Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

ANGST ESSEN FREIHEIT AUF

Warum wir unsere Grundrechte schützen müssen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Imrpessum

Menü

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Angst essen Freiheit auf

„Es geht um dich!“

Kapitel 1

Kleines Buch mit großer Wirkung

Ein Neuanfang 1949

Natürlich sind wir gleichberechtigt …

… aber wir sind noch nicht am Ziel

Sind die Grundrechte gefährdet?

Kapitel 2

Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ganz konkret

Antwort auf Nazi-Unrecht

Todesstrafe – heiligt der Zweck die Mittel?

Waterboarding und Rettungsfolter – im Notfall gerechtfertigt?

Dürfen Menschenleben gegeneinander abgewogen werden?

Was bringt der Menschenwürdeschutz im Alltag?

Kapitel 3

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht

Freiheitsrechte fordern uns

Was gebe ich preis? – Informationelle Selbstbestimmung

Datenschutz ist Selbstbestimmung

Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme

Das betrifft uns alle

Kapitel 4

Die Privatsphäre – ein massiv bedrohtes Gut

Kurzer Blick in die Geschichte der Privatheit

Der Staat weiß alles

Ist der Einzelne bei so viel Staat machtlos?

Kapitel 5

Big Data und Datenschutz – ein Widerspruch?

Der vermessene Mensch

Kapitel 6

Mein Recht auf Vergessenwerden

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu Google Spain

Das Recht auf Vergessenwerden geltend machen

Kapitel 7

Der Mensch ein Datenhaufen?

Was KI uns abnimmt

Wie uns KI bedroht

Konsequenzen für den Schutz der Grundrechte

Mit Transparenz gegen die Ängste vor der Maschine

Kapitel 8

Freiheit und Sicherheit

Organisierte Kriminalität

Die Unverletzlichkeit der Wohnung als politische Manövriermasse

Der große Lauschangriff – Blaupause für eine einseitige Sicherheitspolitik

Vertrauliche Kommunikation – geht das noch?

Das Smartphone als Türöffner zu unserem Innersten

Deshalb klage ich gegen die Online-Durchsuchung beim Bundesverfassungsgericht

Die unendliche Geschichte der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung

Biometrie und Grundrechte – der Geist ist aus der Flasche

Was tun gegen Videoüberwachung?

Wann darf die Polizei einschreiten?

Kapitel 9

Sind Verfechter der Freiheitsrechte für den Nachtwächterstaat?

Ist der Rechtsstaat in Gefahr?

Anstrengender Rechtsstaat

Kapitel 10

Man wird doch noch seine Meinung sagen dürfen …

Grenzen der Meinungsfreiheit in einer offenen Gesellschaft

Brauchen wir eine Netzkontrolle?

Raus aus den Echokammern

Kommt die Pressefreiheit unter die Räder?

Kapitel 11

Hat Religionsfreiheit Grenzen?

Eine Religion muss nicht verfassungskonform sein

Religionspraxis vor dem Bundesverfassungsgericht

Kapitel 12

Politisches Asylrecht – ein staatlicher Gnadenerweis?

Asylrecht nach politischer Stimmungslage?

Geflüchtet – und zwischen allen Grenzen

Zum Schluss

Anhang

Die Grundrechte im Grundgesetz

Anmerkungen

Literatur zum Weiterlesen

Prolog

Welchen Stellenwert haben die Grundrechte heute – 70 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes 1949? Das Jubiläum des Grundgesetzes 2019 ist ein guter Anlass, sich mit seinen wesentlichen Inhalten, den Grundrechten, zu beschäftigen. Politisch und juristisch ist das Grundgesetz schon häufig bewertet worden. Seine Entstehungsgeschichte wurde dargestellt, seine Bedeutung für die Begründung der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland war Gegenstand historischer und verfassungspolitischer Abhandlungen. Warum sich also noch einmal damit befassen?

Dieses Buch ist keine weitere Eloge auf die Verfassung. Es gibt keine juristischen Kommentare ab, die der Nichtjurist nur schwer oder gar nicht verstehen kann. Und es befasst sich auch nicht mit allen Grundrechten. Was ist es dann?

Es ist ein flammendes Plädoyer für die Freiheitsrechte. Sie werden im Grundgesetz als unveräußerliche Rechte in den Artikeln 1 bis 19 garantiert. Jeder Bürger ist Träger dieser Freiheitsrechte. Nicht der Staat gewährt sie, sondern wir haben sie.

Es ist eine Liebeserklärung an die Freiheit. Ein Bekenntnis zu dem Wert, der so selbstverständlich von uns allen in Anspruch genommen und doch so wenig wertgeschätzt wird.

Es ist die Verteidigungsschrift einer glühenden Verfechterin der Freiheit. Und eine Verteidigung ist dringend nötig, denn Feinde der Freiheit gibt es genug. Ein Staat, der eine einseitige Sicherheitspolitik zulasten der Freiheit betreibt und auch vor verfassungswidrigen Eingriffen nicht zurückschreckt. Marktdominante globale Unternehmen, die Unmengen an personenbezogenen Daten speichern, analysieren, vernetzen und verwenden. Demokratiefeindliche Kräfte wie extreme Parteien und Bewegungen, Auslandsgeheimdienste und kriminelle Hacker, die mithilfe der sozialen Medien freie, unabhängige Wahlen durch gezielte Desinformation und Manipulation gefährden. Und schließlich begeben die Bürger sich ihrer Freiheitsrechte selbst, indem sie bereitwillig auf ihre informationelle Selbstbestimmung verzichten und vom Staat immer mehr Sicherheit einfordern, weil sie Angst vor Terror, vor Kriminalität, vor Geflüchteten, vor anderen Religionen und anderen Kulturen haben. Sie delegieren die Verantwortung an den Staat und geben dafür ihre Freiheitsrechte scheibchenweise auf.

ANGST ESSEN FREIHEIT AUF

Wer Angst vor Übergriffen, vor Verletzungen, vor Ausspähungen und vor Überwachung hat, der verhält sich nicht frei. Der wagt sich womöglich nicht an bestimmte Orte, verzichtet darauf, an Großveranstaltungen teilzunehmen, traut sich keine eigene Meinung mehr zu und verändert vielleicht sein Kommunikationsverhalten. Er verändert womöglich auch seine Einstellung zu anderen Menschen, sieht in ihnen eine Gefahr, sei es wegen der für ihn fremden Kultur, der sie angehören, sei es wegen ihres Glaubens, der ihm unheimlich ist. Diese Ängste darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ja, wir alle, auch und gerade die Politiker, müssen sie ernst nehmen.

Vom Schüren der Angst bis zur Gleichgültigkeit, von bewusstem Verzicht bis zu rücksichtsloser Inanspruchnahme reichen die Verhaltensweisen, die die Freiheitsrechte gefährden. In Teilen der Zivilbevölkerung werden Toleranz und Respekt gegenüber den Mitmenschen, die in einer offenen Gesellschaft unverzichtbar sind, nicht mehr gelebt. Vielmehr dominieren Vorurteile und Hass. Angst ist der Treibsatz gegen die Grundrechte des Einzelnen, sie ist das schleichende Gift in unseren Köpfen und Herzen, das die Offenheit und Zuneigung zum Miteinander zersetzt, indem sie die Freiheitsrechte als Eliteninstrument diffamiert.

Angst bedroht die Grundlagen unserer offenen Gesellschaft, von der wir alle so sehr profitieren. Dieser Entwicklung möchte ich entgegentreten und in Anlehnung an Rainer Werner Fassbinders Film „Angst essen Seele auf“ zeigen, dass wir die einmalige Errungenschaft, wirklich freie Bürger und Bürgerinnen zu sein, einbüßen, wenn wir uns nicht bewusst machen, was auf dem Spiel steht.

„ES GEHT UM DICH!“

Diese Botschaft darf nicht den Gegnern der freiheitlich-demokratischen Grundwerte überlassen werden, die damit ein Versprechen formulieren, dessen Einhaltung sie gar nicht wollen. Denn es geht ihnen nicht um die Rechte jedes Einzelnen, sondern um die Rechte eines bestimmten, durch „Rasse“ und Abstammung gebildeten Kollektivs, wie die Politik der Populisten von Trump bis Erdogan zeigt. Die Tatsache, dass deren Parolen dennoch verfangen, zeigt, wie groß das Bedürfnis vieler Menschen ist, sich des Eigenen nach dem Prinzip des „Wir gegen Die“ zu versichern.

Ich möchte 70 Jahre nach dem Inkrafttreten unseres Grundgesetzes leidenschaftlich für das Wahrnehmen der Freiheitsrechte werben und das Bewusstsein dafür schärfen, dass jeder seinen Beitrag für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft leisten muss. Freiheitsrechte zu leben, heißt nicht, dem Egoismus, Hedonismus und dem Recht des Stärkeren das Wort zu reden. Ich will deutlich machen, dass weniger Rechte für die Fremden nicht mehr Sicherheit für die anderen bringen. Ich möchte der Orientierungslosigkeit, der Enttäuschung, den Ängsten und dem Frust vieler Menschen entgegenwirken. Mir geht es darum, zu zeigen, dass eine glaubhafte, starke und identitätsstiftende Orientierung an den Grundrechten sicheren Rückhalt gewähren kann. Die Freiheitsrechte zu leben, heißt aber auch, um die Verantwortung zu wissen, die für jeden Menschen daraus erwächst – für sich selbst und für andere. Den Leserinnen und Lesern dieses Buches möchte ich Mut zu einem selbstbestimmten Leben machen. Die Grundrechte werden einfach, verständlich und konkret dargestellt, ihre immense Bedeutung für unser Leben anhand von Beispielen erläutert.

Es gilt, die Zustimmung und das Engagement für diese Freiheitsrechte zurückzuerobern. Das war auch die Erwartung der Mütter und Väter des Grundgesetzes, die damit die Grundlagen für den Neuanfang des demokratischen Lebens in Deutschland schaffen wollten. Nehmen wir ihren Auftrag heute so ernst wie vor 70 Jahren. Lassen wir uns nicht von Angst treiben. Angst zerstört Lebensfreude. Angst verstellt den Blick für Chancen. Angst macht uns zu Getriebenen. Angst essen Freiheit auf.

Kapitel 1

Kleines Buch mit großer Wirkung

Dem kleinen Buch, das die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 zu einem demokratischen Verfassungsstaat machte, sah man seine revolutionäre Wirkung nicht an. Gerade einmal 146 Artikel enthält die Verfassung, die wegen der Teilung Deutschlands die vorläufige Bezeichnung „Grundgesetz“ erhielt. Sie begrenzt die Staatsmacht und verankert die Grundrechte als verbindliche, einklagbare Rechte. Sie soll Bollwerk gegen Verfassungsfeinde und Menschenrechtsverächter, gegen den Missbrauch staatlicher Macht und gegen den Aufstieg von Autokraten sein. Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz nach zahlreichen Richtungskämpfen zwischen den damaligen Siegermächten, Ländern und Parteien, Kirchen und bedeutenden Politikern der Weimarer Republik in Kraft. Vier Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation war das Grundgesetz am 8. Mai 1949 vom Parlamentarischen Rat, bestehend aus 66 Männern und 4 Frauen – darunter 5 nicht stimmberechtigte Mitglieder aus Berlin – mit 53 zu 2 Stimmen beschlossen worden. Einige Tage später wurde es von den Alliierten genehmigt. Deutschland war zu jener Zeit kein souveräner Staat, bekam aber eine Verfassungsordnung und stand noch bis 1955 unter dem Besatzungsstatut der drei westlichen Alliierten.

Die Beratungen wurden angesichts der Berlin-Blockade durch die sowjetische Besatzungsmacht von der Gefahr eines Dritten Weltkriegs begleitet. Es verwundert deshalb nicht, dass das Grundgesetz damals eher auf Teilnahmslosigkeit stieß. Die Menschen hatten andere Sorgen, ging es doch um das tägliche Überleben in den vier Besatzungszonen. Die Angst vor der Zukunft beherrschte den Alltag, der von Anweisungen der Militärgouverneure bestimmt wurde. Das Interesse der Bürgerinnen und Bürger für die Grundlagen einer demokratischen und offenen Gesellschaftsform stand nicht so sehr im Vordergrund, wie man rückblickend angesichts der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen im „Dritten Reich“ hätte erwarten können. Die Faszination demokratischen Lebensgefühls entfaltete sich noch nicht.

„Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“

Viele Menschen im zerstörten Deutschland konnten sich wohl auch gar nicht vorstellen, was es bedeutete, selbstbestimmt in einem demokratisch verfassten Rechtsstaat mit von Parteien unabhängigen Institutionen zu leben. Der Obrigkeitsstaat wurde mit dem Grundgesetz abgeschafft. „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“, das war eine Grundvorstellung der Verfassungsberatungen, die dann in die rechtsverbindliche Formulierung von Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG) mündete, wonach die Menschenwürde eines jeden unantastbar ist.

Eine geschriebene Verfassung entfaltet Wirkung nur dann im täglichen Erleben, wenn die Menschen an ihre Wirkungskraft glauben und sie immer wieder selbst spüren. Uns muss deshalb bewusst sein, was das Grundgesetz bedeutet, welche Auswirkungen es auf unsere Gesellschaft, auf unser Zusammenleben und auf das Handeln der Politiker und Politikerinnen hat. Dieses Bewusstsein scheint heute nicht so umfassend und vertieft vorhanden zu sein, wie es eigentlich angesichts der Staaten mit autoritären Systemen, den sogenannten illiberalen Demokratien in unserer unmittelbaren Nachbarschaft selbstverständlich sein sollte.

Sind die Grundrechte zu abstrakt? Sind sie im täglichen Leben nicht gegenwärtig und nicht im Bewusstsein der Menschen, weil diese nicht wissen, wie sich die Grundrechte tatsächlich für sie auswirken?

Stellen wir uns nur vor, wie Deutschland heute ohne die Verbindlichkeit der Grundrechte aussehen würde: Der Staat wäre ein nicht gebändigter Leviathan, der den Menschen vorschreibt, wie sie sich zu verhalten haben. Der Meinungen, Medien, Presse und Versammlungen nur dann zulässt, wenn sie seinen Vorstellungen entsprechen. Der Menschen einsperren lässt, weil sie andere als die erlaubten Lebensformen wählen, und der die tägliche Überwachung mit allen analogen und digitalen Mitteln betreibt. In einem solchen Staat ist der Mensch in seiner Kommunikation, seinem Verhalten, seinem Denken und Fühlen vollkommen durchsichtig, während umgekehrt der Staat für die Menschen intransparent bleibt. Ein Blick auf die Entwicklungen in autokratischen und diktatorischen Staaten wie der Volksrepublik China lässt die Visionen aus George Orwells Roman „1984“ lebendig werden.

Es gibt also etwas zu verteidigen, was jedem Menschen nützt: Staatsferne, Privatheit, Selbstbestimmung, Eigenverantwortung gegen Obrigkeitsstaat und gegen Ausschnüffelei, Bevormundung und Fremdbestimmung.

In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland entwickelten sich die Grundrechte, deren Konkretisierung besonders durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erfolgte, zu einer Erfolgsgeschichte. Selbst nehmen wir die Freiheitsrechte in Anspruch und sprechen sie schnell anderen ab. Der Glanz der Freiheitsrechte für jedermann scheint verblasst, teilweise wird die Freiheitsausübung derjenigen, die aus einem anderen kulturellen Umfeld kommen, als Gefährdung der eigenen Werte wahrgenommen. Der Ausspruch „Wir sind das Volk“ drückt nicht nur die Emanzipation der Zivilgesellschaft und das Streben nach Freiheit aus, wie es bei den Demonstrationen der Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR bis zum Fall der Mauer war. Er wird teilweise auch zur Ausgrenzung derjenigen verwandt, die angeblich als Fremde nicht zu Deutschland gehören. Wenn „Wir sind das Volk“ eben nur einen Teil des Volks meint, dann gehören damit die anderen nicht dazu. Was für eine Anmaßung, welche Arroganz!

Es reicht eben nicht, dass der Geist der Freiheit irgendwann mal geweht hat – etwa vor 70 Jahren im Parlamentarischen Rat, als das Grundgesetz entstand. Oder 20 Jahre später, 1969, als das Rechtsmittel der Verfassungsbeschwerde in die Verfassung aufgenommen wurde. Es war bis dahin nur einfachgesetzlich im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt und hätte jederzeit mit einfacher Mehrheit abgeschafft werden können. Seit der Neuregelung kann jeder Bürger die unmittelbare Verletzung seiner Grundrechte beim Bundesverfassungsgericht geltend machen. Die Verfassungsbeschwerde ist das Instrument, das bis heute immer wieder Rechtsverstöße der Exekutive oder des Gesetzgebers kritisiert und sie dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorlegen kann. Das Bundesverfassungsgericht hat häufig Verfassungsverstöße gerügt und den Bürgern Recht gegeben. Ohne die Verfassungsbeschwerde hätten die Grundrechte keine wirksamen Abwehrrechte gegen den Staat werden können.

Die Grundrechte sind kein Denkmal der Vergangenheit, sie haben sich nicht überholt. Im Gegenteil: Die Buchstaben der Artikel 1 bis 19 GG entfalten bis heute Dynamik, sie leben, sie sind nicht nur ein Stück Papier. Man muss sich von ihnen erfrischen und begeistern lassen, immer und immer wieder.

Sie sichern uns allen unsere Freiheit, sodass wir uns frei bewegen, frei reden und frei leben können. Dies gilt freilich nicht vollkommen unbegrenzt, sondern immer so, dass die demokratisch gesetzten Regeln und die sich aus dem Grundgesetz ergebenden Grenzen eingehalten werden. Es gibt nicht die Freiheit der Akademiker, nicht die Freiheit der Autofahrer, nicht die Freiheit der Älteren, nicht die Freiheit nur einer Bevölkerungsgruppe, sondern unser aller Freiheiten. Diese Freiheiten stehen uns zu, es sind unsere Rechte, die uns niemand nehmen kann, die von allen staatlichen Gewalten zu beachten sind.

Leider haben wir über die Jahrzehnte hinweg immer mehr Regeln bekommen, die die freie Entfaltung einschränken. Und leider war diese Entwicklung auch durch menschliches Verhalten verursacht, das keine Rücksicht auf andere nimmt: Gewalt bei Versammlungen und Demonstrationen, Beleidigungen anderer Menschen, Angriffe auf Helfer oder das Gaffen bei Unfällen, das die Opfer zusätzlich beleidigt, weil es sich an deren Leid ergötzen will. Sensationslust, hedonistischer Narzissmus und etliche weitere Grenzüberschreitungen sind eine Seite der Freiheit, die schreckliche, die hässliche, die verletzende. Sie ist nicht gemeint, wenn verantwortungsbewusst von Selbstbestimmung in unserer Gesellschaft gesprochen wird. Gegenseitige Rücksichtnahme, Achtung und Respekt sind keine Tugenden von vorgestern, sondern unabdingbar, um Freiheit in einer Gesellschaft von Millionen Individuen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten leben zu können.

Die Idealvorstellung wäre, dass jeder Mensch so handelt, dass die Maxime seines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte, so der Kerngedanke des kategorischen Imperativs von Immanuel Kant.

„Dieser Satz ist der Versuch, einen Maßstab für gerechtes Handeln zu finden. Der Mensch soll aus sich heraustreten und sich in andere Menschen hineinversetzen, dann weiß er von selbst, wie er sich verhalten muss. Nichts anderes sagt das Sprichwort: Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem andern zu. Dieses Prinzip ist die Grundlage jeglichen Rechtssystems“, so interpretiert Winfried Hassemer, ehemaliger Richter des Bundesverfassungsgerichts, den kantischen Imperativ.1 Das hat bis heute nichts an Aktualität verloren. Beschimpfungen, ehrverletzende Herabsetzungen und Hasstiraden in den sozialen Netzwerken gehören inzwischen zum Alltag und werden gezielt eingesetzt – genau das Gegenteil von gegenseitigem Respekt und der Beherzigung des Grundsatzes, dem anderen nicht das anzutun, was man selbst nicht erfahren möchte. Auch wenn der Austausch im Internet ohne persönlichen Kontakt geschieht, sind die Verletzungen real. Die Persönlichkeitsrechte, die Privatsphäre und das Recht zur freien Meinungsäußerung sind Grundrechte, die sich gegenseitig begrenzen, um eben Verletzungen zu vermeiden.

EIN NEUANFANG 1949

Seit im Nachkriegsdeutschland politische Parteien wieder zugelassen waren, stießen auch parteipolitische und ideologische Gegensätze aufeinander. In den Landtagen der Westzone waren parlamentarische Demokratie und parteipolitische Auseinandersetzung längst wieder präsent, als im September 1948 der Parlamentarische Rat mit der Arbeit am Grundgesetz begann. So spielten die parteipolitischen Gegensätze auch während der Ausarbeitung des Grundgesetzes eine wesentliche Rolle. Sollte der Bezug auf Gott aufgenommen werden? Wer sollte für die Verwaltung der Finanzen verantwortlich sein? Und wie sollte sich die Länderkammer zusammensetzen?

Dennoch waren sich die Vertreter der demokratischen Parteien in vielen grundlegenden Fragen schnell einig – vor allem in der Absicht, einen demokratischen Staat in einem geeinten Europa zu errichten. Unstrittig war auch die Errichtung eines starken, unmittelbar vom Volk gewählten Parlaments. Dieses Parlament sollte für einen wesentlichen Anteil der Gesetzgebung zuständig sein, die Regierung sollte von ihm abhängen, und schließlich sollte es bei der Wahl des Bundespräsidenten mitwirken.

Ebenfalls über die Parteigrenzen hinweg bestand Einigkeit in der Ablehnung von Plebisziten, was vor allem dem Missbrauch von Volksabstimmungen während der nationalsozialistischen Zeit geschuldet war. Deshalb kann es bis heute keine Volksabstimmungen und Volksbefragungen auf Bundesebene geben – mit einer Ausnahme: wenn es um die Änderung des Bundesgebietes geht. Nach der deutschen Einheit wurde von den Bürgerinnen und Bürgern über die Zusammenlegung von Berlin und Brandenburg abgestimmt, wie es in Artikel 29 Absatz 2 GG vorgeschrieben ist, und ein neues Bundesland Berlin-Brandenburg abgelehnt.

Da war die Debatte über die im Grundgesetz zu verankernden Grundrechte schon kontroverser und entzündete sich nicht nur an der Formulierung, sondern auch an der Ausgestaltung einiger Grundrechte. Darüber, Freiheitsrechte aufzunehmen und die Stellung der Bürgerinnen und Bürger zu stärken, bestand Konsens. Auch war man sich einig, ihnen innerhalb des Grundgesetzes eine besondere Bedeutung als rechtlich durchsetzbare Instrumente zur Kontrolle und Begrenzung staatlicher Macht zu geben. Darin unterschieden sie sich von der Weimarer Reichsverfassung (WRV), in der die Grundrechte nur im Rahmen der Gesetzgebung galten und damit durch den einfachen Gesetzgeber eingegrenzt und ausgehebelt werden konnten. Die Weimarer Reichsverfassung und die dort verankerten Grundrechte hatten die formal legale Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht verhindern können.

Die Demokratie braucht überzeugte Demokraten.

Wohl kein Diktator wird sich von der Durchsetzung seiner Vorstellung eines autoritären Staats durch eine geschriebene Verfassung abbringen lassen. Er wird alles tun, die Verfassung zu ändern oder sie bewusst zu brechen. Eine unabhängige Justiz und starke Institutionen können nachhaltigen Widerstand gegen die Entwicklung von Staatsallmacht und die Unterdrückung der Bürger leisten. Aber genauso wichtig ist eine lebendige Zivilgesellschaft, die sich ihrer Rechte bewusst ist und gegen ihre Beschränkung auch auf die Straße geht. Der Willkür der Staatsgewalt, ausgeübt durch rechtsstaatlich nicht mehr gebundene Polizei und Geheimdienste, steht mit den Grundrechten ein Schutzwall gegenüber, der mit einer unabhängigen, nicht korrupten Justiz verhindern kann, dass die Bürger auf verlorenem Posten stehen. Vergessen wir deshalb nie, wie wichtig es ist, die Demokratie zu leben. Die Demokratie braucht überzeugte Demokraten.

Um die Wirksamkeit und den Stellenwert der Grundrechte im Gefüge unseres heutigen Grundgesetzes zu verstehen, ist es hilfreich, wenigstens drei Schwachstellen der Weimarer Reichsverfassung zu kennen, die die Machtübernahme der Nationalsozialisten ermöglicht und insofern maßgeblich zum Scheitern der Weimarer Republik beigetragen haben.

Ganz oben auf der Liste der Schwachstellen steht der berühmtberüchtigte Artikel 48 WRV, dessen Absatz 2 folgendermaßen lautet:

„Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgelegten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.“

Mit dieser auch Diktatur des Reichspräsidenten genannten Bestimmung war der Reichspräsident also ermächtigt, den Reichstag, das demokratisch gewählte Parlament, als ordentlichen Gesetzgeber zu umgehen und mit Not- oder Diktaturverordnungen einzelne oder mehrere Grundrechte teilweise oder vollständig außer Kraft zu setzen. Auf diese Ermächtigung hätte nur im Ausnahmezustand, also bei erheblichen Störungen oder Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zurückgegriffen werden dürfen. Tatsächlich wurde von ihr aber im Zeitraum von Oktober 1919 bis Dezember 1932 sage und schreibe 254-mal Gebrauch gemacht.

Eine zweite Schwachstelle der Weimarer Verfassung war die in Artikel 25 festgelegte Befugnis des Reichspräsidenten, den Reichstag aufzulösen. Eine dritte bestand darin, dass verfassungsändernde Gesetze zu ihrer Verabschiedung zwar einer Zweidrittelmehrheit des Reichstags bedurften, diese aber nicht die Zweidrittelmehrheit aller, sondern nur die der an der Sitzung teilnehmenden, also anwesenden Abgeordneten sein musste.

Es waren solche und ähnliche Schwächen der Weimarer Verfassung, die der Oberpropagandist der Nazis, Joseph Goebbels, im Auge hatte, als er bereits im April 1928 in dem von ihm herausgegebenen NSDAP-Kampfblatt „Der Angriff“ in aller Offenheit ankündigte:

„Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. (…) Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache. (…) Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafsherde einbricht, so kommen wir!“

Genau das sollte das Grundgesetz künftig verhindern. Es sollten die Lehren aus dem Versagen der Demokraten und dem Erfolg der nationalsozialistischen Populisten gezogen werden, zu deren Erfolgsrezept die Hetze gegen Andersdenkende und Andersgläubige gehörte. Der Selbstentmachtung und Selbstauflösung des Parlaments wurden Riegel vorgeschoben und die fundamentalen Säulen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mit einer sogenannten Ewigkeitsgarantie gesichert. Das heißt, dass auch mit einer Zweidrittelmehrheit die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die Gewaltenteilung und die Rechtsstaatsgarantie nicht aufgehoben werden können.

Zum Schutz der Demokratie ging der Parlamentarische Rat noch andere Wege: So bedroht das Grundgesetz auch Vereinigungen (Art. 9 Abs. 2) und Parteien (Art. 21 Abs. 2) mit Verbot, die gegen die freiheitliche Grundordnung gerichtet sind. Das ist ein scharfes Schwert in einer Demokratie, die Parteien zur Meinungsbildung und zu den Wahlen braucht. Es hat allerdings bis heute nur zwei Parteienverbote gegeben.

„Die Grundrechte müssen das Grundgesetz regieren.“

Über das Verständnis der Grundrechte als möglichst konkrete, für alle Gewalten verbindliche Rechte, die nicht in ihrem Wesensgehalt angetastet werden dürfen, bestand schnell Konsens. „Der Staat soll nicht alles tun können, was ihm gerade bequem ist, wenn er nur einen willfährigen Gesetzgeber findet, sondern der Mensch soll Rechte haben, über die auch der Staat nicht soll verfügen können. Die Grundrechte müssen das Grundgesetz regieren“, so der Sozialdemokrat Carlo Schmid bei der Generaldebatte des Plenums des Parlamentarischen Rats am 9. September 1948. In derselben Sitzung befand der Liberale Theodor Heuss: „Was die Grundrechte betrifft, so sind sie ein Stück des Staates; aber sie sind gleichzeitig Misstrauensaktionen gegen den Missbrauch der staatlichen Macht.“ Und der Christdemokrat Adolf Süsterhenn äußerte: „Höchstwert ist für uns die Freiheit und die Würde der menschlichen Persönlichkeit.“2

Auch über den klassischen Katalog, also die individuellen Grundrechte wie beispielsweise Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Post- und Fernmeldegeheimnis sowie den Anspruch auf einen gesetzlichen Richter, war man sich angesichts der Erfahrungen im Nazi-Unrechtsregime schnell einig. Konsequent war der Vorschlag, ein Recht für Fremde auf Schutz vor Auslieferung und Ausweisung zu schaffen (damals Art. 16 Abs. 2 GG), wenn sie unter Verletzung der in der Verfassung niedergelegten Grundrechte im Ausland verfolgt werden und in den Geltungsbereich des Grundgesetzes geflohen sind. Denn zu den Erfahrungen der Verfolgten der NS-Diktatur gehörte nicht nur das Exil, sondern auch das verweigerte Exil. Es war mutig, dies zu fordern, denn immerhin lebten in Westdeutschland damals bei verheerender wirtschaftlicher Lage etwa sieben Millionen Flüchtlinge.

Dagegen rief der einfache Satz, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind (Art. 3 Abs. 2 GG), überraschend kontroverse Einlassungen hervor. Dann sei das Bürgerliche Gesetzbuch in weiten Teilen des Familienrechts verfassungswidrig, bemerkte Thomas Dehler (der erste westdeutsche Bundesjustizminister) juristisch zutreffend. Doch zog er daraus den falschen Schluss, man solle deshalb eine weniger konkrete Formulierung wählen, um die entsprechenden Abschnitte des Familienrechts nicht ändern zu müssen. Bezeichnend für Positionen wie diese war, dass die Vormundschaft des Ehemanns über seine Frau ganz überwiegend nicht als Benachteiligung der Frauen gesehen wurde.

Elisabeth Selbert (SPD) ist es zu verdanken, dass es doch zu dieser klaren Grundrechtsfassung der Gleichberechtigung gekommen ist.3 Sie brachte das Thema in die breite Öffentlichkeit. Eine von ihr mitinitiierte Öffentlichkeitskampagne von Frauenorganisationen und Medien ließ den Widerstand gegen die Gleichberechtigung im Parlamentarischen Rat in kürzester Zeit zusammenbrechen. Einstimmig nahm der Hauptausschuss die Formulierung von Elisabeth Selbert an. War da mal Widerstand gewesen? Auch schon damals hat funktioniert, was heute mittels sozialer Medien, diverser digitaler Plattformen und gezielter Medienkampagnen viel ausgeprägter möglich ist: Einfluss auf die Meinungsbildung demokratisch legitimierter politischer Repräsentanten zu nehmen. Demokratische Meinungsbildung kann eben sowohl mittels fairer sachlicher Argumente befördert als auch mittels Fake News und Desinfomationskampagnen manipuliert werden.

Bei der Verabschiedung des Grundgesetzentwurfs am 8. Mai 1949 wurde denn auch von früheren Kritikern festgestellt, dass die Gleichberechtigung der Frau im Grundsatz eigentlich kein Streitpunkt gewesen sei. Allenfalls sei es um die Suche nach einer angemessenen und juristisch unangreifbaren Formulierung gegangen. Man hatte sich auf das Ziel verständigt, den Gleichheitsgrundsatz so zu fassen, dass er auch Auswirkungen auf das bürgerliche Recht und insbesondere das Familienrecht und Arbeitsrecht haben würde.

Das Familienrecht war konservativ geprägt, die Frau durfte ohne Erlaubnis des Mannes nicht arbeiten, sie musste den Namen des Mannes übernehmen und konnte ohne dessen Zustimmung kein eigenes Konto eröffnen. Erst im Laufe der 60er-Jahre wurden diese die Frau entmündigenden Gesetze abgeschafft und damit die gesellschaftliche Gleichstellung der Frauen ein Stück vorangebracht. Das lässt eindeutige Rückschlüsse auf das Verständnis vieler Politiker von Gleichberechtigung zu – nur keine positiven. Denn über ein Jahrzehnt lang hatten sie sich anscheinend nicht an den verfassungswidrigen familienrechtlichen Zuständen gestört, die ihnen ja schon mit Verabschiedung des Gleichberechtigungsartikels 1949 bewusst waren. Ohne die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als treibende Kraft hätte es vielleicht noch länger gedauert. Die Karlsruher Richter bereiteten der Emanzipation der Frau den Weg und begleiteten den Wandel der Familie und Ehe weg von dem alten idealisierten Vater-Mutter-Kind-Familienbild zur partnerschaftlichen Beziehung und der Angleichung der Homo-Ehe.

NATÜRLICH SIND WIR GLEICHBERECHTIGT …

1993 wurde im Zuge einiger Änderungen der Verfassung nach der deutschen Einheit auf Druck von Frauen Artikel 3 Absatz 2 um einen Satz 2 ergänzt: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Die Bedeutung und Reichweite der Regelung habe ich als damalige Bundesjustizministerin so erläutert: Die gefundene Formulierung betont den bisher vernachlässigten Bereich der faktischen Gleichberechtigung und erhebt ihn in den Rang einer Staatszielbestimmung. Diese Staatszielbestimmung begründet keine einklagbaren Individualansprüche. Sie verpflichtet den Staat aber, auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken.

Den Handlungsmaßstab für politische Bemühungen um die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Mann und Frau gibt seit dem 1.5.1999 der Vertrag von Amsterdam mit dem Prinzip des Gender Mainstreaming vor. Die rechtliche Gleichberechtigung in Deutschland ist mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) seit 2006 annähernd durchgesetzt, oder anders ausgedrückt, es gelten weitgehend die einheitlichen Standards gegen Diskriminierung. Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz verbietet die rechtliche Differenzierung wegen des Geschlechts. Das gilt zunächst gegenüber dem Staat, wirkt sich aber auch auf das Privatrecht aus, etwa auf das Gebot geschlechtsneutraler Stellenausschreibungen und das Recht auf gleichen Lohn bei gleicher Arbeit.

… ABER WIR SIND NOCH NICHT AM ZIEL

Die Machtstrukturen in Wirtschaft und Gesellschaft sind mit Blick auf einige Branchen nach wie vor männlich geprägt. Das ändert sich trotz der bestehenden 30-Prozent-Frauenquote für die Aufsichtsräte von bestimmten Unternehmen nur langsam. In den Vorständen tut sich kaum etwas.

Im Zuge der #MeToo-Debatte, die im Oktober 2017 von den USA ausging, wird auch in Europa und in Deutschland über Sexismus und Gewalt diskutiert. Im Kern geht es um Macht. Um Machtmissbrauch, um Machtstrukturen und um Machtgefälle, die würdelos ausgenutzt werden. Die seitdem geführte Auseinandersetzung kann helfen, bestehende Mechanismen aufzudecken, die es meistens Frauen erschweren, einen „mächtigeren“ Mann wegen sexueller Belästigung anzuklagen – unabhängig vom Beruf. Es geht um Scham und um Angst vor den Konsequenzen, etwa vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder des Ansehens.

Die Gesellschaft verkennt und unterschätzt noch immer, wie groß das Machtgefälle in bestimmten Konstellationen tatsächlich ist. Es existiert mit Sicherheit in schlechter bezahlten Jobs ebenso wie in der gut dotierten Unterhaltungsbranche. Dieses Macht- und Hierarchiedenken in der Gesellschaft ist genau das Problem. Erniedrigung und verletzende Missachtung durch sexuelle Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen sind inakzeptabel und müssen konsequent strafrechtlich geahndet werden. Die Strafbestimmungen sind immer weiter ausgedehnt worden, sodass es keine Strafrechtslücken, sondern eher Beweisprobleme gibt, da häufig Aussage gegen Aussage steht.

Jeder kann von Sexismus und/oder sexueller Belästigung betroffen sein, auch Männer. Die Hintergründe müssen als gesamtgesellschaftliches Problem erkannt werden. Es handelt sich eben nicht um „Kavaliersdelikte“, und es liegt in der Verantwortung der Gesellschaft, der Bagatellisierung entschieden entgegenzutreten. Die Gesellschaft ist sensibler geworden und das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Veränderung ist präsent wie nie zuvor. Das ist auch ein Erfolg des Grundrechts auf Gleichberechtigung. Und was hat das mit Artikel 3 GG zu tun? Was könnte oder müsste der Staat tun? Systemische und Wirtschaftsstrukturen können nicht mit einem Knopfdruck oder mit einem Gesetz verändert werden. Es geht um Chancengerechtigkeit, um Teilhabe, um faire Behandlung und um gesellschaftliches Bewusstsein. Das kann nicht der Staat verordnen, das muss aus der Gesellschaft heraus entwickelt werden.

SIND DIE GRUNDRECHTE GEFÄHRDET?

Die große Leistung der Mütter und Väter des Grundgesetzes besteht darin, den Schutz der Grundrechte in der Verfassung selbst verankert und den Zusammenhang zwischen den Grundrechten und den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft herausgestellt zu haben. Einerseits auf Wunsch der Alliierten, andererseits im Zweifel über seine Zweckmäßigkeit verzichteten die Schöpfer des Grundgesetzes auf einen Katalog von sozialen Grundrechten. Während die Länderverfassungen hier im Allgemeinen detaillierter ausgefallen sind – so kennt beispielsweise die bayerische Verfassung von 1946 einen Anspruch auf angemessene Wohnung (Art. 106) und auf Sicherung gegen die Wechselfälle des Lebens (Art. 171) –, begnügte man sich im Grundgesetz bis auf den Anspruch der Mütter auf Schutz und Fürsorge (Art. 6 Abs. 4) mit einer allgemeinen Sozialstaatsklausel (Art. 20 Abs. 1).

Der 1949 beschlossene Grundrechtskatalog wurde in den folgenden Jahrzehnten durch Entscheidungen des Bundesgesetzgebers und die Gesetzgeber der Länder ergänzt, z.B. um den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und die Durchsetzung der Gleichberechtigung. Andererseits wurden etwa das Asylrecht für politisch Verfolgte und die Unverletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt.

Die Grundrechte entfalten heute ihre Funktion als Abwehrrechte gegen staatliches Handeln wie auch als Schutz vor Grundrechtsverletzungen seitens Dritter. In welcher Weise die Bürger durch das Handeln privater Unternehmen in ihren Grundrechten beschränkt werden, ist angesichts des Handels weltweit agierender IT-Konzerne mit Unmengen personenbezogener Daten und der Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte Milliarden Betroffener weltweit von immer größerer Bedeutung. Das gilt auch für die Frage, wie sich in der digitalisierten Welt eine Verpflichtung des Staates auf Tätigwerden verbunden mit Grundrechtsverletzungen Dritter auswirken kann.