklärung zu provozieren. Den Beteiligten war von Anfang an bewusst, dass der Krieg leicht zu einem sämtliche europäische Großmächte involvierenden Flächenbrand werden konnte. Das erklärt, warum Großbritannien und in seinem Gefolge Frankreich fast ein halbes Jahr verstreichen ließen, bis sie der türkischen Kriegserklärung an Russland am 27. beziehungsweise 28. März 1854 ihre eigenen Kriegserklärungen an das Zarenreich folgen ließen.

Der daraus entstehende Konflikt, der als «Krimkrieg» in die Geschichte eingegangen ist, kann in seinen Folgen für die Entwicklung Europas im Allgemeinen und Deutschlands im Besonderen kaum hoch genug veranschlagt werden. Von einem russischen Protektorat über das Osmanische Reich konnte spätestens nach der Erstürmung der Festung Sewastopol durch britische und französische Truppen am 8. September 1855 keine Rede mehr sein. Ganz im Gegenteil musste Russland mit dem Ende März 1856 in Paris unterzeichneten Friedensvertrag unter anderem der Aufnahme der Türkei in den exklusiven Klub der nunmehr sechs europäischen Großmächte zustimmen und weitere demütigende Bestimmungen hinnehmen, darunter vor allem auch die Neutralisierung, also Entmilitarisierung des Schwarzen Meeres.

Dass der Vertrag in Frankreichs Hauptstadt verhandelt und unterzeichnet wurde, verweist auf die erstaunliche Entwicklung, die dieses Land in den vier Jahrzehnten seit dem Wiener Kongress genommen hatte. Sie war vor allem das Verdienst Charles-Louis Napoléon Bonapartes, eines Neffen des großen Franzosenkaisers. Nach einer zunächst gescheiterten Putschistenkarriere wurde er zum entscheidenden Gestalter der französischen und damit zwangsläufig auch der europäischen Politik. Im Herbst 1848 zum Präsidenten der Zweiten Republik gewählt, war er Anfang Dezember 1851 mit einem neuerlichen Staatsstreichversuch erfolgreich und ließ sich, zwischenzeitlich dank eines Plebiszits mit umfassenden Vollmachten ausgestattet, Anfang Dezember 1852 zum Kaiser der Franzosen proklamieren. Solchermaßen im Innern unangefochten und von den europäischen Mächten, allen voran Großbritannien, in seiner neuen Rolle anerkannt, machte sich Napoleon III. an eine umfassende Revision der immer noch von den Folgen des Wiener Kongresses gezeichneten außenpolitischen Lage seines Landes.

Ob ihm ohne die orientalische Krise ein derart durchschlagender Erfolg möglich gewesen wäre, wie Napoleon III. ihn dann tatsächlich verbuchen konnte, sei dahingestellt. So aber nutzte er die sich nicht ganz unerwartet eröffnende, weil von ihm selbst forcierte Chance und schlug sich schon vor Kriegsbeginn auf die richtige Seite. Nicht nur militärisch, auch politisch gehörte Frankreich als nunmehr völlig rehabilitierte und gestärkte Großmacht zu den Gewinnern. Jedenfalls kurzfristig. Langfristig bildete der endgültige Zusammenbruch der alten antifranzösischen Koalition das Einfallstor für jene dynamischen, im eigentlichen Sinne revolutionären Kräfte, die schließlich auch Napoleon III. und sein System hinwegfegen sollten.

Denn das war die mittelfristig entscheidende Folge des Krimkrieges: Er beendete eine Epoche in der Geschichte des europäischen Mächtesystems und bot somit den zukünftigen Nationalstaaten Italien und Deutschland die «Möglichkeit zu großen Erfolgen einer klug kalkulierenden Machtpolitik».[7] Was Italien angeht, so ist die Geschichte seiner Einigung unter der Führung Sardinien-Piemonts die Geschichte der Verdrängung Österreichs aus Italien – mit französischer und mit preußischer Hilfe. Zunächst erkämpfte sich Piemont 1859 an der Seite Frankreichs und daher mit Erfolg die Lombardei. Dann hatte Preußen ein unmittelbares Interesse daran, dass Italien, seit 1861 von Victor Emanuel II. als König geführt, 1866 nicht unter die Räder kam: Obgleich die Italiener den Krieg gegen Österreich verloren, musste Wien Anfang Oktober im Frieden von Wien Venetien an sie abtreten.

Basis für diese auf den ersten Blick überraschende diplomatische Niederlage Österreichs war ein geheimes Bündnis, das Italien am 8. April 1866 mit Preußen geschlossen hatte. Tatsächlich handelte es sich bei dem Feldzug Italiens gegen Österreich um ein Parallelunternehmen zu jenem «Deutschen Krieg», der mit dem preußischen Sieg über Österreich den Höhe- und vorläufigen Schlusspunkt einer Entwicklung markierte, die kaum jemand vorhergesehen hatte, als in Wien die neue Ordnung Deutschlands und Europas zu Papier gebracht wurde. Vielmehr deutete 1815 schon der Ort der Verhandlungen und der Vertragsunterzeichnung darauf hin, dass unter den gut 40 Mitgliedern des Deutschen Bundes Österreich die Führung beanspruchte. Den Anspruch zu erheben war eine Sache, ihn zu behaupten war eine andere. Ohne die offene oder auch stillschweigende Unterstützung der übrigen Großmächte, allen voran Großbritanniens, hätte Österreich die führende Rolle in Deutschland nicht spielen können.

Die englische Haltung in und zu den deutschen Angelegenheiten reflektierte zum einen die tatsächlichen Machtverhältnisse im Deutschen Bund. Zum anderen war sie aber auch Ausdruck einer präventiven Strategie gegenüber Preußen. Dessen Aufstieg zu einer europäischen Großmacht, gegen den sich die Kontinentalmächte während der vierziger und fünfziger Jahre des 18. Jahrhunderts, also in der Ära Friedrichs des Großen, zeitweilig vereint, im Ergebnis aber vergeblich gestemmt hatten, war nicht vergessen. Gewiss stand dieses Preußen am Ende der Napoleonischen Ära nicht gerade großartig da. Jedoch hatten die preußischen Herrscher in der Vergangenheit immer wieder unter Beweis gestellt, dass sie ihr Land auch durch scheinbar aussichtslose Situationen zum Erfolg führen konnten.

Also hatte man 1815 vorgebeugt und mit der konföderativen Struktur des Deutschen Bundes unter anderem dafür gesorgt, dass die neu gewonnenen rheinischen Provinzen Preußens in Zukunft von seinem Kernland getrennt blieben. Auch konnte Preußen unter entschiedenem politischen Druck der Großmächte, darunter Frankreich, dazu veranlasst werden, auf die ursprünglich angestrebte totale Annexion Sachsens zu verzichten und sich mit etwa zwei Fünfteln des sächsischen Gebietes zufriedenzugeben. Auch dank dieser Weichenstellungen waren die Machtverhältnisse in Deutschland weitgehend zugunsten Österreichs geklärt.

Preußen fügte sich dem österreichischen Führungsanspruch mal mehr, mal weniger freiwillig. Wenn es die Machtprobe suchte, wie während der Revolutionsjahre 1848/49, zog es in der Regel den Kürzeren: In der so genannten Punktation von Olmütz zwang Österreich den Konkurrenten um die Führung in Deutschland am 29. November 1850 zum Nachgeben in allen strittigen Fragen und zu der Erklärung, deren «endliche und definitive Regulirung … durch die gemeinsame Entscheidung aller deutschen Regierungen herbeizuführen».[8] Es sollte das letzte Mal sein, dass Preußen in der «Deutschen Frage», wie dieser Machtkampf seither genannt wurde, den Kürzeren zog.

Dass Preußen dann schließlich nicht nur über seinen deutschen Rivalen triumphierte, sondern mit diesem Triumph über den größeren Nachbarn auch den Grundstein für den Aufstieg zur führenden Macht des europäischen Kontinents legte, lag auch an seiner konsequenten Erneuerung und Modernisierung. Sie war nicht von langer Hand geplant, einstweilen auch kaum erkennbar, führte aber schließlich dazu, dass Preußen unbeschadet der politischen Kapitulation von Olmütz inzwischen «der materiell erschöpften und beharrlich vormodernen Habsburger Monarchie dauerhaft überlegen geworden war».[9]

Das zeigte sich zum Beispiel auf dem Gebiet der Wirtschaft und des Handels, auf dem Preußen auch deshalb mit Erfolg tätig werden konnte, weil der österreichische Konkurrent und namentlich der Mann an seiner Spitze, Fürst Metternich, die Tragweite der Aktivitäten schlicht unterschätzte. Beginnend mit der Verabschiedung des Zollgesetzes im Mai 1818 verschaffte sich Preußen gleichermaßen unauffällig wie unspektakulär eine respektable Machtbasis. Von hier aus ließen sich die entscheidenden politischen und militärischen Schritte hin zur Vorherrschaft in Deutschland tun, als die Zeit reif und der richtige Mann an den Schaltstellen der Macht war. Der Deutsche Zollverein, der zum 1. Januar 1834 die preußische mit der süddeutschen Zollunion verschmolz, muss in der Rückschau als der entscheidende Durchbruch gelten; die Verschmelzung des Zollvereins mit dem hannoverschen Steuerverein, infolge derer Preußen seit dem September 1851 unter anderem einen Zugang zur Nordsee hatte, tat ein Übriges.

Ernst zu nehmende Widerstände provozierten diese Maßnahmen nicht. Diejenigen, die wie Palmerston erkannten, dass der Zollverein Deutschland über ein «gemeinsames Nationalgefühl» zur Einigung führen werde,[10] trafen auf taube Ohren. Europa war mit anderen Problemen beschäftigt. Zum Beispiel im Frühjahr 1848 mit dem Krieg um Schleswig-Holstein. Hier kollidierte der dänische Anspruch auf Einverleibung der beiden Herzogtümer mit dem nämlichen deutschen. Es war Preußen, das den Anspruch eines noch gar nicht existierenden deutschen Nationalstaates auf die Herzogtümer durchzusetzen suchte. Dass es damit die Stimmung der Zeit traf, zeigte die breite Unterstützung, die es dabei zunächst durch den Bundestag und, nachdem dieser seine Arbeit eingestellt hatte, durch die seit Mitte Mai in der Frankfurter Paulskirche tagende Nationalversammlung erfuhr.

Daher war es alles andere als selbstverständlich, dass sich Preußen dem Druck namentlich Englands und Russlands beugte und Ende August 1848 mit Dänemark einen Waffenstillstand vereinbarte. Immerhin stellte man sich damit gegen die Forderungen und Erwartungen der empörten Abgeordneten in der Paulskirche. Gleichzeitig verschaffte aber dieses Solo Preußen in den Reihen der Großmächte Respekt und trug dazu bei, dass andere Maßnahmen wie die preußische Zollvereinspolitik aus dem Blickfeld der großen Politik gerieten, obgleich sie dem Machtgefüge in der Konsequenz wesentlich abträglicher waren als Preußens Auftritte auf diesem Parkett der großen Politik.

Denn dort glänzte Preußen nicht gerade durch Souveränität und Fortune. Ganz im Gegenteil schien es sich mit seiner Politik während des Krimkrieges wieder einmal aus dem Kreis der europäischen Großmächte zu verabschieden. Anders als Österreich, das im November 1853 immerhin seine bewaffnete Neutralität erklärte und sich dann faktisch auf die Seite Großbritanniens und Frankreichs schlug, blieb Preußen konsequent neutral. Das war im Wesentlichen die Entscheidung König Friedrich Wilhelms IV., der damit Briten und Franzosen «ein andres Beyspiel» geben wollte, «als das jammervolle welches Östreich denselben» gab.[11] Viele in des Königs Umgebung sahen das ganz anders, darunter auch Prinz Wilhelm, der nachmalige erste Kaiser des Deutschen Reiches, der gegenüber seinem Bruder eine «Neutralität für Preußen» – wiederholt und unmissverständlich – «für nicht nur nicht durchführbar[,] sondern auch nicht für rathsam erklärte».[12] Tatsächlich waren die Folgen unerfreulich.

Obgleich die Berliner Entscheidung für eine konsequente Neutralität maßgeblich dazu beitrug, dass der Krieg auf die orientalische Peripherie beschränkt blieb und sich nicht zu einem gesamteuropäischen Konflikt ausweitete, musste Preußen einen hohen Preis zahlen. Als Einzige unter den europäischen Großmächten war es auf der Pariser Friedenskonferenz anfänglich nicht zugelassen. Erst am 18. März 1856, mithin fast vier Wochen nach ihrer Eröffnung, durften Otto Freiherr von Manteuffel, Preußens Ministerpräsident und Außenminister, und Maximilian Graf von Hatzfeldt, der preußische Gesandte in Paris, «zwischen den Gesandten Großbritanniens und Russlands … ihre Plätze» einnehmen, wie die beiden an ihren König schrieben.[13]

Eine demütigende Zurücksetzung. So empfand es die politische Führung des Landes. Nur einer sah das anders. Otto von Bismarck, der preußische Gesandte am Bundestag in Frankfurt, gab Ende Januar 1856 zu bedenken, dass Preußen mit seinem Drängen auf Zulassung zum «Concert» seine «bisherige freie Stellung» aufgebe, weil es sich dann von vornherein dem Druck der Mehrheit beugen müsse: «Je kühler wir uns zeigen, desto sicherer rechne ich auf unsere ehrenvolle und freie Zuziehung … Änderungen von europäischen Rechten, welche uns und die von uns geschlossenen Verträge tangieren, werden, wenn sie je zu Stande kommen sollen, das unabweisliche Bedürfniß unserer Teilnahme erzeugen.»[14] So kam es dann auch wenige Wochen später, und nicht erst hier blitzte jene instinktsichere Witterung günstiger Konstellationen in der internationalen Politik auf, die Bismarck und mit ihm Preußen durch die kommenden anderthalb Jahrzehnte zum Ziel führen sollte. Dieses Ziel hatte jedenfalls Bismarck schon während des Krimkrieges fest im Blick.

In einem ausführlichen Schreiben, das er am 2. Mai 1857 von seinem Frankfurter Dienstort aus an Leopold von Gerlach, preußischer General und enger Vertrauter Friedrich Wilhelms IV., richtete, hat Bismarck die Grundzüge seines Verständnisses von Außenpolitik in der Nachkriegszeit zu Papier gebracht. Wie das 20 Jahre später verfasste so genannte Kissinger Diktat ist es zugleich eine nüchterne Bestandsaufnahme der Chancen und vor allem der Risiken und Schwächen preußischer Außenpolitik: «Wir haben keine Bündnisse und treiben keine auswärtige Politik, d.h. keine active, sondern wir beschränken uns darauf, die Steine, die in unsern Garten fallen, aufzusammeln … alle die Nuancen von Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit oder Absicht, für den Fall eines Krieges dieses oder jenes Bündniß schließen, zu dieser oder jener Gruppe gehören zu können, bleiben doch die Basis des Einflusses, den ein Staat heut zu Tage in Friedenszeiten üben kann.»

Das schloss, für Berliner Ohren unerhört, auch ein pragmatisches Zusammengehen mit dem Frankreich Kaiser Napoleons III. ein, der Bismarck seit dem Sommer 1855 «mehrere lange Audienzen» gewährt hatte. Er verlange ja gar nicht, schrieb der Gesandte an Gerlach, dass man «mit Frankreich ein Bündniß schließen» und gegen den Deutschen Bund «conspiriren» solle, «aber ist es nicht vernünftiger, mit den Franzosen, so lange sie uns in Ruhe lassen, auf freundlichem als auf kühlem Fuße zu stehn?»[15] Das galt vor allem für den von Bismarck für unausweichlich gehaltenen Konflikt mit Österreich. Wann immer es so weit sein würde, war man auf das Stillhalten Frankreichs angewiesen. Wie sich das Verhältnis zum westlichen Nachbarn danach entwickelte, würde man sehen, wenn der erste Schritt getan war.

Tatsächlich eröffneten sich dank der in Paris vollendeten Demontage der Wiener Ordnung ungeahnte Perspektiven für die preußische Politik. Jedenfalls sah das Bismarck so. Zum einen war die Solidarität der alten Ordnungsmächte England, Russland und Österreich endgültig in die Brüche gegangen, ohne dass sich gleichzeitig aus dem englisch-französischen Zweckbündnis eine Allianz mit Perspektive entwickeln konnte. Zum anderen hatte sich Österreich nicht nur aus der «Heiligen Allianz» verabschiedet und damit in Russland einen Gegner gefunden, der die Kräfte der Donaumonarchie zu einem guten Teil band; vielmehr war auch Großbritannien fortan nicht mehr bereit, Österreich als unverzichtbaren Garanten des europäischen Gleichgewichts zu betrachten. Das wog schwer in einer Zeit, die einen inneren Gärungsprozess dieses Vielvölkerstaates sah. Und schließlich gehörte der aus der Napoleonischen Ära herrührende englisch-russische Schulterschluss der Vergangenheit an. Fortan bildeten die beiden europäischen Flügelmächte nicht mehr jene Zange, die eine durch sie nicht kontrollierte Bewegung in der Mitte Europas von vornherein ausschloss.

So fand sich Preußen am Ende des Krimkrieges in einer Situation, die sich auf den ersten Blick ungünstiger ausnahm, als sie tatsächlich war. Bei näherer Betrachtung bot sie nämlich durchaus Chancen, nicht zuletzt die Möglichkeit, die überfällige nationalstaatliche Einigung Deutschlands in preußischer Regie ins Werk zu setzen. Genau genommen war es die einzig verbliebene Chance, dieses Ziel zu erreichen. Auf der einen Seite stand Österreich, voll und ganz mit sich selbst und seinen neuen Gegnern beschäftigt, als kraftvoller Initiator nicht mehr zur Verfügung. Auf der anderen Seite war der Versuch, den Nationalstaat von der Basis her ins Leben zu befördern, 1849 krachend gescheitert: Keines der Ziele, die sich die mit großen Erwartungen und Hoffnungen in der Paulskirche Versammelten gesteckt hatten, war erreicht worden. Wobei es besonders schwer wog, dass der preußische König sich Ende April 1849 rundweg geweigert hatte, die ihm von der Nationalversammlung angetragene Kaiserkrone eines kleindeutschen Nationalstaates anzunehmen. So blieb nur ein Weg, wenn man die sich seit 1856 eröffnete Chance nutzen und die nationalstaatliche Einigung unter preußischer Führung ins Werk setzen wollte. Die Frage war, ob es jemanden gab, der nicht nur diese Chance rechtzeitig erkennen, sondern auch bereit sein würde, den ohne jeden Zweifel riskanten Weg auch einzuschlagen und mit ganzer Konsequenz bis zu einem noch zu definierenden Ziel zu verfolgen.

Otto von Bismarck, am 1. April 1815 in der Altmark geboren, entstammte väterlicherseits jener Führungsschicht, auf die sich die Hohenzollern, die preußischen Könige, stets hatten verlassen können. Seine Schulzeit absolvierte der junge Bismarck in Berlin, das Studium der Rechte zunächst in Göttingen, dann wieder in der preußischen Metropole. Die anschließenden Jahre als Regierungsreferendar in Aachen und Potsdam ließen in dem nicht einmal Fünfundzwanzigjährigen die Erkenntnis reifen, dass die Beamtenlaufbahn ihm nicht die Möglichkeit bot, so «Musik zu machen, wie ich sie für gut erkenne».[16]

Also entschloss er sich 1838 zur Rückkehr aufs Land, zuletzt nach Schönhausen, wo er das Licht der Welt erblickt hatte und von wo aus er im Mai 1847 als Abgeordneter des Preußischen Vereinigten Landtages den Weg in die Politik nahm. Seine Stunde schlug, als die Revolution das Land erfasste. Keine Frage, dass Otto von Bismarck 1848/49 auf der Seite der Gegenrevolution stand. Keine Frage auch, dass er der Krone und dem Land als Diplomat diente, als diese seine Dienste benötigten – zunächst von 1851 bis 1859 als preußischer Gesandter am Deutschen Bundestag in Frankfurt, danach für drei Jahre in St. Petersburg sowie 1862 für einige Monate in Paris. Der Diplomatie, der Außenpolitik hatte schon immer seine Leidenschaft gegolten, und dass Bismarck gerade auf diesen Posten das Handwerk erlernte, zahlte sich aus, als es um die Herstellung der deutschen Einheit ging.

Natürlich war er erneut zur Stelle, als der König im Spätsommer 1862 wegen einer schweren Verfassungskrise unter Druck geriet, die sich aus einer Heeresreform entwickelt hatte. Wilhelm I. hatte schon im Oktober 1858 die Regierungsgeschäfte von seinem schwerkranken Bruder Friedrich Wilhelm IV. übernommen und nach dessen Tod Anfang Januar 1861 den preußischen Königsthron bestiegen. Seit dem 23. September 1862 amtierte Bismarck als preußischer Ministerpräsident, seit dem 8. Oktober auch als Minister der auswärtigen Angelegenheiten – in beiden Fällen, von einer zehnmonatigen Pause als Ministerpräsident 1873 abgesehen, fast 30 Jahre lang, bis zum 20. März 1890. 1874 drängte er das zweite seiner drei Kinder zum Eintritt in den diplomatischen Dienst des Deutschen Reiches, und vor allem in den letzten Jahren gehörte Herbert von Bismarck als Staatssekretär im Auswärtigen Amt zu den engsten Mitarbeitern seines Vaters.

Wir wissen nicht, wie der 1862 ausgetragene Konflikt mit der liberalen Opposition unter anderen Umständen als den obwaltenden ausgegangen wäre und ob Bismarck ihn politisch überlebt hätte. Immerhin regierte er vier Jahre lang ohne bewilligtes Budget, also gegen das Parlament. Dass die Parlamentarier schließlich dem Ministerpräsidenten verziehen, ja sogar seine politischen Verfehlungen im Nachhinein legalisierten, hatte einen einfachen Grund: die spektakulären außenpolitischen Erfolge des Mannes. Wohl wissend, dass der preußische Führungsanspruch in Deutschland nicht auf Österreichs Zustimmung rechnen konnte, führte Bismarck das Land in die unvermeidliche Auseinandersetzung mit der Habsburger Monarchie.

Dabei folgte er keinem von langer Hand vorbereiteten Plan, sondern wartete auf eine Chance. Sie ergab sich, als Dänemark durch ungeschicktes Taktieren den beiden deutschen Führungsmächten Österreich und Preußen den Anlass bot, gemeinsam im Frühjahr 1864 den in Deutschland äußerst populären Krieg um die beiden Herzogtümer Schleswig und Holstein endlich zu führen, ohne auf ernst zu nehmenden Widerstand namentlich der übrigen Großmächte zu stoßen. Mit der von Bismarck nach dem Sieg über Dänemark forcierten Lösung, wonach Preußen die Verwaltung des nördlichen Schleswig und damit ein Durchmarschrecht durch das südliche, von Österreich verwaltete Holstein zustand, war der Konflikt programmiert.

Der Anlass, den Bismarck nutzte, um Wien aus der Reserve zu locken, waren «revolutionäre … Tendenzen» in Holstein. Sollte sich in dieser Frage nicht die «aufrichtig angestrebte intime Gemeinsamkeit» zwischen Berlin und Wien verwirklichen lassen, dann allerdings, so Bismarck Ende Januar 1866, müsse man für Preußens «ganze Politik volle Freiheit gewinnen u[nd] von derselben den Gebrauch machen, welchen wir dem Interesse Preußens entsprechend halten».[17] Das war nichts anderes als eine diplomatisch verpackte Drohung. Kein Wunder, dass Österreich unter solchen Umständen den über die «Schleswig-Holsteinische Angelegenheit» ausgebrochenen Konflikt nutzte, um seinerseits für klare Verhältnisse zu sorgen und «den Bruch und den Krieg zu erzwingen», wie Bismarck Anfang Juni 1866 an die wichtigsten preußischen Auslandsmissionen schrieb.[18] Und so ließ der preußische Ministerpräsident und Außenminister Österreich gewähren, überzeugt davon, dass dem Hohenzollernstaat die Zukunft gehöre: «Preußen», führte Bismarck Ende Februar 1866 im Kronrat aus, «sei die einzige lebensfähige Schöpfung, die aus den Ruinen des alten deutschen Reiches hervorgegangen sei und hierauf beruhe sein Beruf, an die Spitze Deutschlands zu treten.»[19]

Ein riskantes Spiel, zwang die eskalierende Situation doch die übrigen Mitglieder des Deutschen Bundes, Stellung in einem Konflikt zu beziehen, den nicht wenige als Bruder- beziehungsweise, wie der britische Außenminister Clarendon, als «Bürgerkrieg» empfanden.[20] Die Entscheidung verlief entlang einer erwarteten Linie. Nachdem Österreich am 14. Juni im Bundestag einen Mobilisierungsantrag gegen Preußen gestellt und dieses daraufhin den Bundesvertrag für gebrochen und erloschen erklärt hatte, schlugen sich die meisten Kleinstaaten Norddeutschlands auf Preußens Seite, während die größeren Akteure wie Bayern, Hannover, Sachsen und Württemberg mit Österreich gingen.

Weil aber der deutsche Krieg für Bismarck nur ein Zwischenstadium war und sein konnte, hatte er schon während der Auseinandersetzung stets das künftige Verhältnis zu den Gegnern in diesem Krieg, nicht zuletzt auch zu Österreich, im Blick und verzichtete auf dessen Demütigung, zumal auf die Einnahme Wiens. Auch ohne diesen letzten militärischen Triumph brachte der preußische Sieg, vor allem der durchschlagende Erfolg in der Schlacht von Königgrätz am 3. Juli 1866, nicht nur die meisten Kritiker Bismarcks im Innern zum Schweigen, sondern auch eine Reihe deutscher Staaten an Preußens Seite. Das war dringend nötig, denn allein hätte Preußen wohl kaum die Entscheidung gegen Frankreich herbeiführen können.

Bis es soweit war, galt es, die Verhältnisse im von Preußen kontrollierten Machtbereich zu konsolidieren und damit zugleich ein ausbaufähiges Fundament für die Zeit nach einer Niederwerfung Frankreichs zu schaffen – wann immer sie auch kommen würde. Das Ergebnis war der Norddeutsche Bund, den zunächst 16 Fürstentümer und Hansestädte nördlich der Mainlinie am 18. August 1866 aus der Taufe hoben. Die am 1. Juli 1867 nachgereichte, zuvor durch den Reichstag verabschiedete Verfassung bestimmte Preußens König zum «Präsidium». Außerdem installierte der Reichstag mit dem Bundeskanzler ein zentrales, verantwortliches und formell von Preußen unabhängiges Bundesorgan.

Dass tatsächlich der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck dieses Amt in Personalunion übernahm, verstand sich für ihn von selbst. Wie er überhaupt die Fäden in der Hand behielt und unmittelbar nach der förmlichen Auflösung des Deutschen Bundes, also noch im August 1866, damit begann, die süddeutschen Staaten durch geheime Bündnisse an das erfolgreiche und nach dem Sieg über Österreich prächtig dastehende Preußen zu binden. Der im Sommer 1867 erneuerte Zollverein tat ein Übriges, um den Norddeutschen Bund und die süddeutschen Staaten in eine optimale Ausgangsposition für die erwartete Entscheidung mit Frankreich zu bringen.

Den Waffengang gegen den westlichen Nachbarn hielt Bismarck schon deshalb für unabwendbar, weil Napoleon III. eine nationalstaatliche Einigung unter preußischer Führung nicht hinnehmen konnte. Sie gefährdete auf lange Sicht die mit dem Krimkrieg wiedergewonnene führende Stellung Frankreichs in Europa. Auch entfiel mit einem geeinten, handlungsfähigen deutschen Nationalstaat das Schlacht- und das Vorfeld, das Deutschland in seiner bestehenden äußeren und inneren Verfassung für Frankreich bot. Nicht zufällig hatte Paris 1866 insgeheim mit Wien gemeinsame Sache gegen Preußen gemacht.

Mit alledem war es vorbei, seit eine französische Armee Anfang September 1870 bei Sedan kapituliert hatte und Napoleon III. von seinen Landsleuten in den royalen Ruhestand geschickt worden war. Von außen betrachtet, trug er daran selbst die Schuld. Denn durch einen taktischen Kniff hatte Bismarck es geschafft, den Kaiser 21